Aus den Sonntagsbriefen eines Zeitgenossen (Die Gartenlaube 1869/52)

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Titel: Aus den Sonntagsbriefen eines Zeitgenossen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 833
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[833] Aus den Sonntagsbriefen eines Zeitgenossen „ … Es ist ein schlimmes Merkmal unseres heutigen Culturzustandes und der allgemeinen Volksitte, daß anständige Frauen nicht mehr in Eisenbahnwagen dritter Classe fahren können, ohne Unzuträglichkeiten zu gefährden“ – so sagte ein Mitreisender und erzählte, daß namentlich in Süddeutschland und der Schweiz, aber auch in Norddeutschland, wenn hier gleich in niederem Grade, eine empörende Rohheit und Rücksichtslosigkeit sich auf den Eisenbahnen breit mache. Ein Zweiter bemerkte kurzweg, daß überhaupt in Frankreich, England und Amerika sich weit mehr Anstand und gute Sitte finde, als bei uns in Deutschland, und es muß zugestanden werden, daß der Engländer, wenn er auch rücksichtslos ist und sich nicht um seinen Nachbar kümmert, doch auch dessen Rechtssphäre nicht verletzt, er bleibt bei seinem nationalen Grundsatz „Hilf dir selbst“. Der Franzose dagegen ist höflich, handreichend, gesprächig und gesellig, er knüpft gern mit seinem Nachbar, und noch lieber mit seiner Nachbarin an, aber er hat dabei den Ehrgeiz oder auch die Eitelkeit, für einen Mann comme il faut zu gelten; und mögen die Motive sein, welche sie wollen, sein Benehmen giebt eine gewisse Sicherheit des Anstandes durch alle Classen hindurch; er erweist sich der Nachbarin hülfreich, er macht es ihr bequem, er wird versuchen, eine nähere Beziehung anzuknüpfen, aber er läßt sich auch leicht durch ein entschiedenes Wort in die Schranken zurückweisen und wird eine abgewehrte Zudringlichkeit gewandt in einen Scherz verwandeln.

Der Deutsche dagegen – es muß leider eingestanden werden – hat entweder die egoistische Rücksichtslosigkeit des Engländers oder die Zuthulichkeit des Franzosen, die er in’s Täppische und Rohe steigert. Die alten festen Umgangsformen haben sich aufgelöst und noch haben sich keine neuen gebildet.

Es ist keine Frage, daß die Eisenbahnen einen demokratischen Zug in die Welt gebracht haben; der soll erhalten, aber mit guter Form versehen werden. „Ich habe mein Fahrbillet gelöst so gut wie Du und bin so viel wie Du, “ sagen die Mienen und die Ellenbogenbewegungen des in den Bahnwagen Einsteigenden. Das Gefühl der Gleichheit ist berechtigt, das hebt aber die Pflicht der Menschenfreundlichkeit und des Anstandes nicht auf. Leider aber glauben noch Viele bei uns ihr Bewußtsein der Gleichheit durch barsches Auftreten und durch Hintansetzen jeder guten Form bewähren zu müssen. Der Kleinstädter, der Dorfbewohner, von seiner alten Unbeholfenheit und Scheu erlöst, läßt sich nun ganz gehen, renommirt mit dem Schoppen, den er da und da sich gekauft hat, randalirt nach Lust und dünkt sich wunder wie frei in der Formlosigkeit, die er ungestraft gegen Frauen zeigen kann, ja er glaubt seine Aufdringlichkeit oft gar noch Gemüthlichkeit nennen zu dürfen.

Hier liegt eine Aufgabe zur Versittlichung, zur Herausbildung eines öffentlichen Anstandes, der Jedermann auf jedem Wege sich unterziehen sollte. Vorerst aber wäre es wohl angemessen, auch in der dritten Wagenclasse eigene Coupés für Frauen einzurichten.