Critik der reinen Vernunft (1781)/Der Antinomie der reinen Vernunft Dritter Abschnitt. Von dem Interesse der Vernunft bey diesem ihrem Widerstreite.

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Der
Antinomie der reinen Vernunft
Dritter Abschnitt.
Von dem
Interesse der Vernunft bey diesem ihrem
Widerstreite.

Da haben wir nun das ganze dialectische Spiel der cosmologischen Ideen, die es gar nicht verstatten, daß ihnen ein congruirender Gegenstand in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werde, ia nicht einmal, daß die Vernunft sie einstimmig mit allgemeinen Erfahrungsgesetzen denke, die gleichwol doch nicht willkührlich erdacht sind, sondern auf welche die Vernunft im continuirlichen Fortgange der empirischen Synthesis nothwendig geführt wird, wenn sie das, was nach Regeln der Erfahrung iederzeit nur bedingt bestimt werden kan, von aller Bedingung befreien und in seiner unbedingten Totalität fassen will. Diese vernünftelnde Behauptungen sind so viel Versuche, vier natürliche und unvermeidliche Problemen der Vernunft aufzulösen, deren es also nur gerade so viel, nicht mehr auch nicht weniger, geben kan, weil es nicht mehr Reihen synthetischer Voraussetzungen giebt, welche die empirische Synthesis a priori begränzen.

 Wir haben die glänzende Anmassungen, der ihr Gebiete über alle Gränzen der Erfahrung erweiternden Vernunft, nur in trockenen Formeln, welche blos den Grund| ihrer rechtlichen Ansprüche enthalten, vorgestellt und, wie es einer Transscendental-Philosophie geziemt, diese von allem Empirischen entkleidet, obgleich die ganze Pracht der Vernunftbehauptungen nur in Verbindung mit demselben hervorleuchten kan. In dieser Anwendung aber, und der fortschreitenden Erweiterung des Vernunftgebrauchs, indem sie von dem Felde der Erfahrungen anhebt, und sich bis zu diesen erhabenen Ideen almählig hinaufschwingt, zeigt die Philosophie eine Würde, welche, wenn sie ihre Anmassungen nur behaupten könte, den Werth aller anderen menschlichen Wissenschaft weit unter sich lassen würde, indem sie die Grundlage zu unseren grössesten Erwartungen und Aussichten auf die lezten Zwecke, in welchen alle Vernunftbemühungen sich endlich vereinigen müssen, verheißt. Die Fragen: ob die Welt einen Anfang und irgend eine Gränze ihrer Ausdehnung im Raume habe, ob es irgendwo und vielleicht in meinem denkenden Selbst eine untheilbare und unzerstörliche Einheit, oder nichts als das Theilbare und Vergängliche gebe, ob ich in meinen Handlungen frey, oder, wie andere Wesen, an dem Faden der Natur und des Schicksals geleitet sey, ob es endlich eine oberste Weltursache gebe, oder die Naturdinge und deren Ordnung den lezten Gegenstand ausmachen, bey dem wir in allen unseren Betrachtungen stehen bleiben müssen: das sind Fragen, um deren Auflösung der Mathematiker gerne seine ganze Wissenschaft dahin gäbe; denn diese kan ihm doch in Ansehung der höchsten und angelegensten Zwecke der| Menschheit keine Befriedigung verschaffen. Selbst die eigentliche Würde der Mathematik (diesem Stolze der menschlichen Vernunft) beruhet darauf: daß, da sie der Vernunft die Leitung giebt, die Natur im Grossen sowol als im Kleinen in ihrer Ordnung und Regelmäßigkeit, imgleichen in der bewundernswürdigen Einheit der sie bewegenden Kräfte, weit über alle Erwartung der auf gemeine Erfahrung bauenden Philosophie einzusehen, sie dadurch selbst zu dem über alle Erfahrung erweiterten Gebrauch der Vernunft, Anlaß und Aufmunterung giebt, imgleichen die damit beschäftigte Weltweisheit mit den vortreflichsten Materialien versorgt, ihre Nachforschung, so viel deren Beschaffenheit es erlaubt, durch angemessene Anschauungen zu unterstützen.
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 Unglücklicher Weise vor die Speculation (vielleicht aber zum Glück vor die practische Bestimmung des Menschen) siehet sich die Vernunft, mitten unter ihren grössesten Erwartungen, in einem Gedränge von Gründen und Gegengründen so befangen, daß, da es sowol ihrer Ehre, als auch sogar ihrer Sicherheit wegen nicht thunlich ist, sich zurück zu ziehen, und diesem Zwist als einem blossen Spielgefechte gleichgültig zuzusehen, noch weniger schlechthin Friede zu gebieten, weil der Gegenstand des Streits sehr interessirt, ihr nichts weiter übrig bleibt, als über den Ursprung dieser Veruneinigung der Vernunft mit sich selbst nachzusinnen, ob nicht etwa ein blosser Mißverstand daran Schuld sey, nach dessen Erörterung zwar| beider Seits stolze Ansprüche vielleicht wegfallen, aber davor ein dauerhaft ruhiges Regiment der Vernunft über Verstand und Sinne seinen Anfang nehmen würde.

 Wir wollen voriezt diese gründliche Erörterung noch etwas aussetzen, und zuvor in Erwegung ziehen: auf welche Seite wir uns wol am liebsten schlagen möchten, wenn wir etwa genöthigt würden, Parthey zu nehmen. Da wir in diesem Falle, nicht den logischen Probierstein der Wahrheit, sondern blos unser Interesse befragen, so wird eine solche Untersuchung, ob sie gleich in Ansehung des strittigen Rechts beider Theile nichts ausmacht, dennoch den Nutzen haben, es begreiflich zu machen: warum die Theilnehmer an diesem Streite sich lieber auf die eine Seite, als auf die andere geschlagen haben, ohne daß eben eine vorzügliche Einsicht des Gegenstandes daran Ursache gewesen, imgleichen noch andere Nebendinge zu erklären, z. B. die zelotische Hitze des einen und die kalte Behauptung des andern Theils, warum sie gerne der einen Parthey freudigen Beifall zuiauchzen, und wider die andere zum voraus, unversöhnlich eingenommen sind.

 Es ist aber etwas, das bey dieser vorläufigen Beurtheilung den Gesichtspunct bestimt, aus dem sie allein mit gehöriger Gründlichkeit angestellet werden kan, und dieses ist die Vergleichung der Principien, von denen beide Theile ausgehen. Man bemerkt unter den Behauptungen der Antithesis, eine vollkommene Gleichförmigkeit der Denkungsart und völlige Einheit der Maxime, nemlich| ein Principium des reinen Empirismus, nicht allein in Erklärung der Erscheinungen in der Welt, sondern auch in Auflösung der transscendentalen Ideen, vom Weltall selbst. Dagegen legen die Behauptungen der Thesis, ausser der empirischen Erklärungsart innerhalb der Reihe der Erscheinungen, noch intellectuelle Anfänge zum Grunde, und die Maxime ist so fern nicht einfach. Ich will sie aber, von ihrem wesentlichen Unterscheidungsmerkmal, den Dogmatism der reinen Vernunft nennen.

 Auf der Seite also des Dogmatismus, in Bestimmung der cosmologischen Vernunftideen, oder der Thesis, zeiget sich

 zuerst ein gewisses practisches Interesse, woran ieder wolgesinte, wenn er sich auf seinen wahren Vortheil versteht, herzlich Theil nimt. Daß die Welt einen Anfang habe, daß mein denkendes Selbst einfacher und daher unverweslicher Natur, daß dieses zugleich in seinen willkürlichen Handlungen frey und über den Naturzwang erhoben sey, und daß endlich die ganze Ordnung der Dinge, welche die Welt ausmachen, von einem Urwesen abstamme, von welchem alles seine Einheit und zweckmässige Verknüpfung entlehnt, das sind so viel Grundsteine der Moral und Religion. Die Antithesis raubt uns alle diese Stützen, oder scheint wenigstens sie uns zu rauben.

 Zweitens äussert sich auch ein speculatives Interesse der Vernunft auf dieser Seite. Denn, wenn man die transscendentale Ideen auf solche Art annimt und gebraucht,| so kan man völlig a priori die ganze Kette der Bedingungen fassen, und die Ableitung des Bedingten begreifen, indem man vom Unbedingten anfängt, welches die Antithesis nicht leistet, die dadurch sich sehr übel empfielt, daß sie auf die Frage, wegen der Bedingungen ihrer Synthesis, keine Antwort geben kan, die nicht ohne Ende immer weiter zu fragen übrig liesse. Nach ihr muß man von einem gegebenen Anfange zu einem noch höheren aufsteigen, ieder Theil führt auf einen noch kleineren Theil, iede Begebenheit hat immer noch eine andere Begebenheit als Ursache über sich, und die Bedingungen des Daseyns überhaupt stützen sich immer wiederum auf andere, ohne iemals in einem selbstständigen Dinge als Urwesen unbedingte Haltung und Stütze zu bekommen.

 Drittens hat diese Seite auch den Vorzug der Popularität, der gewiß nicht den kleinesten Theil seiner Empfehlung ausmacht. Der gemeine Verstand findet in den Ideen des unbedingten Anfangs aller Synthesis nicht die mindeste Schwierigkeit, da er ohnedem mehr gewohnt ist, zu den Folgen abwerts zu gehen, als zu den Gründen hinaufzusteigen, und hat in den Begriffen des absolut Ersten (über dessen Möglichkeit er nicht grübelt) eine Gemächlichkeit und zugleich einen festen Punct, um die Leitschnur seiner Schritte daran zu knüpfen, da er hingegen an dem rastlosen Aufsteigen vom Bedingten zur Bedingung, iederzeit mit einem Fuße in der Luft, gar kein Wolgefallen finden kan.

|  Auf der Seite des Empirismus in Bestimmung der cosmologischen Ideen, oder der Antithesis

 findet sich erstlich, kein solches practisches Interesse aus reinen Principien der Vernunft, als Moral und Religion bey sich führen. Vielmehr scheinet der blosse Empirism beiden alle Kraft und Einfluß zu benehmen. Wenn es kein von der Welt unterschiedenes Urwesen giebt, wenn die Welt ohne Anfang und also auch ohne Urheber, unser Wille nicht frey und die Seele von gleicher Theilbarkeit und Verweslichkeit mit der Materie ist, so verliehren auch die moralische Ideen und Grundsätze alle Gültigkeit, und fallen mit den transscendentalen Ideen, welche ihre theoretische Stütze ausmachten.

 Dagegen bietet aber der Empirism dem speculativen Interesse der Vernunft Vortheile an, die sehr anlockend seyn und dieienige weit übertreffen, die der dogmatische Lehrer der Vernunftideen versprechen mag. Nach ienem ist der Verstand iederzeit auf seinem eigenthümlichen Boden, nemlich dem Felde von lauter möglichen Erfahrungen, deren Gesetze er nachspühren und vermittelst derselben er seine sichere und faßliche Erkentniß ohne Ende erweitern kan. Hier kan und soll er den Gegenstand, so wol an sich selbst, als in seinen Verhältnissen, der Anschauung darstellen, oder doch in Begriffen, deren Bild in gegebenen ähnlichen Anschauungen klar und deutlich vorgelegt werden kan. Nicht allein, daß er nicht nöthig hat, diese Kette der Naturordnung zu verlassen, um sich| an Ideen zu hängen, deren Gegenstände er nicht kent, weil sie als Gedankendinge niemals gegeben werden können, sondern es ist ihm nicht einmal erlaubt, sein Geschäfte zu verlassen und unter dem Vorwande, es sey nunmehr zu Ende gebracht, in das Gebiete der idealisirenden Vernunft und zu transscendenten Begriffen über zu gehen, wo er nicht weiter nöthig hat zu beobachten und den Naturgesetzen gemäß zu forschen, sondern nur zu denken und zu dichten, sicher, daß er nicht durch Thatsachen der Natur widerlegt werden könne, weil er an ihr Zeugniß eben nicht gebunden ist, sondern sie vorbeigehen, oder sie so gar selbst einem höheren Ansehen, nemlich dem der reinen Vernunft, unterordnen darf.
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 Der Empirist wird es daher niemals erlauben, irgend eine Epoche der Natur vor die schlechthinerste anzunehmen, oder irgend eine Gränze seiner Aussicht in den Umfang derselben als die äusserste anzusehen, noch von den Gegenständen der Natur, die er durch Beobachtung und Mathematik auflösen und in der Anschauung synthetisch bestimmen kan, (dem Ausgedehnten) zu denen überzugehen, die weder Sinn, noch Einbildungskraft iemals in concreto darstellen kan (dem Einfachen), noch einräumen: daß man selbst in der Natur ein Vermögen, unabhängig von Gesetzen der Natur zu wirken, (Freiheit), zum Grunde lege und dadurch dem Verstande sein Geschäfte schmälere, an dem Leitfaden nothwendiger Regeln dem Entstehen der Erscheinungen nachzuspüren, noch| endlich zugeben: daß man irgend wozu die Ursache ausserhalb der Natur suche, (Urwesen) weil wir nichts weiter, als diese kennen, indem sie es allein ist, welche uns Gegenstände darbietet, und von ihren Gesetzen unterrichten kan.
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 Zwar, wenn der empirische Philosoph mit seiner Antithese keine andere Absicht hat: als den Vorwitz und die Vermessenheit, der ihre wahre Bestimmung verkennenden Vernunft, niederzuschlagen, welche mit Einsicht und Wissen groß thut, da wo eigentlich Einsicht und Wissen aufhören, und das, was man in Ansehung des practischen Interesse gelten läßt, vor eine Beförderung des speculativen Interesse ausgeben will, um, wo es ihrer Gemächlichkeit zuträglich ist, den Faden physischer Untersuchungen abzureissen und mit einem Vorgeben von Erweiterung der Erkentniß, ihn an transscendentale Ideen zu knüpfen, durch die man eigentlich nur erkent, daß man nichts wisse, wenn, sage ich, der Empirist sich hiemit begnügete, so würde sein Grundsatz eine Maxime der Mässigung in Ansprüchen, der Bescheidenheit in Behauptungen und zugleich der grössest möglichen Erweiterung unseres Verstandes, durch den eigentlich uns vorgesezten Lehrer, nemlich die Erfahrung, seyn. Denn, in solchem Falle, würden uns intellectuelle Voraussetzungen und Glaube, zum Behuf unserer practischen Angelegenheit nicht genommen werden, nur könte man sie nicht unter dem Titel und dem Pompe von Wissenschaft und Vernunfteinsicht| auftreten lassen; weil das eigentliche speculative Wissen überall keinen anderen Gegenstand, als den der Erfahrung treffen kan und, wenn man ihre Gränze überschreitet, die Synthesis, welche neue und von iener unabhängige Erkentnisse versucht, kein Substratum der Anschauung hat, an welchem sie ausgeübt werden könte.

 So aber, wenn der Empirismus in Ansehung der Ideen (wie es mehrentheils geschieht) selbst dogmatisch wird und dasienige dreust verneinet, was über der Sphäre seiner anschauenden Erkentnisse ist, so fällt er selbst in den Fehler der Unbescheidenheit, der hier um desto tadelhafter ist, weil dadurch dem practischen Interesse der Vernunft ein unersetzlicher Nachtheil verursacht wird.

 Dies ist der Gegensatz des Epicureisms[1] gegen den Platonism.

|  Ein ieder von beiden sagt mehr als er weiß, doch so: daß der erstere das Wissen, obzwar zum Nachtheile des Practischen aufmuntert und befördert, der zweite zwar zum Practischen vortrefliche Principien an die Hand giebt, aber eben dadurch in Ansehung alles dessen, worin uns allein ein speculatives Wissen vergönnet ist, der Vernunft erlaubt, idealischen Erklärungen der Naturerscheinungen nachzuhängen und darüber die physische Nachforschung zu verabsäumen.
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 Was endlich das dritte Moment, worauf bey der vorläufigen Wahl zwischen beiden strittigen Theilen gesehen werden kan, anlangt: so ist es überaus befremdlich, daß der Empirismus aller Popularität gänzlich zuwider ist, ob man gleich glauben sollte, der gemeine Verstand werde einen Entwurf begierig aufnehmen, der ihn durch nichts als Erfahrungserkentnisse und deren vernunftmäßigen Zusammenhang zu befriedigen verspricht, an statt daß die transscendentale Dogmatik ihn nöthigt, zu Begriffen hinaufzusteigen, welche die Einsicht und das Vernunftvermögen der im Denken geübtesten Köpfe weit übersteigen.| Aber eben dieses ist sein Bewegungsgrund. Denn er befindet sich alsdann in einem Zustande, in welchem sich auch der Gelehrteste über ihn nichts herausnehmen kan. Wenn er wenig oder nichts davon versteht, so kan sich doch auch niemand rühmen, viel Mehr davon zu verstehen und, ob er gleich hierüber nicht so schulgerecht, als andere sprechen kan, so kan er doch darüber unendlich mehr vernünfteln, weil er unter lauter Ideen herumwandelt, über die man eben darum am beredtsten ist, weil man davon nichts weiß; anstatt, daß er über der Nachforschung der Natur ganz verstummen und seine Unwissenheit gestehen müßte. Gemächlichkeit und Eitelkeit also sind schon eine starke Empfehlung dieser Grundsätze. Ueberdem, ob es gleich einem Philosophen sehr schwer wird, etwas als Grundsatz anzunehmen, ohne deshalb sich selbst Rechenschaft geben zu können, noch weniger Begriffe, deren obiective Realität nicht eingesehen werden kan, einzuführen: so ist doch dem gemeinen Verstande nichts gewöhnlicher. Er will etwas haben, womit er zuversichtlich anfangen könne. Die Schwierigkeit, eine solche Voraussetzung selbst zu begreifen, beunruhigt ihn nicht, weil sie ihm, (der nicht weiß, was Begreiffen heißt,) niemals in den Sinn komt, und er hält das vor bekant, was ihm durch öfteren Gebrauch geläufig ist. Zulezt aber verschwindet alles speculative Interesse bey ihm vor dem practischen, und er bildet sich ein, das einzusehen und zu wissen, was anzunehmen oder zu glauben, ihn seine Besorgnisse oder Hoffnungen antreiben.| So ist der Empirismus der transscendental-idealisirenden Vernunft aller Popularität gänzlich beraubt und, so viel Nachtheiliges wider die oberste practische Grundsätze sie auch enthalten mag, so ist doch gar nicht zu besorgen: daß sie die Gränzen der Schule iemals überschreiten und im gemeinen Wesen ein, nur einiger massen beträchtliches, Ansehen und einige Gunst bey der grossen Menge erwerben werde.
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 Die menschliche Vernunft ist ihrer Natur nach architectonisch, d. i. sie betrachtet alle Erkentnisse, als gehörig zu einem möglichen System, und verstattet daher auch nur solche Principien, die eine vorhabende Erkentniß wenigstens nicht unfähig machen, in irgend einem System mit anderen zusammen zu stehen. Die Sätze der Antithesis sind aber von der Art: daß sie die Vollendung eines Gebäudes von Erkentnissen gänzlich unmöglich machen. Nach ihnen giebt es über einen Zustand der Welt immer einen noch älteren, in iedem Theile immer noch andere wiederum theilbare, vor ieder Begebenheit eine andere, die wiederum eben so wol anderweitig erzeugt war, und im Daseyn überhaupt alles immer nur bedingt, ohne irgend ein unbedingtes und erstes Daseyn anzuerkennen. Da also die Antithesis nirgend ein Erstes einräumt und keinen Anfang, der schlechthin zum Grunde des Baues dienen könte, so ist ein vollständiges Gebäude der Erkentniß, bey dergleichen Voraussetzungen gänzlich unmöglich.| Daher führt das architectonische Interesse der Vernunft (welches nicht empirische, sondern reine Vernunfteinheit a priori fodert) eine natürliche Empfehlung vor die Behauptungen der Thesis bey sich.
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 Könte sich aber ein Mensch von allem Interesse lossagen, und die Behauptungen der Vernunft, gleichgültig gegen alle Folgen, blos nach dem Gehalte ihrer Gründe in Betrachtung ziehen: so würde ein solcher, gesezt daß er keinen Ausweg wüßte, anders aus dem Gedränge zu kommen, als daß er sich zu einer, oder andern der strittigen Lehren bekennete, in einem unaufhörlich schwankenden Zustande seyn. Heute würde es ihm überzeugend vorkommen: der menschliche Wille sey frey; Morgen, wenn er die unauflösliche Naturkette in Betrachtung zöge, würde er davor halten: die Freiheit sey nichts als Selbsttäuschung und alles sey blos Natur. Wenn es nun aber zum Thun und Handeln käme, so würde dieses Spiel der blos speculativen Vernunft, wie Schattenbilder eines Traums, verschwinden und er würde seine Principien blos nach dem practischen Interesse wählen. Weil es aber doch einem nachdenkenden und forschenden Wesen anständig ist, gewisse Zeiten lediglich der Prüfung seiner eigenen Vernunft zu widmen, hiebey aber alle Partheylichkeit gänzlich auszuziehen, und so seine Bemerkungen anderen zur Beurtheilung öffentlich mitzutheilen: so kan es niemanden verargt, noch weniger verwehrt werden, die Sätze und| Gegensätze, so wie sie sich, durch keine Drohung geschreckt, vor Geschworenen von seinem eigenen Stande (nemlich dem Stande schwacher Menschen) vertheidigen können, auftreten zu lassen.



  1. Es ist indessen noch die Frage, ob Epicur diese Grundsätze als obiective Behauptungen iemals vorgetragen habe? Wenn sie etwa weiter nichts, als Maximen des speculativen Gebrauchs der Vernunft waren, so zeigte er daran einen ächteren philosophischen Geist, als irgend einer der Weltweisen des Alterthums: daß man in Erklärung der Erscheinungen so zu Werke gehen müsse, als ob das Feld der Untersuchung durch keine Gränze oder Anfang der Welt abgeschnitten sey, den Stoff der Welt so annehmen, wie er seyn muß, wenn wir von ihm durch Erfahrung belehrt werden wollen, daß keine andere Erzeugung der Begebenheiten, als wie sie durch unveränderliche Naturgesetze bestimt werden, und endlich keine von der Welt unterschiedene Ursache müsse gebraucht werden, [472] sind noch iezt sehr richtige, aber wenig beobachtete Grundsätze, die speculative Philosophie zu erweitern, so wie auch die Principien der Moral, unabhängig von fremden Hülfsquellen auszufinden, ohne daß darum derienige, welcher verlangt, iene dogmatische Sätze, so lange als wir mit der blossen Speculation beschäftigt sind, zu ignoriren, darum beschuldigt werden darf, er wolle sie läugnen.


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