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Baltimore (Die Gartenlaube 1881/53)

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Textdaten
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Autor: Rudolf Cronau
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Titel: Baltimore
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aus: Die Gartenlaube, Heft 53, S. 879–882
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: kurze Beschreibung der Stadt Baltimore und ihrer Geschichte
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[879]

Um die Erde.

Von ’’Rudolf Cronau’’.
Fünfter Brief: Baltimore.

Die Eisenbahn, welche New-York mit Philadelphia und Baltimore verbindet, führt durch zwei Reihen Bretterzäune und Holzbaracken, auf denen abwechselnd die Worte: „Iron Bitters, a true tonic“ („Eisen-Bitter, ein wahres Stärkungsmittel“) – „Use Blood Pills, good for all pains“ („Blutpillen, gut gegen alle Schmerzen“) und ähnlich lautende Ankündigungen in riesengroßen Lettern, bald gelb und grün, bald roth und schwarz zu lesen sind. Nur ab und zu ist dieser Spießruthengang unterbrochen, und der Reisende gewahrt, daß er durch eine wirkliche Landschaft fährt, eine Landschaft mit Wäldern und Wiesen, mit Dörfern und Städten und Strömen, von welch letzteren einige weltbekannte Namen tragen wie: Delaware, Susquehanna, Brandywine etc. Nach Hesse-Wartegg, der bekanntlich über die Vereinigten Staaten ein umfangreiches Buch geschrieben hat, soll die Gegend sogar eine der fruchtbarsten der Welt sein, und wahrlich, wenn die Industrie und Agricultur mit dem üppigen Stande der Reclame nur annähernd gleichen Schritt hält, sind die Länder an der Pennsylvania-Bahn ein zweites Canaan.

„Lookout for the locomotive“ („Hab’ Acht auf die Locomotive!“) ist das zweite charakteristische Avis, das dem Auge des Europäers begegnet. Der sich immer wiederholende einfache Satz auf der weißgestrichenen Planke belehrt uns, daß wir im Lande der Selbsthülfe sind, wo Bahnwärter, Barrièren und Warnungstafeln nicht zu den gewöhnlichen Institutionen gehören; wir befinden uns in einem Lande, wo die Züge, unbekümmert um das, was etwa ihren Weg kreuzen könnte, in die Welt hinausdampfen, wo der cow-catcher die einzige „sanfte Mahnung“ ist, die uns daran erinnert, daß wir die Augen offen halten und bei Seite zu gehen haben. Der cow-catcher, wörtlich „Kuhfänger“, ist nämlich eine pflugartige Vorrichtung am Kopfe der Locomotive, die alle nicht auf das Schienengeleise gehörigen Gegenstände rücksichtslos bei Seite wirft. Dem Umstande, daß seine Belehrung besonders zahlreich den frei umherlaufenden Kühen zu Theil wird, verdankt das Instrument seinen eigenthümlichen Namen.

Der cow-catcher ist so recht das Wahrzeichen Amerikas und sollte von Rechtswegen mit der Umschrift „Lookout!“ in das Staatswappen aufgenommen, zum wenigsten aber in Riesendimensionen an den großen Hafenplätzen angebracht werden, als erste Mahnung an die Einwanderer, die Augen in jeder Weise offen zu halten. Das Leben in Amerika ist nämlich eine unausgesetzte Schlacht; die Siegenden schreiten unbarmherzig und unaufhaltsam über die Strauchelnden hinweg, und man hat sich darum wohl vorzusehen, daß man nicht falle; denn nur in den seltensten Fällen findet sich Jemand, der einem wieder auf die Beine hilft. Also „Lookout“ – sonst kommt der cow-catcher.

Auf den Bahnen Amerikas giebt es außer den Emigranten-Waggons nur „Erste Classe“, und mit dieser Einführung ist dem armseligen Kastengeist, der in Europa das Reisen manchmal so unangenehm macht, Thor und Thür verschlossen. Ob aber wohl für ewige Zeiten das Gleichheitsgefühl in Amerika so vorherrschend sein wird, daß der Staatsmann, der Senator sich dazu versteht, mit seinem Diener dieselbe Sitzbank zu theilen, daß die reiche, diamantenstrotzende Gemahlin eines Börsenkönigs gewillt ist, dieselbe Luft zu athmen mit der einfachen Handwerkerfrau im Kattunkleide?

Aber trotz Allem ist das Reisen in Amerika leicht und angenehm: nirgends begegnen wir der leidigen Bevormundung des Publicums durch das Bahnpersonal; nirgends ist eine allein reisende Dame den Zudringlichkeiten eines Musterreisenden ausgesetzt. Der Bequemlichkeiten einer amerikanischen Eisenbahnfahrt sind viele – aber davon später vielleicht einmal! Heute will ich Sie in die Stadt führen, die stolz auf die Schönheit ihrer Frauen ist – nach Baltimore. Und fürwahr, man braucht im Staate Maryland nicht mit der Diogeneslaterne zu gehen, um „weibliche Ideale“ zu suchen. Wären unsere Sitten noch die der alten Römer und hauste neben den Maryländern das frauenbedürftige Volk der Latiner, wer weiß, ob ich nicht auch ein – Latiner würde. Die naiven Tage aber sind vorbei; sie kehren nicht wieder. Seitdem die leidigen Statistiker herausgerechnet, daß jetzt die Zahl der Frauen im amerikanischen Staatenbunde fast so groß, wie die der Vertreter des starken Geschlechts, hat man den Glauben längst aufgegeben, daß ein Mädchen „nur nach Amerika“ zu gehen brauche, um sich unter dem halben Hundert ihm zu Füßen knieender, goldsackumgebener Millionäre „den besten“ heraus zu suchen.

Die Damen von Maryland sind – doch soll ich die Schönheit derselben mit kritischem Messer seciren? Wahrlich nein! Freuen wir uns lieber derselben und sagen nur noch, daß die Töchter des Tabakstaates von der Natur besser bedacht sind, als von ihren Modistinnen, und daß sie, wie alle Schönen Amerikas, noch weit reizender sein würden, wenn sie weniger Essig zur Vertilgung der Röthe ihrer Wangen, weniger Quittensaft für ihre Scalplocken gebrauchen wollten.

Baltimore ist aber nicht allein stolz auf seine Frauen, es beansprucht auch den pompösen Namen „die Stadt der Monumente“, und zwar im Hinblick auf die drei Bauten: das Washington-, das Schlachten- und das Wildey-Denkmal. Das bedeutendste derselben, das Washington-Monument, welches ich Ihnen anbei im Bilde vorführe, ist auf einem Hügel in der Nähe der Vernon-Kirche und der Peabody-Librairie gelegen und besteht aus einer mächtigen, 160 Fuß hohen Säule von weißem Marmor, die von einer 15 Fuß hohen Statue Washington’s gekrönt wird. Eine Wendeltreppe führt im Innern bis zu der Plattform des Capitals empor, und soll man von derselben aus einen herrlichen Blick über Stadt, Land und Hafen genießen, den ich mir aber leider versagen mußte, da ich noch unter der Knieprobe der Besteigung des Thurmes der Trinity-Church von New-York zu leiden hatte.

Wohl der schönste Zug im Charakter des amerikanischen Volkes ist die Freigebigkeit bezüglich der Errichtung von Schulen, Spitälern, Waisenhäusern, Bibliotheken u. dergl. Baltimore, die [880] Stadt der Monumente, darf besonders stolz sein auf die Namen seiner Menschenfreunde; denn keine Stadt des Landes hat Namen aufzuweisen von so gutem Klange, wie: J. Patterson, John Hopkins, George Peabody, Thom. Wilson und Mac Donogh.

Dem Gemeinsinne dieser Männer verdankt die Stadt die trefflichsten Anstalten: das Gebäude der Peabody-Bibliothek mit seinen Bücherschätzen, eines der prächtigsten und bestbestellten seiner Art, die John Hopkins-Universität, welche trotz ihrer Jugend einen hervorragenden Rang unter den Hochschulen des Landes einnimmt, und das von demselben Manne gegründete Hospital. Auch das Deutschthum hat seine gemeinnützigen Bestrebungen durch Errichtung einer vortrefflichen Waisenanstalt bekundet. Die Perle Baltimores aber ist der Druid-Hill-Park. Der amerikanische Maler braucht nicht, wie in Europa, meilenweit nach Motiven zu laufen oder tagelang nach einem seinen Wünschen entsprechenden Baumaste zu suchen: der Park ist reich an auserlesenen alten Baumgruppen, deren Aufbau und Farbenpracht das Auge jedes Künstlers mit Wonne erfüllt; er ist reich an schönen Anlagen, Quellen, Seen und Fontainen, an belebten Wegen wie an Pfaden, die tiefer und tiefer in das verschwiegene

[881]

Das Washington-Denkmal in Baltimore.
Nach der Natur gezeichnet von dem Specialartisten der „Gartenlaube“ Rudolf Cronau.

[882] Waldesdunkel führen. Nichts ist da zu hören von dem Knirschen der zahllosen den Park durcheilenden Wagen, nichts vom Hufschlage der Pferde, nichts von dem fröhlichen Kreischen der Kinder, die allenthalben auf dem grünen Rasen ihrer Spiele pflegen. Denselben reizenden Anlagen, natürlich in kleinerem Maßstabe, begegnen wir auch in der Stadt, und sie bilden die einzigen Oasen inmitten der sonst erschreckend langweiligen Ziegelwüste. Die Gleichförmigkeit, in welcher die Wohnhäuser, einige Paläste der Aristokratie ausgenommen, der beiden Städte Philadelphia und Baltimore errichtet sind, hat hoffentlich in der ganzen Welt nicht wieder ihres Gleichen. Bar jeder ästhetischen Regung, bar jedes künstlerischen Schmuckes zeigt sich die Außenseite des Heims der Bewohner der beiden Nachbarstädte. Jeder Häuserblock bietet dieselben trostlosen rothen Backsteinwände, dieselben unzähligen, einander aber äußerst ähnlichen Fensterbänke, Thüreinfassungen und Treppen von – weißem Marmor, dieselben schmalen Boudoirfenster im Handtuchformat, welche sechs Wochentage hindurch tief verhangen sind, um am siebenten, dem Sonntage, das stereotype, mit der Regelmäßigkeit eines Perpendikels hin- und hergehende Bild einer „Lady auf dem Schaukelstuhl“ zu zeigen, die mit der Langeweile der Straße um die Wette gähnt.

Es ist wahr, die amerikanische Nation hat bisher nicht viel Zeit erübrigen können, um an Kunst zu denken. Alles, Alles ist ja Geschäft, aber nicht allzu lange mehr wird es dauern, und die Kunst wird mit vollen Segeln ihren Einzug halten in das Land, dem die Zukunft gehört; sie wird und muß das „home“ und die Städte der Amerikaner schöner gestalten, und ihrem Siegeszuge werden die Ausgeburten der Geschmacklosigkeit und Nützlichkeit weichen. Nach fünfzig Jahren werden die Städte Amerikas sicherlich ein ganz anderes Gepräge haben; denn überall schon beginnt sich das Verlangen nach Kunst, nach künstlerischer Umgebung zu regen; die Grundbedingung, das Geld, ist in reichstem Maße vorhanden – und der Amerikaner ist zu intelligent, um sich auf die Dauer dem erquickenden, belebenden Luftstrome der Kunst zu verschließen.

Der herrlich gelegenen Metropole des frauenberühmten Maryland ist eine höchst interessante Geschichte eigen. Der Schriftsteller, welcher es unternimmt, die Chronik amerikanischer Städte zu schreiben, kommt nicht in Versuchung, seine Zeilen durch seltsame Sagen und Wunder aus dem grauen Alterthum herauszuputzen; denn das größte Wunder sind ja eben die Städte selbst mit ihrer schnellen Blüthe und rapiden Entwickelung. Hat doch Baltimore, die fünfte Stadt der Union, z. B. erst vor wenigen Monden seinen 150. Geburtstag gefeiert.

Aus bescheidenen Anfängen entwickelte sich am oberen Patapsco ein Ort, der zu Ehren des damaligen Grundherrn von Maryland, Lord Baltimore, „Baltimore Town“ genannt wurde. So primitiv die ersten Anfänge aber auch waren, in der kleinen Stadt steckte ein Unternehmungsgeist, der mit der Zeit den größeren Häfen und Nachbarstädten viel zu schaffen machte. Die Geschichte Baltimores hat viel Paralleles mit derjenigen Venedigs. Wie dort, so wuchs auch hier ein stolzes, unternehmendes Geschlecht tüchtiger Kaufleute und Seefahrer heran, die auf ihren selbsterbauten schnellsegelnden „Klippern“ alle Meere durchstreiften, zur Zeit der Continentalsperre zu den verwegensten Blockadebrechern gehörten, den ganzen westindischen, mexicanischen und südamerikanischen Handel an sich rissen und das kleine Baltimore noch vor Ablauf des achtzehnten Jahrhunderts zu einer Metropole des Seehandels der Neuen Welt machten. Nicht geringen Antheil an diesem Aufblühen der Stadt hatte der deutsche Theil der Bevölkerung; eine Reihe der achtbarsten Firmen war in ihren Händen, und wie sehr man ihre Intelligenz zu schätzen wußte, geht aus dem Umstande hervor, daß, als 1782 die ersten Stadtväter Baltimores, sieben an der Zahl, ernannt wurden, fünf derselben Deutsche waren.

Auch als die Revolution der dreizehn Colonien ausbrach, standen die Deutschen nicht zurück, und als das Doppelgefecht von Lexington und Concord geschlagen war und der Continental-Congreß Truppen verlangte, bildete sich in Maryland ein vollständig deutsches Regiment und eine deutsche Artillerie-Compagnie, welche beide Truppenkörper mit großer Auszeichnung unter General Smallwood fochten und in mancher Schlacht ihr Blut für ihr Adoptiv-Vaterland vergossen.

Mit dem Jahre 1796 zur „City“ erhoben, wuchs Baltimore immer mehr empor, und wohl verstanden es seine Handelsherren, sich Ansehen zu verschaffen. Im Kriege von 1812 liefen in drei Wochen allein vierundvierzig Kaperschiffe aus dem Hafen der Stadt, und die Heldenthaten derselben bilden eines der glorreichsten Capitel der Geschichte jenes Krieges. Wie sehr die kleine Stadt den Engländern zu schaffen machte, beweist, daß die britischen Befehlshaber 1814 besonders angewiesen wurden, das „Piratennest am Patapsco“ ganz exemplarisch zu züchtigen, aber die Bevölkerung Baltimores, unter Leitung des deutschen Artillerie-Officiers Armstädt, heizte den britischen Linienschiffen dermaßen ein, daß sie vorzogen, sich aus dem Staube zu machen. In bedeutender Zahl fochten die Deutschen Baltimores in dem entscheidenden Kampfe bei North Point mit, wo wieder Oberst Armstädt den Oberbefehl führte und die Engländer schlug. Interessant ist ferner die Notiz, daß innerhalb dieser Kämpfe in Baltimore Amerikas wunderschöne Nationalhymne entstand, das Lied vom Sternenbanner.

Nach Beendigung des zweiten Unabhängigkeitskrieges schwang sich Baltimore erst recht empor, und zahlreiche bahnbrechende Neuerungen sprechen von dem regen Geiste, der die Bewohner der jungen Stadt beseelte.

Hier wurde der erste Flußdampfer gebaut, hier das Kohlenleuchtgas zuerst als Stadtbeleuchtung angewendet. Baltimore ist ferner die erste Stadt, welche eine Eisenbahn anlegte, die erste, in welcher Eisengebäude errichtet wurden, die erste, welche Cylinderformpressen benutzte und die erste Telegraphenleitung des Continentes fertig stellte. Zwar trat im zweiten Viertel des jetzigen Jahrhunderts ein entschiedener commercieller Rückgang ein, aber die Calamität, die den Handel der Stadt zu vernichten drohte, ward überwunden, und heute erfreut sich dieselbe einer Blüthe, wie nie zuvor.

Baltimore ist jetzt eine der hervorragendsten Städte Amerikas, und man darf derselben kühn eine rein deutsche Bevölkerung von hunderttausend Seelen zuschreiben. Wie die deutsche Handelswelt noch heute durch die achtbarsten Firmen vertreten ist, so unterhalten die Deutschen Baltimores ferner zwei Tageblätter und mehrere andere Zeitschriften, eigene, auf Gemeindekosten erhaltene englisch-deutsche Schulen und zahlreiche gesellige und wohlthätige Vereine.