Bilder aus der Kinderstube (Die Gartenlaube 1864)

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Textdaten
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Autor: Gustav Steinacker
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Titel: Bilder aus der Kinderstube
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 16, S. 248–249
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Bilder aus der Kinderstube.
Von Gustav Steinacker.
2.

Der Schulrath F., den ich vor einer hübschen Reihe von Jahren in T. kennen lernte und öfters besuchte, war ein ganz wackerer, daneben auch ein gelehrter Mann. Er stand als Pädagoge in großem Ansehen, hatte manches Schul- und Erziehungsbuch geschrieben, und ich trat, damals noch ein ziemlich junger Anfänger, mit einer Art von scheuer Ehrfurcht in sein Haus und eine Kinderstube, weil ich da das Muster einer guten Erziehung zu finden und praktisch studiren zu können hoffte. Aber in dieser Erwartung – das ward mir allzubald klar – hatte ich mich echt gründlich getäuscht. Eine gewisse Elternkrankheit, an welcher der gute Mann nicht viel weniger, als seine Gemahlin, die Frau Schulräthin, litt und die mir später auch noch in andern als schulräthlichen Kreisen sehr häufig begegnete, machte alle seine Eriehungswissenschaft und Erziehungspraxis im eigenen Hause zu Schanden. So hatte denn auch ich in seiner Kinderstube allerdings Gelegenheit, gar viel zu lernen, nur in umgekehrter Weise, nämlich nicht wie man’s machen, sondern wie man’s nicht machen muß, um mit glücklichem Erfolge zu erziehen. Daneben ward mir auch von Neuem klar, daß die Geist und Gemüth so schwer bedrohenden Kinderkrankheiten, die in so vielen Kinderstuben herrschen, fast durchgängig nur die natürliche Folge von eben so vielen pädagogischen Elternkrankheiten sind, welche, je weniger sie allgemein genannt und beachtet werden, um so größeres Unheil anrichten.

Mein guter Schulrath hatte damals ein allerliebstes fünfjähriges Söhnchen, Namens Hermann. Schön, blühend und schwarzäugig wie ein Liebesgott, pausbäckig wie ein Raphael’scher Engel auf dem Bilde der Madonna della Sedia und voll lebendigen Muthwillens, wie er Knaben in jenem Alter so wohl kleidet, stahl er nicht nur unwillkürlich allen Freunden und Bekannten des Hauses das Herz, er hatte es, was weit schlimmer, offenbar schon längst seinen Eltern gestohlen, und – was das Schlimmste von Allem, der Kleine wußte das ganz genau und war darum im besten Zuge, auch ihnen gegenüber seinen Namen immer mehr mit der That zu führen.

Schulrath F. war ein sehr liebenswürdiger Gesellschafter. Er sah dabei gern Gäste in seinem Hause und an seinem Tisch, und diese folgten auch sehr gern der schulräthlichen Einladung, denn die Frau Schulräthin war, was sonst nicht allen Schulräthinnen eigen sein soll, als treffliche Köchin und liberale Wirthin bekannt, ebenso veranschaulichte auch der Keller des Herrn vom Hause, oder vielmehr dessen gewählter Inhalt, auf das Einleuchtendste den Unterschied zwischen einem Schulrath und einem – Volkschullehrer. Bei derlei Gelegenheiten speisten nun die älteren Kinder gewöhnlich nicht bei Tische, sondern erhielten ihr Contingent in der Nebenstube. Hermannchen aber nahm bei einer jener mir unvergeßlichen Veranlassungen alsbald seinen Sitz in nächster Nähe der bereits aufgetragenen Suppenschüssel als einen ihm von Gott und Rechtswegen gebührenden Vorzug in Beschlag, und wehe dem, der es versuchen wollte, ihn von da zu verdrängen. Die Mama versuchte es wirklich einmal, als ich gerade mit anwesend war. „Hermännchen,“ sprach sie, „stehe auf und mache dem Herrn da Platz!“ Doch mein Hermännchen hatte dafür keine Ohren. Er blieb ruhig sitzen und begann gemüthlich sein Spiel mit den bereit liegenden Messern und Gabeln. „Das schickt sich nicht, Kind, leg’ gleich Messer und Gabel an ihren Ort und steig’ vom Stuhle.“ Hermann schüttelte ruhig den Kopf und blieb sitzen. Die Mama benutzte in ihrer Verlegenheit den Eintritt eines Gastes, um das pädagogische Zwiegespräch mit ihrem Söhnchen abzubrechen und die Aufmerksamkeit der Anwesenden davon abzulenken.

Hermann hatte sich’s unterdessen bequem gemacht und von den aufgelegten Brodschnitten eine Wagenburg zu bauen angefangen. Das war der Mama denn doch zu viel. Sie begann von Neuem: „Hermann, sei doch artig! was werden die fremden Herren von Dir denken!“ Das schien jedoch Hermann ebenso wenig zu kümmern, als die hinzugesetzte Drohung: „Wenn Du nicht gleich artig bist, so sage ich es dem Papa, und Du bekommst Eins ab.“ Als auch das nichts fruchtete und Hermann mit einer Entschiedenheit, die manchem deutschen Minister dem Auslande gegenüber sehr zu wünschen wäre, dabei verharrte: „Ich gehe nicht und ich fürchte mich nicht!“ als selbst die dem Kleinen in’s Ohr geflüsterten Versprechungen und Drohungen ebenso wenig verfangen wollten, wie die Lock- und Schrecktöne einer Russell’schen diplomatischen Note an die deutschen Cabinete: da blieb freilich zuletzt gegen den renitenten Kleinen nichts übrig, als die lang verzögerte und höchst ungern in Anwendung gebrachte gewaltsame Maßregel der – Execution. Die Frau Schulräthin faßte also, kraft ihrer mütterlichen Autorität, das unfolgsame Söhnchen unter den Armen und hob es vom Stuhle.

Aber Hermännchen wußte alsbald Hannemännchen zu spielen. Er kannte aus Erfahrung die schwache Seite seiner Frau Mama, und wie man es anzufangen habe, um ihr gegenüber seinen Willen durchzusetzen. Er sing ein klägliches Zetergeschrei an und nöthigte dadurch Mama zur Nachgiebigkeit und zum Rückzuge – natürlich nur aus Rücksicht auf ihre lieben Gäste. Der Kleine behielt also seinen bevorzugten Platz an der (europäischen) Tafel, mit der nachträglichen Drohung: „Warte nur, Du ungezogenes Kind, Du sollst Deine Strafe schon bekommen!“ und der Gast, dem der Ehrenplatz an Mama’s Seite zugedacht war und von Rechtswegen gebührte, ward gebeten, dem kleinen Eigensinne zu weichen und weiter hinabzurücken. Ich war durch diesen Auftritt um eine pädagogische Studie reicher geworden und höchst begierig zu erfahren, was denn der Herr Schulrath dazu sagen würde, der noch mit einigen Gästen im Nebenzimmer verweilte und soeben in ihrer Begleitung eintrat. Er ignorirte indeß auf gut diplomatisch, was er doch nicht zu ändern vermochte, und erging sich dafür später mit seinem Tischnachbar in einem eifrigen Gespräch über die Principien der neuern Pädagogik, wobei seine Gelehrsamkeit einen glänzenden Triumph feierte. Aber auch Hermännchen errang zwischen Mama und dem zuvorkommenden Gaste, der die Achillesferse der mütterlichen Eitelkeit sehr wohl zu kennen und zu benutzen schien, einen Triumph und einen guten Bissen nach dem andern. Dies erhöhte seine Siegeszuversicht so sehr, daß er sich zuletzt Alles erlaubte, von Allem haben wollte, höchst ungenirt in alle Compot- und Dessertschüsseln langte und seine Kirschkerne dem [249] fremden Gaste auf den Teller warf, seine von Bratenfett triefenden Hände am Tischtuch abwischte und ähnliche Kurzweil trieb, die, anfangs mehrfach belacht und dadurch unterstützt, zuletzt doch alle Schranken des Zulässigen so sehr überschritt, daß der Schulrath genöthigt war, seine väterliche Autorität geltend zu machen. Aber selbst diese brachte es zu nichts weiter, als zu leeren Drohungen, die denn auch ziemlich wirkungslos verhallten.

Ich hatte dann nach Tische und bei späteren Anlässen noch öfters Gelegenheit, diese schlimme Elternkrankheit näher kennen zu lernen, und konnte es dem klugen, aber verzogenen Kinde nicht gerade verdenken, daß es sich durch derlei Drohungen nicht einschüchtern ließ, sich das Papier zu seinem Spielzeug, statt aus dem Papierkorb, lieber von dem Arbeitstisch des Vaters holte, den ihm mit dem Stocke drohenden Papa durch seine entgegengesetzte Drohung, ihm dann den Stock zu zerbrechen, zum Lachen brachte und die Ruthe hinter dem Spiegel vollends wenig respectirte, weil sie meist nur hinter dem Spiegel oder als Demonstration in der Hand des Vaters oder der Mutter blieb, ohne je mit dem Rücken des Kindes in allzunahe Berührung zu kommen.

Ich lernte daraus, daß in der Pädagogik, wie in der Politik, das viele Drohen eben so wenig taugt, als das viele Verbieten, da beides den Eigensinn und die Lust am Verbotenen methodisch groß zieht. Darum hüte man sich, einen Wald voll verbotener Früchte um das Kind zu pflanzen, man entziehe es vielmehr so viel wie möglich der Versuchung; dagegen bestehe man mit ruhiger, aber unerbittlicher Strenge auf Gehorsam im Betreff des wirklich Verbotenen. Jeder Drohung folge im Nichtbeachtungsfalle unnachsichtlich die Strafe, und zwar ohne lange Strafpredigten, die gleichfalls in das Capitel der Elternkrankheiten gehören. Die rechte Elternliebe beweist sich eben in jener Selbstüberwindung des schwachen Vater- oder Mutterherzens, das nur zu geneigt ist, sich durch Bitten, Thränen und Geschrei entwaffnen, oder im Interesse der Ruhe um jeden Preis zu einer Nachgiebigkeit verleiten zu lassen, die Niemand sichrer zu bemerken und schlauer auszubeuten versteht, als ein kluges Kind. Auf diese Weise wird recht systematisch jener Eigensinn gezeitigt, der keineswegs, wie viele verblendete Eltern sich einzureden lieben, ein Zeichen von Charakterstärke, sondern blos von Selbstsucht und Egoismus ist, dem es an der zügelnden Schranke der Zucht, des Gehorsams und der Selbstüberwindung fehlt.

So wie der Eigensinn als eine der verbreitetsten Kinderkrankheiten namentlich durch Schuld der Eltern und ihrer verkehrten Erziehung sich in vielen Kinderstuben zeigt, so begegnen wir daselbst häufig auch einer andern, nicht minder verhängnißvollen, ja, in ihren Folgen und Wirkungen noch weit verderblicheren: der Lüge, und auch hier trifft Eltern und Erzieher oft ein noch viel begründeterer Vorwurf, als das Kind selbst. Jede Lüge, als bewußte und vorsätzliche Verleugnung der Wahrheit, ist zunächst immer ein Kind der Noth und das Capitel der Nothlügen darum ein unbegrenztes. Die Noth, die zur Lüge führt, wird dem Kinde aber nur allzu oft gerade von Denen bereitet, die den Beruf hätten, es davor zu bewahren. Das Erstere geschieht, wenn sie durch ihr eigenes, unbewachtes Beispiel in Wort und That, so wie durch eine Menge unüberlegter, unpädagogischer Verbote, Vorstellungen in dem Kinde wach rufen, welche bei eintretender Versuchung die Lust ihr zu folgen erregen. Eltern, die sich in Gegenwart des Kindes keinen Zwang anthun, ja vielleicht regelmäßig manchen guten Bissen genießen, der dem Kinde versagt ist, dürfen sich nicht wundern, wenn dadurch in diesem ein Keim der bösen Lust gepflanzt wird, die bei vorkommender Gelegenheit den verbotenen Genuß in ganz anderer Weise zum Gegenstande ihrer Uebertretung macht, als die kleine Hedwig, welche einmal ihrer mir befreundeten Mutter die offene Zuckerdose unter Thränen brachte, mit der Bitte, sie zu verschließen, und auf die ernste Frage der Mutter: „Hast Du daraus genascht?“ mit rührender Treuherzigkeit antwortete: „Nein, aber ich habe gewollt!“

Das „führe uns nicht in Versuchung!“ des Vaterunsers sollten sich daher auch in dieser Beziehung alle Eltern und Erzieher recht angelegentlich zur Pflicht machen. Nicht, als ob damit dem Kinde jede Versuchung überhaupt erspart bleiben solle; dafür sorgt schon das Leben hinlänglich, und ohne Kampf und Sieg auch keine Tugend; wohl aber ist es die Pflicht der Eltern, das Kind nicht muthwillig Versuchungen auszusetzen, ehe noch die Kraft des Widerstandes in ihm genährt und gepflegt worden ist. Gesellt sich dann bei dem Erliegen zu dem Gefühl der Schuld und Uebertretung auch noch die durch Erfahrung mehr oder weniger begründete Furcht vor der Strafe, so ist im Betretungsfalle der kleine Nothlügner fertig, der dann nur zu leicht zum Gewohnheitslügner werden kann. Die rechte Liebe, die das Vertrauen im Kinde weckt und nährt und bei allem Ernst jede sonstige Uebertretung mit Milde, dagegen jede wirkliche Lüge mit unnachsichtlicher Strenge straft, dürfte auch hier die sicherste Schutzwehr dagegen sein. Ich sage absichtlich: jede wirkliche Lüge, denn meine Erfahrung hat mich gelehrt, daß bei besonders lebhaften, phantasievollen Kindern sich häufig ein halb unbewußtes Verleugnen der Wahrheit findet, das der Lüge ziemlich ähnlich sieht, aber doch keineswegs als solche betrachtet werden kann. Es besteht vielmehr in jenem unwillkürlichen Vermischen von Dichtung und Wahrheit, in jener „Lust zu fabuliren“, die bekanntlich schon der deutsche Altmeister Goethe von seiner Mutter, der Frau Rath, die darin selbst ziemlich stark war, geerbt hat. So hatte auch ich vor einiger Zeit einen Knaben in Erziehung, der mit dieser Gabe in hohem Grade bedacht war. So oft er irgendwo zum Besuch gewesen, wußte er seinen Cameraden mit der ernsthaftesten Miene Dinge zu erzählen, die er alle gesehen und erfahren haben wollte, welche aber für jeden Unbefangenen so ziemlich das Gepräge der Aufschneiderei an sich trugen. Mir erschien die Sache nicht ganz unbedenklich, aber ich überzeugte mich, daß es wirklich nur ein Uebermaß von dichterischer Phantasie war, welches den Knaben bei seinen naiven Erzählungen unwillkürlich mit sich fortriß. Er liebte überhaupt die Hyperbeln und die Superlative, sah leicht auf gut Don Quixotisch eine Windmühle für einen Riesen an und trug durchaus kein Bedenken, einige harmlose Reiter, die ihm auf dem Wege begegnet, in ein Regiment Husaren zu verwandeln. Ich hielt darum für’s Beste, ihn bei seinen Erzählungen so viel als möglich im Auge zu behalten und mit aller Ruhe jede unterlaufende Dichtung in Wahrheit umzusetzen und auf ihr richtiges Maß zurückzuführen, ohne ihm weiter Vorwürfe über seine hyperbolische Ausdrucksweise zu machen. Das ließ sich denn der Knabe – der beste Beweis, daß es ihm nicht eigentlich um’s Lügen zu thun war – auch ruhig gefallen, und als so verschiedene Male durch mich der Gellert’sche oder vielmehr der Fritz’sche große Hund, ohne Anwendung der Brücke, von Pferd und Kuh und Kalb zum gewöhnlichen Hunde reducirt worden war, verlor sich allmählich jener poetische Lügenansatz ohne Nachtheil für die poetische Begabung, welche sich später zu meiner Freude auf’s Glücklichste geltend machte und der Pflege nicht unwerth erschien. Ein strenges und plumpes Zufahren hätte hier leicht verschüchternd oder erbitternd gewirkt und weit mehr Schaden angerichtet, als verhütet; ein völliges Ignoriren dagegen die Lust und Gewohnheit „zu fabuliren“ leicht zum Hang für wissentliche und vorsätzliche Wahrheitsverletzung, also – zur Lüge steigern können.