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Chemische Briefe/Dreiundzwanzigster Brief

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Dreiundzwanzigster Brief.


Das Leben der Pflanzen ist an die Aufnahme von Nahrungsmitteln geknüpft, die sie aus der Luft, dem Wasser, dem Boden empfangen. Diese Stoffe sind unorganische; aus Kohlensäure, Ammoniak und Wasser, aus Schwefel-, Phosphor- und Kieselsäure, aus Alkalien, alkalischen Erden und Eisen entstehen die Elemente der belebten Gebilde. Aber der in der Pflanze vor sich gehende Process ist der Gegensatz der unorganischen Processe. In der unorganischen Natur herrschen Mechanismus und Chemismus; die Verwitterung der Steine, die Zertrümmerung der Gebirge beruht auf dem Wärmewechsel, auf der Einwirkung von Wasser und Luft, und durch die chemische Action des Sauerstoffs werden die organischen Wesen, so wie das Leben erlischt, zurückgeführt in die ursprünglichen Verbindungen, aus denen der Leib sich bildete.

Aber im Organismus der lebendigen Pflanzen verlieren Luft, Wasser, Sauerstoff und Kohlensäure ihren chemischen Charakter und üben weder durch ihre Masse noch durch Affinität eine Wirkung aus.

Ausserhalb der Sphäre der in der Pflanze thätigen lebendigen Kräfte äussert der Sauerstoff seine vorwiegenden Verwandtschaften zu den verbrennlichen Elementen dem Kohlenstoff, dem Wasserstoff; innerhalb der Pflanze wird er aus dem Wasser, aus der Kohlensäure ausgeschieden, und durch die Blätter wird er der Luft als Sauerstoff wiedergegeben; der Lebensprocess der Pflanze ist der Gegensatz des Oxydationsprocesses, der in der anorganischen Natur vor sich geht, er ist ein Reductionsprocess.

Die grosse Mehrzahl der im Organismus der Pflanzen gebildeten und aus ihnen hervorgehenden Producte enthält Sauerstoff und ausser diesem zwei bis vier verbrennliche Elemente; aus diesen drei bis fünf Elementen entsteht die unendliche Reihe von organischen Verbindungen, die in ihren Eigenschaften so ausserordentlich grosse Unterschiede zeigen. Wenn Sie die Baumwollenfaser mit dem Milchzucker und der Säure im Sauerkraut vergleichen, so tritt Ihnen die auffallende Verschiedenheit dieser Dinge sogleich entgegen. Aber die chemische Analyse sagt Ihnen, dass diese Materien Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff enthalten, und

[180] zwar eine genau eben so viel von diesen drei Elementen als die andere; der Milchzucker enthält nicht mehr Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff als die Baumwollenfaser und die Sauerkrautsäure. Eben so sind Rohrzucker und Gummi aus ganz gleichen Bestandtheilen zusammengesetzt. Sie Alle wissen, dass ein Hühnerei im siedenden Wasser hart wird; dabei ändert sich nichts in der Zusammensetzung des Eiweisses, nichts tritt von aussen hinzu oder wird davon gethan, die Elemente haben nur eine andere Lage angenommen, und dieser Lagerungsveränderung entsprechen jetzt andere Eigenschaften. So beruht auch der Unterschied des Gummi’s und Rohrzuckers, der Sauerkrautsäure und Baumwollenfaser nur auf einer verschiedenen Ordnungsweise derselben Elemente, die sie in gleichem Verhältniss enthalten. Das Strychnin enthält Kohlenstoff, Stickstoff und die Elemente des Wassers; es wirkt auf den lebenden Körper als furchtbares Gift. Das Chinin enthält dieselben Elemente und wirkt auf den Organismus als heilsame Arzenei. Das Caffeïn enthält auch dieselben Elemente; es wird täglich im Thee und Kaffee genossen ohne eine giftige oder arzeneiliche Wirkung auszuüben. Alle Stoffe, aus denen sich das Blut bildet, enthalten Stickstoff, Kohlenstoff und die Elemente des Wassers. Es ist ganz unmöglich die giftigen, arzeneilichen oder ernährenden Eigenschaften des Strychnins, Chinins, der blutbildenden Stoffe dem Kohlenstoff, Stickstoff oder den Elementen des Wassers zuzuschreiben. Der ausserordentliche Unterschied ihrer Eigenschaften ist abhängig von der Ordnungsweise der Elemente in ihnen; in einer gewissen Richtung gelagert hemmen, in einer anderen befördern, in einer dritten unterhalten sie den Lebensprocess. Die chemische Elementaranalyse giebt also nicht den mindesten Anhaltepunkt zur Beurtheilung oder Erklärung der Eigenschaften von organischen Verbindungen; alle Bemühungen der Chemiker sind darum in der neueren Zeit darauf gerichtet, die Ordnungsweise der Elemente in den verschiedenen Producten des Pflanzenlebens zu erforschen, denn von dieser Ordnungsweise sehen wir die Wirkungen abhängig.

Wenn der Chemiker von seinem Standpunkt aus ein Haus der chemischen Analyse unterwerfen würde, so würde er sagen, dass es aus Silicium, Sauerstoff, Aluminium, Calcium, etwas Eisen, Blei und Kupfer, aus Kohlenstoff und den Elementen des Wassers bestehe. Sie würden damit nicht den allergeringsten Begriff von der Einrichtung eines Hauses erlangen. Das Calcium, der Kohlen- und Sauerstoff woraus der Mörtel, das Silicium, Aluminium, der Sauerstoff woraus die Ziegelsteine, der Kohlen-, Wasser- und Sauerstoff woraus das Holz besteht, wirken nicht als Elemente, sondern als Mörtel und Stein woraus die Wände, als Glas woraus die Fenster, als Holz woraus Tische und Bänke bestehen; nur wenn die Elemente in der Form von Holz, Stein, Glas etc. zusammengefügt sind, entsteht aus diesen das Haus. Und wenn Ihnen Jemand beweisen wollte, dass der Pallast des Königs mit seiner ganzen inneren Einrichtung, mit Statuen und Gemälden von selbst entstanden wäre, durch ein Spiel der Naturkräfte, welche zufällig sich begegnet und die Elemente zum Haus geordnet hätten, weil ja der Mörtel aus einer chemischen Verbindung von Kohlensäure und Kalk bestehe, die ein jeder Anfänger in der Chemie darstellen könne, weil die Steine, das Glas

[181] aus Silicium, Aluminium, Calcium, Kalium und Sauerstoff bestehen, welche durch die chemische Affinität zusammengehalten werden und durch die Cohäsionskraft Festigkeit erlangen, weil also chemische und physikalische Kräfte an dem Haus einen bestimmten Antheil haben – Sie würden ihm mit einem Lächeln des Mitleids antworten, denn Sie wissen wie ein Haus entsteht. Die äussere Gestalt, die innere Einrichtung, die Vertheilung der Räume, alles geht von einem Baumeister aus; das wirkliche Haus gestaltet er nach einem ideellen Haus, das ausserhalb seines Geistes nicht existirt, und die im Geist erzeugte und vollendete Idee verwirklicht er in dem Bau selbst durch Kräfte, welche in dem Organismus des Menschen erzeugt werden, und welche die chemischen und physikalischen Kräfte, von denen das Baumaterial seine Eigenschaften empfangen hat, zu Dienern der Idee machen. Immer und überall setzt die Entstehung eines Hauses die Idee des Hauses und eine Ursache voraus, welche andere Kräfte in gewissen Richtungen nach einer gewissen Ordnung in Bewegung bringt, und deren Wirkungen entsprechend dem zu erreichenden Zweck leitet.

In der niedrigsten wie in der höchsten Pflanze, in ihrem Bau wie in ihrer Entwickelung, sehen Sie das Material zu Formen von einer Feinheit und Regelmässigkeit und in einer Ordnung zusammentreten, welche Alles übertreffen was wir in der Einrichtung eines Hauses wahrnehmen; und bei jeder Pflanzengattung wiederholt sich die Idee, welche uns in ihrer Unveränderlichkeit jetzt als das Naturgesetz erscheint. Wir sehen zuletzt ein fertiges Ganzes vor uns, das in einer gewissen Zeit sich selbst im Samen wieder erzeugt.

In den Formen, in der geordneten gesetzlichen Entwickelung erkennen wir einen Zweck und eine Idee, aber unsere Sinne nehmen nur in dem Werk den Baumeister wahr; wir sehen die Kraft nicht, welche das widerstrebende Material bewältigt und es zwingt sich in die vorgeschriebenen Formen und Ordnungen zu fügen. Aber unsere Vernunft erkennt, dass die Idee einen Urheber habe, und dass in dem lebendigen Leib eine Ursache bestehe, welche die chemischen und physikalischen Kräfte der Materie beherrscht, und sie zu Formen zusammenfügt, welche ausserhalb des Organismus niemals wahrgenommen werden.

Alle Gestaltungen der unorganischen Körper sind durch ebene Flächen und gerade Linien, alle Gestaltungen der Träger organischer Thätigkeit sind durch krumme Flächen und krumme Linien begrenzt; in den organischen Körpern muss eine Ursache wirken, welche die gerade Linie krumm biegt.

Nur die mangelhafte Kenntniss der anorganischen Kräfte ist der Grund, warum von manchen Männern die Existenz einer besonderen in den organischen Wesen wirkenden Kraft geleugnet, warum den unorganischen Kräften Wirkungen zugeschrieben werden, die ihrer Natur entgegengesetzt sind, ihren Gesetzen wiedersprechen. Sie wissen eben nicht, dass die Entstehung einer jeden chemischen Verbindung nicht eine, sondern drei Ursachen voraussetzt; immer ist es die formenbildende Kraft der Cohäsion oder Krystallisation, welche unter Mitwirkung der Wärme die chemische Affinität in ihren Aeusserungen regelt, die Ordnungsweise

[182] des Krystalls und damit seine Eigenschaften bedingt. Im lebendigen Körper kommt eine vierte Ursache hinzu, durch welche die Cohäsionskraft beherrscht wird, durch welche die Elemente zu neuen Formen zusammengefügt werden, durch die sie neue Eigenschaften erlangen, Formen und Eigenschaften, die ausserhalb des Organismus nicht bestehen. Wenn es wahr ist, dass in der anorganischen Natur eine Cohäsionskraft formenbildend besteht, so ist es eben so wahr, dass in den Organismen eine Kraft wirkt, eine Ursache der Bewegung und des Widerstandes, welche der Cohäsionskraft und ihren Aeusserungen entgegentritt, welche die Wirkungen des Sauerstoffs und die stärksten chemischen Anziehungen aufhebt und geradezu umkehrt. Wenn Sie die Personen ins Auge fassen, von denen jene Meinungen verfochten werden, so bemerken Sie sogleich, dass sie Fremdlinge sind in den Gebieten, welche die Erforschung chemischer und physikalischer Kräfte zur Aufgabe haben; kein competenter Physiker oder Chemiker hat ihnen jemals beigestimmt. Und wenn Sie unsere grossen Physiologen fragen, denen wir die Entdeckung der Thatsachen verdanken, auf welche die Leugner der Lebenskraft ihre Behauptungen stützen, so werden Sie die Antwort erhalten, dass diese Meister der Wissenschaft solche Behauptungen und Schlüsse weder für gegründet noch für gerechtfertigt ansehen. Es sind die Meinungen von Dilettanten, welche von ihren Spaziergängen an den Grenzen der Gebiete der Naturforschung die Berechtigung herleiten, dem unwissenden und leichtgläubigen Publicum auseinanderzusetzen, wie die Welt und das Leben eigentlich entstanden, und wie weit doch der Mensch in der Erforschung der höchsten Dinge gekommen sei; und das unwissende und leichtgläubige Publicum glaubt ihnen und nicht den Naturforschern, wie es an die wandernden, schreibenden, sprechenden Tische und an eine besondere Kraft im alten Holze und nicht an die Naturforscher geglaubt hat.

In einer unendlichen Reihe von Jahren, über die sie auf das Wohlfeilste verfügen, sei, so behaupten die Dilettanten, aus dem niedrigsten Organismus, der in der That als eine einfache Zelle sich darstellt, ein höherer, aus diesem ein noch höher stehender und nach und nach die ganze Mannichfaltigkeit der organischen Schöpfung entstanden; Pflanzen und Thiere bildeten eine ununterbrochene Kette, und Uebergänge könnten nicht geleugnet werden; und wenn der Mensch nichts wisse von solchen Uebergängen, so komme dies daher, weil die Zeiten, wo sie statt hatten, weiter aus einander liegen als die Geschichte der Menschen, und weil die Stufen der Uebergänge zuletzt so unmerklich seien, dass sie auch die feinste Beobachtung nicht wahrzunehmen vermöge. Das Wesen des Dilettantismus ist in dieser Darlegung klar; die Hypothese selbst hat keine Thatsachen für sich und ist darum nicht beweisbar, und indem sie erklärt, dass die Erfahrungen der Menschen unzureichend seien, um ihre Wahrheit zu prüfen, so ist sie natürlich auch nicht widerlegbar. Aber eine Schwierigkeit bleibt immer noch, welche nicht zu heben ist, dies ist die Entstehung der ersten organischen Zelle; für diese eine hat ein Schöpfungsact bestanden, alle anderen sind aus dieser einen Zelle entwickelt. Der Dilettantismus setzt, wie man sieht, voraus, dass es dem Schöpfer bequemer geworden sein müsse, anstatt vieler, der mannichfaltigsten Entwickelung fähiger Keime oder Zellen nur eine zum Leben

[183] zu wecken, und die Entfaltung der Idee durch diese eine Zelle der Zeit und dem Zufall zu überlassen.

Hören wir wie der Meister in der Entwickelungsgeschichte – Bischoff – (in seinen im Frühjahr 1858 in München gehaltenen Vorträgen) über die Kette, welche die organischen Wesen bilden sollen, sich ausspricht:

„Als man von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an die höchst stehenden Affen, den Orang-Outang von der Insel Borneo und Sumatra und den Chimpanzé von der Küste von Guinea allmählich theils durch Ueberbringen todter, dann aber selbst auch lebender Thiere nach Europa immer besser und besser kennen lernte, sahen sich selbst die grössten damaligen Naturforscher, wie Linné, Buffon, Camper u. A. in Verlegenheit, welche körperlichen Unterschiede sie zwischen dem Menschen und Thiere aufstellen sollten. Die Uebereinstimmung und Aehnlichkeit schien ihnen so gross, dass sie theils gar keine, theils nur untergeordnete Verschiedenheiten finden zu können glaubten und dieselben theils nur in nicht körperliche Verhältnisse verlegten, theils dieselben geradezu aufgaben und bestritten.“

„Gerade aus den genauesten wissenschaftlichen Forschungen schien es als unabweisbar hervorzugehen, dass sich der Mensch nur in einem kaum merkbaren Uebergang unmittelbar an die Thiere anschliesse. Es war das die Zeit, wo man in der ganzen, namentlich in der thierischen Schöpfung eine ununterbrochene Kette von immer höher entwickelten und sich eng an einander anschliessenden Formen erkannt haben wollte, wo es denn sehr natürlich war, auch den Menschen nur durch einen kleinen kaum merkbaren Fortschritt an die Spitze der Thierwelt gestellt zu sehen. Eben so schienen die subtilsten Forschungen über die Entwickelung der Individuen denselben Satz zu beweisen. Man glaubte erkannt zu haben, dass das höher stehende Individuum und auch der Mensch während seines Eizustandes und seiner Entwickelung alle Stufen der niederen Thierwelt durchlaufe, dass der Keim der Menschen Anfangs etwa einem Infusorium, dann einem Weichthiere, Wurme oder Insect, hierauf einem Fische, Amphibium, Vogel und höherem Säugethiere gleiche, und sich seine eigenthümliche Form erst nach Durchlaufen der übrigen herausbilde. So war die Zeit schon einmal da, wo man es für einen unerträglichen und abgeschmackten Hochmuth erklärte, dass sich der Mensch für irgend etwas Besseres und Höheres halte als die Thiere, und dass nur der Dünkel Unterschiede festzuhalten suche, welche seine Anmassung rechtfertigen sollten.“

„Allein diese Richtung konnte und kann sich nicht halten. Die Stütze, auf welche sie gebaut war und ist, das Naturstudium, führt mit Nothwendigkeit selbst zu ihrem Umsturz und ihrer Beschränkung auf das Wahre, was in ihr liegt. Es wiederholt sich die Wahrheit des bekannten Satzes, dass die Wissenschaft, halb, einseitig, nach falscher Methode betrieben, zu Irrthum und Täuschung, ganz aber und nach richtigen Grundsätzen angebaut, zur Wahrheit führt.“

„Je genauer man die Thiere und namentlich auch jene bis dahin seltenen Affenarten kennen lernte, um so mehr überzeugte man sich, dass trotz vielfach grosser Uebereinstimmung zwischen ihnen und dem Menschen

[184] doch auch noch körperliche Verschiedenheiten sich finden, so gross als irgend welche, die uns zur Aufstellung verschiedener Genera und Arten von Naturkörpern nur irgend bestimmen. Die so begeistert aufgenommene und vertheidigte Kette der Wesen löste sich bei genauerer Bekanntschaft in einzelne Glieder und Typen auf, welche zwar entschieden einen Fortschritt in der Organisation darbieten und in sich entwickeln, sich aber keinesweges in unmittelbarer Reihe an einander fügen, sondern zwischen sich Sprünge und Unterschiede darbieten, wie sie nicht so gross zwischen Thier und Mensch zu sein brauchen, um beide durch eine nicht vermittelbare Kluft von einander zu trennen. – Eine genauere Einsicht in die wunderbaren Vorgänge der Entwickelung des Individuums lehrte ferner, dass es mit jener Durchlaufung des Embryo durch die niederen Thierformen Nichts sei, und der menschliche Embryo nie einem Infusorium, Wurm, Insect oder selbst Fisch und Amphibium gleicht, sondern dass es sich hierbei nur um ein höchst merkwürdiges, allen Wirbelthieren gemeinschaftliches Entwickelungsgesetz handelt, nach welchem sich dieselben auf den ersten Stufen ihrer Bildung alle einander allerdings sehr ähnlich sind, weil sie alle aus einer gleichen Summe im Anfang einander sehr ähnlicher Theile, aus Hirn und Rückenmark, Herz und Darm etc. bestehen, aus welcher sich die bleibenden Differenzen nicht blos durch höhere Ausbildung, sondern eben so oft durch Stehenbleiben auf einer gewissen Entwickelungsstufe und selbst durch Rückschreiten hervorbilden. –“

Die strenge wissenschaftliche Forschung weiss demnach von einer Kette der organischen Wesen nichts.

Wie ist es nun mit der ersten Zelle?

Die Dilettanten antworten Ihnen, dass die organischen Wesen aus Kohlen-, Wasser-, Stick- und Sauerstoff nebst Schwefel bestehen, und dass in dem Conflict dieser Stoffe durch die ihnen einwohnenden Kräfte es irgend einmal möglich gewesen sein müsse, dass die Bestandtheile einer Zelle, die Zelle selbst und der Organismus sich gebildet hätten. Der Chemiker könne in seinem Laboratorium eine Menge von Stoffen erzeugen, welche sonst nur die Pflanze oder das Thier in ihrem Organismus hervorbringen; er könne aus Holz Zucker machen, das Taurin der Galle und den Harnstoff darstellen, warum sollte der Kohlenstoff, Wasserstoff und die anderen Elemente nicht einmal zu einem organischen Bildungsmaterial zusammentreten und einen Keim erzeugen können? Aber was jene Dilettanten organische Verbindungen nennen, sind gar keine solchen, sondern chemische, welche die Bestandtheile der organischen enthalten; das Taurin aus der Galle und aus dem Laboratorium sind nicht von einander zu unterscheiden, es ist eine durch chemische, nicht durch organische Kräfte gebildete Verbindung. Es ist klar wie die Sonne: in dem lebendigen Leibe wirken auch chemische Kräfte. Was die Chemie vor dreissig Jahren behauptete ohne es beweisen zu können, beweist sie jetzt. Unter dem Einfluss einer nicht chemischen Ursache wirken in dem Organismus auch chemische Kräfte. Nur in Folge dieser beherrschenden Ursache und nicht von selbst ordnen sich die Elemente und treten zu Harnstoff, zu Taurin zusammen, wie der intelligente Wille des Chemikers sie ausserhalb des Körpers zwingt zusammenzutreten.

[185] Und so wird es ihm gelingen Chinin, Caffeïn, die Farbstoffe der Gewächse, und alle Verbindungen zu erzeugen, welche keine vitalen, sondern nur chemische Eigenschaften besitzen, deren kleinste Theile sich zu Krystallen ordnen, deren Form und Gestalt eine nicht organische Kraft bestimmt. Aber nie wird es der Chemie gelingen eine Zelle, eine Muskelfaser, einen Nerv, mit einem Wort einen der wirklich organischen, mit vitalen Eigenschaften begabten Theile des Organismus oder gar diesen selbst in ihrem Laboratorium darzustellen. Wer jemals kohlensaures Ammoniak, kohlensauren, phosphorsauren Kalk, ein Eisenerz, ein kalihaltiges Mineral gesehen hat, der wird von vorne herein es für ganz unmöglich halten, dass aus diesen Stoffen durch die Wirkung der Wärme, Elektricität oder einer anderen Naturkraft jemals ein organischer, der Fortpflanzung und höheren Entwickelung fähiger Keim sich bilden könne.

Die unorganischen Kräfte schaffen immerdar nur Unorganisches; durch eine in dem lebendigen Leib wirkende höhere Kraft, deren Diener die unorganischen Kräfte sind, entsteht der organische, eigenthümlich geformte, von Krystall verschiedene und mit vitalen Eigenschaften begabte Stoff.

Man hat noch vor hundert Jahren fest geglaubt, dass Fische und Frösche in Sümpfen, dass Pflanzen und allerlei Ungeziefer in gährenden und faulenden Mischungen, in feuchten Sägespänen von selbst entstünden. War dies wahr, so konnte nicht geleugnet werden, dass unter ähnlichen Umständen auch einmal ein Mensch von selbst entstehen oder entstanden sein könne. Aber die exacte Naturforschung hat dargethan, dass alle diese für Wahrheiten gehaltenen Meinungen auf falschen und leichtfertigen Beobachtungen beruhten; in allen untersuchten Fällen hat man Keime und Samen der Pflanzen, Eier der Thiere aufgefunden, aus denen sie im Moder sich entwickelten; ein Ei, ein Same stammt aber von einem Organismus.

Es haben manche Philosophen behauptet, das Leben sei wie die Materie von Ewigkeit dagewesen, es habe keinen Anfang gehabt.

Die exacte Naturforschung hat bewiesen, dass die Erde in einer gewissen Periode eine Temperatur besass, in welcher alles organische Leben unmöglich ist; schon bei 78° Wärme gerinnt das Blut. Sie hat bewiesen, dass das organische Leben auf Erden einen Anfang hatte. Diese Wahrheiten wiegen schwer, und wenn sie die einzigen Errungenschaften dieses Jahrhunderts wären, sie würden die Philosophie zum Dank an die Naturwissenschaften verpflichten.

Dieselben Dilettanten in der Naturwissenschaft, welche nicht wissen, was das Fieber oder eine Entzündung oder der Schnupfen ist, oder wie das Blut entsteht, oder zu was die Galle dient, dieselben Kinder in der Erkenntniss der Naturgesetze behaupten, und wollen das unwissende und leichtgläubige Publicum glauben machen, dass sie Aufschlüsse zu geben vermöchten über die Entstehung der Gedanken, über die Natur und das Wesen des menschlichen Geistes. Der geistige Mensch, so sagen sie, sei das Product seiner Sinne, das Gehirn erzeuge die Gedanken durch einen Stoffwechsel und verhalte sich zu ihnen wie die Leber zur Galle. So wie die Galle untergehe mit der Leber, so gehe der Geist unter mit dem Gehirn.

[186] Wenn Sie die Schlüsse dieser Leute entkleiden von dem geborgten Flitter und Tand, von allen ihren Scheinbeweisen, die in der Wirklichkeit, in den Augen der Forscher und Denker nur beleuchteter Nebel sind, so bleibt übrig, dass die Beine zum Laufen und dass das Gehirn zum Denken da sei, und dass das Denken gelernt werden müsse, so wie das Kind das Laufen lerne, dass wir ohne Beine nicht gehen und ohne Gehirn nicht denken können; dass eine Verletzung der Fortbewegungswerkzeuge das Gehen und eine Verletzung der Werkzeuge des Denkens das Denken ändert. Aber das Fleisch und die Knochen, woraus die Beine bestehen, bewegen sich nicht, sondern sie werden bewegt durch eine Ursache, die nicht Fleisch und Bein ist, sie sind die Werkzeuge der Kraft; die weiche Masse, die man Gehirn nennt, ist das Werkzeug der Ursache, welche die Gedanken erzeugt. Das Gehirn ist das einzige innere Organ, auf welches der Wille des Menschen direct eine Macht ausübt; weder auf die Bewegungen des Herzens noch des Magens hat der Wille unmittelbaren Einfluss, aber der Einfluss einer einem Knaben im rechten Augenblick applicirten Ohrfeige auf das Begreifen eines mathematischen Lehrsatzes ist jedem Lehrer geläufig. Das Auge, das Ohr sind die Werkzeuge zur Wahrnehmung der Licht- und Schallwellen.

Die Dilettanten behaupten, die Gedanken seien Producte des Stoffwechsels des Gehirns, so wie die Galle ein Product des Stoffwechsels der Leber. Aber die exacte Physiologie weiss bis jetzt nichts von den Beziehungen, in welchen die Galle, das Secret, zu dem Stoffwechsel der Leber, des Secretionsorganes, steht, und was die Chemie darüber erforscht hat, beweist, dass die Elemente der Galle in keiner Beziehung zu denen der Leber stehen.

So wie die Harfe tönt, wenn ihre Saiten der Wind bewegt, so denkt das Gehirn durch den Stoffwechsel; so hört das Ohr, so sieht das Auge; aber das Gehirn an sich denkt keine Gedanken, das Ohr hört nicht die Musik, das Auge sieht nicht die leuchtende Sonne, den grünen Baum, es empfindet nicht die Sprache des Augenpaars, was ihm Liebe zustrahlt; die Nerven fühlen keinen Schmerz, keinen Wechsel der Temperatur, nichts Hartes oder Weiches, nichts Rundes oder Scharfes. Der geistige[1] Mensch ist nicht das Product seiner Sinne, sondern die Leistungen der Sinne sind Producte des intelligenten Willens im Menschen.

Wir wissen, dass ein Stoffwechsel die Kraft in der Dampfmaschine erzeugt. Das Holz, die Kohlen verbrennen, sie wechseln ihre Eigenschaften. Durch einen Stoffwechsel in der galvanischen Säule durch die Auflösung eines Metalls in einer Säure, entsteht ein elektrischer Strom; dieser wird zum Magneten, der eine Maschine treibt. Alles lässt uns vermuthen, dass auch in dem thierischen Körper die mechanische Kraft, welche die willkürliche oder unwillkürliche Bewegung der Glieder bedingt, mit dem Stoffwechsel und namentlich im Muskelsystem in Verbindung steht; allein die Beziehung selbst ist uns noch gänzlich unbekannt. Was wir davon wissen, ist, dass die Kraft im Organismus nicht erzeugt wird, wie in der Dampfmaschine, dass sie nicht erklärbar ist aus den bekannten elektrischen Gesetzen. Wir wissen, dass ein Stoffwechsel in allen Theilen des Körpers vor sich geht, dass ein Verbrauch von mechanischer Kraft Einfluss habe auf alle Werkzeuge, auf den ganzen Mechanismus des Körpers,

[187] dass der Wille eines durch Laufen oder schwere Arbeit ermüdeten Menschen auch auf das Werkzeug des Denkens, das Gehirn von seiner Macht verliere; von einem Stoffwechsel im Gehirn, welcher Gedanken erzeuge, weiss die Naturforschung absolut nichts; alles was wir wissen, reducirt sich auf die triviale Wahrheit, dass ein Kopf ohne Gehirn weder denkt noch empfindet.

Durch die Elektricität erzeugen wir Magnetismus und Wärme, durch Magnetismus erzeugen wir Elektricität und Wärme, eine jede dieser Kräfte ist verwandelbar in ein Aequivalent mechanischer Kraft; sie haben sicherlich Antheil an allen Vorgängen im Organismus, an allen materiellen Veränderungen in der Substanz der Körpertheile, allein es ist unmöglich anzunehmen, dass Kräfte, welche einen Druck oder Zug, eine Abstossung oder eine Anziehung, eine Ausdehnung oder einen Ortswechsel erzeugen, für sich oder in ihrem Zusammenwirken Selbstbewusstsein hervorbringen; wäre dies der Fall, so müssten nach dem Gesetz der Erhaltung der Kraft und ihrer Unzerstörlichkeit, durch die Gedanken Lasten bewegt oder Magnetismus, oder Elektricität oder Wärme erzeugt werden können. Wären die Geistesthätigkeiten Folgen und nicht Ursachen materieller Veränderungen, so müssten Bewusstsein und Stoffwechsel in gleichem Verhältnisse zu einander stehen, wir müssten der Abhängigkeit uns bewusst werden, während wir das Gefühl der Freiheit in uns tragen.

Die Naturforscher, welche die Gesetze des organischen Lebens wirklich kennen lernen wollten, und gewahrten, dass physikalische und chemische Kräfte in ihm walteten, richteten natürlich auf diese als auf das auch sonst Bekannte ihr Augenmerk; sie sahen zunächst von anderen Kräften ab, um zu ergründen, wie weit Physik und Chemie für die Erklärung des Lebens und seiner Vorgänge ausreichten; wo sie unzugänglich sind, da tritt das Wirken eines neuen noch unbekannten Princips ein, das dann sogleich umgrenzt und näher bestimmt ist. Diese Methode der Ausschliessung haben viele Leute nicht gekannt, nicht verstanden, und so kam es, dass sie glaubten, eine eigenthümliche in den Organismus wirkende, von den physikalischen und chemischen Kräften verschiedene Ursache werde von den Männern verworfen, welche die physikalischen und chemischen Bedingungen des Lebens festzustellen suchten.

Um gegen die Apostel des Materialismus nicht ungerecht zu sein, muss man in Betracht ziehen, dass ihre Ansichten im Wesentlichen nichts weiter sind als die extreme Folge von einer Reaction gegen die vor mehreren Jahren noch herrschenden Lehren. Die naturphilosophische Physiologie entbehrte die Basis der exacten Forschung, der Erfahrung; alle Vorgänge der Ernährung, der Respiration, der Bewegung erklärte sie durch eine einzige eingebildete Ursache, die sie Lebenskraft nannte; in dem organischen Körper, so meinte man, haben die chemischen und physikalischen Kräfte keinen Antheil, er erzeuge sich das Eisen, das er brauche, wie die Wärme, auf seine eigene Weise. Die exacte Naturforschung hat dargethan, dass alle Kräfte der Materie wirklich Antheil haben an dem organischen Process, und die extreme Reaction behauptet jetzt, im Gegensatz zu der früheren Ansicht, dass nur die chemischen und physikalischen Kräfte die Lebenserscheinung bedingen, dass überhaupt keine andere Kraft im Körper wirke. Aber eben so wenig wie die Naturphilosophen

[188] von damals den Beweis liefern konnten, dass ihre Lebenskraft Alles mache, eben so wenig können die Materialisten von gestern den Beweis führen, dass die anorganischen Kräfte es thun, und für sich ausreichen den Organismus, ja den Geist hervorzubringen. Alle ihre Behauptungen gründen sich wie damals nicht auf die Bekanntschaft, sondern auf die Unbekanntschaft mit den Vorgängen. Die Wahrheit liegt in der Mitte, die sich über die Einseitigkeiten erhebt und ein formbildendes Princip, eine herrschende Idee in und mit den chemischen und physikalischen Kräften für das organische Leben anerkennt.

  1. WS: korrigiert. Im Original: giestige