Aus alten Zeiten/Wie der Großvater zum Fasten kam und die Groß­mutter schatzgraben ging

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Vorwort und Widmung Aus alten Zeiten
von Paul Seeberg
Was der Großvater von seinem Vater hörte
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1. Wie der Großvater zum Fasten kam und die Großmutter schatzgraben ging.




Nicht allzuviel vermag ich von meinem Großvater väterlicherseits zu erzählen. Er soll freilich, wie man mir sagte, in meine Wiege hineingeschaut und sich über den wohlgenährten Enkel gefreut haben. Aber Egoist von Natur, wie solche kleine Wiegenbengel sind, und viel zu sehr mit meiner eigenen Person und meinen ersten Gedanken be­schäftigt, habe ich von ihm entweder keine Notiz genommen oder sein Bild aus meiner Erinnerung gestrichen. Er hieß, wie ich nachher gehört, Otto Hermann, und war, obgleich im Lande geboren, doch fast ein Fremder darin, d. h. ohne Verwandtschaft oder Anhang. Sein Vater war nämlich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts aus „Schweden,“ wie die Leute sagten, eingewandert und früh gestorben. Dies Schweden konnte übrigens ebensogut Livland oder Finnland sein; denn in jenen gut herzoglichen Zeiten hieß in Kurland alles, was jenseits der Düna lag, noch oft genug „schwedisch,“ auch als der russische Adler den schwedischen Löwen schon seit etlichen Jahrzehnten verdrängt hatte. Als kleiner Knabe schon vater- und mutterlos, war mein Großvater und seine gleichfalls in zartem Alter stehende Schwester von der Baronin Hörner in Ihlen aufgenommen und erzogen worden. Nur gering mochten darum die Ver­bindungsfäden sein, die noch zwischen ihm und der ur­sprünglichen [6] Heimat fortbestanden, woher denn auch nichts auf uns Nachgeborne gekommen ist. Allenfalls könnte Namensvetterschaft an die Gegend von Pernau (Livland) denken lassen; auch war es vielleicht nicht ganz zufällig, daß die frühesten Erinnerungen unsrer Großmutter gleich­falls in jene Gegend wiesen. Die schönen Erdbeeren, die sie als Kind an den Wällen von Arensburg (Ösel) ge­pflückt hatte, waren ihr bis ins Alter in Erinnerung ge­blieben. Sonst freilich konnte auch sie nicht viel von ihrer Heimat berichten, die sie früh verlassen hatte. Von ihrem Vater wußte sie nur so viel, daß er ein vielgereister Mann gewesen, der seine erste Frau in Frankfurt a. M. geheiratet und der Einsamkeit seines Witwerstandes später durch eine zweite Heirat in Kasan ein Ziel gesetzt habe, — zwei Orte, die nach den damaligen Verhältnissen reichlich zehn­mal weiter auseinander lagen, als jetzt. Ob sie selbst der Frankfurterin oder der Kasanerin ihr Leben dankte, hat uns die Großmutter nicht gesagt, oder haben wir Kinder in unsrer Windigkeit vergessen, so daß wir noch heute dar­über im unklaren sind, ob wir in dieser Beziehung unsre Dankbarkeit nach Osten oder nach Westen zu richten haben.

Klein von Wuchs, munter und rasch, freundlich und thätig, so hat man mir meinen Großvater geschildert, auf den wir jetzt wieder zurückkommen. Kein Freund von vielen Worten, und darin seiner trauten Ehehälfte jedenfalls nicht gewachsen, war er unverdrossen und unermüdlich in seinem Beruf. Machte sie’s ihm zu kraus, — und sie konnte das zu Zeiten, — so nahm er sein Käppchen, ließ sie reden und ging in die Wirtschaft, was nicht in süd­deutschem Sinne verstanden sein will, wo so mancher seine Sorgen in der „Wirtschaft“ versitzt, sondern in nord­deutschem, d. h. er ging seiner landwirtschaftlichen Be­schäftigung nach. Als verständiger Gatte ließ er abweichende [7] Meinungen ruhig zu Worte kommen. Seinen Willen hatte er darum doch. Wie die geehrten Leser sich selbst gesagt haben werden, konnte er weder auf eine glänzende Lebens­stellung, noch auf besondere Glücksgüter rechnen, und so war es in der That. Viele Jahre hindurch war er Ver­walter oder wie man damals und noch fünfzig Jahre später zu sagen pflegte, „Disponent“ auf dem von Koschkullschen Majoratsgut Tergeln in der Windauschen Gegend. Früh morgens schon um die Felder reitend, oder im Walde, überall hinter der Arbeit her, fehlte es nicht an Mühe und Aerger, aber auch nicht an Erfolgen. Schon sein langes Verbleiben in der genannten Stellung spricht dafür, und was ich von seinen Scripturen nachher bei der Groß­mutter gesehen, gab Zeugnis, daß er auch wacker und treu Buch geführt. Man war genügsam in jener Zeit; von jenem Jagen und Rennen, um über das Gegebene hinaus­zukommen, wie es in der Gegenwart Tausende erfaßt hat und sie mit sich selbst und der Welt unzufrieden macht, war damals keine Spur. „Schlecht und recht das behüte mich,“ hieß es damals. Dabei fehlte es nicht an häus­lichem Glück. War man auch nicht sentimental, so hatte man sich doch herzlich lieb und half einander in recht­schaffener Treue. Bald kamen nun auch die „Oelzweiglein um den Tisch“ hinzu, von welchen der Psalmist singt. Da war das kleine, dicke Bärbchen, die hernach als meine liebe und ehrwürdige Tante, 92 Jahre alt, in Braunschweig ihre Tage beschlossen hat, der stramme Friedrich, der Stolz und Stammhalter des Hauses,[1] und das zierliche Malchen, unsere vielgeliebte Tante, allzeit sanft und liebevoll. Kann mir’s schon denken, wie froh und glücklich die Eltern drein schauten, wenn dies Kleeblatt um ihren Tisch saß. Dazu kam, daß man in jenen guten, alten „herzoglichen Zeiten,“ [8] für welche alte Leute noch in meiner Jugend schwärmten, von Grund aus fröhlich gestimmt war. Die heißen Tage, die sauren Kämpfe, die der deutsche Mann hatte tragen müssen, ehe er in diesem Lande festen Fuß fassen konnte, waren längst vergessen und eine behagliche Ruhe und Breite des Lebens an die Stelle getreten. Der Herzog inkommo­dierte seine Unterthanen wenig, und jeder Grundherr zu­mal war in mehr als einem Sinne Freiherr auf seinem Hof. Kein Mensch ward damals von den mancherlei Spannungen oder politischen Wetterwolken angefochten, die einem heutzutage das Leben unerquicklich machen; keine Zeitung störte die Mittagslaune, kein Kurszettel raubte einem den Schlaf. Auf den Gütern, auf den Pastoraten war selbst bei mäßigen Mitteln ein fröhliches Treiben. Es lag in des Landes Art. Wenn Shakespeare sich den Spaß machte, „die lustigen Weiber von Windsor“ zu dichten, so hätte ein anderer keinen Mangel an Stoff gefunden, um „die lustigen Männer von Kurland“ zu schreiben. Scherz, Kurzweil, Mummenschanz aller Art waren an der Tages­ordnung; ich glaube nicht, daß ein Winkelchen zu finden war, wo das, was heute Sport heißt oder was die Eng­länder a practical joke nennen, so an der Tagesordnung war, wie dort. Allerdings kam es dabei zu Zeiten etwas derb heraus, gab auch infolge provozierenden Übermuts von der einen oder andern Seite alle Augenblick ein Duell, — aber wo hätte das die Stimmung verdorben! Zur Charakteristik ein paar Anekdötlein, wie sie mir, wenn auch schon aus späterer Zeit, in meiner Kindheit zu Ohren ge­kommen sind. Einen andern in den April schicken, ihm einen harmlosen Schabernack spielen, war so recht nach dem Geschmack jener Zeit.[2] Da war z. B. jener alte [9] dicke Herr v. Staar,[3] von unergründlichem Appetit, dem die böse Fama nachsagte, daß er nur zweimal im Jahre sich wasche, oder vielmehr gewaschen werde, nämlich wenn seine Frau, außer stande, den Skandal länger zu tragen, ihn in ihre Hände nehme und abscheure. Ihm, wenn er einmal bei den Nachbarn zum Besuch erschien, bei seiner mammutartigen Schwerfälligkeit eine Verlegenheit bereiten, ihm z. B. den Bettrahmen einzusägen, so daß er mit Kopf und Beinen nach oben gestreckt zu liegen kam, war ein Gaudium. Eine gewisse Berühmtheit in solchen Schnurren hatte u. a. der Großvater des durch seine militärischen Leistungen zu europäischem Ruf gelangten († 1883) Grafen Todleben. Er besaß insbesondere das Talent, mit der ernstesten Miene von der Welt die Leute zum besten zu halten. So hatte er z. B. auf einer seiner Fahrten an einem Kruge (Wirtshaus an der Landstraße) Halt gemacht. Bald darauf kam auch die Baronin F. angefahren, eine etwas nervöse Dame, fast provozierend nachlässig in ihre Staatskarosse zurückgelehnt. „Ach, guten Tag, lieber T.,“ begrüßt sie ihn gnädigst, „wo kommen Sie her?“ „Geschäfte, immer Geschäfte! Komme eben von Striekenberg“ (dem Gute ihres Bruders). „Ach, sagen Sie, was macht mein teurer Bruder?“ „Was macht er?“ erwiderte der Schalk mit einem tiefen Seufzer, indem er bedenklich mit dem Finger auf seine Stirn weist; giebt mir da Aufträge, wahrhaftig, weiß kaum, wie ich sie ausführen soll. Denken Sie sich, — gnädige Frau, soll 2000 Schaffelle für ihn kaufen!“ „Mein Himmel, wozu denn 2000 Schaffelle? Was hat er wieder für Grillen?“ „Wissen Sie denn nicht,

[10] gnädige Frau, wie er in seine Bergamotten und Reine­clauden vernarrt ist. Nun sind ihm im vorigen Winter einige abgefroren. Da will er denn jetzt im Herbst seinen ganzen Gartenzaun mit Pelz füttern.“ „Aber, lieber T.,“ ruft die teilnehmende Schwester, indem sie sich höchst auf­geregt erhebt, „das ist ja krankhaft! Ist er nicht richtig, mein armer Bruder? Schrecklich! schrecklich! den Zaun mit Pelz füttern!“ T. zuckt bedenklich die Achseln, grüßt ehr­erbietigst, schlägt seinen Kragen auf und setzt sich in sein Wägelchen. Die Baronin aber läßt sofort umkehren und fährt in raschestem Trabe zu ihrem Bruder. „Aber, liebes Schwesterchen, was bringt dich hieher, bei diesem Hunde­wetter?“ begrüßt dieser sie, ebenso erfreut wie verwundert, als sie mit Thränen in den Augen ins Haus tritt. Es scheint ganz vernünftig, was er spricht; aber bekanntlich sind Verrückte oft schlau. Sie traut dem Frieden nicht, kommt vorsichtig, auf allerlei Umwegen allmählich zu den Bergamotten und endlich – zu den Schaffellen. Da schlägt der alte Baron eine Lache auf, daß er blau im Gesichte wird. Zu spät erkennt die Gnädige, wie der böse T. sie wieder einmal zum besten gehabt, – und wer den Schaden hat, darf für Spott nicht sorgen.

Das war so des Landes Art, die sich lange, ja fast bis in die Jetztzeit erhielt; blieb man doch damals viel zu Hause und alter Sitte treu. Zwar galt es für einen Junker aus guter Familie fast als Ehrensache, eine Zeitlang auf Reisen zu gehen. Jährlich zogen denn auch etliche nach Göttingen oder Jena, und mancher schöne Thaler Alberts rollte ihnen nach. War der Beutel sehr voll, so hielt man sich gar eine Weile in Paris auf. Auch gab’s welche, die mit Begeisterung in des großen Fried­richs Armee Dienst nahmen, und alte Herren gingen nach Karlsbad, um sich von den Nachwehen ihrer allzureichen [11] Tafel zu befreien. Gar selten aber kam einer auf den Gedanken, in Petersburg Carrière zu machen. „Es ist ein Fanfaron!“ hieß es dann meist von ihm; man verzieh es keinem, der in der Heimat auf etwas zu rechnen hatte, wie doch meist der Fall war. Im Grunde aber war das Reisen doch selten, und noch geraume Zeit später konnte einer der größten Gutsbesitzer sich äußern: „Begreif nicht, was die Leute vom Reisen haben. Will ich fahren, so laß ich anspannen und kutsch im Lande herum, wohin ich Lust hab.“ – „Aber die schönen Gegenden?“ entgegnete man. – „Ach, was! ist alles Quark,“ erwiderte der gute Pa­triot, „die schönste Gegend ist und bleibt doch immer ein gutes Weizenfeld, — und das gottlob! hab ich. Auch dies Jahr!“ – Aber auch wenn sie außer Landes gingen, – sie kehrten bald wieder heim. Das Fremde, das ihnen hängen geblieben war, verlor sich bald. Im Grunde hatte es doch immer und überall geheißen: „alt Kurland über alles!“ Und das soll mir niemand schmähen, wenn's auch, – wie alles – seine Mängel hat. Zum Beweise noch ein charakteristisches Geschichtchen. Der alte Baron B. auf S. war auch auf Reisen gewesen, hatte sogar manche Rolle Louisdors in Paris gelassen, war aber dann nach der Heimat zurückgekehrt und säete jahraus jahrein seinen Roggen, wie seine Väter gethan. Das Necken und Scherzen hatte er dort, wo er geweilt, am wenigsten verlernt, und selten war jemand so glücklich, davon verschont zu bleiben. Waren Gäste bei ihm im Winter, die nach seiner Meinung zu früh aufbrachen, so gab er den Kutschern ein braves Trink­geld, damit sie ihre Herrschaften geflissentlich irrefuhren und auf einem weiten Umweg schließlich wieder nach S. zurückkehrten, oder „die Fräuleins“ hübsch in den Schnee würfen und was der Schnurren mehr waren.[4] Und diese [12] konnte auch der Freiherr von D. nicht lassen, sonst ein fein­gebildeter Mann. War's doch ein echt kurischer Schwank, als er in Mitau im Kasino einen etwas einsilbigen unbekannten Herrn fand und beim Weggehen zu einem seiner Freunde sagte: „Ach, nimm dich doch etwas des armen Jungen dort im Billardzimmer an; er ist taubstumm und scheint sich wie ein Kettenhund zu ennuyieren.“ Der edle Freund geht denn auch aus dem Salon dorthin, um seine Christenpflicht zu erfüllen. Schweigend nimmt er ein Queue von der Wand und zeigt bedeutsam auf das Billard. Der andere erhebt sich und thut desgleichen. Jetzt kommt's ans Pointieren und schweigend erhebt der erste seine Finger und zeigt seinem Mitspieler die Zahl. – Das läßt sich dieser einmal gefallen, sieht ihn dabei aber doch so ernst fragend an. „Wie die Taubstummen,“ denkt unser Phil­anthrop. Da sich die Sache aber wiederholt, platzt der Bemitleidete plötzlich hervor: „Aber was soll das, mein Herr? Sind Sie taubstumm oder halten Sie mich da­für?“ womit sich denn die Sache zu allgemeiner Heiterkeit aufklärte. Nicht minder ergötzlich war jener andere Scherz, den der allzeit fröhliche Freiherr neben unzähligen andern sich mit einer Krügerin im Oberlande erlaubte. Es war grade harte Winterszeit, als er spät abends durch einen Wald fuhr und an einer einsamen Schenke anhielt,

[13] um sich etwas zu erwärmen. Mürrisch, den Kopf mit einem Tuch verbunden, von den fürchterlichsten Zahnschmerzen gemartert, kommt ihm die Frau Wirtin entgegen, den brennenden Kienspan[5] in der Hand. Teilnehmend fragt sie der Herr nach ihrem Leiden und läßt sie den Mund weit aufsperren und mit dem brennenden Span hineinleuchten. „Weiter nichts?“ sagt er; „das ist eine Kleinigkeit! Gleich hol ich die Medizin; — aber nur nicht den Mund zu­machen, ehe ich die Tropfen gebracht!“ — Damit geht er hinaus, setzt sich leise in den Schlitten und fährt davon, königlich amüsiert von dem Gedanken, wie die arme Patien­tin, den Kienspan in der Hand und den Mund weit auf­gesperrt, mitten im Zimmer steht und sich selbst beleuchtet, bis ihr das Feuer auf die Nägel brennt und sie ihren Irrtum gewahr wird.

Der gütige Leser wird verzeihen, daß ich ihn mit diesen altkurischen Schwänken regaliere; aber sie waren nötig, um den leichten Sinn zu kennzeichnen, der damals herrschend war und, wie jene letzterzählten zeigen, die einer weit späteren Zeit angehören, dem Ländchen noch lange eigen blieb. War’s doch diese Art gerade, die auch meinem Groß­vater zu einem Karfreitagstext half, den er sein Leben lang nicht vergaß, und ihn zu etwas bringen sollte, woran er am wenigsten gedacht, zum Fasten nämlich.

Vor allem ging es, wie man sich denken kann, in Alt­-Kurland lustig her, wenn der Herbst gekommen und die Ernte glücklich eingeheimst war. Dann fingen die Jagden an. Zahlreiche Verwandte und Gäste versammelten sich auf den Gütern, heute hier und morgen dort. Dann klang der lockende Ton des Waldhorns und das Gekläff der gierigen [14] Meute durch Wald und Flur. Kaum daß eine Woche ver­ging, wo man nicht diesen, auch dem Nichtjäger so an­ziehenden Klängen begegnete. Und es gab damals noch was zu jagen, zumal in jenem waldreichsten Winkel des Landes! Daneben erlaubten die vollen Scheunen und Ställe und die wohlgefüllten Säckel ein unbeschränktes Schmausen, das sich oft tagelang hinzog. Jeder, der sich für die Ge­sellschaft qualifizierte, zumal wer einiges Unterhaltungstalent besaß, war herzlich willkommen. Auch sogenannte „Krippen­reiter“ stellten sich ein, weniger bemittelte Herren von Adel oder auch „Literaten“, die keinen eignen Herd besaßen, nur grade soviel vermögend, sich ein Pferd oder zwei und „ihren Menschen“, d. h. einen Kutscher, Diener oder Reitknecht zu halten. Sie fuhren oder ritten von Gut zu Gut und ließen sich gemütlich nieder, „wo der Schornstein rauchte.“ Sie ersetzten dafür durch allerlei Schwank und Klatsch die mangelnden Zeitungen und waren ab und zu sogar etwas von der Art der alten Hofnarren. Auch Pastorate suchten sie heim und konnten zuzeiten recht überflüssig werden, aber sie nahmen’s auch nicht grade übel, wenn sie, nachdem sie eine oder ein paar Wochen durchgefüttert waren, unerwartet ihr Gefährt wieder vor der Thür stehen sahen, verstanden den Wink, nahmen Abschied von ihren freundlichen Wirten und fuhren zum Nachbar.

So war’s denn auch in Tergeln den ganzen Winter hindurch recht fröhlich hergegangen. Zahlreiche Jagden waren abgehalten, so manche liebe Nacht bei anspruchsloser Musik, aber unverwüstlichem Humor durchtanzt, unzählige Partien Boston, L'hombre oder Piket gemacht und ein Korb Wein nach dem andern glücklich vertilgt worden. Mittlerweile war man schon dem Ende des Winters nah gekommen. Man stand in der heiligen Passionszeit, ja es war, wenn ich nicht irre, gar Karfreitag, als eine Anzahl von [15] Gästen, die grade auf dem Hofe zusammen war, auf den Gedanken kam, ein bißchen auf die Jagd zu gehen. Die Meldung des „Buschwächters“, daß grade ein Rudel Rehe oder einige Elenne eingekreist seien, unbenutzt hingehen zu lassen, schien unmöglich. Von religiösen Skrupeln war nicht die Rede. Man muß eben nicht vergessen, daß man am Ende des vorigen Jahrhunderts stand, wo der Niedergang des religiösen Bewußtseins in den höhern Schichten der Gesellschaft seine größte Tiefe erreicht hatte.[6] Kurz, es wurde nach dem Disponenten geschickt und die Sache ins Werk gesetzt. Wie hätte man auch ohne ihn auskommen können, da kein Mensch den Wald so gut kannte, wie er! Es war ihm wohl nicht recht; es schien ihm so unpassend, so unchristlich, den stillen, heiligen Tag durch Hundegekläff und Peitschenknall zu entweihen; aber anderseits war’s nicht angebracht, den lustigen Junkern gegenüber den Mentor zu spielen oder sich mit dem Baron zu überwerfen. So nahm er denn sein Käppchen, schüttelte verdrießlich den Kopf, langte aber doch seine Flinte herab, lud sie, schüttete Pulver auf die Pfanne und hing sich die Jagdtasche um. Dann ging’s unter lautem Halloh fort in den Wald. Aber, wo so mancherlei Schützen zusammenkommen, da giebt’s natür­lich auch diesen und jenen, der mit dem edeln Weidwerk nur wenig Bescheid weiß. So war’s auch damals. Kurz, der Großvater bekam einen guten Schrotschuß ins Bein, er wußte selbst nicht, wie. Während der paar Wochen, die er daran zu flicken hatte, dachte er reichlich darüber [16] nach, wie unrecht er doch gethan, als er sich verkehrtem Ansinnen allzu nachgiebig gefügt, und auch darüber, wie viel schlimmer die Sache hätte ablaufen können, wenn Gott sie nicht anders gelenkt hätte. Er dankte Gott für seinen barmherzigen Schutz, sah aber in dem erlittenen Unfall einen Denkzettel, den er um seiner unchristlichen Feiertags­entweihung willen empfangen habe; er vergaß ihn nicht. Fortan blieb er sein Leben lang am „stillen Freitag“, nach­dem er von der Kirche heimgekehrt, hübsch zu Hause — und fastete bis zum Abend, und ich kann nicht sagen, daß er davon etwelchen Schaden gehabt hätte.

Jetzt aber werden meine gütigen Leser erwarten, daß ich ihnen auch von meiner Großmutter Nachricht gebe, und wie sie zum Schatzgraben kam, was ihr für’s erste ebenso fern lag, wie dem Großvater das Fasten.

Hier befinde ich mich sofort in der günstigen Lage, aus eigner Anschauung zu schildern. Man wird mir’s darum auch zu gute halten, wenn ich zunächst mit dem äußern und inneren Bilde meiner Großmutter beginne, wie es sich mir unvergeßlich eingeprägt hat, und erst hernach auf das Ereignis komme, welches die Überschrift des Kapitels an­gekündigt hat.

Die Mutter meines Vaters war eine Frau von ganz ansprechendem Äußern auch zu der Zeit noch, da ich, ihr dritter Enkel, die Ehre hatte, zu ihrer Bekanntschaft zu erwachen. Die Leute sagten, sie sei in ihrer Jugend hübsch gewesen, und wer die freie Stirn, das klare blaue Auge, die wohlgeformte Nase, die charakterfesten Lippen, kurz das gut assortierte Ensemble, umrahmt von wohlerhaltenem Greisenhaar und einer würdevollen weißen Haube, grade in einem freundlichen Augenblick zu sehen bekam, der konnte sich wohl eine Vorstellung machen, die den Leuten recht gab. — Sie war eine rasche, willenskräftige Frau. [17] Man erzählt von E. M. Arndts Mutter, sie habe, als in der betrübten Franzosenzeit auch in ihrem Hause Ein­quartierung war, und ein französischer Soldat sich erlaubte, nicht bloß die Speisen zu schmähen, sondern auch die „löwe Gottesgabe“, das Brot, in seinem Übermut auf die Erde warf, einen Besenstiel aus dem Besen gerissen und dem Vertreter der großen Nation damit die vierte Bitte des Vaterunsers auf den Rücken geschrieben, die er seit der glorreichen Revolution vergessen hatte. Meine Groß­mutter war die Frau dazu, ein Gleiches zu thun, glück­licherweise war sie 1812 nicht mit Franzosen zusammengetroffen, sondern nur mit den „groben Bayern“, von denen sie grade auch nicht gar zu viel des Guten zu er­zählen wußte.

Sie war eine rührige, thätige Frau, und nichts war ihr mehr verhaßt, als Müßiggang. Als ich sie kennen lernte, war sie bereits Witwe[7]­ und wohlbetagt und hatte längst bei uns, — im Hause ihres einzigen Sohnes — ihr Stüblein, konnte daher nach Geschmack der Ruhe pfle­gen, aber ich entsinne mich nicht, sie bis in ihr hohes Alter, ins 83. Jahr, hinein auch nur eine halbe Stunde ohne Arbeit gesehen zu haben. Wehe uns Kindern, wenn einer ins Blaue glotzte und grad einmal nicht wußte, was er mit seiner Zeit anfangen sollte! „Was seeltagst du?“ fuhr ihn die Großmutter an; es war die Redeweise wohl noch ein Überbleibsel katholischer Zeiten und Sitten, wo der „Allerseelentag“ ein großer Feiertag und damit ein Tag des Nichtsthuns war.[8] Ein andermal rief sie dem [18] Faulenzer wohl auch zu: „Was hockst du da wie ein Pogg’ im Mondschein!“[9] Überhaupt war sie um ein treffend, schlagend Wort nie verlegen und an malerisch veranschau­lichender Zuthat hatte sie keinen Mangel. Es war ein Zeichen günstigerer Stimmung, wenn sie solche aus dem alten Gesangbuch entnahm, und z. B. den Träumer, den Nichtsthuer anredete: „Sitzest du schon wieder da wie in praesepio, wie in matris gremio.[10] Auch auf die heil. Schrift griff sie zuweilen in ihren Anspielungen zu­rück, wenn auch manchmal nach einer recht absonderlichen Exegese. So rief sie z. B. wenn eins der Kinder aus Trotz oder Neid oder sonst ohne rechtmäßige Ursache weinte, dazwischen: „Wart, wart, ich komm mit dem Tröster!“ In dieser eigentümlichen Bezeichnung der Rute ist die Reminiscenz an die bekannte Schriftstelle von dem Tröster, der die Welt strafen werde (Joh. 16, 8), unverkennbar. Das Regiment, das sie über die Kinder führte, die unter ihrer Hand waren, hatte überhaupt mehr den Charakter der Strenge, als der Milde, wie es denn in jener Zeit auch sonst nicht Mode war, mit den Kindern so viel Federlesens zu machen, wie jetzt, wo das kleine Gesindel nicht selten als der Mittelpunkt angesehen wird, um wel­chen sich das Haus, wenn nicht gar die ganze Welt drehen

[19] soll. Was Wunders, wenn sich dieses dann auch dem entsprechend beträgt.

Doch wir kehren zu unsrer lieben Alten zurück und zu ihrem Regiment. Das Waschen ging nach Kommando; wollte eins der Kinder dabei Unterschleif treiben, ab und zu einmal den Nacken oder ein Öhrlein mild verschonen, das bekam’s zu büßen. Sonnabends aber, an dem großen Scheuertage, wo die kleinen Bengel der Reihe nach ab­gebadet wurden, walteten Großmutters Hände mit beson­derem Eifer. Vom Scheitel bis zur Zeh wurde der kleine Kerl mit dem wohlthätigen Seifschaum gesalbt, da half kein Sperteln (sich Sperren), da half kein Prusten über den beißenden Schaum, der in die Augen lief oder in den Mund sich verirrte, — die Säuberung mußte „gründ­lich“ vor sich gehen, und erst wenn das Bürschlein nach allen Regeln der Großmutterkunst gescheuert und getrocknet war, durfte es in Morpheus Arme sinken, um süß dem schönen Sonntagsmorgen entgegenzuschlummern.

Auch sonst hatten wir Kinder der pflichttreuen Groß­mutter manches zu danken. Unmöglich hätte unsre gute Mutter bei dem großen Hauswesen, das oft über zwanzig Personen am Mittagstisch sah, und bei der Sorge um „die Kleinsten“, auch noch jedesmal um unsern Auszug zu den Winterspielen und unsere Rückkehr aus denselben sich kümmern können. Das hatte die Großmutter auf sich genommen. Nun war’s freilich vom Vater streng ange­sagt worden, daß das Eis nicht probiert werden solle, ehe es fünf Grad oder drüber gefroren habe. Aber das Ther­mometer hatte offenbar seine Nicken; einem sagte es deut­lich, es seien die ersehnten fünf erreicht, einen andern neckte es mit dem Anschein, als ob noch ein Grädchen fehlte. Was blieb bei solcher Charakterlosigkeit übrig, als — wenigstens die ungefährlichen Pfützen auszuproben, — und [20] daß man dabei regelmäßig durchs Eis brach, daran war im Grunde doch nur das dumme Thermometer schuld. Und wenn Troja zehnmal mit Schneeballen gestürmt und wieder verloren wurde, — wer hätte da trocken bleiben können? Oder wenn wir im Spätherbst den unumgänglich notwendigen Graben um unsre neue Festung zogen, so war es doch rein unmöglich, daß es uns hiebei hätte besser ergehen sollen, als allen andern Schanzgräbern in der Welt. Kamen wir nun in dem hiebei erklärlichen Zustande, „naß und schmutzig wie die Grasdeuwel“ nach Großmutters Aus­druck, aus dem Feldzuge zurück, so war unser Empfang alles andre, als freundlich und von Siegeskränzen auch nicht einmal die Rede; statt dessen richtete man an uns die für Helden doch fast beleidigende Forderung, trockene Strümpfe, Stiefel und Kleider anzuziehen! — Doch — gegen den Papst giebt es keine Appellation und die Groß­mutter hielt an ihren Rechten fest — ärger als Bonifaz VIII.

Diese ihre Unfehlbarkeit pflegte sie auch noch jeden Montag in peinlicher Weise geltend zu machen. Sie war nämlich eine treue Freundin der Ordnung. Ihr Gesang- und Gebetbuch kehrten zwanzig Jahre immer zu demselben Platz auf der Kommode zurück, und sie hielt es für notwendig, uns eben so streng zur Ordnung zu erziehen. Jeden Montag hieß es darum, sobald wir vom Mittagstisch aufgestanden waren, und unsere erste Freistunde uns winkte: „Kinder, putzt eure Sonntagskleider!“ War sie schon an und für sich nichts angenehmes, diese Abkürzung unsrer Spielstunden, so wurde sie noch unangenehmer durch Großmutters scharfe Brille. Wenn wir die Kleider auch noch so gut zusammengelegt zurückbrachten, so wurden sie doch nicht auf Glauben angenommen. Erst mußten einige Schläge mit der Hand den Beweis liefern, daß auch aller Staub gründlich ausgeklopft worden, dann wurden sie auseinander­ [21] genommen und hierauf mit beängstigender Sorg­falt nachgespürt, ob nicht irgendwo eine kleine Spur vom Sonntagsbraten nachgeblieben war. Fand sich dergleichen, so wurden uns die Kleider unbarmherzig zwei- und dreimal zurückgegeben, wobei natürlich eine Vorlesung über das „Ehre dein Kleid, so ehrt es dich wieder“ niemals aus­ blieb. — — Und wir blöden Thoren! — wir dankten ihr nicht einmal dafür, sondern dachten nur an unsere schmählich verlorene Freistunde!

Man wird nun wohl gemerkt haben, daß die Groß­mutter nach Art aller Potentaten, deren Stellung ohnehin unerschütterlich ist, nicht grade bemüht war, sich die Liebe ihrer Unterthanen zu erwerben. Gleichwohl hatte sie sich einiger Anhänglichkeit von unsrer Seite zu erfreuen. Das lag erstlich daran, daß sie unserm Appetit niemals Schran­ken setzte, und daß sie in der untersten Schieblade ihrer Kommode zwei Schätze barg, deren Anziehungskraft selbst schmerzliche Erinnerungen vergessen ließ. Diese Schätze waren das große „Pferdebuch“ und der „Robinson“, das erstere ein großformatiges Kupferwerk zu irgend einer Reitschule, in welchem Pferde in allen möglichen Gangarten und Stellungen abgebildet waren, — das letztere Campes unsterb­liches Kinderbuch mit Bildern; — welcher Knabe hätte diesem Zauber widerstehen können, zumal in einer Zeit, wo die Kinderwelt noch lange nicht so mit Büchern und Bildern überschüttet und übersättigt war, wie jetzt! So wurde denn immer über diesen Schätzen und an dem Kindertisch, der in Großmutters geräumigem Zimmer stand, eine wohlthuende Annäherung vollzogen.

Freilich warm oder zärtlich oder gar sentimental wurde sie nie dabei. Nur zweimal überhaupt in ihrem Leben habe ich sie gerührt gesehen. Das eine mal war’s, wo sie der unvergeßlich „schönen alten Zeit“ gedachte, und ihr die [22] unwürdigen Verirrungen der heutigen Moden und Sitten entgegenstellte. Puder im Haar, hätten die jungen Damen reizend, „wie ein Bäumchen im Reiffrost“ ausgesehen, die Taillen seien schlank zum Umspannen mit der Hand ge­wesen. In der That fand sich im Schrank noch ein schreck­liches, rosa und braun gestreiftes seidnes Mieder aus jenen wohlgeschnürten Zeiten, welches ihrer Schilderung Recht gab, zugleich aber auch die pädagogischen Klagen des berühmten Salzmann über die Nachteile der Schnürbrust in dessen lehrreichem Buch „vom menschlichen Elend“ bestätigte. Da hätte man, fuhr sie fort, beim Tanz nicht geras’t und galoppiert, wie jetzt, sondern im graziösen Menuett Pas und Verbeugungen gemacht; da hätte man nicht das Klavier gepaukt und dazu kraus und bunt gekollert (— Übersetzung von Coloratur —), wie jetzt, sondern sittsame, zarte Arien gesungen, wie z. B.

Ihren Schäfer zu erwarten,
Trallala, Trallelilela.
Schlich sich Phyllis in den Garten,
Trallala, Trallelilela.

Hiebei wurde sie gerührt. Und zum zweitenmale habe ich sie in ähnlicher Stimmung gesehen, als sie, 80 Jahre alt, einen Schwindelanfall bekam, und von mir, der zufällig zugegen war und herzusprang, aufgehoben und in ihr Bett getragen wurde. Daß der kleine Paul, den sie auf ihren Händen getragen, sie „wie ein Federchen“ aufgehoben habe, war ihr gar zu verwunderlich und rührend. „Wie ein Federchen! Wie ein Federchen!“ sprach sie vor sich hin und konnte sich nicht auswundern.

Meine Großmutter war endlich auch eine fromme Frau, freilich etwas nach ihrer Weise. Kein Tag ihres Lebens verging, wo sie nicht aus ihrem schönen alten Riga’schen Gesangbuch ihr Lied und aus ihrem Müller oder Starke [23] ihr Gebet gelesen hätte, und kein Sonntag, an dem sie versäumt hätte, die Predigt des Tages zu lesen. Die lieben, fünfzigmal durchgeles’nen Bücher waren an den Ecken ganz rund geworden von lauter redlichem Gebrauch. Zu unsrer Schande muß ich’s gestehen, daß wir kleinen Unholde ihrer Andacht leider nicht immer die schuldige Rücksicht entgegen­ brachten. So wenig ein Sperling länger als fünf Minuten auf einem Ast sitzt, so wenig war es uns kleinen Zug­vögeln möglich, unsern Wandertrieb grade um die Bet- und Andachtsstunde der Großmutter unter Schloß und Riegel zu legen. Zu allem Unglück war der letzteren Behausung, die uns unentbehrliche „gelbe Stube“, ein Durchgangszimmer. Eh man sich’s versah, war man mitten darin, während die Großmutter las, und wurde seine Missethaten erst inne, als sie, von ihrem Buche aufsehend, die kleine geräuschvolle „Klerisei“ oder „Karawane“ mit einem tüchtigen Donnerwetter überschüttete, das jedenfalls nicht im Texte stand. Natürlich waren die Wandervögel sofort auf dem Rückzug und die Andacht wieder in ihrem gewohnten Gang. Auch sonst war letztere in erregten Augenblicken nicht allemal ein ausreichendes Beschwichtigungsmittel für die aufsteigende Unzufriedenheit, wie wenigstens die beiden Tanten versicherten, die das als nächste Nachbarinnen der gelben Stube natürlich am besten wissen mußten.

Dies Zugeständnis soll meiner Ehrerbietung und Dankbarkeit, die ich für meine Großmutter empfinde — und jetzt gewiß viel lebhafter, als damals, wo ihre Hand noch über mir war, — keinen Abbruch thun. Ebensowenig soll dies der Fall sein, wenn ich bekenne, daß sie auch von dem leidigen Erbteil, das uns allen anhaftet, der Hoffart, nicht ganz frei geblieben war. Sie hielt viel, fast zuviel von ihrem hellen, klaren Verstande. Freilich nicht ohne Grund; denn meist wußte sie wirklich den Nagel auf den Kopf zu [24] treffen; aber, — wie das bei päpstlichen Naturen häufig der Fall ist, daß sie auch über ihren Leisten hinaus urteilen, oder vielmehr die ganze Welt zu ihrem Leisten rechnen, so war es auch hier. Z. B. in Betreff meines Lehrers, den der Vater, um sich unsre Vorbereitung für die Universität zu erleichtern, für die letzten zwei Jahre meines Verweilens im Elternhause engagiert hatte. Nach Großmutters An­sichten mußte ein studierter Mann sich grad und nobel halten und viel „Gegenwärtiges“ (d. h. Geistesgegenwart, Lebhaftigkeit, Repräsentation) an sich haben. Da nun der gelehrte Dr. v. d. S. von letzterer wenig besaß und, was feine Haltung anlangt, recht gebeugt einherging, — Großmutter nannte das „ducknackig“, so war sie mit ihrem Urteil gleich im Reinen. „Der hat gar nicht studiert,“ hieß es; „ist ein abgelassener Kaufgesell.“ Wir machten nun wohl darauf aufmerksam, daß er eine große silberne Brille trage, Doktor der Philosophie sei, das Zachariäsche geographische Werk herausgegeben habe und jetzt eben damit beschäftigt sei, Aristoteles’ Poetik mit lateinischer, deutscher und englischer Uebersetzung und gelehrtem Kommentar herauszugeben, und uns schon jetzt zum Vorschmack künftiger Freuden mit dieser Schüssel bis zur Ohnmacht füttere, — das einzige, was wir erreichen konnten, war, daß sie zugab: „so mag er studiert haben; aber ausstudiert hat er nicht, dabei bleib ich. Hat ja gar kein Gegenwärtiges.“ — Griechisch und Latein ließ sie übrigens in der Erziehung gelten, hatte sogar einen gewissen Respekt davor; denn auch ihr geliebter Friedrich hatte diese Sprachen treiben müssen, um auf die Universität gehen zu können. Was aber die Geometrie anlangt, war sie anderer Meinung, wie wir gleich sehen werden. Um seiner Vorbereitung besser obliegen zu können, hatte sich eines Abends einer der Knaben in Großmutters Zimmer zurückgezogen. Sei es nun, [25] daß er über dem pythagoräischen Lehrsatz brütete, und die schuldlos geopferten Hekatomben ihm tief zu Herzen gingen, sei es, daß er den Satz, daß zwei gegen einander geneigte Linien sich notwendig in einem Punkte schneiden müssen, praktisch ausproben wollte, kurz seine Nase war endlich auf das Buch geraten und der Inhaber süß eingeschlafen. Mitleidig brachte Großmutter den Schlaftrunkenen, der an jenem Abend gar nicht mehr zu sich kommen wollte, zu Bett, freilich nicht ohne ihr Urteil über „die dummen Fratzenbücher“ abzugeben, welche die Kinder nur schläfrig machten. Ja, wenn studierter Leute Kinder noch Bau­meister oder solche arme Schlucker, Landmesser, werden müßten; aber wer selbst studieren werde, was solle der damit? Was sie über die Weltgeschichte dachte, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Dagegen ist mir das Urteil unserer alten treuen Margarete noch sehr erinnerlich. Ich weiß nicht, wo wir grade waren, ob in Ägypten bei Sesostris, Pheron, Proteus, Rhampsinitus, Cheops, Chephren, Mycerinus, Sisak, Thnephachtus und Bokkhoris, oder in Babylon bei Evilmerodach, Neriglissar, Nabonedus, Laborosoarchod, oder wo sonst es gewesen sein mag, — kurz, die gute Alte hört, wie wir eine große Menge barbarischer Laute abhaspeln, und fragt, was denn das sei. Wir erwiderten, das seien lauter Könige. — „Leben die noch alle?“ fragt sie weiter in aller Unschuld. Wir, über ihre Unwissenheit laut auflachend, belehren sie, daß die Herren schon vor mehr als 3000 Jahren das Zeitliche gesegnet hätten. Da faltet die gute Alte vor Verwunderung und Mitleid ihre Hände und ruft: „Was man doch die armen Kinder mit solchen längst verfaulten Königen plagt!“ — Ich habe meine Großmutter stark im Verdacht, daß sie derselben Ansicht war. Aber, was will man? Sagt nicht auch Herder in seinen „Ideen“ dasselbe, freilich mit etwas [26] andern Worten, wenn er darüber klagt, daß man die Ge­schichte noch immer als eine Pathologie des Kopfes an­sehe und behandle. – Aber wer hört auf Herder oder auf Margaret! Nach wie vor müssen Gorm der Alte und Harald Blauzahn, ja sogar alle „Teilfürsten“ in die armen Kinderköpfe hinein.

Einen ganz besondern Haß hatte die Großmutter gegen das Turnen, welches in jenen Tagen durch einen jungen Ausländer zuerst bei uns in Aufnahme gekommen war und mit Leidenschaft betrieben wurde. Sie vermied sogar den undeutschen Ausdruck, und nannte die neue Wissenschaft schlechtweg „das Turmsteigen“ oder die „Hosenreißerei“, und meinte, sie sei wohl von einem verhungerten Schneider erfunden worden, der grade keine Arbeit gehabt habe.

Wenn ich droben von dem kleinen Restchen Hoffart sprach, das sich bei meiner lieben Großmutter in einem Herzenswinkel versteckt habe, so bezieht sich das auch darauf, daß sie namentlich auf ihr Verständnis in allen Zwei­gen einer ländlichen Wirtschaft sich etwas zu gute that. Und Großes hatte sie darin in der That geleistet. Wer verstand sich auf das Butterschlagen, wie sie? Wer spann einen so feinen Wollenfaden, wer verstand es, solche seidenweiche Strümpfe zu stricken? Wer braute so herrliches Bier? Hatte doch das Tergelnsche Bier einen weiten Ruf; war es doch sogar von der ländlichen Muse besungen worden, was einzig ihrem Verdienste zu verdanken war. Wer wußte mit dem Geflügel, wer mit den Bienen so Bescheid, wie sie? — Aber freilich, wie hätte auch sonst ihr Friedrich zum Studieren kommen können! Des Vaters Gehalt war klein; wenn die Mutter nicht den Thaler bei dem Groschen zu sparen verstand, so war an Studieren nicht zu denken. Der Vater hielt das ohnehin für einfach unmöglich; aber ein Mutterherz verzagt nicht so bald. Hatte sie nicht schon [27] den alten „Kaufgesellen“ Setau ins Haus genommen, von dem ihr Friedrich die schöne, feste Handschrift gelernt hatte, die ihn sein Leben lang auszeichnete? Aber dabei wollte sie nicht stehen bleiben. Der Knabe sollte zum Pastor Rei­mer in Pension, aufs Gymnasium und auf die Universität nach Dorpat. Das gab Sorgen bergehoch, ja sogar einmal eine rechte Anfechtung, wie wir gleich hören werden. Und diese war es auch, die zu jenem in der Überschrift angekündigten Erlebnis führte.

„Trine,“ hatte einmal die Großmutter zu ihrer alten Magd gesagt, als sie noch in ihrem lieben Tergeln schaltete und waltete und ihr Friedrich noch ein kleines Bürschlein war, — „warum steht der Platz da links hinter der Wiese so unbebaut? Das Land ringsum ist gut, und offenbar muß da vorzeiten einmal ein Bauerhof gestanden haben; es sind ja noch deutlich die Fundamentsteine zu sehen.“

„War auch einmal ein Bauerhof dort und noch dazu ein großer. Aber man spricht nicht gern davon.“

„Warum denn nicht?“

„Na, so; man soll nicht von ihm reden; er kommt auch ungerufen.“

„Ach so! Wird ja aber wohl so gefährlich nicht sein; wir sind doch beide getauft. Sag nur an, was ist’s damit?“

„Nun ja, Frau, wenn Ihr’s denn wollt. —

„Zur Pestzeit lebte dort ein Bauer, der war sehr reich; — aber es war ein böser Mann. Wie er zu seinem Reichtum gekommen, — denn er hatte manches Tönnchen mit blanken Thalern, davon ließ sich nicht viel Gutes sagen. Alte Leute sagten, der Leibhaftige solle ihm nachts das Geld durch den Schornstein herabgeschüttet haben; dafür habe der Bauer ihm seine Seele verschreiben müssen. Klüglinge meinten freilich später, der Bauer sei einzig da­durch so reich geworden, daß er gestrandete Schiffe ausgeplündert­ [28] habe, andere sagten, er habe Salz geschmuggelt. Mag sein; wer einmal dem Bösen sich verschrieben hat, lernt jeden Tag etwas Neues dazu; aber ich bleib doch dabei, was die alten Leute sagten. Auf den Bienen-Krisch ist erst gar nichts zu geben; der meint, der Bauer sei durch seine dreißig Bienenstöcke so reich geworden, die er in seinem Garten gehabt. Aber das redet er nur so in den Tag, weil er selbst solch ein versessner Honiggucker ist. Ich laß mir das nicht weismachen. Soviel wirft Honig nicht ab; das sieht jedes Kind.

„Nun, dieser reiche Bauer hatte einen Sohn, sein einziges Kind, und das war ein Erztaugenichts, schlug alles tot; darum gönnte ihm der Vater nichts, und lebten die beiden wie Hund und Katz. Als nun die Pest ins Land kam, und die Menschen starben wie Fliegen an den Pilzen, da dachte der Alte daran, sein Geld beiseite zu bringen. So stand er denn in einer Nacht auf und begab sich heim­lich in die Riege (Dreschscheune); dort grub er ein tiefes Loch. Er meinte, daß niemand es gesehen habe; aber der Sohn muß doch etwas davon gemerkt haben, was der Vater im Sinne hatte. Des andern Tages „um die Schummerstunde“ (Dämmerung) macht sich der Alte wieder dorthin auf, nachdem er den Sohn, wie gewöhnlich um diese Zeit, den Weg nach dem Kruge hatte einschlagen sehen. Sacht legt er die Thür an, und will eben sein Tönnchen versenken, da fällt ihm ein, sich noch in der halbdunkeln Scheune um­zusehen, ob nicht jemand da sei, der’s bemerken könnte, — und was sieht er? Grad oben auf dem großen Streck­balken liegt auf dem Bauch der Sohn und schielt auf den Vater herab. ,Du Hund!’ ruft der Alte in fürchterlichem Zorn; ,Du glaubst, ich sehe dich nicht, wie du da lauerst, — lauerst auf meinen Tod und auf mein Geld. Aber soll dir nichts helfen! Hasen sollen darüber jagen, Wölfe sollen [29] drüber hinlaufen, Frösche sollen darüber springen, — aber du sollst nichts von meinem Gelde sehen!' — Damit ging der Vater aus der Scheune, und schlug die Thür zu, daß sie fast in Stücke flog.

„Und was er gedroht, das hat er gehalten. Eines Tages, wo der Sohn im Kruge betrunken am Boden lag, da hat sich der Vater hinausgeschlichen, niemand weiß wohin, und sein Geld vergraben. Bald darauf ist er an der Pest gestorben und auch der Sohn. Die Stätte aber war wie verflucht; die Gebäude verfielen, bis sie endlich ganz verschwanden. Kein Mensch wollte dort hausen, wo der Böse gewaltet und die verkaufte Seele sich geholt hatte. Einen Landstreicher, der einmal dort in der verfallnen Scheune sein Nachtquartier gesucht, fand man am andern Morgen mit umgedrehtem Halse, das Gesicht im Nacken. Nun wißt Ihr, Frau, warum die Stätte leer ist.“

Manches Jahr war vergangen seit der Zeit, da die alte Trine diese Geschichte der Großmutter erzählt hatte; aber von Zeit zu Zeit fiel sie ihr immer von neuem ein. So auch in dem Jahr, da ihr Friedrich in die Pension kommen sollte, um zu studieren. Es war Ende August oder Anfang September, die Nächte waren sternklar, der Mond schien hell ins Zimmer, — da träumte ihr einmal, sie sähe den alten Bauer, der dort in dem verwünschten Hofe gehaust, leibhaftig vor sich stehen, im weißen, langen, wollnen Rock, wie noch jetzt die Bauern in jener Gegend sich kleiden, den abgetragnen Filzhut auf dem Kopf, die Bastschuhe an den Füßen, — mit seinem magern harten Gesicht, den tiefen, tückischen Fuchsaugen, und mit einem höhnischen Lächeln um die dünnen Lippen.

„Ja, ja; so hapert’s also mit dem Geldchen!“ redet er sie, heiser lachend, an. „Seid aber auch dumm genug. Ist viel mehr Geld unter der Erde, als über. Kommt [30] doch mit, närrische Frau. Den Wolfssumpf kennt Ihr. Seht Ihr gleich dahinter, hart am Kreuzweg, den großen grauen Stein, den der Blitz gespalten hat, und dem Spalt grad gegenüber, zwei Schritt von ihm, die Eiche. Die hab ich gepflanzt. Zwischen der Eiche und dem Spalt, — da, da liegt mein Geldchen, da liegt mein Tönnchen, — da liegt’s. Ha! ha!“ lacht er noch einmal höhnisch auf, — und weg war er. Die Großmutter erwacht.

Natürlich erzählt sie sofort ihrem Mann den seltsamen Traum. „Der Kreuzweg, der Stein, die Eiche, alles paßt zusammen. Ich bin wohl hundertmal dort vorübergegangen. Denk, Mann, wenn unser Friedrich doch noch zum Stu­dieren käme! Er hat doch wirklich einen guten Kopf!“ — „Ja, ja; wenn der Hättich ein Habich wär! Der Hahn fliegt auf den Zaun, der Storch über’s Dach; jeder nach seiner Macht.“

„Aber man könnte doch probieren, lieber Mann; ein bißchen nachgraben könnte doch niemand schaden.“

„Narrenspossen!“ rief ungeduldig der Alte.

„Wie kannst du das sagen, lieber Mann!“ fuhr sie fort. „Haben nicht die Lieberkühns im Schloß Pilten jetzt die dritte Tochter mit Silber ausgesteuert; drei Dutzend Eßlöffel allein! Und das alles aus den silbernen Aposteln, die er dort im alten Klostergang ausgegraben hat.“

„Mag sein; ob Lieberkühns ihr Silber gegraben oder sonst wo her haben, geht mich nichts an. Mit diesen Schatzgräbereien bleib mir vom Leibe; ich will davon nichts wissen und nichts hören. Man muß sich nicht lächerlich machen.“

Damit stand er auf, nahm sein Mützchen und ging in die Wirtschaft.

Wenn er aber geglaubt hatte, die Geschichte sei damit zu Ende, so war er in großem Irrtum. Einige Tage später hatte er in Geschäften nach Windau zu fahren. Als [31] er weg war, ließ die Großmutter den Bienen-Krisch[11] zu sich rufen, einen alten, erfahrenen Bauersmann, dem sie nicht bloß alle ihre Kenntnisse in der Bienenzucht verdankte, sondern den sie noch fort und fort bei wichtigen Gelegen­heiten zu Rate zog; denn der Alte mit den stillen blauen Augen, mit dem freundlichen Lächeln auf den Lippen und dem langen, schlichten Haar, hörte Gras wachsen, wie die Leute sagten.

Als er kam, fand er einen Tisch sauber gedeckt, gebratnen Speck, Pfannkuchen, eine Schale mit Honig und einen Krug vom besten Bier auf demselben. Nachdem er sich's hatte wohl schmecken lassen, begann er: „Nun, Frau, wie haben denn dieses Jahr die Bienchen gearbeitet?"

„Wie Ihr seht; es hat grad nicht gefehlt."

„Ja, es ist ein Gottessegen mit diesem kleinen Volk; man sollte es kaum glauben, wieviel Weisheit Gott ihnen in ihren kleinen Kopf getröpfelt hat.“

„Gewiß, gewiß, Vater Krisch; und Ihr habt mir erst die Augen dafür aufgethan. Das danke ich Euch noch heute. Hab Euch auch nie vergessen.“

„Nein, das zu sagen, wär’ Sünde. — Aber was nehmen wir denn heute vor? Schwärme einzuheimsen giebt es doch nicht und Honig zu sammeln wohl auch nicht mehr?“

„Wer weiß? Was meint Ihr, Krisch, wenn wir ein­ mal Honig unter der Erde zu sammeln gingen.“

„Warum nicht?“ sagte der Alte halb lächelnd, halb zweifelnd; „wenn’s nur da auch was zu holen giebt;“ denn noch wußte er nicht, worauf es hinaus sollte.

Jetzt erinnerte ihn die Großmutter an die Geschichte von dem reichen Pestbauern, erzählte ihm ihren seltsamen Traum und schloß mit der Aufforderung: „Was meint Ihr, [32] Vater, wenn wir einmal zu dem großen Stein hingingen und nachgrüben? — Finden wir das Tönnchen, — leer sollt Ihr nicht ausgehen!“

„Des bin ich bei Euch gewiß,“ sprach der Alte, in­dem er ein nachdenkliches Gesicht machte. „Hab nun wohl solche Geschäfte mein Lebetag nicht betrieben; aber Sünde kann es doch auch grad nicht sein, das Silber aus der Erde zu holen, das der gottlose Narr dort vergrub. Spricht doch unser Heiland selbst von einem Schatz im Acker (Matth. 13, 44), welchen ein Mensch fand, und tadelt ihn nicht, daß er ihn zu erlangen suchte. Was aber den Bösen anlangt, der an solchen Örtern hausen soll, so wird ein kräftig Vaterunser ihm wohl die Wege zeigen. Aber um Mitternacht, hab ich gehört, muß man an die Sache gehen.“

„Ja wohl,“ erwiderte die Großmutter; „ich meine, diese Nacht; der Mond scheint ja hell von neun Uhr ab.“

So sah man denn kurz vor Mitternacht die beiden still neben einander zum Hof hinausgehen, den Krisch mit einer Schaufel auf der Schulter.

Kein Wort ward ge­sprochen. Der Nebel legte sich wie ein großer weißer Schleier über die Wiese. Es wurde den beiden Wandrern wohl etwas eigen zu Mut in der stillen einsamen Nacht, und die Gebüsche am Wolfssumpf, die bald in seltsamen Gestalten aus dem Nebel hervortraten, bald wieder ver­schwanden, trugen auch nicht grade dazu bei, den Weg behaglich zu machen. Aber die Gegend war ihnen bekannt und bald standen sie vor dem geheimnisvollen Stein.

Der Alte lüftete seine Mütze und betete; die Groß­mutter faltete gleichfalls ihre Hände, dachte an ihren Fried­rich, und bat den lieben Gott mit der ganzen Inbrunst eines Mutterherzens, er solle sie doch das Tönnchen finden lassen. — Dann ging’s an die Arbeit. Der Boden war­ weich. Soviel aber auch gewühlt ward, nichts wollte sich [33] finden. Da — plötzlich schlägt die Schaufel an. Der Groß­mutter Freude und Spannung kann man sich denken. Das Herz klopfte ihr zum Springen; weiter und weiter gräbt der Alte; es ist etwas Hartes, etwas Rundes; — endlich, endlich kriegt er’s fester zu fassen, hebt es mit Mühe in die Höhe, — aber es ist nur ein eingesunkener Feldstein! Alles weitere Suchen und Graben hilft nichts.

Der Alte hält inne, und richtet seine schon etwas schwachen Augen spähend auf einen dunkeln Gegenstand, der sich in der Ferne zwischen dem Nebel am Boden hin und her bewegt.

„Frau,“ sagt er, „es wird nichts; seht Ihr ihn, den alten Lügner, den schwarzen Hund dort, wie er herumspringt und uns auslacht. Daß du in deiner eignen Küche schmortest, bis du gar bist!“ Und damit warf er die Schaufel hin.

Was aber den schwarzen Hund anlangt, so war der alte Krisch diesmal doch etwas im Irrtum gewesen; — es dauerte nicht lange, so kam das Tier aus dem Nebel herangesprungen, und erwies sich als der treue alte Hauspudel, der die Abwesenheit seiner Herrin nur zu bald bemerkt hatte, ihrer Spur nachgelaufen war, und nun mit fröhlichem Springen und Bellen das glücklichste Wiedersehen feierte. Krisch freilich wollte diese natürliche Erklärung nicht wahr haben; jener im Nebel sei ein andrer gewesen — und daß jetzt der Haushund an dessen Stelle erscheine, nur ein neues Stückchen von dem Schwarzen.

Gesenkten Hauptes gingen die beiden nach Hause. Es dauerte eine Weile, bis die Großmutter das Schweigen brach. „Krisch,“ sagte sie endlich, „sprecht nicht davon.“ — „Na, Frau, das braucht Ihr nun wohl nicht zu fürchten,“ erwiderte der Alte ziemlich mürrisch; „haben wir heute uns doch beide zu Narren gemacht.“

Als am andern Tage ihr Mann aus der Stadt zurück­kehrte, [34] beichtete die Großmutter als ehrliche Ehefrau ihm ihre Thorheit. Der Alte erwiderte nur lächelnd: „Hab ich's nicht gesagt?“ Und damit war die Sache gut.

Unsere Großmutter aber las in jenen Tagen wohl mit noch ganz andrer Bewegung als früher ihr „Befiehl du deine Wege“ oder was sonst unter den schönen Glaubens­liedern ihr nach dem Herzen war. Doch dabei blieb es nicht. Eifriger als sonst fütterte sie ihre Hühner, und nudelte sie ihre Gänse und „Kalkunen“ (Puten); fleißiger als zu­vor rührten sich ihre unermüdlichen Hände, um die feinsten Strümpfe zum Verkauf nach Riga schicken zu können, auch kam ein Bienenstock nach dem andern zu dem alten Bestande hinzu. Und Gottes Segen war mit ihr; er ließ sie, wenn auch unter mancher Entsagung und Entbehrung, zu jeder Stunde den Groschen finden, der not that, so daß auch ihres Herzens heißester Wunsch in Erfüllung ging. Und als ihr Friedrich ausstudiert hatte, als er gar in das Haus des alten Pastors, an dessen Schultisch er gesessen, als Adjunkt und Schwiegersohn zurückkehrte, — als auch ihre Töchter Haus und Herd gefunden, da konnte sie nicht anders als oft und oft in Demut ihre Kniee beugen vor ihrem Gott und sprechen: „Herr, du hast Großes an mir gethan; des ist meine Seele fröhlich.“

Indem ich aber diese Zeilen dem Andenken meiner Groß­mutter widme, das mir niemand antasten soll, wenngleich sie manche rauhe Seite an sich hatte, blicke ich gern und mit Dank zu ihr zurück, und küsse ihr im Geist noch einmal die lieben, fleißigen Hände; hab ich doch selbst noch aus den Früchten ihrer Arbeit geerntet.



  1. Unser Vater.
  2. Auch anderswo; man lese z. B. v. Knigge’s „Reise nach Braunschweig,“ oder Chesterfield und Montesquieu in „Aus allen Zeiten und Ländern.“ I. Jahrg. 6. Lfg.
  3. Natürlich pseudonym, wie überhaupt, wo im entferntesten zu fürchten war, daß jemand verletzt werden könnte.
  4. Er sprach gern von Düsseldorf und Korsika und war wohl auch wie manche Leute in Deutschland voll Bewunderung für den großen Sohn jener Insel. Ich vermute, daß er sogar eine Zeit lang an jenem Hofe geweilt hatte, wo es „alle Tage lustik“ herging. Sein Französisch war unter den Landwirtschaftssorgen all­mählich etwas verduftet. Aber er war nie in Verlegenheit, das französische Dictionnaire im Notfall um einige neue Bildungen zu vermehren. Auf einen Regenbogen deutend, fragte ihn sein Groß­töchterlein: Comment cela s’apelle en français, cher grand­papa? — „C’est un volquenpluie, mon enfant,“ — ant­wortete der Alte mit größter Ruhe, dem just das Wort nicht einfiel.
  5. In alten Zeiten und auch in meiner Kindheit noch wur­den „aus Sparsamkeit“ Kien- oder Birkenspäne von den Bauern statt der Lichte gebrannt. Diese Späne nannte man Pergel.
  6. Doch gab es auch, wie sich von selbst versteht, höchst ehren­werte Ausnahmen, z. B. jenen alten Baron K. auf Tr., der einen überaus aufgeklärten Pastor, welcher ihm mit großer Süffisance den allerneusten rationalistischen Kram vortrug, mit den Worten unterbrach: „Ach, was Sie da reden, Pastor! Weder werden Sie mir zu ’nen Heiden bekehren, noch ich Ihnen zu ’nen Christen.“
  7. Der Großvater war nämlich, nachdem er Tergeln ver­lassen und mittlerweile noch ein andres Gut in Bewirtschaftung gehabt, nach Hasenpoth gezogen und dort nach langen Leiden am Zungenkrebs gestorben.
  8. Vielleicht aber auch anders zu erklären, nämlich seeltagen = seelzogen; bei Luther so viel wie in den letzten Zügen liegen.
  9. „Pogge“ im Plattdeutschen = Frosch. In meiner Groß­mutter Kindheitszeit wurde das Plattdeutsche noch häufig in den Ostseeprovinzen gesprochen, namentlich in den Seestädten; daher die Reminiscenz.
  10. d. i. wie in der Krippe, wie in der Mutter Schoß, aus dem altkirchlichen, wenn ich nicht irre, auch noch in dem alten Rigaschen Gesangbuch sich findenden Weihnachtsliede: In dulci jubilo.
  11. Krisch, lettische Abkürzung von Christian.