Aus dem Leben einer jüdischen Familie/Von Sorgen und Zerwürfnissen in der Familie

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[49]
III
Von Sorgen und Zerwürfnissen in der Familie


1.

[1] Der Onkel lud alle seine Geschwister mit sämtlichen Kindern zusammen ein. Ich sehe ihn noch auf der Freitreppe stehen, die zum Garten hinunterführte. Wir erhielten unsere Abendmahlzeit draußen auf dem Rasen, und seine Augen leuchteten vor Freude, während er uns ermunterte, es uns recht schmecken zu lassen. Als wir ihn das letztemal besuchten, wohnte er nicht mehr in diesem schönen Hause. Er hatte es aufgegeben und mit einer Mietwohnung vertauschen müssen. Bei diesem Besuch war er besonders weich und gütig, nahm uns auf die Knie und fragte eingehend nach unsern Schulangelegenheiten. Ich war damals 10 Jahre alt. Ich glaube, es war nicht lange danach, als wir plötzlich die Nachricht von seinem Tode erhielten. Meine Mutter ging sofort hin, obgleich es Werktag und Geschäftszeit war. Es herrschte eine schreckliche Aufregung in der ganzen Familie; wir Kinder sollten nichts Näheres erfahren, aber allmählich sickerte es doch zu uns durch, daß er sich erschossen hatte. Geschäftliche Sorgen hatten ihn dahin gebracht. Seine eigene Geschäftsführung war tadellos; aber er hatte seinen Brüdern ausgeholfen, die in Schwierigkeiten waren – einem in Rumänien und einem in Breslau –, und wurde in ihren geschäftlichen Zusammenbruch mithineingezogen. Als er keinen Ausweg mehr sah, wie er seine Gläubiger befriedigen konnte, wollte er den drohenden Verlust seiner Ehre nicht überleben. Man sagte nachher, daß es sehr wohl möglich gewesen wäre, seine Angelegenheiten zu ordnen. Wenn ich mich recht erinnere, war seine Beerdigung die erste, die ich mitmachte. Wir saßen vorher mit unserer Mutter unter den Leidtragenden in dem Vorraum der Leichenhalle, entferntere Verwandte und Freunde traten an uns heran und reichten uns die Hand zum Zeichen der Teilnahme; meine Mutter sagte mit einem Blick auf uns: „Der zweite Vater“. Dann öffneten sich die Türen der Leichenhalle, und alles strömte hinein. Eine ernste Musik empfing uns, der Raum war feierlich geschmückt; vorn stand zwischen grünen Bäumen der Sarg, ganz mit Blumen bedeckt. Der Rabbiner begann die [50] Leichenrede. Ich habe viele solche Reden gehört. Sie warfen einen Rückblick auf das Leben des Verstorbenen, hoben hervor, was er Gutes getan, und rührten damit den ganzen Schmerz der Angehörigen auf; etwas Tröstendes enthielten sie nicht. Es wurde zwar mit feierlich erhobener Stimme gebetet: „Und wenn der Leib zu Staub zerfällt, so kehrt der Geist zu Gott zurück, der ihn gegeben“. Aber dahinter stand kein Glaube an ein persönliches Fortleben und an ein Wiedersehen nach dem Tode. Als ich viele Jahre später zum erstenmal einem katholischen Leichenbegängnis beiwohnte, machte mir der Gegensatz einen tiefen Eindruck. Es war ein namhafter Gelehrter, der zu Grabe getragen wurde. Aber von seinen Verdiensten, ja von dem Namen, den er in der Welt getragen hatte, war nicht mehr die Rede. Nur unter ihrem Taufnamen wurde die arme Seele der göttlichen Barmherzigkeit empfohlen. Doch wie tröstend und beruhigend waren die Worte der Liturgie, die den Toten in die Ewigkeit geleiteten!

Ein schrecklicher Augenblick war es immer, wenn die Träger am Schluß der Leichenfeier den Sarg aufhoben und hinaustrugen. Die Trauernden folgten paarweise über den weiten Friedhof zum geöffneten Grabe. Dann kam wieder etwas Fürchterliches: das Herablassen des Sarges und das dumpfe Aufstoßen, wenn er den Grund erreicht hatte. Dagegen empfand ich es tröstlich, wenn ich an die Reihe kam, drei Schaufeln Erde hinabzuwerfen. Das war so wie ein letzter Gruß. Am Schluß wurde noch einmal in der Leichenhalle gebetet.

Ein Jahr später, genau um dieselbe Zeit, kam ein ganz ähnlicher Schlag. Der jüngste Bruder meines Vaters, der das großelterliche Geschäft in Gleiwitz übernommen hatte, machte wegen geschäftlicher Schwierigkeiten seinem Leben ein Ende. Wir hatten ihn wenig gekannt, denn er besuchte uns selten; aber das Ereignis als solches und die Parallele zu dem im Vorjahr wirkte erschreckend. Daß der Selbstmord etwas Furchtbares sei, ganz anders furchtbar als der Tod als solcher, das fühlte ich wohl. Und meine Mutter mit ihrer unverwüstlichen Lebensfrische pflegte in solchen Fällen zu sagen, nur in einer augenblicklichen Geistesverwirrung könne ein Mensch einen solchen Entschluß fassen und durchführen; bei gesundem Verstande sei es nicht möglich. Wenn ich später erwog, wie so etwas möglich sei, und zugleich bedachte, warum wohl gerade bei Juden der Selbstmord ziemlich häufig ist, fand ich noch eine andere Erklärung. Auch der wirtschaftliche Kampf gegen die Juden, der im vorigen Jahr so viele mit einem Schlage ruinierte, hat ja zu einer erschreckenden Anzahl von Selbstmorden geführt. Ich glaube, die Unfähigkeit, dem Zusammenbruch der äußeren Existenz ruhig ins [51] Auge zu sehen und ihn auf sich zu nehmen, hängt mit dem mangelnden Ausblick auf ein ewiges Leben zusammen. Die persönliche Unsterblichkeit der Seele ist nicht Glaubenssatz. Das ganze Streben ist ein diesseitiges. Selbst die Frömmigkeit der Frommen ist auf Heiligung dieses Lebens gerichtet. Der Jude kann zähe, mühevolle, unermüdliche Arbeit und die äußersten Entbehrungen Jahr um Jahr ertragen, solange er ein Ziel vor Augen sieht. Nimmt man ihm dies, dann bricht seine Spannkraft zusammen; das Leben erscheint ihm nun sinnlos, und so kommt er leicht dazu, es wegzuwerfen. Den wahrhaft Gläubigen freilich wird die Unterwerfung unter den göttlichen Willen davon zurückhalten.

Der Onkel in Gleiwitz hinterließ sechs Kinder. Die beiden ältesten Töchter – Zwillinge – wurden durch die Trauernachricht von einer Vergnügungsreise zurückgerufen. Sie waren sehr verwöhnt und hatten bisher keine ernste Arbeit kennengelernt. Nun wurden sie nach Breslau geschickt, um einen Kursus in einer Handelsschule durchzumachen und möglichst schnell kaufmännische Stellungen anzunehmen. Man brachte sie, getrennt voneinander, bei Schwestern ihrer Mutter unter. Wir hatten auch sie früher selten zu sehen bekommen. Jetzt besuchten sie uns öfters am Sonntag und schütteten bei unserer Mutter ihr Herz aus. Als sie einmal unter Tränen gestanden, wie wenig liebevoll sie von ihren Verwandten behandelt wurden, sagte meine Mutter einfach: „Kommt zu uns“. Sie horchten fast ungläubig auf, aber es war deutlich zu merken, wie verlockend ihnen der Vorschlag erschien. Ebenso freudig wurde er von ihren Tanten begrüßt (die eine der beiden Damen war kinderlos, die andere hatte eine einzige Tochter). Der Umzug war schnell bewerkstelligt. Wir hatten damals noch nicht unser eigenes Haus. Aber es wurde den beiden ein geräumiges Zimmer überlassen; wir rückten etwas enger zusammen. Es konnten bei uns immer beliebig viel Gäste untergebracht werden. Ich weiß nicht mehr, wie lange die beiden Cousinen bei uns gewohnt haben. Sie heirateten später und bewahrten meiner Mutter immer eine dankbare Anhänglichkeit.

Mit dem Zusammenbruch des Breslauer Geschäfts hing das unglückliche Ende unseres Onkels Jakob zusammen. Im Anschluß daran gab es so unerfreuliche geschäftliche Auseinandersetzungen, daß die Geschwister beschlossen, den Verkehr mit diesem Ehepaar einzuschränken. Meine Mutter litt sehr unter diesen Vorfällen. Einen Schatten auf dem Namen ihres Vaters zu wissen, den Zwist unter ihren Brüdern mit anzusehen, war ihr schrecklich. Und wenn sie viele Jahre hindurch mit ihrem Bruder nicht mehr zusammenkam, so zeigte sie seinen Kindern umso herzlichere Teilnahme und Hilfsbereitschaft, und hatte die große Freude, daß sie alle brave und [52] tüchtige Menschen wurden, die durch eigenen Ernst ersetzten, was die Eltern in ihrer Erziehung versäumt hatten. Ihr Liebling Ernst ging mit Vater und Mutter nach Berlin und blieb am längsten bei ihnen. Ich erwähnte schon, daß er im Weltkrieg gefallen ist. Der zweite Sohn, Fritz, wurde von der Firma, bei der er seine kaufmännische Ausbildung erhielt, schon früh nach Rom geschickt und hat seine Stellung noch heute inne. Richard, der Älteste, blieb in Breslau und verdiente sich mit Mathematikstunden das Geld, um seine Gymnasial- und Universitätsstudien bestreiten zu können. Als Unterprimaner bereitete er schon andere zum Abitur vor, und als ihm erklärt wurde, daß dies nicht gestattet sei, ging er vom Gymnasium ab und bestand das Maturium als Externer. Dann begann er Mathematik zu studieren, ging nach einigen Semestern als Assistent zu David Hilbert nach Göttingen, habilitierte sich dort und bekam später die Professur des zweiten führenden Göttinger Mathematikers Felix Klein. (Bei der „Reinigung“ der Universität von „Nichtariern“ verlor auch er seine Stellung. Eben bereitet er seine Übersiedlung nach Amerika vor). Solange er noch in Breslau war, besuchte er uns häufig. Eine Zeit lang kam er jede Woche einmal zum Mittagessen. Wir freuten uns immer darauf, weil er die erstaunlichsten witzigen Einfalle hatte. In diesem trockenen, humoristischen Ton hielt er aber mit meiner Mutter die ernstesten Beratungen, wie er seinen Eltern beistehen und seinen Vater von unsoliden Geschäften zurückhalten könnte. Er durchschaute die Verhältnisse ganz scharf und klar, hielt aber den Verkehr mit ihnen immer aufrecht und ließ sich durch nichts in seiner Kindesliebe beirren. Wir wußten bei diesen Gesprächen meist nicht, ob wir über die komische, oft drastisch übertreibende Ausdrucksweise lachen oder über den Inhalt weinen sollten.

Zu diesen ernsten Sorgen kamen weniger schwerwiegende Zerwürfnisse in der Familie, die meiner Mutter aber auch viel Kummer bereiteten. Die Brüder Courant hängen sehr aneinander, aber aus Empfindlichkeit und Rechthaberei gerieten sie oft aneinander und es konnte dann vorkommen, daß sie jahrelang kein Wort miteinander sprachen und es vermieden, zusammenzutreffen. Die sehr viel friedlicher gesinnten Schwestern litten darunter sehr und suchten immer zu vermitteln; aber das war keine einfache Sache. Glückte die Versöhnung zwischen zwei solchen Eisenköpfen, dann war niemand froher als sie. Sie erwiesen einander dann alle möglichen Aufmerksamkeiten, ja sie wagten, durch die Erfahrung nicht belehrt, wieder ein so nahes Zusammenleben, daß bei der nun einmal vorhandenen Eigenart ein neuer Zusammenstoß kaum zu vermeiden war.


[53]
2.

Die Nachricht von der Verlobung der ältesten Tochter war für meine Mutter eine große Freudenbotschaft. Else war ja für sie immer ein Sorgenkind. Sie war nach ihrer Lehrerinnenprüfung in verschiedenen Familien als Hauslehrerin, manchmal in Breslau nur für die Nachmittage zur Beaufsichtigung der Schularbeiten, einigemale auch in kleinen Provinzstädten, wo sie den Unterricht und die Erziehung der Kinder übernahm. Sie war mit ganzer Seele Erzieherin, hatte starken Einfluß auf ihre Zöglinge und wurde sehr von ihnen geliebt. Aber nirgends blieb sie lange. Manchmal war Eifersucht der Hausfrau auf die schöne, junge Hausgenossin für sie die Veranlassung, zu gehen. Die Beziehungen zu den Kindern blieben oft bestehen; meine Schwester ist überhaupt eine treue Freundin und hat manche Verbindungen mit Lehrerinnen und Schulgefährtinnen das ganze Leben hindurch aufrecht erhalten.

Ihr Bestreben war es seit der Prüfung, eine Anstellung im Schuldienst zu bekommen. In Preußen war das fast unmöglich für eine Jüdin, und so folgte sie der Anregung einer Freundin, sich in Hamburg zu bemühen. Es glückte ihr auch, dort an einer Privatschule anzukommen. Es sollte nicht für lange Zeit sein. Sie traf in Hamburg mit Max Gordon zusammen, einem Vetter unserer Mutter, der sich vor Jahren dort als Hautarzt niedergelassen hatte. Im September des Jahres 1903 erhielten wir die Nachricht von ihrer Verlobung.

Einige Jahre vorher hatte sich die kurze Ehetragödie meiner Schwester Frieda abgespielt, und nicht lange nach Frieda hatte sich Arno verheiratet. Meine Mutter hatte zu seiner Eheschließung ausdrücklich ihre Zustimmung gegeben. Sie mochte Martha gern leiden, so lange sie nur als Freundin ins Haus kam. Ihr fröhliches Wesen und ihre treue Anhänglichkeit an unsere ganze Familie machte sie uns allen lieb. Erst im nahen Zusammenleben ergaben sich aus der großen Verschiedenheit der Naturen viele Schwierigkeiten. Das geräumige Wohnhaus, das wir kurz nach Friedas Hochzeit bezogen hatten, war für zwei Familien gebaut; es war vertikal geteilt und hatte zwei Treppenhäuser. Arno und Martha wurden in dieses Haus mit aufgenommen. Eine Zeit lang bewohnten wir gemeinsam die größere Seite und hatten die kleinere vermietet. Später erhielt das junge Ehepaar die kleinere Seite für sich und meine Mutter mit ihren vier Töchtern und der kleinen Enkelin Erika die größere. Die Hoffnung, daß meine Schwägerin eine tüchtige Hilfe im Geschäft sein würde, erfüllte sich nicht. Die Art, Geschäfte zu betreiben, die sie in Amerika gelernt hatte, war von den Traditionen unseres Hauses [54] so verschieden, daß meine Mutter sie bald am liebsten wieder ganz ferngehalten hätte. Ihre Hilfe beschränkte sich auch schließlich darauf, daß sie Gänge besorgte, für die gerade niemand Zeit hatte. Sie übernahm das immer gern, da das „shopping“ eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen blieb. Ein dauernder Stein des Anstoßes war es für meine Mutter, die wenig geordnete Wirtschaftsführung täglich im eigenen Hause mitanzusehen. Natürlich vermehrten sich die Schwierigkeiten mit dem Anwachsen der Familie. Martha wünschte sich viele Kinder; groß, kräftig, gesund und schön sollten sie sein. Sie selbst war groß und stark und sah aus wie das blühende Leben.

Ihre Hoffnungen erfüllten sich nicht bald. Umso glücklicher war sie, als das erste Kind zu erwarten war. Sie versicherte uns beständig, es würden „twins“ (Zwillinge) sein. Während der Entbindung waren wir alle im Eßzimmer, und sie unterhielt sich durch die halbgeöffnete Tür mit uns; als ihr schließlich der kleine Wolfgang gereicht wurde, fragte sie, wo das zweite Kind bliebe. Meine Mutter und ebenso der erfahrene Frauenarzt erklärten, daß ihnen so etwas noch nicht vorgekommen sei. Wolfgang war ein Kind, wie sie es sich gewünscht hatte, und ebenso Nummer 3 und 4, Helmut und Lotte: alle groß und kräftig, blond und blauäugig, rund und rotbäckig. Bei Eva aber, die an zweiter Stelle kam, stellte sich schon im ersten Jahr heraus, daß sie nicht ganz normal war. Sie lernte sehr spät und nie ganz korrekt sprechen und blieb auch geistig zurück. Daß dies Kind durch die Unvernunft der Eltern nicht sachgemäß behandelt wurde und daß sie auch die andern nicht zur gebührenden Rücksicht erzogen, war für meine Mutter eine neue dauernde Sorge. Sie hatte für Eva viel mehr Teilnahme als für die drei gesunden Kinder. Zeitweise nahm sie sie ganz zu uns, um sie mit großer Geduld sprechen zu lehren, ihr richtiges Essen und manches andere beizubringen. Die beste Unterstützung hatte sie dabei an der kleinen Erika, die mit den Vettern und Cousinen wie mit Geschwistern aufwuchs und sich um das unglückliche kleine Geschöpf liebevoll annahm. Die Erziehungsmethode meiner Schwägerin Martha bestand hauptsächlich darin, daß sie die Kinder reichlich fütterte, für ausgiebigen Schlaf und frische Luft sorgte. Und ihr Stolz war es, daß sie bei dieser Behandlung körperlich prächtig gediehen. Wenn sie krank wurden, dann wurde die Mutter nicht nur traurig und besorgt, sondern zornig, als ob ihr ein Unrecht geschähe. Sie sagte auch ganz offen, daß sie von Krankenpflege nichts verstünde, und war froh, wenn wir ihr dann zu Hilfe kamen.

Als gelernte Krankenpflegerin war ich die Nächste dazu, so oft ich bei solcher Gelegenheit zu Hause war. Im Februar 1920 hatten einmal alle Kinder zugleich die Grippe; an einem Abend stieg bei [55] dreien die Temperatur auf über 40. Helmut, der damals vier Jahre alt war, hatte am längsten damit zu tun, er hatte eine schleichende Lungenentzündung, die immer wieder neue Stellen ergriff und ein Vierteljahr anhielt. Als die andern gesund waren, wurde er von ihnen abgesondert und kam in ein großes Zimmer, das an mein Arbeitszimmer stieß. Wenn er allein war, rief er: „Tante Edith, komm doch herein. Du kannst deine Schularbeiten hier machen“. (Die „Schularbeiten“ waren meine philosophische Arbeit.) „Meine Mutter läßt immer kranke Kinder ganz allein liegen“. Ich raffte dann meine Papiere zusammen und versuchte nebenan am Schreibtisch meines Bruders weiterzuarbeiten. Wenn der kleine Patient mich dann immer wieder an sein Bettchen rief, sagte ich: „Helmut, wenn du so oft störst, kann ich doch nicht arbeiten“. „Du brauchst ja nicht!“, war die Antwort. Und das war so überzeugend, daß ich zu ihm ging und mit ihm spielte. Dafür faßte er eine große Zuneigung zu mir.

Als einige Zeit nach seiner Genesung meine Schwester Erna sich verlobte, kam er an einem Sonntag nachmittag zu uns herüber, während wir gerade bei Kaffee und Kuchen um den Familientisch saßen. Er lief auf mich zu und flüsterte mir ins Ohr: „Willst du meine Braut sein?“ Ich gab bereitwillig mein Jawort, nahm ihn auf den Schoß, schenkte ihm etwas von einem Kuchen und sagte, Braut und Bräutigam müßten alles miteinander teilen. Das gefiel ihm sehr gut. Auf einmal erschrak er: „Ich habe eben drüben schon Kuchen gegessen und dir nichts davon gegeben“. Doch sofort beruhigte er sich selbst: „Aber da warst du ja noch nicht meine Braut“. Von diesem Tage an brachte er mir alle kleinen Arbeiten, die er im Kindergarten verfertigte; ich mußte sie sorgfältig aufbewahren, denn von Zeit zu Zeit öffnete er die Truhe, in der ich sie aufhob, um sich zu überzeugen, wieviel er mir schon geschenkt hätte. Einmal stand er vor den langen Reihen meiner philosophischen Bücher und zählte sie. „Die mußt du alle später lesen, damit wir darüber sprechen können“, sagte ich. „Ja, wenn ich groß bin, werde ich alle lesen“, antwortete er in entschlossenem Ton. Er hielt an dieser Verlobung jahrelang fest. Nur manchmal kam ihm eine leise Ahnung, daß an der Sache etwas nicht ganz stimmte. Einmal fragte er: Tante Edith, wenn ich groß bin, bist du dann auch noch groß?“ Endlich brachten ihn die Neckereien der Größeren darauf, daß aus seinen Heiratsabsichten nichts werden könnte. Das war aber in meiner Abwesenheit, und als ich wieder zu Besuch kam, vertraute er seinem Vater an, er würde doch die Verlobung sehr gern aufrecht erhalten.

Ein Tag aus seiner schweren Krankheit ist mir noch besonders in Erinnerung. Es war die Krisis. Das Kind lag bleich und ohne Besinnung [56] in seinem Bettchen; manchmal sagte es ein paar Worte aus seinen Fieberträumen; der Puls war kaum noch zu fühlen. Erna und ich saßen bei ihm. Sie war damals schon fertige Ärztin, hatte aber solche Fälle noch wenig gesehen. Sie hatte gar keine Hoffnung mehr, und große Tränen liefen ihr über die Wangen. Ich war viel ruhiger und zuversichtlicher. Ich hatte während des Krieges bei meinen Typhuspatienten manche Lungenentzündung gesehen und es öfters erfahren, wie sie sich nach einem schweren Kollaps, der einem Todeskampf glich, wieder erholten. Einmal kam unsere Schwägerin herein. Sie beugte sich über das Bettchen und sagte mit zornigen Tränen: „So ein schönes Kind soll man verlieren!“ Dann ging sie wieder hinaus. Wir beide sahen uns entsetzt an. Es war eine uns völlig fremde und fast unbegreifliche Einstellung, die aus diesen Worten sprach. Bald darauf kam der Kinderarzt und brachte noch einen Lungenspezialisten mit. Sie untersuchten, und der Internist befahl, eine Wanne mit heißem Wasser zu bringen. Das regungslose Kind wurde hineingehalten; nach kurzer Zeit fing es an, lustig zu strampeln und die Herren tüchtig zu bespritzen. Als der kleine Kerl mit roten Bäckchen und großen Augen wieder in seinem Bettchen lag, wurde ihm noch eine Tasse starker Kaffee zur Belebung des Herzens gebracht. Erstaunt rief er, als der kräftige Duft ihm in die Nase stieg: „Das ist ja kein Kinderkaffee, das ist Menschenkaffee!“ Dann verlangte er, wir sollten dunkel machen und ihn allein lassen. „Wenn kleine Kinder schlafen sollen, müssen große Menschen rausgehen“. Wir atmeten auf. Die Gewalt der Krankheit war gebrochen.

Wenn später wieder einmal eins der Kinder sich krank meldete, kam meine Schwägerin zu mir und sagte einfach: „Wolfgang (oder Helmut) läßt dich grüßen und dir sagen, er sei krank“. Bei Helmut kam noch einmal eine Lungenentzündung, als er sieben Jahre alt war. Es war gerade in meinen großen Ferien. Diesmal übernahm ich sofort die ganze Pflege, nachdem der Arzt die Diagnose gestellt hatte. Ich machte ihm einen Brustwickel nach dem andern und erzählte ihm Geschichten, um ihn ruhig zu halten. Ich brauchte meinen ganzen Vorrat an Sagen und Märchen auf und ging schließlich zur Biblischen Geschichte über. Als ich ihm vom Sündenfall und von der Vertreibung aus dem Paradies sprach, sagte er vorwurfsvoll: „Wie kannst du mir denn so etwas Schreckliches erzählen?“ Aber sonst wurde er nicht müde, zuzuhören. Wenn seine Mutter ihm etwas zu essen brachte, nahm er es gnädig an, sagte aber sofort: „Du kannst wieder gehen, zwei Menschen brauche ich nicht“. Manchmal mußte ich ihm etwas verweigern, was er verlangte, dann verschwand er schmollend unter der Bettdecke. Ich setzte mich [57] ruhig an meine Arbeit und kümmerte mich nicht weiter um ihn. Nach einigen Minuten tauchte er mit strahlendem Gesicht wieder auf, und der Friede war wiederhergestellt. Wenn mein Bruder mittags nach Hause kam, löste er mich ab, damit ich zum Mittagessen gehen könnte; ebenso abends. Um 7 Uhr wurde für den kleinen Patienten Nacht gemacht. Dann entließ er mich bereitwillig, schärfte mir aber ein, daß ich früh um 7 wieder da sein sollte. An einem Sonntag hörte ich, wie Martha im Nebenzimmer in heftigen Worten klagte, sie könnte es nicht länger ertragen, so angebunden zu sein, sie müsse einmal an die frische Luft. Mein Bruder war sehr verlegen, weil er sich sagte, daß ich dies alles hören könnte. Als er ins Kinderzimmer kam, redete ich ihm zu, sie sollten ruhig fortgehen, ich bleibe gern allein bei dem Kleinen. So ging die ganze Familie in ihren Garten vor der Stadt, und wir blieben allein im Haus. Es war uns beiden sehr wohl dabei. Nach einigen Stunden kamen alle vergnügt zurück; Martha versicherte mir, sie sei nun wieder ein ganz anderer Mensch. Nach 14 Tagen kam der Arzt wieder und stellte ganz überrascht fest, daß von der Entzündung keine Spur mehr vorhanden war. Ich konnte meinen Krankendienst einstellen, und meine Schwägerin sagte überglücklich: „Muzchen, wenn Du wieder etwas hast, rufen wir sofort die Tante Edith. Die Mama ist für so etwas nicht zu brauchen“. Meine Mutter kam bei jeder Erkrankung der Kinder mehrmals am Tage nach ihnen sehen. Aber bei jedem Besuch fiel ihr etwas in die Augen, was sie aufregte. Wenn sie darauf aufmerksam machte, gab es unliebsame Auseinandersetzungen. Darum vermied sie es sonst nach Möglichkeit, in den Haushalt der Schwiegertochter hineinzusehen. Den Höhepunkt erreichte die Unordnung und Unruhe im Hause, wenn Marthas Mutter und ihre Schwester mit den Kindern aus Amerika kamen.

Meine Schwägerin sprach stets mit der größten Liebe von diesen Angehörigen, rühmte ihre Schönheit, ihre Klugheit, ihre witzigen und geistreichen Einfalle. Sie hatte meiner Schwester Else schon während der gemeinsamen Seminarzeit von ihrer schönen Mama vorgeschwärmt und nicht geruht, bis sie die beiden miteinander bekannt machen konnte. Da war dann Else sehr erschrocken; man konnte nämlich bei näherem Zusehen an Frau Kaminski noch Spuren ehemaliger Schönheit fein geschnittener Gesichtszüge entdecken, aber sie war durch ein Augenleiden und einen Hautausschlag sehr entstellt. Später, wenn sie von Amerika kam, fiel sie außerdem schon von weitem durch ihre Kleidung auf, durch schreiende Farben, riesenhafte Hüte und ebenso riesenhafte Schuhe. In Amerika hatten Mutter und Töchter zusammengelebt. Seit Martha wieder in Deutschland war, wechselten sie viele und lange Briefe, teilten sich [58] alle Einzelheiten des täglichen Lebens mit und setzten die Neckereien, die zu ihrem Verkehrston gehörten, schriftlich fort. Monatelang wurde der Besuch der Angehörigen mit großer Freude erwartet. Es war überhaupt Marthas Grundsatz, sich lange und ausgiebig auf bevorstehende Ereignisse zu freuen, weil man die Vorfreude jedenfalls sicher hätte. Meine Mutter dagegen warnte immer davor, zu früh zu jubeln, faßte nicht gern Pläne auf lange Sicht und sprach von etwas Künftigem fast nur mit dem Zusatz: „Mit Gottes Hilfe“ oder: „Wenn Gott will“. Mit den amerikanischen Gästen zogen nun große Koffer und Körbe ins Haus, denen ein bunter Inhalt entquoll: Kleider, Hüte, Schuhe in allen Farben, Formen und Größen; Süßigkeiten und Spielsachen, Zeitschriften und Bücher. All das war teils zu eigenem Gebrauch bestimmt, teils als „Mitgebrachtes“ gedacht. Es war aber oft schwer, zu den Gegenständen Menschen zu finden, die sie verwenden konnten. Es war unmöglich, für diese ganze Jahrmarktherrlichkeit Schränke und Schubfächer zu finden, die sie aufnehmen konnten. Das wurde aber auch gar nicht beansprucht. Man war gewöhnt, aus den Koffern zu leben und das, was man herausgezogen hatte, auf dem Fußboden umherzustreuen. In Amerika gab es wohl Dienstboten, die immer wieder hinterherräumten. Hier aber war für einen Haushalt mit 4 kleinen Kindern höchstens ein Mädchen, meist nur eine Stundenfrau da. Und wenn nun noch zwei Erwachsene und zwei Kinder hinzukamen, so war an gar keine Ordnung mehr zu denken. Meine Schwägerin hatte sich gewöhnt, die Hausarbeit zu machen, wenn sie auch alles möglichst vereinfachte, um für andere Dinge Zeit übrig zu behalten. Ihre Mutter aber sah es nicht gern, daß sie Arbeiten verrichtete, die in Amerika Sache der Dienstboten oder der Männer waren. Das führte zu Mißstimmungen zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn, aber auch zwischen Mutter und Tochter. Nach ihrem letzten Besuch reiste die alte Dame schwer gekränkt ab, so daß wir herzliches Mitleid mit ihr hatten. Sie war bei allen Eigenheiten eine gütige Frau, die ihre Kinder und Enkel herzlich liebte und auch allen andern Menschen freundlich entgegenkam, geistig beweglich und vielseitig interessiert, humorvoll und unterhaltend. Manches Schwere was das Leben ihr gebracht hatte, trug sie, ohne etwas davon merken zu lassen.

Außer den Mängeln in der Haushaltsführung und Kindererziehung gab es noch etwas anderes, was meine Mutter an ihrer Schwiegertochter enttäuschte. Solange sie nur als Gast zu uns kam, hatte sie uns alle mit (zweifellos aufrichtig gemeinten) Liebesbeweisen überschüttet und war überglücklich, als sie in die Familie aufgenommen wurde. Ich erinnere mich noch, wie sie lachend und [59] weinend zugleich meine Mutter umarmte, als sie sie als Braut ihres Sohnes begrüßte. Meine Schwester Else, die auf ihren jüngeren Bruder immer etwas herabgesehen hatte, behauptete sogar, es sei Martha weniger um ihn als um die Familie zu tun. Niemand hätte ihr zugetraut, daß sie darauf bedacht sein könnte, ihren Vorteil auf Kosten der andern sicherzustellen. Meine Mutter gewann aber im Lauf der Jahre immer mehr den Eindruck, daß ihr Sohn in diesem Sinn beeinflußt wurde. Ihm selbst lag eigennützige Berechnung von Natur aus durchaus fern. Er war uns ein sehr guter Bruder und hatte es früher geliebt, uns gelegentlich kostbare Geschenke zu machen, z.B. hatte er für Erna zum Beginn ihres Medizinstudiums ein gutes Mikroskop gekauft. Und für Gerhard, seinen ältesten Neffen, den er besonders liebte, hatte er lange Zeit regelmäßig etwas von seinem Einkommen beiseite gelegt, weil er sagte, er als Junggeselle brauche für sich nicht zu sparen. Bis zu seiner Verheiratung war meine Mutter alleinige Geschäftsinhaberin, Arno und Frieda waren Angestellte mit Prokura. Meine Schwägerin besaß ein kleines Vermögen, das als Betriebskapital in unser Geschäft mit aufgenommen wurde; im Verhältnis zum Wert des großen Grundstücks und des reichen Warenlagers war es nicht beträchtlich, wenn auch eine willkommene Hilfe im Zahlungsverkehr. Sie gründete aber darauf den Anspruch auf Mitinhaberschaft, und mit dem Anwachsen der Kinderzahl kam das Verlangen, deren Zukunft sicherzustellen, hinzu. Meine Mutter litt sehr unter diesen Auseinandersetzungen. Sie hatte ihre ganze Arbeitskraft für ihre Kinder eingesetzt, und was wir besaßen, verdankten wir ihr. Für sich brauchte sie fast nichts; für ihre Kleidung mußten die Töchter Sorge tragen. Meist schenkten wir ihr zu ihrem Geburtstag, was sie brauchte, weil sie sich sonst zu sehr gegen Neuanschaffungen sträubte; und auch dann bekamen wir noch Vorwürfe, daß wir unnötige Ausgaben gemacht hätten. Wenn sie etwas nach jahrelangem Gebrauch ablegen oder wenigstens nur noch im Hause auftragen sollte, verteidigte sie mit komischer Entrüstung ihr „gutes, neues Kleid“. So lebten wir alle im Vertrauen auf die mütterliche Fürsorge und dachten nicht daran, für uns selbst Sorge zu tragen; auch wir Geschwister untereinander kannten keine Berechnung. Eine Regelung der Vermögensverhältnisse für die Zukunft zu verlangen, konnte uns schon darum nicht einfallen, weil wir den Gedanken an eine Zeit, wo unsere Mutter nicht mehr sein würde, gar nicht aufkommen ließen. Den Tod eines lieben Menschen als Tatsache, die unvermeidlich einmal kommen muß, nüchtern ins Auge zu fassen, davon zu sprechen und dafür Vorkehrungen zu treffen, gilt dem jüdischen Empfinden als Herzlosigkeit. So etwas überläßt [60] man den „Gojim“, für die man einen Mangel an Zartgefühl und Herzenstakt als charakteristisch ansieht. Daß nun solche Überlegungen in unsere Familie hineingetragen wurden, war für meine Mutter ein großer Schmerz. Nachdem sie aber einmal den Verdacht geschöpft hatte, daß ihre Schwiegertochter eigennützig auf ihren Vorteil bedacht sei, hielt sie sich ihrerseits für verpflichtet, ihre Töchter gegen künftige Übergriffe sicherzustellen. Sie begann mit uns über die Lösung zu beraten, und nachdem wir unter uns zu einem Ergebnis gekommen waren, das uns für alle annehmbar schien, sollte ich als Sprecherin für Mutter und Schwestern meinem Bruder in ihrer Gegenwart unsern Vorschlag unterbreiten. Das hatten sie sich ausgedacht, weil sie sich alle vor seiner Heftigkeit fürchteten und sich selbst nicht genügend Selbstbeherrschung zutrauten, um seinen Zornausbrüchen gegenüber ruhig und sachlich zu bleiben.

Es war ein sehr peinlicher Augenblick, als Arno in diesen Familienrat hineingerufen wurde. Er blieb sehr ruhig auf meine Ansprache und antwortete nur mit wenigen Worten, die kein klares Ja oder Nein enthielten. Es kränkte ihn schwer, daß so förmlich mit ihm verfahren wurde und daß man ihm die jüngste Schwester als Autorität gegenüberstellte. Er rief nun einen andern Vermittler zu Hilfe, der ebensosehr sein Vertrauen besaß wie das unserer Mutter: ihren Bruder Eugen aus Berlin. Ich habe schon einmal erwähnt, daß dieser jüngere Bruder besonders an ihr hing und ihr oft in geschäftlichen Dingen zur Seite stand. Er war ein hervorragend tüchtiger Kaufmann, hatte eine Fabrik für Maschinenteile mit ausgebreitetem Exporthandel, besonders nach England und Rußland, selbst ins Leben gerufen und leitete dieses ganze Unternehmen mit großer Umsicht. Solange er an seinen eigenen Söhnen keine genügende Unterstützung hatte, rief er meinen Bruder öfters zu Hilfe bei größeren Abschlüssen in den Büchern; von daher bestand auch zwischen ihnen ein besonderes Vertrauensverhältnis. Nach der ersten Regelung, die bei uns getroffen wurde, blieb meine Mutter Geschäftsinhaberin, Arno wurde als Teilhaber mit Gewinnanteil aufgenommen. Als sie etwa siebzig Jahre alt war, begannen Geschwister und Kinder in meine Mutter zu dringen, sie sollte sich zur Ruhe setzen und das Geschäft ganz ihrem Sohn übergeben. Sie wollte davon nichts wissen, und ich habe sie in ihrem Widerstand immer unterstützt, weil es mir klar war, daß die Tätigkeit im Geschäft unlöslich zu ihrem Leben gehörte. Zehn Jahre später fiel es niemanden mehr ein, sie in den Ruhestand versetzen zu wollen. Sie hat aber in diesem hohen Alter noch einmal eine Umordnung vorgenommen: Arno als Inhaber des Geschäfts eintragen lassen und sich selbst und Frieda nur einen Gewinnanteil gesichert. An der Arbeitsteilung zwischen den Dreien [61] wurde dadurch nichts geändert; meine Mutter nannte aber seitdem ihren Sohn den „Chef“. Nach außen hin war nun er der verantwortliche und bestimmende Leiter, er schloß die Geschäfte ab und nahm unter den Kaufleuten der Stadt eine angesehene Stelle ein, wie es der Bedeutung der alten, soliden Firma entsprach. Er spielte die soziale Rolle, nach der ein Mann in reifen Jahren zur Befriedigung seines Selbstbewußtseins verlangt. Eingeweihte freilich wußten, daß er erntete, was die Mutter gesät und in mühevoller Lebensarbeit gehegt und gehütet hatte.


3.

Das Regiment im Hause war schon vor Jahrzehnten in die Hände meiner Schwester Rosa übergegangen. Wenn meine Mutter im Geschäft oft unter der Heftigkeit des „Chefs“ zu leiden hatte, so bedeutete die Heimkehr in ihre Häuslichkeit häufig einen Übergang vom Regen in die Traufe. Diese beiden Geschwister glichen einander sehr im Temperament; das wollte aber keines wahr haben, eines entsetzte sich über die Fehler des anderen, ohne zu ahnen, wie sehr es selbst darein verstrickt war. Rosas natürliche Heftigkeit war wohl noch zu besonderer Reizbarkeit gesteigert, weil sie sich unbefriedigt fühlte. Sie hatte stets jeden Versuch wohlmeinender Verwandten, ihr eine „gute Partie“ zu vermitteln, entrüstet zurückgewiesen. Nach Friedas unglücklicher Ehe durfte ihr schon gar niemand mehr von so etwas sprechen. Obgleich sie in der Haushaltsführung sehr selbständig war, konnte sie sich doch nie ganz als die Hausfrau fühlen, Mutter und Schwestern hatten ihre bestimmten Wünsche, auf die sie Rücksicht nehmen mußte, wenn sie sich auch häufig erst mit heftigen Worten dagegen sträubte. Sie selbst hatte das Mißtrauen, daß die andern ihre Arbeit geringschätzten, und sehnte sich darum nach etwas anderem, hatte aber bei aller Entschiedenheit, mit der sie in Worten ihre Ansicht zu vertreten pflegte, nicht genügend Initiative und Energie, um gegenüber Widerständen in der Familie ihre Berufspläne durchzusetzen. Meine Mutter, die sich nach Ruhe und Frieden in ihrer Häuslichkeit sehnte, litt schwer unter den täglichen Reibungen. Ein Vorschlag, den sie oder Frieda machten, eine Ansicht, die sie äußerten, traf meist sofort auf heftigen Widerspruch. Beide halfen in den frühen Morgenstunden, in der Mittagspause und abends nach Geschäftsschluß eifrig bei den häuslichen Arbeiten. Dazu bestellten sie das Gartenland, worein sie ein Stück des Lagerplatzes umgewandelt hatten, säten, pflanzten und ernteten; ja, wenn es ihre Zeit zuließ, richteten sie Gemüse [62] und Obst so her, daß es kochfertig abgeholt werden konnte. Aber alle ihre Dienstleistungen wurden einer scharfen Kritik unterzogen.

Meine Mutter mußte sich oft wie ein ungeschickter Dienstbote abkanzeln lassen, als ob sie nie selbst einen Haushalt geführt hätte. Und sie hatte doch im Elternhaus für die vielköpfige Familie und zahlreiche Gäste zur Zufriedenheit aller gekocht, und ihren Kindern war niemals wohler, als wenn die Mutter selbst für sie sorgte. Freilich hatte sie seit dem Tode unseres Vaters den Haushalt aus der Hand geben müssen und es war ihr nun manches ungewohnt. Aber sie übernahm sonntags gern noch alle Arbeit, weil es sie freute, wenn wir Schwestern einmal alle zusammen einen Morgenausflug machen konnten; dann bereitete sie in aller Ruhe alles für unsere Rückkehr vor und trug uns mit der größten Liebe und Freude die selbstbereiteten Speisen auf. Wenn ich mir in unsern Studienjahren ganz im stillen einen idealen Haushalt dachte, war es einer, in dem meine Mutter mit Erna und mir allein lebte und für uns beide sorgte. Die täglichen Störungen des häuslichen Friedens zehrten an allen; es kamen aber tiefgehende Unstimmigkeiten hinzu. Meine Mutter wünschte die Familie möglichst zusammenzuhalten, alle sollten alle Freuden und Leiden gemeinsam haben; besonders aber sollten die Pärchen, die die Alterszusammengehörigkeit gebildet hatte, nicht auseinandergerissen werden. Bei Erna und mir machte das keine Schwierigkeiten, wir schlossen uns ohnehin in der gemeinsamen Studienzeit noch inniger zusammen, als es in der Kindheit der Fall gewesen war. Es war uns nur manchmal lästig, wenn die viel älteren Schwestern bei unsern Zusammenkünften mit unsern Freunden und Freundinnen dabei sein sollten, weil es ihnen an eigenem Verkehr mangelte. Größere Schwierigkeiten gab es zwischen Frieda und Rosa, die im Temperament so verschieden waren und bei denen zu den Banden des Blutes keine starke geistige Gemeinschaft kam. Zudem äußerte sich Rosas unbefriedigtes Selbständigkeitsbedürfnis darin, daß sie etwas Eigenes für sich haben wollte. Sie begann sich dagegen aufzulehnen, daß sie „mit Frieda zusammengespannt würde“. Sie wollte nicht mehr mit ihr gleich gekleidet gehen, sie wollte ihr eigenes Zimmer haben und es nach eigenem Geschmack einrichten, sie wollte auch Menschen haben, mit denen sie allein verkehrte. Alle diese an sich so begreiflichen kleinen Wünsche – mir wurden solche Zugeständnisse mit der größten Selbstverständlichkeit gemacht, ohne daß ich ein Wort darüber zu verlieren brauchte – erregten Anstoß, weil sie sie in schroffen Worten äußerte. Außerdem war meine Mutter seit Friedas Ehescheidung besonders darauf bedacht, sie vor Kränkungen zu schützen, und darum waren ihr Rosas Absonderungsbestrebungen, die sich ja vornehmlich gegen diese Schwester [63] richteten, überaus schmerzlich. Dazu kam noch der nicht ganz unbegründete Verdacht, daß in den freundschaftlichen Aussprachen mit Außenstehenden über Mutter und Schwester und die Schwierigkeiten des häuslichen Lebens geklagt würde. Es ist öfters vorgekommen, daß Frauen, die ursprünglich mit mir befreundet waren, sich in meiner Abwesenheit um Rosa annahmen und in herzliche Verbindung mit ihr kamen. Wenn ich gelegentlich von ihnen hörte, welches Bild sie aus ihren Schilderungen von unserm häuslichen Leben bekommen hatten, dann mußte ich bei aller Anerkennung von Rosas täglichen Opfern doch manche Berichtigungen anbringen.

Sie wollte natürlich nur die Wahrheit sagen; aber sie sprach bloß von dem, was sie litt; und es kam ihr nicht in den Sinn, auch zu sagen, worunter die andern zu leiden hatten. Diese Freundinnen waren begeistert von ihrer Herzensgüte, ihrer zarten Aufmerksamkeit. Sie war im Verkehr mit ihnen – ganz ungeheuchelt – so sanft und bescheiden, daß sie sich von ihrem ganz andersgearteten Verhalten im Familienkreis gar keine Vorstellung machen konnten.

Meine Mutter wünschte oft, daß sie nur einen kleinen Teil der Liebenswürdigkeit, mit denen sie Freunden begegnete, für die eigenen Angehörigen übrig hätte. Nur eine große Verschlossenheit und eine gewisse Enge und Starrheit des Urteils erschwerte auch den Freundinnen den Verkehr. Die Besorgnis, auf Widerspruch und schroffe Abwehr zu stoßen, brachte meine Mutter so weit, daß sie sich schließlich fürchtete, ihre Wünsche im eigenen Hause zu äußern. In späteren Jahren kam sie mit dringenden Anliegen zu mir, damit ich sie bei Rosa vorbringen solle: „Du mußt ihr das sagen, mir würde sie nur widersprechen“. Ich hatte nämlich, als ich gereift war, einen immer stärkeren Einfluß auf meine Schwester gewonnen, ohne mich im mindesten darum zu bemühen. Ich will nur einen solchen Fall erzählen: Als die Silberhochzeit unseres ältesten Bruders herannahte, hatte meine Mutter den dringenden Wunsch, sie in unserm Hause zu feiern, weil wir die schönsten Festräume hatten, während die beschränkte und mit altem Hausrat vollgestopfte Mietwohnung des Silberpaares keineswegs für eine solche Feier geeignet war. Sie wußte wohl, welche Arbeit und Mühe Rosa damit auf sich nehmen mußte, und vor den Verhandlungen mit der Schwiegertochter graute ihr selbst am meisten, weil sie deren Art so schlecht ertragen konnte. Aber sie hielt es für eine Pflicht der Liebe und Gerechtigkeit gegen ihren ältesten Sohn. Ich konnte ihr das gut nachfühlen und wußte es auch meiner Schwester begreiflich zu machen. Die Einwände waren ihr vom Gesicht abzulesen, aber sie sprach sie nicht aus und fügte sich ohne weiteres. Der Vorschlag wurde gemacht und mit großer Dankbarkeit angenommen. Ich [64] konnte der Feier selbst nicht beiwohnen, weil ich beruflich ferngehalten wurde. Nach den Berichten muß sie schön und friedlich verlaufen sein. Wie es kam, daß meine so viel ältere Schwester sich von mir so willig leiten ließ und daß ihr Weg schließlich in meinen mündete, das muß ich später im Zusammenhang berichten.



  1. Hier fehlen 28 Blätter im Manuskript.
« Aus der Welt der beiden Jüngsten Edith Stein
Aus dem Leben einer jüdischen Familie
Vom Werdegang der beiden Jüngsten »
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