Aus den Aufzeichnungen einer vornehmen Russin

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Aus den Aufzeichnungen einer vornehmen Russin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 309, S. 493–494
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[493] Aus den Aufzeichnungen einer vornehmen Russin. Mit klingendem Spiel zog an einem heitern Sommermorgen des Jahres 1826 ein Garde-Regiment durch die noch öden und stillen Straßen von St. Petersburg. Aus den unteren Stockwerken der Häuser eilten Erwachsene und Kinder auf die Straße, theils um besser die Klänge des Siegesmarsches zu hören, welchen das Musikcorps gar trefflich aufführte, theils um sich an dem Anblick der stattlichen Truppe zu erfreuen. Auch manch hübscher Mädchenkopf ward an den Fenstern der eleganteren Gebäude sichtbar und blickte mit unverhohlenem Interesse auf die schlanken Gestalten der Officiere, welche voll Manneskraft ihre prächtigen Rosse zügelten.

Ganz im Gegensatz zu der freudigen Aufregung, welche sich bei so vielen Zuschauern dieses militärischen Schauspieles kund gab, eilte eine junge Dame – die den Kopf auf die Fensterbrüstung eines reich ausgestatteten Zimmers gelehnt hatte – bei den ersten Tacten des Marsches und nachdem sie einen flüchtigen Blick auf die Truppe geworfen, mit leisem Aufschrei in ein Nebenzimmer und bedeckte das schöne bleiche Antlitz mit ihren Händen. Die schmerzlichsten Erinnerungen mußten in ihr wach geworden sein, denn heiße Thränen quollen zwischen den schmalen Fingern hervor und mit dem Ausruf: „Wie anders war’s vor einem Jahr! O, mein Gott, gieb mir Kraft dieses furchtbare Geschick zu tragen!“ sank das Mädchen auf die Kniee.

Das inbrünstige Gebet, welches sie zum Vater dort oben ausströmte, schien ihre Seelenpein zu lindern, denn allmählich gewannen die Züge des Mädchens einen ruhigeren Ausdruck, und als ob eine Inspiration aus jenen seligen Höhen, zu welchen der Geist sich eben aufgeschwungen, ihr geworden sei, verklärte plötzlich ein Hoffnungsstrahl das edel geschnittene Gesicht.

In einem luxuriös möblirten, mit den kostbarsten Nippes und andern Mode-Spielereien überreich versehenen Zimmer desselben palastartigen Gebäudes ruhte zwei Stunden später eine ältere Dame auf einem niedrigen Divan. Ein Gewand von schwarzer Seide umschloß ihre Gestalt, und die stark gerötheten Augen blickten starr auf ein Blatt Papier, das sie mit ihrer weißen, aristokratisch feinen Hand convulsivisch hin und her bewegte.

„Madame,“ meldete eine Dienerin, „Mademoiselle Emilie läßt bitten, ihr eine kurze Unterredung gewähren zu wollen.“

„Zu so früher Stunde?“ erwiderte die Dame in verwundertem Ton. „Laß sie eintreten!“

Emilie, das junge Mädchen, welches wir im heißen Gebet verlassen, öffnete leise die Thür und trat in bescheidener, doch würdiger Haltung ein. Sie war einfach gekleidet, allein das ganze Arrangement ihrer Toilette zeigte von feinem Geschmack und alle ihre Bewegungen verriethen Anmuth und Sicherheit. Emilie schritt zu dem Fußende des Divans, und die Dame wendete ein wenig den Kopf nach der Seite, auf welcher Emilie stand, ohne jedoch ihre bequeme Stellung zu verändern. Hierin lag nichts Ungewöhnliches, denn die Dame war die stolze Herrin des Hauses, das junge Mädchen nur ihre Gesellschafterin. Dennoch glitt heute ein Schimmer von Röthe über die Wangen Emiliens, und sie schien durch das Benehmen der Dame sich verletzt zu fühlen.

„Madame, ich komme mit einer Bitte,“ begann sie zögernd.

„Sprechen Sie, Mademoiselle!“

„Ich bitte, mich aus meiner Stellung in Ihrem Hause zu entlassen, Madame.“

„Und weshalb, Mademoiselle?“

„Ich erhielt traurige Nachrichten aus der Heimath, – man bedarf meiner.“

Egoistisch, wie leider die Mehrzahl der Reichen, vom Glück Verwöhnten es ist, hielt die Dame es nicht für geboten, nach dem Kummer den Mädchens zu fragen, die seit zwei Jahren ihre Hausgenossin war und sich stets eifrig bemüht hatte, Langeweile und üble Laune von der Herrin fernzuhalten oder zu verscheuchen. Mit einem Tone unverkennbarer Gereiztheit entgegnete sie:

„Und gerade jetzt, Mademoiselle, wo ich in meinem Schmerz Sie mehr als sonst vermissen würde, wollen Sir von mir gehen?“

„Ein unabwendbares Geschick nöthigt mich dazu, Madame,“ hauchte leise Emilie.

„Wissen Sie, was dieses Schreiben enthält?“ fragte die Dame, indem sie auf den Brief wies, welchen sie noch immer in der Hand hielt und dessen Inhalt sie – ach, wie viele Male schon! – gelesen hatte.

„Ich ahne es; Herr Annenkoff sagte mir gestern, daß das Urtheil über die Decembristen[1] gesprochen sei.“

„Nun wohl, alle Schritte unserer Freunde sind vergeblich gewesen. General L. schreibt mir, daß Seine kaiserliche Majestät den Urtheilsspruch [494] des Obercriminalgerichts gnädig gemildert habe; aber diese Milderung heißt: Verlust des Ranges und Adels, lebenslängliche Verbannung nach Sibirien und Zwangsarbeit.“

Von ihren Gefühlen übermannt, hielt die Dame einen Augenblick inne; dann rief sie: „Begreifen Sie den Schmerz einer Mutter, welche ihren blühenden geliebten Sohn auf solche Weise verlieren muß?“

Voll Mitgefühl wollte Emilie die Hand der Dame ergreifen, um sie an ihre Lippen zu ziehen; doch diese hatte jetzt mit beiden Händen das Schreiben erfaßt und drückte es krampfhaft zusammen.

„Nicht wahr, Sie geben Ihren Vorsatz auf, mich jetzt zu verlassen, Mademoiselle?“ sagte die Dame nach einer Pause.

„Ich darf es leider nicht – ich habe eine heilige Pflicht zu erfüllen –“

„Und wann wollen Sie gehen, Mademoiselle?“

„Wenn Sie gestatten, in vierzehn Tagen – mir bleibt noch viel zur Reise vorzubereiten.“

„Ich halte Niemand, der nicht bei mir bleiben will; auf Dank und Anerkennung muß man nicht rechnen.“

Hohes Roth überflog die Wangen Emiliens; nahe daran, eine stolze bittere Antwort zu geben, bezwang sie sich mit wunderbarer Gewalt, sagte leise: „Ich danke Ihnen, Madame!“ und verließ das Gemach.

Acht Tage später fuhr die alte Dame zu ihrem Sohne, dem früheren Rittmeister Iwascheff im Garderegiment, um ihm das letzte Lebewohl vor seinem Wege in die Verbannung zu sagen. Emilie hatte gebeten, sie begleiten zu dürfen – wahrscheinlich weil sie der leidenden Frau bei dieser erschütternden Scene nahe zu sein wünschte. Der junge, auffallend schöne Officier schien erstaunt, die Gesellschafterin seiner Mutter zu sehen, und sein wunderbar bewegter Blick ruhte einen Augenblick fragend auf dem Antlitz Emiliens. Diese schlug das Auge nicht auf, hielt sich im Hintergrunde des Zimmers und war anscheinend ganz in ihre eigenen Gedanken verloren.

Iwascheff, der eine edle, ungebrochene Haltung bewahrte, tröstete seine Mutter; er beschwor sie, sich zu schonen, sich für ihn zu erhalten, ein Wiedersehen läge ja nicht außer dem Bereiche der Möglichkeit. In Thränen schüttelte die Mutter den Kopf; noch einmal umfaßte sie den theuern Sohn und brach dann schluchzend in die Worte aus:

„Ach, Alles könnte ich ertragen, wenn ich eine liebende Hand Dir nahe wüßte, die meine Stelle vertreten, Dich pflegen, für Dich sorgen würde. Aber Dich allein zu wissen, einsam unter Qualen und Entbehrungen –“

„Er wird nicht allein bleiben, wenn es nicht sein Wille ist,“ sagte plötzlich eine sanfte Stimme neben ihnen. Emilie war näher getreten und fuhr in tiefer Bewegung fort: „Vor Jahresfrist, Madame, gestand mir Ihr Sohn, daß er mich liebe, daß es kein Glück für ihn geben könne, falls ich ihm nicht angehöre. Ich zweifelte keinen Augenblick, daß seine Eltern, seine reiche und stolze Familie Himmel und Erde in Bewegung setzen würden, um ein solches Bündniß zu hintertreiben. Und später? Wenn auch seine treue Liebe schließlich gesiegt hätte – der Blüthenstaub des Glückes wäre in solchen Kämpfen doch verloren gegangen! Und tausend Netze hätte die große Welt um den schönen glänzenden Cavalier gewoben, die der Gattin Frieden wohl gefährden konnten. Ich sagte darum Ihrem Sohne, Madame, daß ich – – – ihn nicht liebe. Gott allein weiß, was diese Lüge mich gekostet hat. – – Heute wird mir den armen Sträfling Niemand streitig machen – – – und hat er seinen Sinn – – nicht geändert – – o, so folge ich ihm als sein hochbeglücktes Weib.“

„Theure Emilie, edles vortreffliches Mädchen!“ „Geliebte, unaussprechlich Geliebte!“ riefen Mutter und Sohn, und eine beinahe Ohnmächtige wurde von den Armen des jungen Mannes umfangen.

„Aber die Reise in die Heimath, theure Emilie?“ fragte die Mutter, indem auch sie das Mädchen zärtlich an sich drückte.

„Hier ist meine Heimath,“ entgegnete Emilie, indem sie den schönen Kopf an die Brust des Geliebten lehnte. „Die Reise war nur ein Vorwand, um – ohne Aufsehen zu erregen – meine kleine Habe ordnen zu können.“

„Emilie,“ sagte warnend die Mutter, „ich bewundere Ihren Heroismus, allein Ihr Körper ist zart. Sie kennen die Entbehrungen, die Qualen nicht, welchen Sie entgegen gehen.“

„Es giebt nur einen Weg des Heils für mich; Gott wird mit uns sein.“ –

Emilie Ledentu – so hieß das heldenmüthige Mädchen – ward die geliebte, alle Noth und Entbehrungen freudig theilende Gattin Iwascheff’s. Nach mehr als zwanzig Jahren der Verbannung durfte sie mit ihm zurückkehren und wurde von Allen, die in sich den Sinn für edle Eigenschaften des Weibes lebendig erhalten, mit Theilnahme und Bewunderung empfangen. –

  1. Decembristen nannte man Diejenigen, welche sich an der Verschwörung, die am 14. December 1825 – bei der Thronbesteigung von Kaiser Nikolaus – ausbrach, betheiligt halten.