Critik der reinen Vernunft (1781)/Der Antinomie der reinen Vernunft Zweiter Widerstreit der transscendentalen Ideen.

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Critik der reinen Vernunft (1781)
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Der Antinomie der reinen Vernunft Dritter Widerstreit der transscendentalen Ideen. »
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Der Antinomie der reinen Vernunft
zweiter Widerstreit der transscendentalen Ideen.
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Thesis.

 Eine iede zusammengesezte Substanz in der Welt besteht aus einfachen Theilen, und es existirt überall nichts als das Einfache, oder das, was aus diesem zusammengesezt ist.


Beweis.
 Denn nehmet an: die zusammengesezte Substanzen beständen nicht aus einfachen Theilen, so würde, wenn alle Zusammensetzung in Gedanken aufgehoben würde, kein zusammengesezter Theil, und (da es keine einfache Theile giebt) auch kein einfacher, mithin gar nichts übrig bleiben, folglich keine Substanz seyn gegeben worden. Entweder also läßt sich unmöglich alle Zusammensetzung in Gedanken aufheben, oder es muß nach deren Aufhebung Etwas, ohne alle Zusammensetzung bestehendes, d. i. das Einfache, übrig bleiben. Im ersteren Falle aber würde das Zusammengesezte wiederum nicht aus Substanzen bestehen (weil bey diesen die Zusammensetzung nur eine zufällige Relation der Substanzen ist, ohne welche diese, als vor sich beharrliche Wesen, bestehen müssen). Da nun| dieser Fall der Voraussetzung widerspricht, so bleibt nur der zweite übrig: daß nemlich das substanz[i]elle Zusammengesezte in der Welt aus einfachen Theilen bestehe.

 Hieraus folgt unmittelbar: daß die Dinge der Welt insgesamt einfache Wesen sind, daß die Zusammensetzung nur ein äusserer Zustand derselben sey, und daß, wenn wir die Elementarsubstanzen gleich niemals völlig aus diesem Zustande der Verbindung setzen und isoliren können, doch die Vernunft sie als die erste Subiecte aller Composition und mithin, vor derselben, als einfache Wesen denken müsse.


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Antithesis.

 Kein zusammengeseztes Ding in der Welt besteht aus einfachen Theilen und es existirt überall nichts Einfaches in derselben.


Beweis.

 Setzet: ein zusammengeseztes Ding (als Substanz) bestehe aus einfachen Theilen. Weil alles äussere Verhältniß, mithin auch alle Zusammensetzung aus Substanzen nur im Raume möglich ist: so muß, aus so viel Theilen das Zusammengesezte besteht, aus eben so viel Theilen auch der Raum bestehen, den es einnimt. Nun besteht der Raum nicht aus einfachen Theilen, sondern aus Räumen. Also muß ieder Theil des Zusammengesezten einen Raum einnehmen. Die schlechthin ersten Theile aber alles Zusammengesezten sind einfach. Also nimt das Einfache einen Raum ein. Da nun alles Reale, was einen Raum einnimt, ein ausserhalb einander befindliches Mannigfaltige in sich fasset, mithin zusammengesezt ist, und zwar als ein reales Zusammengesezte, nicht aus Accidenzen, (denn die können nicht ohne Substanz ausser einander seyn), mithin aus Substanzen, so würde das Einfache ein substanzielles Zusammengesezte seyn, welches sich widerspricht.

 Der zweite Satz der Antithesis, daß in der Welt gar nichts Einfaches existire, soll hier nur so viel bedeuten| als: Es könne das Daseyn des schlechthin Einfachen aus keiner Erfahrung oder Wahrnehmung, weder äusseren noch inneren, dargethan werden, und das schlechthin Einfache sey also eine blosse Idee, deren obiective Realität niemals in irgend einer möglichen Erfahrung kan dargethan werden, mithin in der Exposition der Erscheinungen ohne alle Anwendung und Gegenstand. Denn wir wollen annehmen, es ließe sich vor diese transscendentale Idee ein Gegenstand der Erfahrung finden: so müßte die empirische Anschauung irgend eines Gegenstandes als eine solche erkant werden, welche schlechthin kein Mannigfaltiges ausserhalb einander, und zur Einheit verbunden, enthält. Da nun von dem Nichtbewustseyn eines Mannigfaltigen auf die gänzliche Unmöglichkeit ein solches in irgend einer Anschauung desselben Obiects, kein Schluß gilt, dieses leztere aber zur absoluten Simplicität durchaus nöthig ist, so folgt: daß diese aus keiner Wahrnehmung, welche sie auch sey, könne geschlossen werden. Da also etwas als ein schlechthin einfaches Obiect niemals in irgend einer möglichen Erfahrung kan gegeben werden, die Sinnenwelt aber, als der Inbegriff aller möglichen Erfahrungen angesehen werden muß: so ist überall in ihr nichts Einfaches gegeben.

 Dieser zweite Satz der Antithesis geht viel weiter als der erste, der das Einfache nur von der Anschauung des Zusammengesezten verbant, dahingegen dieser es aus der ganzen Natur wegschaft, daher er auch nicht aus dem Begriffe eines gegebenen Gegenstandes der äusseren Anschauung (des Zusammengesezten), sondern aus dem Verhältniß desselben zu einer möglichen Erfahrung überhaupt hat bewiesen werden können.


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Anmerkung zur zweiten Antinomie.
I. zur Thesis.
 Wenn ich von einem Ganzen rede, welches nothwendig aus einfachen Theilen besteht, so verstehe ich darunter nur ein substanzielles Ganze, als das eigentliche Compositum, d. i. dieienige zufällige Einheit des Mannigfaltigen, welches abgesondert (wenigstens in Gedanken) gegeben, in eine wechselseitige Verbindung gesezt wird, und dadurch Eines ausmacht. Den Raum solte man eigentlich nicht Compositum, sondern Totum nennen, weil die Theile desselben nur im Ganzen und nicht das Ganze durch die Theile möglich ist. Er würde allenfalls ein Compositum ideale, aber nicht reale heissen können. Doch dieses ist nur Subtilität. Da der Raum kein Zusammengeseztes aus Substanzen (nicht einmal aus realen Accidenzen) ist, so muß, wenn ich alle Zusammensetzung in ihm aufhebe, nichts, auch nicht einmal der Punct übrig bleiben; denn dieser ist nur als die Gränze eines Raumes, (mithin eines Zusammengesezten) möglich. Raum und| Zeit bestehen also nicht aus einfachen Theilen. Was nur zum Zustande einer Substanz gehöret, ob es gleich eine Grösse hat, (z. B. die Veränderung), besteht auch nicht aus dem Einfachen, d. i. ein gewisser Grad der Veränderung entsteht nicht durch einen Anwachs vieler einfachen Veränderungen. Unser Schluß vom Zusammengesezten auf das Einfache gilt nur von vor sich selbst bestehenden Dingen. Accidenzen aber des Zustandes bestehen nicht vor sich selbst. Man kan also den Beweis vor die Nothwendigkeit des Einfachen, als der Bestandtheile alles Substanziellen-Zusammengesezten, und dadurch überhaupt seine Sache leichtlich dadurch verderben, wenn man ihn zu weit ausdehnt und ihn vor alles Zusammengesezte ohne Unterschied geltend machen will, wie es wirklich mehrmahlen schon geschehen ist.
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 Ich rede übrigens hier nur von dem Einfachen, so fern es nothwendig im Zusammengesezten gegeben ist, indem dieses darin, als in seine Bestandtheile aufgelöset werden kan. Die eigentliche Bedeutung des Wortes Monas| (nach Leibnitzens Gebrauch) solte wol nur auf das Einfache gehen, welches unmittelbar als einfache Substanz gegeben ist (z. B. im Selbstbewustseyn) und nicht als Element des Zusammengesezten, welches man besser den Atomus nennen könte. Und da ich nur in Ansehung des Zusammengesezten die einfachen[WS 1] Substanzen, als deren Elemente, beweisen will, so könte ich die Antithese der zweiten Antinomie, die transscendentale Atomistik nennen. Weil aber dieses Wort schon vorlängst zur Bezeichnung einer besondern Erklärungsart cörperlicher Erscheinungen (molecularum) gebraucht worden, und also empirische Begriffe voraussezt, so mag er der dialectische Grundsatz der Monadologie heissen.


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II. Anmerkung
zur Antithesis.
 Wider diesen Satz einer unendlichen Theilung der Materie, dessen Beweisgrund blos mathematisch ist, werden von den Monadisten Einwürfe vorgebracht, welche sich dadurch schon verdächtig machen: daß sie die kläreste mathematische Beweise nicht vor Einsichten in die Beschaffenheit des Raumes, so fern er in der That die formale Bedingung der Möglichkeit aller Materie ist, wollen gelten lassen, sondern sie nur als Schlüsse aus abstracten aber willkührlichen Begriffen ansehen, die auf wirkliche Dinge nicht bezogen werden könten. Gleich als wenn es auch nur möglich wäre, eine andere Art der Anschauung zu erdenken, als die in der ursprünglichen Anschauung des Raumes gegeben wird, und die Bestimmungen desselben a priori nicht zugleich alles dasienige beträfen, was dadurch allein möglich ist, daß es diesen Raum erfüllet. Wenn man ihnen Gehör giebt: so müßte man, ausser dem mathematischen Puncte, der einfach, aber kein Theil, sondern blos die Gränze eines Raums ist, sich noch physische Puncte denken, die zwar auch einfach sind, aber den Vorzug haben, als Theile des Raums, durch ihre blosse Aggregation denselben zu erfüllen. Ohne nun hier die gemeine und klare Widerlegungen dieser Ungereimtheit, die man in Menge antrift, zu wiederhohlen, wie es denn gänzlich umsonst ist, durch blos discursive Begriffe die Evidenz der Mathematik weg vernünfteln zu wollen, so bemerke ich nur: daß, wenn die Philosophie hier mit der Mathematik| chicanirt, es darum geschehe, weil sie vergißt: daß es in dieser Frage nur um Erscheinungen und deren Bedingung zu thun sey. Hier ist es aber nicht genug, zum reinen Verstandesbegriffe des Zusammengesezten den Begriff des Einfachen, sondern zur Anschauung des Zusammengesezten (der Materie) die Anschauung des Einfachen zu finden, und dieses ist nach Gesetzen der Sinnlichkeit, mithin auch bey Gegenständen der Sinne gänzlich unmöglich. Es mag also von einem Ganzen aus Substanzen, welches blos durch den reinen Verstand gedacht wird, immer gelten: daß wir vor aller Zusammensetzung desselben, das Einfache haben müssen, so gilt dieses doch nicht vom totum substantiale phaenomenon, welches, als empirische Anschauung im Raume, die nothwendige Eigentschaft bey sich führt: daß kein Theil desselben einfach ist, darum, weil kein Theil des Raumes einfach ist. Indessen sind die Monadisten fein genug gewesen, dieser Schwierigkeit dadurch ausweichen zu wollen: daß sie nicht den Raum als eine Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände äusserer Anschauung (Cörper), sondern diese, und das dynamische Verhältniß der Substanzen überhaupt, als die Bedingung der Möglichkeit des Raumes voraussetzen. Nun haben wir von Cörpern nur als Erscheinungen einen Begriff, als solche aber setzen sie den Raum als die Bedingung der Möglichkeit aller äusseren Erscheinung nothwendig voraus, und die Ausflucht ist also vergeblich, wie sie denn auch oben in der transscendentalen Aesthetik hinreichend ist abgeschnitten worden. Wären sie Dinge an sich selbst, so würde der Beweis der Monadisten allerdings gelten.
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|  Die zweite dialectische Behauptung hat das besondere an sich: daß sie eine dogmatische Behauptung wider sich hat, die unter allen vernünftelnden die einzige ist, welche sich unternimt, an einem Gegenstande der Erfahrung die Wirklichkeit dessen, was wir oben blos zu transscendentalen Ideen rechneten, nemlich die absolute Simplicität der Substanz, augenscheinlich zu beweisen: nemlich daß der Gegenstand des inneren Sinnes, das Ich, was da denkt, eine schlechthin einfache Substanz sey. Ohne mich hierauf iezt einzulassen, (da es oben ausführlicher erwogen ist) so bemerke ich nur: daß wenn etwas blos als Gegenstand gedacht wird, ohne irgend eine synthetische Bestimmung seiner Anschauung hinzu zu setzen, (wie denn dieses durch die ganz nackte Vorstellung: Ich, geschieht) so könne freilich nichts Mannigfaltiges und keine Zusammensetzung in einer solchen Vorstellung wahrgenommen werden. Da überdem die Prädicate, wodurch ich diesen Gegenstand denke, blos Anschauungen des inneren Sinnes seyn, so kan darin auch nichts vorkommen, welches ein Mannigfaltiges ausserhalb einander, mithin reale Zusammensetzung bewiese. Es bringt also nur das Selbstbewustseyn es so mit sich, daß, weil das Subiect, welches denkt, zugleich sein eigen Obiect ist, es sich selber nicht theilen kan (obgleich die ihm inhärirende Bestimmungen); denn in Ansehung seiner Selbst ist ieder Gegenstand absolute Einheit. Nichts destoweniger, wenn dieses Subiect äusserlich, als ein Gegenstand der Anschauung, betrachtet wird, so würde es doch wol Zusammensetzung in der Erscheinung an sich zeigen. So muß es aber iederzeit betrachtet werden, wenn man wissen will, ob in ihm ein Mannigfaltiges ausserhalb einander sey oder nicht.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: einfache


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