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Chemische Briefe/Erster Brief

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von: Justus von Liebig
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Erster Brief.


In den Schriften der neueren Zeit ist so viel und so häufig von Chemie die Rede, dass eine bestimmtere Andeutung ihres Einflusses auf Gewerbe und Industrie, ihrer Beziehungen zur Agricultur, Physiologie und Medicin, vielleicht keine ganz undankbare Aufgabe genannt werden dürfte.

Möchte es mir in diesem ersten Briefe gelingen, die Überzeugung zu befestigen, dass die Chemie als selbstständige Wissenschaft eines der mächtigsten Mittel zu einer höheren Geistescultur darbietet, dass ihr Studium nützlich ist, nicht nur insofern sie die materiellen Interessen der Menschen fördert, sondern weil sie Einsicht gewährt in die Wunder der Schöpfung, welche uns unmittelbar umgeben, an die unser Dasein, Bestehen und unsere Entwickelung auf’s engste geknüpft sind.

Die Fragen nach den Ursachen der Naturerscheinungen, nach den Quellen des Lebens der Pflanzen und Thiere, nach dem Ursprung ihrer Nahrung, den Bedingungen ihrer Gesundheit und den Veränderungen in der Natur, der wir durch unseren körperlichen Leib angehören, diese Fragen sind dem menschlichen Geiste so angemessen, dass die Wissenschaften, welche befriedigende Antwort darauf geben, mehr wie alle andern Einfluss auf die Cultur des Geistes ausüben.

Das Studium der Naturwissenschaften als Mittel der Erziehung ist ein Bedürfniss unserer Zeit. Neben der Unterweisung in den Grundsätzen der Moral und Religion, der nächsten und wichtigsten Aufgabe derselben, sollen durch die Erziehung die verschiedenen menschlichen Fähigkeiten, der Individualität entsprechend, entwickelt und geübt werden, es soll der Geist einen gewissen Umfang allgemeiner und nützlicher Kenntnisse gewinnen. Keine unter allen Wissenschaften bietet dem Menschen eine grössere Fülle von Gegenständen des Denkens, der Ueberlegung und von frischer sich stets erneuernder Erkenntniss dar als wie die Chemie; keine ist mehr geeignet, das Talent der Beobachtung in der Entdeckung von Aehnlichkeiten und Verschiedenheiten in den Erscheinungen in gleicher Weise zu wecken und die Gesetze des Denkens in ihren strengen Methoden der Beweisführung für die Wahrheit einer Erklärung oder in der Aufsuchung der Ursachen und Wirkungen einer Erscheinung gleich anschaulich und geläufig zu machen. In demselben Grade, als der menschliche Geist an Einsicht zunimmt, die ihm von irgend einer Seite zufliesst, stärken

[2] und erheben sich seine Fähigkeiten nach allen andern Richtungen hin; die Erwerbung einer neuen Wahrheit ist ein dem Menschen zugewachsener neuer Sinn, der ihn jetzt befähigt, eine Menge von Erscheinungen wahrzunehmen und zu erkennen, die einem andern unsichtbar und verborgen bleiben, wie sie es früher ihm selbst waren.

Die Chemie führt den Menschen ein in das Reich der stillen Kräfte, durch deren Macht alles Entstehen und Vergehen auf der Erde bedingt ist, auf deren Wirkung die Hervorbringung der wichtigsten Bedürfnisse des Lebens und des Staatskörpers beruht; als Theil der Wissenschaft der Naturforschung ist sie auf’s engste verwandt mit der Physik und diese letztere steht in genauer Verbindung mit Astronomie und Mathematik. Die Grundlage eines jeden Zweiges der Naturwissenschaft ist die einfache Naturbeobachtung; nur ganz allmählich haben sich die Erfahrungen zur Wissenschaft gestaltet.

Der Ortswechsel der Gestirne, der Wechsel von Tag und Nacht, der Jahreszeiten haben zur Astronomie geführt.

Mit der Astronomie entstand die Physik, bei einem gewissen Grad ihrer Ausbildung zeugte sie die wissenschaftliche Chemie, aus der organischen Chemie werden sich die Gesetze des Lebens, es wird sich die Physiologie entwickeln.

Die Quelle aller Wissenschaft ist die Erfahrung; man hat die Dauer des Jahres bestimmt, den Wechsel der Jahreszeiten erklärt, Mondfinsternisse berechnet, ohne die Gesetze der Schwere zu kennen; man hat Mühlen gebaut und Pumpen gehabt und den Druck der Luft nicht gekannt; man hat Glas und Porzellan gemacht, man hat gefärbt und Metalle geschieden, Alles durch blosse Experimentirkunst, ohne also durch richtige wissenschaftliche Grundsätze geleitet zu sein. So ist die Geometrie in ihrer Grundlage eine Erfahrungswissenschaft, die meisten Lehrsätze derselben waren durch Erfahrung gefunden, ehe ihre Wahrheit durch Vernunftschlüsse bewiesen wurde. Dass das Quadrat der Hypotenuse gleich sei dem Quadrat der beiden Katheten, war eine Erfahrung, eine Entdeckung; würde sonst der Entdecker, als er den Beweis fand, eine Hekatombe geopfert haben?

Wie ganz anders stellen sich jetzt aber die Entdeckungen des Naturforschers dar, seitdem der geistige Hauch einer wahren Philosophie ihn dahin geführt hat, die Erscheinungen zu studiren, um zu Schlüssen auf ihre Ursachen und Gesetze zu gelangen.

Von einem einzelnen erhabenen Genius, von Newton, ist mehr Licht ausgegangen, als ein Jahrtausend vor ihm hervorzubringen vermochte. Die richtige Ansicht von der Bewegung der Himmelskörper, des Falls der Körper, ist die Mutter von zahllosen andern Entdeckungen geworden; die Schifffahrt, der Handel, die Industrie, jeder einzelne Mensch zieht, so lange Menschen existiren, geistige und materielle Vortheile aus seinen Entdeckungen.

Ohne die Geschichte der Phvsik zu Rathe zu ziehen, ist es unmöglich, sich eine Vorstellung von dem Einfluss zu machen, den die Naturforschung auf die Cultur des Geistes ausgeübt hat. In unseren Schulen prägen sich den Kindern Wahrheiten ein, deren Eroberung unermessliche Arbeiten, unsägliche Anstrengungen gekostet hat. Sie lächeln, wenn wir ihnen

[3] erzählen, wie der italienische Naturforscher eine lange, ausführliche Abhandlung darüber schrieb, dass der Schnee auf dem Aetna aus der nämlichen Substanz bestehe, wie der Schnee der Schweizeralpen, dass er eine Menge Beweise häufte, um darzuthun, dass beide beim Schmelzen Wasser von gleichen Eigenschaften und gleicher Beschaffenheit geben; und doch war dieser Schluss nicht so handgreiflich, denn wie sehr ist die Temperatur Siciliens von der in der Schweiz verschieden. Niemand hatte damals eine Vorstellung über die Verbreitung der Wärme auf der Oberfläche der Erde; und wenn ein Knabe ein gefülltes Glas mit einem losen Stück Papier verschliesst und umkehrt, ohne dass ein Tropfen Flüssigkeit herausläuft, so setzt er nur ein zweites Kind damit in Erstaunen, und doch ist es der nämliche Versuch, der den Namen Torricelli unsterblich macht; es ist eine Variation des Versuches, mit welchem der Magdeburger Bürgermeister in Regensburg Kaiser und Reich in sprachlose Verwunderung setzte. Unsere Kinder haben von der Natur und von Naturerscheinungen richtigere Begriffe und Vorstellungen, wie Plato; sie dürften zu spotten sich vermessen über die Irrthümer, welche Plinius beging.

Durch Geschichte, Philosophie und die classischen Studien erwerben wir uns Kenntniss der intellectuellen Welt, der Gesetze des Forschens und Denkens, der geistigen Natur des Menschen. Indem wir in den Seelen der grossen und guten Menschen aller Zeiten lesen, lernen wir aus den Erfahrungen vergangener Jahrhunderte, wie die Leidenschaften zu mildern und zu regieren, wie das Herz zu sänftigen; sie führen uns zum Verständniss des Menschen der gegenwärtigen Zeit, dessen moralische Natur ewig dieselbe bleibt; sie lehren uns die Grundsätze der Religion, der Wahrheit, des Rechts in die schönste Form zu kleiden und um so tieferen Eindruck auf die Gemüther Anderer zu machen. Aber die Geschichte und Philosophie konnten nicht hindern, dass man Menschen als Zauberer verbrannte; und da sich der grosse Kepler nach Tübingen begab, um seine Mutter vom Feuertode zu retten, konnte er nur beweisen, dass ihr die wahren Erfordernisse zu einer Hexe völlig abgingen.

Wie ein Samenkorn von einer gereiften Frucht, trennte sich vor siebzig Jahren die Chemie als selbstständige Wissenschaft von der Physik; mit Black, Cavendish, Priestley fängt ihre neue Zeitrechnung an. Die Medicin, die Pharmacie, die Technik hatten den Boden vorbereitet, auf welchem das Samenkorn sich entwickeln, auf welchem es gedeihen sollte.

Ihre Grundlage ist, wie man weiss, eine dem Anschein nach sehr einfache Ansicht über die Verbrennung. Wir wissen jetzt, was sich daraus entwickelt, welche Wohlthaten, welchen Segen sie verbreitet hat. Seit der Entdeckung des Sauerstoffs hat die civilisirte Welt eine Umwälzung in Sitten und Gewohnheiten erfahren. Die Kenntniss der Zusammensetzung der Atmosphäre, der festen Erdrinde, des Wassers, ihr Einfluss auf das Leben der Pflanzen und Thiere, knüpften sich an diese Entdeckung. Der vortheilhafte Betrieb zahlloser Fabriken und Gewerbe, die Gewinnung von Metallen steht damit in der engsten Verbindung. Man kann sagen, dass der materielle Wohlstand der Staaten um das Mehrfache dadurch seit dieser Zeit erhöht worden ist, dass das Vermögen eines jeden Einzelnen damit zugenommen hat.

[4] Eine jede einzelne Entdeckung in der Chemie hat ähnliche Wirkungen in ihrem Gefolge, eine jede Anwendung ihrer Gesetze ist fähig, nach irgend einer Richtung hin dem Staate Nutzen zu bringen, seine Kraft, seine Wohlfahrt zu erhöhen.

In vielen Beziehungen besitzt die Chemie Aehnlichkeit mit der Mathematik; so wie diese letztere uns lehrt, Felder zu vermessen, Häuser zu bauen, Lasten zu heben, ist sie, wie die Rechenkunst, ein Instrument, dessen geschickte Handhabung augenfälligen Nutzen bringt. Auf der andern Seite befähigt die Mathematik den Menschen, richtige Vernunftschlüsse nach bestimmten Regeln zu ziehen; sie lehrt ihn eine eigenthümliche Sprache kennen, die ihm erlaubt, eine Reihe von Folgerungen auf eine ausserordentlich einfache Art in Linien und Zeichen auszudrücken, die Jedem verständlich sind, der diese Sprache kennt; sie lehrt ihn durch gewisse Operationen, die mit diesen Linien und Zeichen vorgenommen werden, Wahrheiten aufzufinden; sie lehrt ihn, klare Einsicht in vorher dunkle und unbekannte Verhältnisse zu gewinnen.

Der Mechaniker, der Physiker, der Astronom benutzen die Mathematik wie ein völlig unentbehrliches Instrument, welches ihnen als Mittel dient, um gewisse Zwecke zu erreichen; sie müssen in seiner Handhabung, in seinem Gebrauche so geübt sein, dass ihre Anwendung zu einer mechanischen Fertigkeit wird, die nur ihr Gedächtniss in Anspruch nimmt; aber das Instrument macht ja das Werk nicht, sondern der menschliche Geist. Sie werden zugeben, dass Ihnen ohne Urtheil, ohne Scharfsinn und Beobachtungsgabe alle mathematischen Kenntnisse nutzlos sind.

Sie kennen sich einen Menschen denken, der, begünstigt durch ein grosses Gedächtniss, sich mit allen Lehrsätzen der Mathematik auf’s vollkommenste vertraut gemacht hat, der es zu einer grossen Fertigkeit gebracht hat, mit diesem Instrumente umzugehen, ohne dass er im Stande ist, sich selbst eine Aufgabe zu geben. Wenn Sie ihm die Aufgabe, wenn Sie ihm die Bedingungen zur Lösung einer Frage geben, so gelingt es ihm, durch die Vornahme der ihm geläufigen Operationen zu einer Antwort zu gelangen, ausgedrückt in einer Formel, in gewissen Zeichen, deren Sinn ihm durchaus unverständlich ist, weil zur Beurtheilung der Wahrheit dieser Formel ihm wieder andere Bedingungen fehlen. Dies ist ein blosser Rechner; sobald er aber die Fähigkeit und das Talent besitzt, sich selbst eine Frage zu stellen und die Wahrheit seiner Rechnung zu prüfen, so wird er zum Naturforscher; denn wo sonst sollte die Aufgabe hergenommen sein, wenn nicht aus der Natur oder aus dem Leben?

Sie nennen ihn Mechaniker, oder Astronom, oder mathematischen Physiker, wenn er, von der Beobachtung ausgehend, den Zusammenhang gewisser Erscheinungen zu ermitteln, wenn er die Ursachen aufzufinden weiss, durch die sie hervorgebracht werden, wenn er die Resultate seiner Forschung nicht nur in einer Formel, in der Sprache des Mathematikers auszudrücken vermag, sondern wenn er überdies noch die Fertigkeit besitzt, eine Anwendung davon zu machen; wenn er die Formel also in einer Erscheinung wiedergeben und hierdurch ihre Wahrheit prüfen kann.

Der Astronom, der Physiker, der Mechaniker bedarf demnach zu der Mathematik, die er als Instrument gebraucht, noch der Kunst, Beobachtungen zu machen, die Erscheinungen zu interpretiren; es gehört dazu

[5] die Fähigkeit, einen Vernunftschluss in einer Erscheinung, in einer Maschine, durch einen Apparat wiederzugeben, eine Reihe von Schlüssen durch Versuche zu beweisen.

Der Physiker stellt sich die Lösung einer Frage, er will die Bedingungen einer Erscheinung, die Ursachen ihres Wechsels erforschen, und er gelangt, wenn die Frage richtig gestellt und alle Factoren in Rechnung genommen sind, durch Hülfe mathematischer Operationen zu einem einfachen Ausdruck der unbekannten Grösse oder des gesuchten Verhältnisses. Dieser Ausdruck erklärt, in Worte übersetzt, den Zusammenhang der beobachteten Erscheinungen, der von ihm angestellten Versuche; er ist wahr, wenn er ihm erlaubt, eine gewisse Reihe von andern Erscheinungen hervorzurufen, welche Folgerungen dieses Ausdrucks sind.

Sie sehen leicht ein, wie die Mathematik mit der Naturforschung zusammenhängt, dass neben der Mathematik ein hoher Grad von Einbildungskraft, Scharfsinn und Beobachtungsgabe dazu gehört, um nützliche Entdeckungen in der Physik, Astronomie oder Mechanik zu machen. Es ist ein ganz gemeiner Irrthum, dass man die Entdeckungen der Mathematik zuschreibt; es geht damit, wie in tausend Dingen, wo man die Wirkung mit der Ursache verwechselt. So schreibt man den Dampfmaschinen zu, was dem Feuer, den Steinkohlen, was dem menschlichen Geiste angehört. Zu Entdeckungen in der Mathematik gehört dieselbe Geisteskraft, derselbe Scharfsinn, das nämliche Denkvermögen wie zur Lösung anderer schwieriger Probleme; in Beziehung auf ihre Anwendungen sind es Vervollkommnungen des Instruments, unzähliger nützlicher Anwendungen fähig, allein die Mathematik macht in der Wissenschaft der Naturforschung, von sich selbst ausgehend, keine Entdeckungen, sie verarbeitet stets nur das Gegebene, das durch die Sinne Beobachtete, den durch den Geist geschaffenen neuen Gedanken.

Der mathematischen Physik gegenüber steht die Experimentalphysik; diese ist es, welche Thatsachen entdeckt, untersucht und dem mathematischen Physiker vorbereitet. Die Aufgabe der Experimentalphysik ist, die Gesetze, die aufgefundenen Wahrheiten durch Erscheinungen auszudrücken, die mathematische Formel durch Versuche zu erläutern und den Sinnen anschaulich zu machen.

Die Chemie verfährt in der Beantwortung ihrer Fragen in derselben Weise, wie die Experimentalphysik. Sie lehrt die Mittel kennen, welche zur Kenntniss der mannichfaltigen Körper führen, woraus die feste Erdrinde besteht, welche Bestandtheile des thierischen und vegetabilischen Organismus bilden.

Wir studiren die Eigenschaften der Körper, die Veränderungen, die sie in Berührung mit andern erleiden. Alle Beobachtungen zusammengenommen bilden eine Sprache; jede Eigenschaft, jede Veränderung, die wir an den Körpern wahrnehmen, ist ein Wort in der Sprache.

Die Körper zeigen in ihrem Verhalten gewisse Beziehungen zu andern, sie sind ihnen ähnlich in der Form, in gewissen Eigenschaften, oder weichen darin von ihnen ab. Diese Abweichungen sind eben so mannichfaltig, wie die Worte der reichsten Sprache; in ihrer Bedeutung, in ihren Beziehungen zu unsern Sinnen sind sie nicht minder verschieden.

[6] Der Name eines jeden dieser Körper besitzt für den Chemiker seine besondere Bedeutung; die Namen Schwefel, Jod, Eisen erwecken in ihm nicht nur gewisse Merkmale der Aehnlichkeit oder Verschiedenheit in der äussern Beschaffenheit, in der Farbe, in der Gestalt, Härte u. s. w., sondern eine Reihe von verborgenen Eigenthümlichkeiten, welche erst in Berührung mit andern Körpern zum Vorschein kommen.

Die Körper besitzen wie die Menschen gewisse äussere und eine ganze Anzahl verborgene Eigenthümlichkeiten. An der äusseren körperlichen Beschaffenheit erkennen wir die Individuen und unterscheiden sie von einander, aber durch die Sinne oder an körperlichen Merkmalen ist Niemand im Stande, die verborgenen Eigenschaften eines Individuums, ob es sanft oder heftig, freigebig oder habgierig ist, zu errathen oder zu erkennen, weil diese erst im Verkehr mit andern Menschen zum Vorschein kommen. So ist z. B. der Name Luft, atmosphärische Luft, für den Chemiker ein Inbegriff von Eigenschaften; kein sterbliches Auge hat je ein Lufttheilchen gesehen: denn das Sehen setzt gewisse Wirkungen auf das Auge voraus, welche den Lufttheilchen abgehen; aber sie besitzen andere Eigenschaften, welche die Chemie zur Wahrnehmung bringt, und durch diese andern Eigenschaften erkennt der Chemiker nicht blos die Anwesenheit von Lufttheilchen, wo kein anderer Mensch sie erkennen würde: er zeigt auch, dass diese unsichtbare und unfühlbare Materie aus mehreren gleich unsichtbaren Materien zusammengesetzt ist; es gelingt ihm durch die genaue Bekanntschaft mit ihren Eigenthümlichkeiten, sie von einander zu trennen, zu wägen und ihre Anwesenheit jedem andern Auge erkennbar zu machen; er zeigt Ihnen, dass die Luftart, die in unsern Strassenlaternen brennt, aus fünf oder sechs ganz verschiedenen Luftarten besteht; er zeigt Ihnen in einem Bestandtheil der Atmosphäre, welcher zum Athemprocesse verwendet wird, eine der wichtigsten Bedingungen des thierischen, und in einem Producte des Respirationsprocesses die nächste Bedingung des Pflanzenlebens; er zeigt Ihnen den innigen Zusammenhang der sichtbaren mit der unsichtbaren materiellen Welt, von deren Dasein unsere Vorältern keine Ahnung hatten, und alles dies dadurch, dass er die Eigenthümlichkeiten dieser Stoffe kennen gelernt hat durch sichtbare oder durch sinnlich wahrnehmbare Erscheinungen, die erst in Gegenwart oder beim Zusammenbringen mit andern Stoffen wahrnehmbar werden, deutlicher wie der Ton einer Saite, die Sie anschlagen, und ebenso verständlich wie die schwarzen Linien und Schriftzeichen, womit Sie einem Freunde auf die grössten Entfernungen hin Ihre unsichtbaren Gedanken vor Augen bringen.

Die Körper sind verschieden in ihrer Qualität; was ihre Eigenschaften uns sagen, ändert sich, je nachdem sie geordnet sind; wie in jeder andern, haben wir in der eigenthümlichen Sprache, mit der die Körper zu uns reden, Artikel, Fälle, alle Beugungen der Haupt- und Zeitwörter, wir haben eine Menge Synonymen. Dieselben Quantitäten der nämlichen Elemente bringen je nach ihrer Stellung ein Gift, ein Arzneimittel, ein Nahrungsmittel, einen flüchtigen oder einen feuerbeständigen Körper hervor.

Wir kennen die Bedeutung ihrer Eigenschaften, der Worte nämlich, in denen die Natur zu uns spricht, und benutzen das Alphabet, um zu lesen.

[7] Eine Mineralquelle in Savoyen heilt Kröpfe; ich stelle an sie gewisse Fragen, und alle Buchstaben zusammengestellt, sagt sie mir, dass sie Jod enthält.

Ein Mann ist nach dem Genusse einer Speise mit allen Zeichen der Vergiftung gestorben; die Sprache der Erscheinungen, welche dem Chemiker geläufig ist, sagt ihm, der Mann sei an Arsenik oder an Sublimat gestorben.

Der Chemiker bringt ein Mineral durch seine Fragen zum Sprechen; es antwortet ihm, dass es Schwefel, Eisen, Chrom, Kieselerde, Thonerde oder irgend eins der Worte der chemischen Sprache der Erscheinungen, in gewisser Weise geordnet, enthält. Dies ist die chemische Analyse.

Die Sprache der Erscheinungen leitet den Chemiker zu Combinationen, aus denen unzählige nützliche Anwendungen sich ergeben: sie führen ihn zu Verbesserungen in Fabriken und Gewerben in der Bereitung von Arzneien, in der Metallurgie. Er hat den Ultramarin entziffert, es handelt sich jetzt darum, das Wort durch eine Erscheinung wiederzugeben, den Ultramarin mit allen seinen Eigenschaften wieder darzustellen.

Die Bekanntschaft mit der Zusammensetzung der Körper befähigt den Chemiker Fragen zu lösen, die man noch vor wenig Jahren für unlösbar gehalten hat.

Ein Feld, auf dem wir eine Anzahl von Jahren hinter einander die nämliche Pflanze cultiviren, wird in drei, ein anderes in sieben, zehn, hundert Jahren unfruchtbar für diese Pflanze; das eine Feld trägt Weizen, keine Bohnen, es trägt Gerste, aber keinen Tabak, ein drittes giebt reichliche Ernten von Rüben, aber keinen Klee!

Die Ermittelung der Zusammensetzung des Bodens und der Asche der Pflanze lässt Sie den Grund erkennen, warum der Acker bei der Cultur einer und derselben Pflanze, wenn der Boden keinen Dünger empfängt, seine Fruchtbarkeit für dieselbe allmählich verliert, warum eine Pflanze darauf gedeiht und die andere darauf fehlschlägt. Die Chemie lehrt den Grund der Wirkung des Düngers und die Mittel kennen, durch welche die Fruchtbarkeit des Feldes wieder hergestellt wird. Dies ist die angewandte Chemie.

Die Lösung der Frage, in welchem Verhältniss die organische Form abhängig ist von ihren Bestandtheilen, ist die nächste Aufgabe der Chemie in der Physiologie; sie soll zeigen, welche Veränderungen die Speisen erleiden, wenn sie zu Blut werden, welchen Aenderungen die Blutbestandtheile unterliegen, wenn sie zu Bestandtheilen der Organe werden.

Die Ernährungsfähigkeit einer Speise, die Wirkung eines Arzneimittels, die der Gifte, alle diese Eigenschaften sind an etwas Materielles, an gewisse Elemente gebunden, sie sind die Träger dieser Thätigkeiten. Die vitalen Eigenschaften eines Organes, einer jeden thierischen Flüssigkeit sind abhängig von ihrer Mischung, d. h. von ihrer Zusammensetzung; eine jede Krankheitsursache hat eine Entmischung, eine Aenderung in der Zusammensetzung zur Folge. Die Anwendung von Arzneien bezweckt die Wiederherstellung der ursprünglichen Zusammensetzung, ihre Wirkung hängt ab von ihrer Zusammensetzung. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben für die Chemie, auszumitteln, wie und auf welche Weise die arzneilichen, die giftigen Eigenschaften einer Materie abhängig sind von der

[8] Natur und dem Verhältniss ihrer Elemente, in welchem Zusammenhang die Wirkung zu den Bestandtheilen steht. Nach den neuesten Entdeckungen bietet der Organismus dem Forscher zwar noch Unbegriffenes genug, aber nichts Unbegreifliches mehr dar.

Kaum ist bis jetzt eine Anforderung der Gewerbe, der Industrie, der Physiologie durch die wissenschaftliche Chemie unbefriedigt geblieben. Eine jede Frage, scharf und bestimmt gestellt, ist bis jetzt gelöst worden; nur wenn der Fragende selbst nicht klar über den Gegenstand war, über den er Erläuterungen begehrte, blieb er ohne Antwort.

Die letzte und höchste Aufgabe der Chemie ist die Erforschung der Ursachen der Naturerscheinungen, ihres Wechsels, so wie der Factoren, welche verschiedenartige Erscheinungen mit einander gemein haben; der Chemiker ermittelt die Gesetze, nach denen die Naturerscheinungen vor sich gehen, und er gelangt zuletzt, indem er alles durch die Sinne Wahrnehmbare und Erkannte zusammenfasst zu einem geistigen Ausdruck der Erscheinungen, zu einer Theorie.

Um aber in dem mit unbekannten Zeichen geschriebenen Buche lesen zu können, um es zu verstehen, um die Wahrheit einer Theorie klar einzusehen und die Erscheinungen, worauf sie gestützt, und die Kräfte, durch die sie hervorgebracht sind, unserm Willen unterthan zu machen, muss man nothwendig erst das Alphabet kennen lernen, man muss sich mit dem Gebrauch dieser Zeichen bekannt machen, man muss sich Uebung und Gewandtheit in ihrer Handhabung verschaffen, man muss die Regeln kennen lernen, welche den Combinationen zu Grunde liegen.

Aehnlich wie die höhere Mechanik, die Physik eine grosse Geübtheit in der mathematischen Analyse voraussetzt, muss der Chemiker als Naturforscher sich die vertrauteste Bekanntschaft mit der chemischen Analyse erworben haben. Alle seine Schlüsse, seine Resultate drückt er durch Versuche, durch Erscheinungen aus.

Jeder Versuch ist ein Gedanke, der den Sinnen wahrnehmbar gemacht ist durch eine Erscheinung. Die Beweise für unsere Gedanken, für unsere Schlüsse, so wie ihre Widerlegungen, sind Versuche, sind Interpretationen von willkürlich hervorgerufenen Erscheinungen.

Es war eine Zeit, wo die Chemie, ähnlich wie die Astronomie, die Physik und Mathematik, weiter nichts als eine durch Erfahrung ausgemittelte und in Regeln gebrachte Experimentirkunst war; seitdem man aber die Ursachen und Gesetze kennt, die diesen Regeln zu Grunde liegen, hat die Experimentirkunst ihre Bedeutung verloren.

Das mühsame, zeitraubende Erlernen von Handgriffen und Methoden, von Vorsichtsmassregeln in den chemischen Gewerben, in der Industrie, der Pharmacie, die sonderbaren Attribute des Chemikers früherer Zeit, ihre Oefen und Gefässe, sind zu Curiositäten geworden; alles dies erlernt sich nicht mehr, sondern es versteht sich von selbst, da man die Ursachen kennt, die es nothwendig gemacht haben. Das Gelingen eines Versuches, einer Operation hängt weit weniger von der mechanischen Geschicklichkeit als von Kenntnissen ab; das Missglücken beruht auf der mangelhaften Erkenntniss, das Entdecken auf Gewandtheit im Combiniren und auf der Kraft, welche neue Gedanken schafft.

[9] In den Vorlesungen lehren wir das Alphabet, in den Laboratorien den Gebrauch dieser Zeichen; der Schüler erwirbt sich darin Fertigkeit im Lesen der Sprache der Erscheinungen, er lernt die Regeln der Combinationen, so wie Gewandtheit und die Gelegenheit, sie in Anwendung zu bringen.

Sobald sich diese Buchstaben und Zeichen zu einer geistigen Sprache gestaltet haben, so verliert und verwischt sich ihre Bedeutung nicht mehr. Mit ihrer Kenntniss ist er ausgerüstet, um unbekannte Länder zu erforschen, sich überall zu belehren und Entdeckungen zu machen, wo ihre Zeichen gelten; sie ist das Mittel zum Verständniss der Sitten, der Gewohnheiten, der Bedürfnisse, die in diesen Gegenden herrschen. Er kann zwar auch ohne die Kenntniss dieser Sprache die Grenzen dieser Länder überschreiten, allein er setzt sich zahllosen Missverständnissen und Irrthümern aus. Er fordert Brod, und man giebt ihm einen Stein.

Die Medicin, die Physiologie, die Geologie, die Experimentalphysik, sie sind diese unbekannten Länder, deren Gesetze, deren Einrichtungen und Regierungsformen er kennen lernen will. Ohne die Sprache der Erscheinungen zu kennen, ohne die Kunst, sie zu interpretiren, bleibt ihm nichts darin zu entdecken übrig, als die Kenntniss der Formen und äusseren Beschaffenheiten.

Die bedeutungsvolle und mächtige Bewegung in der neueren Physiologie ist darauf gerichtet, die vorhandenen Mängel zu beseitigen und Brücken für den Uebergang der Chemie in dieses Gebiet zu erbauen; die Kenntniss der äusseren Formen und der mechanischen Vorgänge befriedigt die Physiologen in unserer Zeit nicht mehr, sie sind durchdrungen von der Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit einer tieferen, inneren, einer chemischen Einsicht; aber ist diese denkbar oder möglich ohne Kenntniss unserer Sprache?

Wenn manche minder begabte Physiologen der Chemie den Vorwurf machen, dass alle unsere Resultate ihnen nutzlos, unfähig einer nützlichen Anwendung für sie wären, so kann man sicher sein, dass sie ihren Sinn und ihre Bedeutung nicht verstehen; für sie wäre es eben so unmöglich, ein Buch in deutscher Sprache, aber in hebräischen Buchstaben geschrieben, zu lesen, wenn sie diese Buchstaben nicht kennen.

Bemerken Sie nicht, dass die Physiologie von vielen Medicinern in ganz gleicher Weise, wie die Chemie, gering geachtet wird? dass ihr die Medicin die gleichen Vorwürfe macht, und zwar mit demselben Unrechte?

Es giebt in der That Aerzte und medicinische Schriftsteller, welche behaupten, dass eine auf exacte Kenntniss zu begründende Wissenschaft der diätetischen und medicinischen Praxis unmöglich sei, und auf diese Voraussetzung begründen sie das Recht, das Wesen „des Lebens“ auf ihre eigene Art zu erklären; sie bemühen sich, die mangelhaften Vorstellungen, welche ihnen die Betrachtung gewisser physiologischer, pathologischer und therapeutischer Erscheinungen einflösst, deren innerer Zusammenhang ihnen unbekannt ist, uns als Naturgesetze, als Gesundheits- und Krankheitsgesetze aufzudrängen. Nicht das Studium der Natur, sondern das ihrer Bücher sei, so meinen sie, für die medicinische Praxis von Werth. In den Worten „Lebenskraft“ und „Lebensgewalten“ schaffen sie sich wunderbare Dinge, mit denen sie alle Erscheinungen erklären,

[10] die sie nicht verstehen. Mit einem durchaus unbegreiflichen, unbestimmten, durch klare Vorstellungen nicht begrenzbaren Etwas erklären sie, was ihnen nicht begreiflich ist! In jeder Krankheit sei, so sagen sie, ein die physiologischen Kräfte befeindendes, selbstständiges Kraftwesen thätig! Und da eine exacte Einsicht in die physiologischen Vorgänge der Gesundheit, Krankheit und Heilung nimmer zu hoffen, so beruhe die Diätetik und Therapie vorzüglich auf der Kenntniss dessen, was in ähnlichen Fällen genützt und geschadet, und die Naturwissenschaften nebst Physiologie, Chemie und Anatomie dienten zunächst nur zur Vermehrung der Merkmale der Aehnlichkeiten und Unähnlichkeiten! Nur ihrer Systeme wegen, nur zur Feststellung ihrer Vorstellungen über Aehnlichkeit und Unähnlichkeit von Krankheitserscheinungen oder Nützlichkeit und Schädlichkeit von Arzneiwirkungen verdienten diese Wissenschaften einige Beachtung. Indem sie von vornherein auf die Quelle alles Wissens, auf eine exacte Naturerkenntniss verzichten, halten sie sich für die Propheten des Lichts und ihrem sich vergötternden Geiste erscheint auch der bescheidenste Widerspruch als Zeichen von Atheismus.

Derjenige, welcher den gegenwärtigen Standpunkt der Naturwissenschaften nicht kennt, dürfte, von dergleichen Aussprüchen verleitet, sich leicht der Ansicht hingeben, dass die Naturwissenschaften, die Physiologie und Chemie vor Jahrhunderten bereits entwickelt und auf ihrem Höhepunkte sich befanden, dass die Naturkräfte erforscht, ihre Gesetze festgestellt und alle Bemühungen gescheitert seien, durch sie eine exacte Einsicht in die Vorgänge des Lebens zu gewinnen, und dass der Weg, um zu dieser Einsicht zu gelangen, stets der richtige gewesen sei. Wäre dies der Fall, so würde ein Vernünftiger vielleicht zu dem Ausspruch verleitet werden können, eine solche Einsicht sei nimmer zu hoffen, ohne dass dieser Mangel an Hoffnung eine „Unmöglichkeit“ einschliesst; allein die physiologischen und chemischen Forschungen in dem Gebiete der Heilkunst und Diätetik sind erst in ihrer Kindheit, aber kaum begonnen, haben sie die volle Ueberzeugung befestigt, dass beide eine auf exacter physiologischer Einsicht beruhende wissenschaftliche Grundlage haben, dass die Vorgänge im lebendigen Leibe auf Naturgesetzen beruhen, und ein jeder Tag bringt Entdeckungen, welche beweisen, dass sie erforschbar sind. Die Wahrheit ist, dass es vor Jahrtausenden ausgezeichnete Aerzte gab, welche von Anatomie nichts wussten, und dass seit vielen Jahrhunderten mit Erfolg Krankheiten geheilt worden sind, ohne dass man die Natur und das Wesen derselben kannte, so wie man denn noch heute nicht weiss, was „Fieber“ oder „Entzündung“ ist; aber dem Schluss, dass eine exacte Einsicht in diese Vorgänge unmöglich sei, fehlt heutzutage alle und jede Grundlage.

Der Arzt, welcher die Medicin nicht als Wissenschaft, sondern als Experimentirkunst erlernt hat, erkennt keine Principien, sondern nur Regeln an, aus der Erfahrung entnommen, was in diesen und jenen Fällen gut und nicht gut wirkte. Nach dem Warum, nach den Ursachen fragt die Experimentirkunst nicht.

Von welchem Standpunkte aus würden aber die abnormen, die krankhaften Zustände im menschlichen Organismus beurtheilt werden, wenn uns die normalen mit genügender Sicherheit bekannt wären, wenn wir völlig

[11] klare Vorstellungen über die Verdauungs-, Assimilations- und die Excretionsprocesse hätten? Wie ganz anders würde die Behandlungsweise der Krankheiten sein! Ohne richtige Vorstellungen über Kraft, Ursache und Wirkung, ohne praktische Einsicht in das Wesen der Naturerscheinungen, ohne gründliche physiologische und chemische Bildung, ist es kein Wunder, dass sonst verständige Menschen die widersinnigsten Ansichten vertheidigen, dass in Deutschland die Lehre von Hahnemann aufkommen, dass sie Schüler in allen Ländern finden konnte.

Der Verstand allein schützt selbst Nationen nicht vor Aberglauben, aber das Kind verliert mit der Entwickelung seines Geistes und seiner Kenntnisse die Furcht vor Gespenstern.

Kann man von solchen Männern erwarten, dass sie aus den Entdeckungen der Chemie und Physiologie auch nur den kleinsten Nutzen ziehen, kann man sie für fähig halten, auch nur die unbedeutendste Anwendung davon zu machen, sie, die nicht das Wesen der Naturforschung mit philosophischem[1] Geiste erfassen, die nicht gelernt haben, die Sprache der Erscheinungen zu interpretiren?

Sie und ihre Geistesverwandten verdriesst es, dass die Wahrheit so einfach ist, obwohl es ihnen mit aller Mühe nicht gelingt, sie praktisch zu nützen.

Um das Wesen der Lebenskraft zu ergründen und ihre Wirkungen zu begreifen, müssen die Aerzte genau den Weg verfolgen, den man in der Physik und Chemie mit so grossem Erfolg betreten hat.

Sicher gab es keinen Zustand der Materie, welcher dem körperlichen und geistigen Auge verborgener und dunkler war, wie der, welchen wir mit elektrisch bezeichnen.

Ein Jahrtausend seit der Entwickelung der Physik ist vorübergegangen, ehe der menschliche Geist nur eine Ahnung von der ungeheuersten Naturgewalt hatte, die an allen Veränderungen der unorganischen Natur, an allen Processen des vegetabilischen und animalischen Lebens Antheil nimmt.

In Folge unermüdlicher Untersuchungen, unabgeschreckt durch Schwierigkeiten ohne Zahl, erwarb sich der Naturforscher ihre genaueste Bekanntschaft und machte sie zu seiner Dienerin; er weiss jetzt, dass sie mit Wärme, Licht und Magnetismus von Einer Mutter stammt, durch sie hat er sich die Geschwister unterthan gemacht, sie folgen seinem Rufe, mit ihrer Hülfe sendet er seine Gedanken in die grössten Entfernungen mit der Schnelligkeit des Blitzes, er lockt damit die edelsten Metalle aus ihren ärmsten Erzen, durch sie gelang es ihm zuerst, die wahre Natur der Bestandtheile des Erdkörpers zu ergründen, er setzt mit ihrer Hülfe Schiffe in Bewegung und vervielfältigt mit ihr Gegenstände der Kunst.

Eine Kraft lässt sich nicht sehen, wir können sie mit unsern Händen nicht fassen; um sie in ihrem Wesen und ihrer Eigenthümlichkeit zu erkennen, müssen wir ihre Aeusserungen studiren und ihre Wirkungen erforschen. Die einfache Beobachtung reicht aber hierzu nicht aus, weil der Irrthum stets an der Oberfläche liegt, die Wahrheit muss tiefer gesucht werden. Wenn wir eine Erscheinung, eine Thatsache falsch auffassen, unrichtig anknüpfen und auslegen, so heisst dies einen Irrthum

[12] begehen; wir schützen uns aber gegen Irrthum, wenn wir unsere Auffassung, die Auslegung der beobachteten Erscheinungen prüfen, wenn wir uns bemühen, ihre Wahrheit zu beweisen. Die Bedingungen, unter welchen die Erscheinung wahrgenommen wird, müssen erforscht, sind sie erkannt, so müssen sie geändert werden; der Einfluss dieser Aenderung muss Gegenstand von neuen Beobachtungen werden. Auf diesem Wege wird die erste Beobachtung berichtigt und dem Geiste klar, der Phantasie darf nichts überlassen werden. Der wahre Naturforscher erklärt und erläutert durch Thatsachen, durch Erscheinungen, deren Auffindung und Entdeckung seine Aufgabe ist, er lässt seinen Gegenstand sprechen. Kein Phänomen für sich allein genommen erklärt sich aus sich selbst, aber das, was damit zusammenhängt, wohl beobachtet und geordnet, führt zur Einsicht. Unverrückbar fest muss man im Auge behalten, dass eine jede Erscheinung ihren Grund, eine jede Wirkung ihre Ursache hat. (F. Bacon von Verulam.)

Die Meinung, dass die Schöpfungskraft der Natur vermögend sei, aus verwitterten Gebirgsarten, aus faulenden Pflanzenstoffen, die mannichfaltigsten Pflanzen, ja selbst Thiere ohne Samen zu erzeugen, der Horror vacui, der Spiritus rector, die Annahme, dass in dem lebendigen Thierkörper Eisen und Phosphor erzeugt werde, sie sind nur Folgen des Mangels an Untersuchungen gewesen, es sind Ausflüsse der Unwissenheit, der Trägheit und Unfähigkeit, den Ursprung oder die Ursachen aufzufinden. Eine einfache Wahrnehmung oder Tausende, die nicht in Zusammenhang gebracht sind, haben keine Beweiskraft. Wir haben kein Recht, uns Ursachen durch die Einbildungskraft zu schaffen, wenn wir in der Auffindung derselben auf dem Wege der Forschung scheitern, und wenn wir sehen, dass die Infusorien aus Eiern entstehen, so bleibt uns nur noch zu wissen übrig, auf welchen Wegen sie sich verbreiten.

Von dem Augenblicke an, wo wir der Einbildungskraft allein die Führung überlassen und ihr das Recht zuerkennen, die noch übrig bleibenden Fragen zu lösen, hört die Forschung auf. Die Wahrheit bleibt unermittelt; dies wäre noch das kleinste Uebel, das schlimmste aber ist, wenn die Phantasie an ihre Stelle ein hartnäckiges, bösartiges, missgünstiges Ungeheuer, den Irrthum, setzt, welcher der Wahrheit, versucht sie endlich sich Bahn zu brechen, entgegentritt, sie bekämpft und zu vernichten strebt; immer und zu allen Zeiten stand die alte Lüge an der Thüre, wenn die junge Wahrheit Einlass begehrte; so war es zu Galilei’s Zeit und ist es jetzt noch überall, in allen Wissenschaften, wo man Meinungen für Beweise gelten lässt. Wenn wir, unsere Unvollkommenheit erkennend, gestehen, dass wir mit unsern gegenwärtigen Hülfsmitteln die Frage nicht lösen, die Erscheinung nicht erklären können, so bleibt sie ein Problem, an welchem Tausende nach uns, eifrig und voller Muth, ihre Kräfte versuchen. Der Erfolg ist, dass sie früher oder später gelöst wird.

Mit der Erklärung befriedigt sich der Geist, der für wahr gehaltene Irrthum bringt dessen Thätigkeit, ganz wie die Wahrheit selbst, zur Ruhe.

Die Phantasie schafft in hunderttausend Fällen hunderttausend Irrthümer, und nichts ist schädlicher für die Fortschritte der Wissenschaft, nichts ist hemmender für die Einsicht, als ein alter Irrthum, denn es

[13] ist unendlich schwer, eine falsche Lehre zu widerlegen, eben weil sie auf der Ueberzeugung beruht, dass das Falsche wahr sei.

Es war gewiss der vernünftigen Naturforschung nicht angemessen, Bildungs-, Ernährungs- und Secretionsprocesse im Organismus zu erklären, ehe man die Nahrungsmittel und die Quellen kannte, aus denen sie stammen, ehe man Eiweiss, Kässtoff, Blut, Galle, Gehirnsubstanz etc. zuverlässigen Untersuchungen unterworfen hatte. Alles dies sind ja sonst nur Namen, deren Buchstaben man höchstens kennt; ehe man ihre Eigenschaften und ihr Verhalten, ehe man die Metamorphosen kannte, die sie in Berührung mit andern Körpern erleiden, ehe man mit einem Worte sie zum Sprechen gebracht hatte, durfte man erwarten, dass sie uns etwas sagen würden?

Die Ursache der Lebenserscheinungen ist eine Kraft, die nicht in messbaren Entfernungen wirkt, deren Thätigkeit erst bei unmittelbarer Berührung der Nahrung oder des Blutes mit dem zur Aufnahme oder ihrer Veränderung geeigneten Organ wahrnehmbar wird. In ganz gleicher Weise äussert sich die chemische Kraft, ja es giebt in der Natur keine Ursachen, welche Bewegung oder Veränderungen bewirken, keine Kräfte, die einander näher stehen, wie die chemische Kraft und die Lebenskraft. Wir wissen, dass chemische Actionen überall eintreten, wo sich überhaupt verschiedenartige Körper berühren; vorauszusetzen, dass eine der mächtigsten Naturkräfte an den Processen in dem lebendigen Organismus keinen Antheil nehme, obwohl sich gerade hier alle Bedingungen, unter denen sie sich thätig zeigt, vereinigen, würde gegen alle Regeln der Naturforschung sein. Weit entfernt aber, Gründe für die Ansicht zu haben, dass die chemische Kraft in dem Grade sich der Lebenskraft unterordne, dass ihre Wirkungen für unsere Beobachtungen verschwinden, sehen wir in dem Athmungsprocess die chemische Kraft des Sauerstoffs z. B. in jeder Zeitsecunde in ihrer vollen Wirksamkeit; so sind der Harnstoff, das Allantoin, die Säure in den Ameisen und Wasserkäfern, die Oxalsäure, das flüchtige Oel der Baldrianwurzel, das Oel der Blüthe der Spiraea ulmaria, das flüchtige Oel der Gaultheria procumbens, Producte des Lebensprocesses; aber sind es, so muss man fragen, Producte der Lebenskraft?

Wir sind im Stande, durch die chemische Kraft alle diese Verbindungen hervorzubringen; aus dem Koth der Schlangen und Vögel erzeugt die Chemie die krystallinische Substanz der allantoischen Flüssigkeit der Kuh, aus verkohltem Blut machen wir Harnstoff, aus Sägespänen Zucker, Ameisensäure, Oxalsäure, aus Weidenrinde das flüchtige Oel der Spiraea ulmaria, das Oel der Gaultheria, aus Kartoffeln die flüchtige ölartige Säure der Baldrianwurzel.

Dies sind Erfahrungen genug, um die Hoffnung zu begründen, dass es uns gelingen wird, Chinin und Morphin, die Verbindungen, woraus Eiweiss oder die Muskelfaser besteht, mit allen ihren Eigenschaften hervorzubringen.

Unterscheiden wir die Wirkungen, welche der chemischen Kraft, von denen, welche der Lebenskraft angehören, und wir befinden uns auf dem Wege, um Einsicht in die Natur der letzteren zu gewinnen. Nie wird der Chemismus im Stande sein, ein Auge, ein Haar, ein Blatt zu erzeugen. Wir wissen aber mit Bestimmtheit, dass die Entstehung von

[14] Blausäure und Bittermandelöl in den bittern Mandeln, von Senföl und Sinapin im Senf, von Zucker im keimenden Samen, Resultate chemischer Zersetzungen sind; wir sehen, dass ein todter Kalbsmagen mit Hülfe von etwas Salzsäure auf Fleisch und hartgekochtes Eiweiss gerade so wirkt, wie ein lebendiger, dass beide löslich, d. h. verdaut werden. Alles dies berechtigt zu dem Schluss, dass wir auf dem Wege der Naturforschung zu einer klaren Einsicht über die Veränderungen, welche die Nahrungsmittel im Organismus erleiden, über die Wirkung der Arzneimittel gelangen werden.

Ohne ein genaues Studium der Chemie und Physik werden die Physiologie und Medicin in ihren wichtigsten Aufgaben, in der Erforschung der Gesetze des Lebens und der Hebung und Beseitigung von anomalen Zuständen im Organismus kein Licht erhalten. Ohne Kenntniss der chemischen Kräfte kann die Natur der Lebenskraft nicht ergründet werden; der wissenschaftliche Arzt wird dann erst von der Chemie Hülfe erwarten können, wenn er im Stande sein wird, dem Chemiker regelrechte Fragen zu stellen.

Die Industrie hat aus der Kenntniss der Chemie unübersehbare Vortheile gezogen; die Mineralogie ist seit der Zeit, wo sie auf die Zusammensetzung der Mineralien und das Verhalten ihrer Bestandtheile Rücksicht nahm, zu einer neuen Wissenschaft geworden; es ist unmöglich, Fortschritte in der Geologie zu erwarten, wenn nicht mehr wie bisher, und zwar in gleicher Weise wie in der Mineralogie, die chemische Beschaffenheit und Zusammensetzung der Felsarten in Rechnung genommen wird. Die Chemie ist die Grundlage der Agricultur; ohne die Bestandtheile des Bodens, die Nahrungsmittel der Gewächse zu kennen, kann an eine wissenschaftliche Begründung derselben nie gedacht werden.

Ohne Kenntniss der Chemie muss der Staatsmann dem eigentlichen Leben im Staate, seiner organischen Entwickelung und Vervollkommnung fremd bleiben, ohne sie kann sein Blick nicht geschärft, sein Geist nicht geweckt werden für das, was dem Lande und der menschlichen Gesellschaft wahrhaft nützlich oder schädlich ist; die höchsten materiellen Interessen, die gesteigerte und vortheilhaftere Hervorbringung von Nahrung für Menschen und Thiere, die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit, sie sind auf’s engste geknüpft an die Verbreitung und das Studium der Naturwissenschaften, und insbesondere an das der Chemie; ohne die Kenntniss der Naturgesetze und der Naturerscheinungen scheitert der menschliche Geist in dem Versuche, sich eine Vorstellung über die Grösse und unergründliche Weisheit des Schöpfers zu schaffen; denn Alles, was die reichste Phantasie, die höchste Geistesbildung an Bildern nur zu ersinnen vermag, erscheint, gegen die Wirklichkeit gehalten, wie eine bunte, schillernde, inhaltlose Seifenblase.

In der Begründung von Schulen, in denen die Naturwissenschaften als Gegenstände des Unterrichts die erste Stelle einnehmen, hat sich das Bedürfniss der neueren Zeit schon praktisch bethätigt; es wird sich aus ihnen eine kräftigere Generation entwickeln, kräftiger am Verstand und Geiste, fähig und empfänglich für Alles, was wahrhaft gross und fruchtbringend ist. Durch sie werden die Hülfsmittel der Staaten zunehmen,

[15] in ihnen ihr Vermögen und ihre Kraft wachsen, und wenn der Mensch im Druck seiner Existenz erleichtert, von den Schwierigkeiten nicht mehr überwältigt wird, die irdischen Sorgen zu tragen und zu beseitigen, dann erst wird sich sein Sinn, reiner und geläutert, dem Höheren und Höchsten zuwenden können.

  1. WS: korrigiert, im Original: philosophichem