Critik der reinen Vernunft (1781)/Der Antinomie der reinen Vernunft Erster Widerstreit der transscendentalen Ideen.

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Critik der reinen Vernunft (1781)
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Der Antinomie der reinen Vernunft Zweiter Widerstreit der transscendentalen Ideen. »
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Die Antinomie der reinen Vernunft.
Erster Widerstreit der transscendentalen Ideen.
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Thesis.

 Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raume nach auch in Gränzen eingeschlossen.


Beweis.

 Denn man nehme an, die Welt habe der Zeit nach keinen Anfang: so ist bis zu iedem gegebenen Zeitpuncte eine Ewigkeit abgelaufen, und mithin eine unendliche Reihe auf einander folgenden Zustände der Dinge in der Welt verflossen. Nun besteht aber eben darin die Unendlichkeit einer Reihe: daß sie durch successive Synthesis niemals vollendet seyn kan. Also ist eine unendliche verflossene Weltreihe unmöglich, mithin ein Anfang der Welt, eine nothwendige Bedingung ihres Daseyns, welches zuerst zu beweisen war.

 In Ansehung des zweiten nehme man wiederum das Gegentheil an: so wird die Welt ein unendliches gegebenes Ganze von zugleich existirenden Dingen seyn. Nun können wir die Grösse eines Quanti, welches nicht innerhalb gewisser Gränzen ieder Anschauung gegeben wird,[1] auf| keine andere Art, als nur durch die Synthesis der Theile, und die Totalität eines solchen Quanti nur durch die vollendete Synthesis, oder durch wiederholte Hinzusetzung der Einheit zu sich selbst, gedenken[2]. Demnach um sich die Welt, die alle Räume erfüllt, als ein Ganzes zu denken, müßte die successive Synthesis der Theile einer unendlichen Welt als vollendet angesehen, d. i. eine unendliche Zeit müßte, in der Durchzehlung aller coexistirenden Dinge, als abgelaufen angesehen werden, welches unmöglich ist. Demnach kan ein unendliches Aggregat wirklicher Dinge, nicht als ein gegebenes Ganze, mithin auch nicht als zugleich gegeben, angesehen werden. Eine Welt ist folglich, der Ausdehnung im Raume nach nicht unendlich, sondern in ihren Gränzen eingeschlossen; welches das zweite war.


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Antithesis.

 Die Welt hat keinen Anfang und keine Gränzen im Raume, sondern ist, sowol in Ansehung der Zeit als des Raums, unendlich.


Beweis.

 Denn man setze: sie habe einen Anfang. Da der Anfang ein Daseyn ist, wovor eine Zeit vorhergeht, darin das Ding nicht ist, so muß eine Zeit vorhergegangen seyn, darin die Welt nicht war, d. i. eine leere Zeit. Nun ist aber in einer leeren Zeit kein Entstehen irgend eines Dinges möglich; weil kein Theil einer solchen Zeit vor einem anderen irgend eine unterscheidende Bedingung des Daseyns, vor die des Nichtseyns an sich hat (man mag annehmen, daß sie von sich selbst, oder durch eine andere Ursache entstehe). Also kan zwar in der Welt manche Reihe der Dinge anfangen, die Welt selber aber kan keinen Anfang haben, und ist also in Ansehung der vergangenen Zeit, unendlich.


 Was das zweite betrift, so nehme man zuvörderst das Gegentheil an: daß nemlich die Welt dem Raume nach endlich und begränzt ist, so befindet sie sich in einem leeren Raum, der nicht begränzt ist. Es würde also nicht allein ein Verhältniß der Dinge im Raum, sondern auch der Dinge zum Raume angetroffen werden. Da nun die Welt ein absolutes Ganzes ist, ausser welchem kein| Gegenstand der Anschauung, und mithin kein Correlatum der Welt, angetroffen wird, womit dieselbe im Verhältniß stehe, so würde das Verhältniß der Welt zum leeren Raum ein Verhältniß derselben zu keinem Gegenstande seyn. Ein dergleichen Verhältniß aber, mithin auch die Begränzung der Welt durch den leeren Raum, ist nichts; also ist die Welt, dem Raume nach, gar nicht begränzt, d. i. sie ist in Ansehung der Ausdehnung unendlich[3].


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Anmerkung zur ersten Antinomie.
I. zur Thesis

 Ich habe bey diesen einander widerstreitenden Argumenten nicht Blendwercke gesucht, um etwa (wie man sagt) einen Advocatenbeweis zu führen, welcher sich der Unbehutsamkeit des Gegners zu seinem Vortheile bedient, und seine Berufung auf ein mißverstanden Gesetz gerne gelten läßt, um seine eigene unrechtmässige Ansprüche auf die Widerlegung desselben zu bauen. Jeder dieser Beweise ist aus der Sache Natur gezogen und der Vortheil bey Seite gesezt worden, den uns die Fehlschlüsse der Dogmatiker von beiden Theilen geben könten.

 Ich hätte die Thesis auch dadurch dem Scheine nach beweisen können: daß ich von der Unendlichkeit einer gegebenen Grösse, nach der Gewohnheit der Dogmatiker, einen fehlerhaften Begriff voran geschikt hätte. Unendlich ist eine Grösse, über die keine grössere (d. i. über die darin enthaltene Menge einer gegebenen Einheit) möglich ist. Nun ist keine Menge die grösseste, weil noch immer eine, oder mehrere Einheiten hinzugethan werden können. Also ist eine unendliche gegebene Grösse, mithin auch eine, (der verflossenen Reihe sowol, als der Ausdehnung nach) unendliche Welt unmöglich: sie ist also beiderseitig begränzt. So hätte ich meinen Beweis führen können: allein dieser Begriff stimt nicht mit dem, was man unter einem unendlichen Ganzen versteht. Es wird dadurch nicht vorgestellt, wie groß es sey, mithin ist sein Begriff auch nicht der Begriff eines Maximum, sondern es wird dadurch nur| sein Verhältniß zu einer beliebig anzunehmenden Einheit, in Ansehung deren dasselbe grösser ist als alle Zahl, gedacht. Nachdem die Einheit nun grösser oder kleiner angenommen wird, würde das Unendliche grösser oder kleiner seyn, allein die Unendlichkeit, da sie blos in dem Verhältnisse zu dieser gegebenen Einheit besteht, würde immer dieselbe bleiben, obgleich freilich die absolute Grösse des Ganzen dadurch gar nicht erkant würde, davon auch hier nicht die Rede ist.

 Der wahre (transscendentale) Begriff der Unendlichkeit ist: daß die successive Synthesis der Einheit in Durchmessung eines Quantum niemals vollendet seyn kan[4]. Hieraus folgt ganz sicher: daß eine Ewigkeit wirklicher auf einander folgenden Zustände bis zu einem gegebenen (dem gegenwärtigen) Zeitpuncte nicht verflossen seyn kan, die Welt also einen Anfang haben müsse.

 In Ansehung des zweiten Theils der Thesis fällt die Schwierigkeit, von einer unendlichen und doch abgelaufenen Reihe, zwar weg; denn das Mannigfaltige einer der Ausdehnung nach, unendlichen Welt ist zugleich gegeben. Allein, um die Totalität einer solchen Menge zu denken, da wir uns nicht auf Gränzen berufen können, welche diese Totalität von selbst in der Anschauung ausmachen, müssen wir von unserem Begriffe Rechenschaft geben, der in solchem Falle nicht vom Ganzen zu der bestimten Menge der Theile gehen kan, sondern die Möglichkeit eines Ganzen durch die successive Synthesis der Theile darthun muß. Da diese Synthesis nun eine nie zu vollendende Reihe ausmachen müßte: so kan man sich nicht vor ihr, und mithin auch nicht durch sie, eine Totalität denken. Denn der Begriff der Totalität selbst ist in diesem Falle die Vorstellung einer vollendeten Synthesis der Theile, und diese Vollendung, mithin auch der Begriff derselben ist unmöglich.


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II. Anmerkung
zur Antithesis.
 Der Beweis vor die Unendlichkeit der gegebenen Weltreihe und des Weltinbegriffs beruht darauf: daß im entgegengesetzten Falle, eine leere Zeit, imgleichen ein leerer Raum, die Weltgränze ausmachen müßte. Nun ist mir nicht unbekant, daß wider diese Consequenz Ausflüchte gesucht werden, indem man vorgiebt: es sey eine Gränze der Welt, der Zeit und dem Raume nach, ganz wol möglich, ohne daß man eben eine absolute Zeit vor der Welt Anfang, oder einen absoluten, ausser der wirklichen Welt ausgebreiteten Raum annehmen dürfe, welches unmöglich ist. Ich bin mit dem lezteren Theile dieser Meinung der Philosophen aus der Leibnitzischen Schule ganz wol zufrieden. Der Raum ist blos die Form der äusseren Anschauung, aber kein wirklicher Gegenstand, der äusserlich angeschauet werden kan, und kein Correlatum der Erscheinungen, sondern die Form der Erscheinungen selbst. Der Raum also kan absolut (vor sich allein) nicht als etwas Bestimmendes in dem Daseyn der Dinge vorkommen, weil er gar kein Gegenstand ist, sondern nur die Form möglicher Gegenstände. Dinge also, als Erscheinungen, bestimmen wol den Raum, d. i. unter allen möglichen Prädicaten desselben, (Grösse und Verhältniß) machen sie es, daß diese oder iene zur Wirklichkeit gehören; aber umgekehrt kan der Raum, als etwas, welches vor sich besteht, die Wirklichkeit der Dinge in Ansehung der Grösse oder Gestalt nicht bestimmen, weil er an sich selbst nichts wirkliches ist. Es kan also wol ein Raum (er sey voll oder leer[5] durch Erscheinungen begränzt, Erscheinungen| aber können nicht durch einen leeren Raum ausser denselben begränzt werden. Eben dieses gilt auch von der Zeit. Alles dieses nun zugegeben, so ist gleichwol unstreitig: daß man diese zwey Undinge, den leeren Raum ausser und die leere Zeit vor der Welt, durchaus annehmen müsse, wenn man eine Weltgränze, es sey dem Raume oder der Zeit nach, annimt.

 Denn was den Ausweg betrift, durch den man der Consequenz auszuweichen sucht, nach welcher wir sagen: daß, wenn die Welt (der Zeit und dem Raum nach) Gränzen hat, das unendliche Leere das Daseyn wirklicher Dinge ihrer Grösse nach bestimmen müsse, so besteht er in geheim nur darin: daß man statt einer Sinnenwelt sich, wer weiß welche, intelligibele Welt gedenkt, und, statt des ersten Anfanges, (ein Daseyn, vor welchem eine Zeit des Nichtseyns vorhergeht) sich überhaupt ein Daseyn denkt, welches keine andere Bedingung in der Welt voraussezt, statt der Gränze der Ausdehnung, Schranken des Weltganzen denkt, und dadurch der Zeit und dem Raume aus dem Wege geht. Es ist hier aber nur von dem mundus phaenomenon die Rede und von dessen Grösse, bey dem man von gedachten Bedingungen der Sinnlichkeit keinesweges abstrahiren kan, ohne das Wesen desselben aufzuheben. Die Sinnenwelt, wenn sie begränzt ist, liegt nothwendig in dem unendlichen Leeren. Will man dieses, und mithin den Raum überhaupt als Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen a priori weglassen, so fällt die ganze Sinnenwelt weg. In unserer Aufgabe ist uns diese allein gegeben. Der mundus intelligibilis ist nichts als der allgemeine Begriff einer Welt überhaupt, in welchem man von allen Bedingungen der Anschauung derselben abstrahirt, und in Ansehung dessen folglich gar kein synthetischer Satz, weder beiahend noch verneinend möglich ist.



  1. Wir können ein unbestimtes Quantum als ein Ganzes anschauen, wenn es in Gränzen eingeschlossen ist, ohne die Totalität desselben durch Messung, d. i. die successive [428] Synthesis seiner Theile, construiren zu dürfen. Denn die Gränzen bestimmen schon die Vollständigkeit, indem sie alles Mehrere abschneiden.
  2. Der Begriff der Totalität ist in diesem Falle nichts anderes, als die Vorstellung der vollendeten Synthesis seiner Theile, weil, da wir nicht von der Anschauung des Ganzen (als welche in diesem Falle unmöglich ist) den Begriff abziehen können, wir diesen nur durch die Synthesis der Theile, bis zur Vollendung des Unendlichen, wenigstens in der Idee fassen können.
  3. Der Raum ist blos die Form der äusseren Anschauung (formale Anschauung), aber kein wirklicher Gegenstand, der äusserlich angeschauet werden kan. Der Raum, vor allen Dingen, die ihn bestimmen (erfüllen oder begränzen), oder die vielmehr eine, seiner Form gemässe empirische Anschauung geben, ist, unter dem Nahmen des absoluten Raumes, nichts Anderes, als die blosse Möglichkeit äusserer Erscheinungen, so fern sie entweder an sich existiren, oder zu gegebenen Erscheinungen noch hinzu kommen können. Die empirische Anschauung ist also nicht zusammengesezt aus Erscheinungen und dem Raume (der Wahrnehmung und der leeren Anschauung). Eines ist nicht des andern Correlatum der Synthesis, sondern nur in einer und derselben empirischen Anschauung verbunden, als Materie und Form derselben. Will man eine dieser zween Stücke ausser der anderen setzen (Raum ausserhalb allen Erscheinungen) so entstehen daraus allerley leere Bestimmungen der äusseren Anschauung, die doch nicht mögliche Wahrnehmungen sind. z. B. Bewegung, oder Ruhe der Welt im unendlichen leeren Raum, eine Bestimmung des Verhältnisses beider untereinander, welche niemals wahrgenommen werden kan, und also auch das Prädicat eines blossen Gedankendinges ist.
  4. Dieses enthält dadurch eine Menge (von gegebener Einheit) die grösser ist als alle Zahl, welches der mathematische Begriff des Unendlichen ist.
  5. Man bemerkt leicht, daß hiedurch gesagt werden wolle: der leere Raum, so fern er durch Erscheinungen begränzt [433] wird, mithin derienige innerhalb der Welt, widerspreche, wenigstens nicht den transscendentalen Principien, und können also in Ansehung dieser eingeräumt (obgleich darum seine Möglichkeit nicht so fort behauptet) werden.


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