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Chemische Briefe/Siebter Brief

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Siebenter Brief.


Man wird sich leicht denken können, dass die Frage nach dem Warum, nach der Ursache dieser festen, unveränderlichen Gewichte, den philosophischen Geist der Chemiker beschäftigen musste. Es muss eine Ursache geben, welche das Zusammentreten der Elemente in anderen Verhältnissen unmöglich macht, welche einer Verkleinerung oder Vergrösserung derselben ein unüberwindliches Hinderniss entgegensetzt. Die festen Verhältnisse sind die äusseren Merkmale dieser Ursache, allein mit denselben ist das Gebiet der Forschung begrenzt, sie selbst ist nicht sinnlich wahrnehmbar und kann nur Gegenstand der Speculation, des geistigen Vorstellungsvermögens sein.

Wenn ich es versuchen werde, die Ansicht zu entwickeln, welche in diesem Augenblick über die Ursache der chemischen Proportionen herrschend geworden ist, so muss man nicht vergessen, dass ihre Unwahrheit oder Wahrheit mit dem Gesetze selbst nicht das Geringste zu thun hat; dieses letzte bleibt als ein Ausdruck der Erfahrung immer wahr und ändert sich nicht, wie sich auch die Vorstellungen über den Grund ändern mögen.

Eine sehr alte Vorstellung über die Natur der Materie, die sogenannte atomistische, eignet sich in der That vortrefflich zum sinnlichen Verständniss der chemischen Proportionen; sie setzt nämlich voraus, dass in einem Raum, den ein fester, flüssiger oder luftförmiger Körper einnimmt, nicht alle Theilchen des Raumes mit fester Masse, mit Materie ausgefüllt seien, sondern dass ein jeder Körper Poren habe, nicht etwa wie bei einem Stücke Holz, an dem sie sichtbar sind, sondern unendlich viel kleiner. Ein Körper besteht nach dieser Ansicht aus sehr kleinen Körpertheilchen, die sich in einer gewissen Entfernung von einander befinden; zwischen je zwei Theilchen ist also ein, nicht durch die Materie des Körpers ausgefüllter Raum vorhanden.

Die Wahrscheinlichkeit dieser Idee ist in die Augen fallend; wir können ein Volumen Luft in einen tausendmal kleineren Raum zusammenpressen, und auch feste und flüssige Körper nehmen unter der Gewalt eines mechanischen Druckes einen kleineren Raum ein. Eine Billardkugel, mit einiger Kraft auf einen harten Körper geworfen, plattet sich ab und nimmt nach dem Abspringen die Kugelform wieder an. Alle Körper nehmen beim Erwärmen einen grösseren, beim Erkalten einen kleineren Raum ein.

Es ist aus diesen wohlbekannten Erfahrungen leicht ersichtlich, dass der Raum, den ein Körper gerade einnimmt, von zufälligen Umständen

[66] abhängt, dass er wechselt mit den Ursachen der Temperatur und dem Druck, die ihn grösser oder kleiner zu machen streben. Wenn man sich nun denkt, dass an dem Orte, wo sich ein kleines Theilchen Materie, das eigentlich raumerfüllende in einem Körper, befindet, nicht gleichzeitig ein zweites und drittes Theilchen Platz hat, so führt dies von selbst auf die Vorstellung, dass die Vergrösserung oder Verkleinerung des Volumens eines Körpers eine Folge ist von der grösseren oder kleineren Entfernung seiner raumerfüllenden Theilchen. In einem Pfund flüssigen Wassers sind offenbar die Wassertheile näher bei einander als in einem Pfunde Wasser-Dampf, der bei gewöhnlichem Druck einen 1700 mal grösseren Raum einnimmt.

Diese Vorstellung gewährt Einsicht in eine Menge Erscheinungen, welche, gleich einfach, bis jetzt durch keine andere Ansicht erklärbar sind.

Die atomistische Theorie setzt ferner voraus, dass die kleinen Theilchen, woraus die Masse eines Körpers besteht, nicht weiter in kleinere theilbar seien, daher denn der Name Atome für diese kleinsten Theilchen.

Es ist für den Verstand durchaus unmöglich, sich kleine Theilchen Materie zu denken, welche absolut untheilbar sind; im mathematischen Sinne unendlich klein, ohne alle Ausdehnung können sie nicht sein, eben weil sie Gewicht besitzen; allein so klein auch ihr Gewicht angenommen werden mag, wir können die Spaltung des einen Theilchens in 2 Hälften, in 3, in 100 Theile nicht für unmöglich ansehen. Aber wir können uns auch denken, dass diese Atome nur physikalisch untheilbar sind, so dass sie sich nur unserer Wahrnehmung nach so verhalten, wie wenn sie keiner weiteren Theilung mehr fähig wären; ein physikalisches Atom würde in diesem Sinne eine Gruppe von viel kleineren Theilchen sein, die durch eine Kraft oder durch Kräfte zu einem Ganzen zusammengehalten werden, stärker als alle auf den Erdkörper in ihrer weiteren Spaltung uns zu Gebote stehenden Kräfte.

Mit diesen Atomen, und was der Chemiker darunter meint, verhält es sich wie mit seinen Elementen. Die 64 bekannten einfachen Körper sind nur Elemente beziehungsweise zu den Kräften und Mitteln, die uns zu Gebote stehen, um sie in noch einfachere zerfallen zu machen. Wir können es nicht oder jetzt noch nicht, und die Grundsätze der Naturforschung festhaltend, nennen wir sie so lange einfache Körper, bis uns die Erfahrung eines Besseren überführt. Die Geschichte der Wissenschaft ist in Hinsicht auf diese Methode reich an nützlichen Lehren; Rückschritte, Irrthümer und falsche Ansichten ohne Zahl waren stets die unmittelbaren Folgen der Ueberschreitung des Gebietes der Erfahrung. Ohne die Theilbarkeit der Materie in’s Unendliche zu bestreiten, behauptet der Chemiker nur den festen Grund und Boden seiner Wissenschaft, wenn er die Existenz physikalischer Atome als eine ganz unbestreitbare Wahrheit annimmt.

Ein Tübinger Professor (Gmelin) hat diese Ansicht durch ein geistreiches Bild versinnlicht; er vergleicht die Atome mit den Himmelskörpern, die in Beziehung zu dem Raum, in welchem sie schweben, unendlich klein, d. h. Atome sind. Alle diese unzähligen Sonnen mit ihren Planeten und Trabanten bewegen sich in abgemessenen Entfernungen von einander;

[67] sie sind untheilbar in Hinsicht auf die Existenz von Kräften, die von ihnen etwas Materielles losreissen, oder ihre Gestalt und Grösse in einem so bemerklichen Grade zu ändern vermöchten, dass damit ihr Verhältniss zu den anderen Himmelskörpern gestört werden könnte; aber sie sind nicht untheilbar an sich. Das Weltall stellt in diesem Sinne einen grossen Körper dar, dessen Atome, die Himmelskörper, untheilbar und unveränderlich sind.

Der atomistischen Ansicht gemäss ist demnach ein Stück Glas, ein Stück Zinnober, ein Stück Eisen etc. ein Haufwerk von Atomen Glas, Zinnober, Eisen, deren Zusammenhang durch die Cohäsionskraft bedingt wird; das allerkleinste denkbare Theilchen Eisen ist immer Eisen, aber was den Zinnober betrifft, so wissen wir mit der grössten Bestimmtheit, dass ein physikalisch nicht weiter in kleinere Theile spaltbares Theilchen Zinnober noch kleinere Theile enthält, nämlich Schwefel- und Quecksilbertheilchen, von denen wir sogar das Gewichtsverhältniss kennen, in welchem beide darin vorhanden sind.

Das Eisen besteht aus gleichartigen Atomen Eisen, der Zinnober aus gleichartigen Atomen, von denen jedes Zinnober ist; aber diese letzteren sind nicht einfach, wie die des Eisens, sondern sie sind einer weiteren Spaltung fähig; für die Sinne sind sie gleichartig, allein wir wissen, dass sie zusammengesetzt sind; wir können durch Reiben, Pulvern, Feilen etc. ein Stück Zinnober in viel kleinere Stückchen zertheilen, allein durch keine mechanische Gewalt sind wir im Stande, die Kraft zu überwinden, mit welcher die ungleichartigen Theilchen, die Bestandtheile eines zusammengesetzten Atoms zusammengehalten werden. Darin unterscheidet sich eben die chemische Verwandtschaft von der Cohäsionskraft, dass sie sich nur bei Berührung der ungleichartigen Atome thätig zeigt, und da sich die Atome einander nicht durchdringen können, so folgt von selbst, dass die zusammengesetzten Atome durch Nebeneinanderlegung der einfachen, in Folge der zwischen ihnen thätigen Verwandtschaftskraft entstehen; sie gruppiren sich zu zwei, drei, zu hundert etc., und jede dieser Gruppen stellt einen gleichartigen Theil der ganzen Masse dar. Wir können uns das kleinste Theilchen Zinnober als eine Gruppe von zwei Atomen denken, von denen das eine ein Quecksilberatom, das andere ein Schwefelatom ist.

Wenn man erwägt, dass tausend Pfund Zinnober das nämliche Verhältniss Schwefel und Quecksilber enthalten, wie ein Pfund oder ein Gran, und sich denkt, dass ein Stück Zinnober eine Million Zinnoberatome enthalte, so ist klar, dass in einem einzigen Atom, wie in der Million Atome, sich stets für je 16 Schwefel 100 Quecksilber befindet. Zerlegen wir den Zinnober durch Eisen, so tritt das Quecksilberatom aus und sein Platz wird nun von einem Eisenatom eingenommen. Ersetzen wir den Schwefel im Zinnober durch Sauerstoff, so tritt ein Sauerstoffatom an die Stelle des Schwefelatoms.

Man sieht leicht ein, dass nach dieser Vorstellung über die Zusammensetzung der Körper und ihre gegenseitige Vertretung die Aequivalentenzahlen nichts anderes ausdrücken, als das relative Gewicht der Atome. Wie schwer ein einzelnes Atom wiegt, sein absolutes Gewicht, ist nicht bestimmbar, wie viel das eine aber mehr Gewicht mitbringt in eine chemische Verbindung, als das andere, das relative Gewicht der Atome,

[68] dies kann ermittelt werden. Ich brauche zur Vertretung von 8 Gewichtstheilen Sauerstoff 16 Schwefel, oder doppelt so viel als das Gewicht des Sauerstoffs beträgt, weil das Schwefelatom doppelt so schwer ist, wie das Sauerstoffatom; ich habe nur ein Achtel von dem Gewicht des Sauerstoffs an Wasserstoff nöthig, weil das Wasserstoffatom achtmal leichter ist. So ist das Kohlenoxyd eine Gruppe von 2 Atomen, die Kohlensäure eine Gruppe von 3 Atomen; das erste enthält auf 1 Atom Kohlenstoff 1 Atom, die Kohlensäure 2 Atome Sauerstoff.

Die Unveränderlichkeit der festen Gewichtsverhältnisse, in denen sich die Körper verbinden, erklärt die Theorie aus der Existenz untheilbarer Theilchen, welche ungleich schwer sind, und in der chemischen Verbindung sich nicht durchdringen, sondern neben einander lagern.

In ihrer eigentlichen Bedeutung drücken die Aequivalentenzahlen gleiche Wirkungswerthe aus, nämlich die Gewichte der Körper, in welchen sie in der chemischen Verbindung gleiche Wirkungen hervorbringen, und diese Wirkungen versinnlichen wir uns, indem wir sie untheilbaren Theilchen zuschreiben, die einen gewissen Raum einnehmen und eine bestimmte Gestalt besitzen. Wir haben kein Mittel, um uns Gewissheit über die wahre Anzahl der Atome selbst in der einfachsten Verbindung zu verschaffen; denn um dies zu können, müssten wir im Stande sein, sie zu sehen und zu zählen; eben deshalb ist bei aller Ueberzeugung, die wir über die Existenz physischer Atome haben, die Annahme, dass die Aequivalentenzahlen wirklich das relative Gewicht der einzelnen Atome ausdrücken, nur eine Hypothese, für die wir keine weiteren Beweise haben.

Ein Zinnoberatom enthält auf 100 Quecksilber 16 Schwefel; die Chemiker nehmen an, dass diese Verhältnisse das relative Gewicht von einem Atom Quecksilber und einem Atom Schwefel ausdrücken. Dies ist eine blosse Hypothese: es könnte ja sein, dass 100 Quecksilber das Gewicht von 2 oder 3, 4 oder mehr Atomen Quecksilber repräsentiren. Wären es 2 Atome, so würde 1 Atom Quecksilber durch die Zahl 50, wären es 3, so würde es durch die Zahl 33,3 repräsentirt werden müssen. Der Zinnober würde in dem einen Falle – so würden wir sagen – aus 2 (aus zweimal 50), in dem anderen aus 3 Atomen (dreimal 33,3) Quecksilber und 1 Atom Schwefel bestehen.

Was man in dieser Hinsicht auch annehmen mag, ob 2 oder 3 etc. Atome Quecksilber oder Schwefel, die Zusammensetzung des Zinnobers bleibt wie sie ist, nur die Art ihrer Versinnlichung würde sich mit der hypothetischen Ansicht über die Anzahl der Atome in einer chemischen Verbindung ändern. Es wird deshalb immer am besten bleiben, aus der chemischen Zeichensprache, deren einziger Zweck ja nur ist, die Zusammensetzungen der chemischen Verbindungen anschaulich und leicht verständlich zu machen, alles Hypothetische zu verbannen, die Schreibart der Formeln also nicht zu einem Ausdrucke wechselnder Vorstellungen zu machen. Die Anzahl der Aequivalente der Bestandtheile in einer chemischen Verbindung ist unveränderlich und bestimmbar, die eigentliche Anzahl der Atome, die sich zu einem Aequivalent vereinigen, wird nie ermittelt werden. Es führt aber nicht den geringsten Nachtheil mit sich, wenn wir überall, wo es sich um theoretische Betrachtungen oder um Verdeutlichung von Begriffen handelt, die Aequivalente für die Gewichte

[69] der Atome selbst nehmen. Diese Zahlen drücken in diesem Sinne, wie sich von selbst versteht, nur die Gewichtsunterschiede der Atome aus, wie viel mal das eine Atom schwerer als das andere ist. Die in der Tabelle S. 61 angeführten Zahlen beziehen sich auf die Vertretung einer Gewichtsmenge Wasserstoff = 1 oder auf die Vertretung der mit dieser Wasserstoffmenge in dem Wasser verbundenen Sauerstoffmenge. Auf 1 Gewichtstheil Wasserstoff enthält das Wasser 8 Gewichtstheile Sauerstoff; wenn man nun annimmt, das Wasser bestehe aus 1 Atom Wasserstoff und 1 Atom Sauerstoff, wenn man ferner voraussetzt, dass zur Vertretung von 1 Atom Wasserstoff oder Sauerstoff immer nur 1 Atom eines anderen Körpers und nicht mehr oder weniger nöthig ist, so drücken die Gewichte der anderen Körper die Atomgewichte derselben aus, in Zahlen, die sich natürlich alle auf 1 Gewichtstheil Wasserstoff oder 8 Gewichtstheile Sauerstoff beziehen. Multiplicirt man alle Aequivalentenzahlen mit 12½, so wird die Aequivalentenzahl des Wasserstoffs 12,5, die des Sauerstoffs wird 100, und die übrigen Zahlen drücken alsdann aus, wie viel von den verschiedenen anderen Körpern dazu gehört, um 100 Sauerstoff oder um 12½ Wasserstoff zu vertreten. Durch Multiplication aller Aequivalente mit einer und derselben Zahl werden ja die Beziehungen, in denen sie zu einander stehen, in keiner Weise geändert, und es ist ganz gleichgültig, ob man sich der Zahlen bedient, die sich auf den Wasserstoff als Einheit oder auf den Sauerstoff = 100 beziehen.