Critik der reinen Vernunft (1781)/Der Antinomie der reinen Vernunft Sechster Abschnitt. Der transscendentale Idealism als der Schlüssel zu Auflösung der cosmologischen Dialectik.

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Der
Antinomie der reinen Vernunft
Sechster Abschnitt.
Der transscendentale Idealism, als der Schlüssel
zu Auflösung der cosmologischen Dialectik.
Wir haben in der transscendentalen Aesthetik hinreichend bewiesen: daß alles, was im Raume oder der Zeit angeschauet wird, mithin alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung, nichts als Erscheinungen, d. i.| blosse Vorstellungen sind, die, so wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen, oder Reihen von Veränderungen, ausser unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben. Diesen Lehrbegriff nenne ich den transscendentalen Idealism. Der Realist in transscendentaler Bedeutung macht aus diesen Modificationen unserer Sinnlichkeit an sich subsistirende Dinge, und daher blosse Vorstellungen zu Sachen an sich selbst.

 Man würde uns Unrecht thun, wenn man uns den schon längst so verschrieenen empirischen Idealismus zumuthen wolte, der, indem er die eigene Wirklichkeit des Raumes annimt, das Daseyn der ausgedehnten Wesen in denselben läugnet, wenigstens zweifelhaft findet, und zwischen Traum und Wahrheit in diesem Stücke keinen genugsam erweislichen Unterschied einräumet. Was die Erscheinungen des innern Sinnes in der Zeit betrift, an denen, als wirklichen Dingen, findet er keine Schwierigkeit, ia er behauptet so gar: daß diese innere Erfahrung das wirkliche Daseyn ihres Obiects (an sich selbst), (mit aller dieser Zeitbestimmung), einzig und allein hinreichend beweise.

 Unser transscendentaler[WS 1] Idealism erlaubt es dagegen: daß die Gegenstände äusserer Anschauung, eben so wie sie im Raume angeschauet werden, auch wirklich seyn, und in der Zeit alle Veränderungen, so wie sie der innere Sinn vorstellt. Denn, da der Raum schon eine Form derienigen Anschauung ist, die wir die äussere nennen,| und, ohne Gegenstände in demselben, es gar keine empirische Vorstellung geben würde: so können und müssen wir darin ausgedehnte Wesen als wirklich annehmen, und eben so ist es auch mit der Zeit. Jener Raum selber aber, samt dieser Zeit und, zugleich mit beiden, alle Erscheinungen, sind doch an sich selbst keine Dinge, sondern nichts als Vorstellungen und können gar nicht ausser unserem Gemüth existiren, und selbst ist die innere und sinnliche Anschauung unseres Gemüths, (als Gegenstandes des Bewustseyns), dessen Bestimmung durch die Succession verschiedener Zustände in der Zeit vorgestellt wird, auch nicht das eigentliche Selbst, so wie es an sich existirt, oder das transscendentale Subiect, sondern nur eine Erscheinung, die der Sinnlichkeit dieses uns unbekanten Wesens gegeben worden. Das Daseyn dieser inneren Erscheinung, als eines so an sich existirenden Dinges, kan nicht eingeräumet werden, weil ihre Bedingung die Zeit ist, welche keine Bestimmung irgend eines Dinges an sich selbst seyn kan. In dem Raume aber und der Zeit ist die empirische Wahrheit der Erscheinungen genugsam gesichert, und von der Verwandschaft mit dem Traume hinreichend unterschieden, wenn beide nach empirischen Gesetzen in einer Erfahrung richtig und durchgängig zusammen hängen.
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 Es sind demnach die Gegenstände der Erfahrung niemals an sich selbst, sondern nur in der Erfahrung gegeben und existiren ausser derselben gar nicht. Daß es| Einwohner im Monde geben könne, ob sie gleich kein Mensch iemals wahrgenommen hat, muß allerdings eingeräumet werden, aber es bedeutet nur so viel: daß wir in dem möglichen Fortschritt der Erfahrung auf sie treffen könten; denn alles ist wirklich, was mit einer Wahrnehmung nach Gesetzen des empirischen Fortgangs in einem Context stehet. Sie sind also alsdenn wirklich, wenn sie mit meinem wirklichen Bewustseyn in einem empirischen Zusammenhange stehen, ob sie gleich darum nicht an sich, d. i. ausser diesem Fortschritt der Erfahrung wirklich sind.
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 Uns ist wirklich nichts gegeben, als die Wahrnehmung und der empirische Fortschritt von dieser, zu andern möglichen Wahrnehmungen. Denn an sich selbst sind die Erscheinungen, als blosse Vorstellungen, nur in der Wahrnehmung wirklich, die in der That nichts anders ist, als die Wirklichkeit einer empirischen Vorstellung, d. i. Erscheinung. Vor der Wahrnehmung eine Erscheinung ein wirkliches Ding nennen, bedeutet entweder, daß wir im Fortgange der Erfahrung auf eine solche Wahrnehmung treffen müssen, oder es hat gar keine Bedeutung. Denn, daß sie an sich selbst, ohne Beziehung auf unsere Sinne und mögliche Erfahrung, existire, könte allerdings gesagt werden, wenn von einem Dinge an sich selbst die Rede wäre. Es ist aber blos von einer Erscheinung im Raume und der Zeit, die beides keine Bestimmungen der Dinge an sich selbst, sondern nur unserer Sinnlichkeit sind, die Rede; daher das, was in ihnen ist, (Erscheinungen)| nicht an sich Etwas, sondern blosse Vorstellungen sind, die, wenn sie nicht in uns, (in der Wahrnehmung) gegeben sind, überall nirgend angetroffen werden.
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 Das sinnliche Anschauungsvermögen ist eigentlich nur eine Receptivität, auf gewisse Weise mit Vorstellungen afficirt zu werden, deren Verhältniß zu einander eine reine Anschauung des Raumes und der Zeit ist, (lauter Formen unserer Sinnlichkeit) und welche, so fern sie in diesem Verhältnisse (dem Raume und der Zeit) nach Gesetzen der Einheit der Erfahrung verknüpft und bestimbar sind, Gegenstände heissen. Die nichtsinnliche Ursache dieser Vorstellungen ist uns gänzlich unbekant, und diese können wir daher nicht als Obiect anschauen; denn dergleichen Gegenstand würde weder im Raume, noch der Zeit (als blossen Bedingungen der sinnlichen Vorstellung) vorgestellt werden müssen, ohne welche Bedingungen wir uns gar keine Anschauung denken können. Indessen können wir die blos intelligibele Ursache der Erscheinungen überhaupt, das transscendentale Obiect nennen, blos, damit wir etwas haben, was der Sinnlichkeit als einer Receptivität correspondirt. Diesem transscendentalen Obiect können wir allen Umfang und Zusammenhang unserer möglichen Wahrnehmungen zuschreiben und sagen: daß es vor aller Erfahrung an sich selbst gegeben sey. Die Erscheinungen aber sind, ihm gemäß, nicht an sich, sondern nur in dieser Erfahrung gegeben, weil sie blosse Vorstellungen sind, die nur als Wahrnehmungen einen wirklichen| Gegenstand bedeuten, wenn nemlich diese Wahrnehmung mit allen andern nach den Regeln der Erfahrungseinheit zusammen hängt. So kan man sagen: die wirkliche Dinge der vergangenen Zeit sind in dem transscendentalen Gegenstande der Erfahrung gegeben; sie sind aber vor mich nur Gegenstände und in der vergangenen Zeit wirklich, so fern als ich mir vorstelle: daß eine regressive Reihe möglicher Wahrnehmungen, (es sey am Leitfaden der Geschichte, oder an den Fußstapfen der Ursachen und Wirkungen), nach empirischen Gesetzen, mit einem Worte, der Weltlauf auf eine verflossene Zeitreihe, als Bedingung der gegenwärtigen Zeit führet, welche alsdenn doch nur in dem Zusammenhange einer möglichen Erfahrung und nicht an sich selbst als wirklich vorgestellt wird, so, daß alle von undenklicher Zeit her vor meinem Daseyn verflossene Begebenheiten doch nichts anders bedeuten, als die Möglichkeit der Verlängerung der Kette der Erfahrung, von der gegenwärtigen Wahrnehmung an, aufwerts zu den Bedingungen, welche diese der Zeit nach bestimmen.
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 Wenn ich mir demnach alle existirende Gegenstände der Sinne in aller Zeit und allen Räumen insgesamt vorstelle: so setze ich solche nicht vor der Erfahrung in beide hinein, sondern diese Vorstellung ist nichts anders, als der Gedanke von einer möglichen Erfahrung, in ihrer absoluten Vollständigkeit. In ihr allein sind iene Gegenstände (welche nichts als blosse Vorstellungen sind) gegeben.| Daß man aber sagt: sie existiren vor aller meiner Erfahrung, bedeutet nur: daß sie in dem Theile der Erfahrung, zu welchem ich, von der Wahrnehmung anhebend, allererst fortschreiten muß, anzutreffen sind. Die Ursache der empirischen Bedingungen dieses Fortschritts, mithin auf welche Glieder, oder auch, wie weit ich auf dergleichen im Regressus treffen könne, ist transscendental und mir daher nothwendig unbekant. Aber um diese ist es auch nicht zu thun, sondern nur um die Regel des Fortschritts der Erfahrung, in der mir die Gegenstände, nemlich Erscheinungen gegeben werden. Es ist auch im Ausgange ganz einerley, ob ich sage: ich könne im empirischen Fortgange im Raume auf Sterne treffen, die hundertmal weiter entfernt sind, als die äussersten, die ich sehe: oder ob ich sage, es sind vielleicht deren im Weltraume anzutreffen, wenn sie gleich niemals ein Mensch wahrgenommen hat, oder wahrnehmen wird; denn, wenn sie gleich als Dinge an sich selbst, ohne Beziehung auf mögliche Erfahrung, überhaupt gegeben wären: so sind sie doch vor mich nichts, mithin keine Gegenstände, als so fern sie in der Reihe des empirischen Regressus enthalten seyn. Nur in anderweitiger Beziehung, wenn eben diese Erscheinungen zur cosmologischen Idee von einem absoluten Ganzen gebraucht werden sollen und, wenn es also um eine Frage zu thun ist, die über die Gränzen möglicher Erfahrung hinausgeht, ist die Unterscheidung der Art, wie man die Wirklichkeit gedachter Gegenstände der Sinne| nimt, von Erheblichkeit, um einem trüglichen Wahne vorzubeugen, welcher aus der Mißdeutung unserer eigenen Erfahrungsbegriffe unvermeidlich entspringen muß.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: transscendentale


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