Critik der reinen Vernunft (1781)/Des Canons der reinen Vernunft Zweiter Abschnitt. Von dem Ideal des höchsten Guts, als einem Bestimmungsgrunde des letzten Zwecks der reinen Vernunft.

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Critik der reinen Vernunft (1781)
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Des Canons der reinen Vernunft
Zweiter Abschnitt.
Von dem
Ideal des höchsten Guts als einem
Bestimmungsgrunde des
lezten Zwecks der reinen Vernunft.

Die Vernunft führete uns in ihrem speculativen Gebrauche durch das Feld der Erfahrungen und, weil daselbst vor sie niemals völlige Befriedigung anzutreffen ist, von da zu speculativen Ideen, die uns aber am Ende wiederum auf Erfahrung zurück führeten und also ihre Absicht auf eine zwar nützliche, aber unserer Erwartung gar nicht gemässe Art erfülleten. Nun bleibt uns noch ein Versuch übrig: ob nemlich auch reine Vernunft im practischen Gebrauche anzutreffen sey, ob sie in demselben zu den Ideen führe, welche die höchsten Zwecke der reinen Vernunft, die wir eben angeführt haben, erreichen und diese also aus dem Gesichtspuncte ihres practischen Interesse nicht dasienige gewähren könne, was sie uns in Ansehung des speculativen ganz und gar abschlägt.

 Alles Interesse meiner Vernunft (das speculative so wol, als das practische) vereinigt sich in folgenden drey Fragen:

|  1. Was kan ich wissen?

 2. Was soll ich thun?
 3. Was darf ich hoffen?

 Die erste Frage ist blos speculativ. Wir haben (wie ich mir schmeichele) alle mögliche Beantwortungen derselben erschöpft und endlich dieienige gefunden, mit welcher sich die Vernunft zwar befriedigen muß und, wenn sie nicht aufs Practische sieht, auch Ursache hat, zufrieden zu seyn, sind aber von den zwey grossen Zwecken, worauf diese ganze Bestrebung der reinen Vernunft eigentlich gerichtet war, eben so weit entfernet geblieben, als ob wir uns aus Gemächlichkeit dieser Arbeit gleich anfangs verweigert hätten. Wenn es also um Wissen zu thun ist, so ist wenigstens so viel sicher und ausgemacht, daß uns dieses, in Ansehung iener zwey Aufgaben, niemals zu Theil werden könne.

 Die zweite Frage ist blos practisch. Sie kan als eine solche zwar der reinen Vernunft angehören, ist aber alsdenn doch nicht transscendental[WS 1], sondern moralisch, mithin kan sie unsere Critik an sich selbst nicht beschäftigen.

 Die dritte Frage, nemlich: wenn ich nun thue, was ich soll, was darf ich alsdenn hoffen? ist practisch und theoretisch zugleich, so, daß das Practische nur als ein Leitfaden zu Beantwortung der theoretischen und, wenn diese hoch geht, speculativen Frage führet. Denn alles Hoffen geht auf Glückseligkeit und ist in Absicht auf das Practische und das Sittengesetz eben dasselbe, was das Wissen und das Naturgesetz in Ansehung der theoretischen Erkentniß| der Dinge ist. Jenes läuft zulezt auf den Schluß hinaus: daß etwas sey (was den lezten möglichen Zweck bestimt), weil etwas geschehen soll; dieses, daß etwas sey (was als oberste Ursache wirkt), weil etwas geschieht.

 Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen, (so wol extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, als auch protensive, der Dauer nach). Das practische Gesetz aus dem Bewegungsgrunde der Glückseligkeit nenne ich pragmatisch, (Klugheitsregel) dasienige aber, wofern ein solches ist, das zum Bewegungsgrunde nichts anderes hat, als die Würdigkeit, glücklich zu seyn, moralisch (Sittengesetz). Das erstere räth, was zu thun sey, wenn wir der Glückseligkeit wollen theilhaftig, das zweite gebietet, wie wir uns verhalten sollen, um nur der Glückseligkeit würdig zu werden. Das erstere gründet sich auf empirische Principien; denn anders, wie vermittelst der Erfahrung, kan ich weder wissen, welche Neigungen da sind, die befriedigt werden wollen, noch welches die Naturursachen sind, die ihre Befriedigung bewirken können. Das zweite abstrahirt von Neigungen und Naturmitteln, sie zu befriedigen und betrachtet nur die Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt und die nothwendige Bedingungen, unter denen sie allein mit der Austheilung der Glückseligkeit nach Principien zusammenstimt, und kan also wenigstens auf blossen Ideen der reinen Vernunft beruhen und a priori erkant werden.

|  Ich nehme an: daß es wirklich reine moralische Gesetze gebe, die völlig a priori (ohne Rücksicht auf empirische Bewegungsgründe, d. i. Glückseligkeit) das Thun und Lassen, d. i. den Gebrauch der Freyheit eines vernünftigen Wesens überhaupt, bestimmen und daß diese Gesetze schlechterdings (nicht blos hypothetisch unter Voraussetzung anderer empirischen Zwecke) gebieten und also in aller Absicht nothwendig seyn. Diesen Satz kan ich mit Recht voraussetzen, nicht allein, indem ich mich auf die Beweise der aufgeklärtesten Moralisten, sondern auf das sittliche Urtheil eines ieden Menschen berufe, wenn er sich ein dergleichen Gesetz deutlich denken will.
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 Die reine Vernunft enthält also, zwar nicht in ihrem speculativen, aber doch in einem gewissen practischen, nemlich dem moralischen Gebrauche, Principien der Möglichkeit der Erfahrung, nemlich solcher Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß in der Geschichte des Menschen anzutreffen seyn könten. Denn, da sie gebietet, daß solche geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können und es muß also eine besondere Art von systematischer Einheit, nemlich die moralische, möglich seyn, indessen daß die systematische Natureinheit nach speculativen Principien der Vernunft nicht bewiesen werden konte, weil die Vernunft zwar in Ansehung der Freiheit überhaupt, aber nicht in Ansehung der gesamten Natur Caussalität hat und moralische Vernunftprincipien zwar freie Handlungen, aber nicht Naturgesetze hervorbringen| können. Demnach haben die Principien der reinen Vernunft in ihrem practischen, namentlich aber, dem moralischen Gebrauche, obiective Realität.

 Ich nenne die Welt, so fern sie allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre, (wie sie es denn, nach der Freiheit der vernünftigen Wesen, seyn kan und, nach den nothwendigen Gesetzen der Sittlichkeit, seyn soll) eine moralische Welt. Diese wird so fern blos als intelligibele Welt gedacht, weil darin von allen Bedingungen (Zwecken) und selbst von allen Hindernissen der Moralität in derselben (Schwäche, oder Unlauterkeit der menschlichen Natur) abstrahirt wird. So fern ist sie also eine blosse, aber doch practische Idee, die wirklich ihren Einfluß auf die Sinnenwelt haben kan und soll, um sie dieser Idee so viel als möglich gemäß zu machen. Die Idee einer moralischen Welt hat daher obiective Realität, nicht als wenn sie auf einen Gegenstand einer intelligibelen Anschauung ginge (dergleichen wir uns gar nicht denken können), sondern auf die Sinnenwelt, aber als einen Gegenstand der reinen Vernunft in ihrem practischen Gebrauche und ein corpus mysticum der vernünftigen Wesen in ihr, so fern deren freie Willkühr unter moralischen Gesetzen sowol mit sich selbst, als mit iedes anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit an sich hat.

 Das war die Beantwortung der ersten von denen zwey Fragen der reinen Vernunft, die das practische Interesse betrafen: Thue das, wodurch du würdig wirst,| glücklich zu seyn. Die zweite frägt nun: wie, wenn ich mich nun so verhalte, daß ich der Glückseligkeit nicht unwürdig sey, darf ich auch hoffen, ihrer dadurch theilhaftig werden zu können? Es komt bey der Beantwortung derselben darauf an, ob die Principien der reinen Vernunft, welche a priori das Gesetz vorschreiben, auch diese Hoffnung nothwendigerweise damit verknüpfen.

 Ich sage demnach: daß eben sowol, als die moralische Principien nach der Vernunft in ihrem practischen Gebrauche nothwendig seyn, eben so nothwendig sey es auch nach der Vernunft, in ihrem theoretischen anzunehmen, daß iederman die Glückseligkeit in demselben Maasse zu hoffen Ursache habe, als er sich derselben in seinem Verhalten würdig gemacht hat und daß also das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrenlich, aber nur in der Idee der reinen Vernunft verbunden sey.

 Nun läßt sich in einer intelligibelen, d. i. der moralischen Welt, in deren Begriff wir von allen Hindernissen der Sittlichkeit (der Neigungen) abstrahiren, ein solches System der mit der Moralität verbundenen proportionirten Glückseligkeit auch als nothwendig denken, weil die durch sittliche Gesetze theils bewegte, theils restringirte Freiheit, selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftige Wesen also selbst, unter der Leitung solcher Principien, Urheber ihres eigenen und zugleich anderer dauerhaften Wolfarth seyn würden. Aber dieses System der sich selbst lohnenden Moralität ist nur| eine Idee, deren Ausführung auf der Bedingung beruht, daß iederman thue, was er soll, d. i. alle Handlungen vernünftiger Wesen so geschehen, als ob sie aus einem obersten Willen, der alle Privatwillkühr in sich, oder unter sich befaßt, entsprängen. Da aber die Verbindlichkeit aus dem moralischen Gesetze vor iedes besonderen Gebrauch der Freiheit gültig bleibt, wenn gleich andere diesem Gesetze sich nicht gemäß verhielten, so ist weder aus der Natur der Dinge der Welt, noch der Caussalität der Handlungen selbst und ihrem Verhältnisse zur Sittlichkeit bestimt, wie sich ihre Folgen zur Glückseligkeit verhalten werden, und die angeführte nothwendige Verknüpfung der Hoffnung, glücklich zu seyn, mit dem unablässigen Bestreben, sich der Glückseligkeit würdig zu machen, kan durch die Vernunft nicht erkant werden, wenn man blos Natur zum Grunde legt, sondern darf nur gehofft werden, wenn eine höchste Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet, zugleich als Ursache der Natur zum Grunde gelegt wird.
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 Ich nenne die Idee einer solchen Intelligenz, in welcher der moralischvollkommenste Wille, mit der höchsten Seligkeit verbunden, die Ursache aller Glückseligkeit in der Welt ist, so fern sie mit der Sittlichkeit (als der Würdigkeit glücklich zu seyn) in genauem Verhältnisse steht, das Ideal des höchsten Guts. Also kan die reine Vernunft nur in dem Ideal des höchsten ursprünglichen Guts den Grund der practischnothwendigen Verknüpfung beider| Elemente des höchsten abgeleiteten Guts, nemlich, einer intelligibelen, d. i. moralischen Welt antreffen. Da wir uns nun nothwendiger Weise durch die Vernunft, als zu einer solchen Welt gehörig, vorstellen müssen, obgleich die Sinne uns nichts als eine Welt von Erscheinungen darstellen, so werden wir iene als eine Folge unseres Verhaltens in der Sinnenwelt, da uns diese eine solche Verknüpfung nicht darbietet, als eine vor uns künftige Welt annehmen müssen. Gott also und ein künftiges Leben, sind zwey von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Principien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen.
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 Die Sittlichkeit an sich selbst macht ein System aus, aber nicht die Glückseligkeit, ausser, so fern sie der Moralität genau angemessen ausgetheilet ist. Dieses aber ist nur möglich in der intelligibelen Welt, unter einem weisen Urheber und Regierer. Einen solchen, samt dem Leben in einer solchen Welt, die wir als eine künftige ansehen müssen, sieht sich die Vernunft genöthigt, anzunehmen, oder die moralische Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der nothwendige Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne iene Voraussetzung wegfallen müßte. Daher auch iederman die moralischen Gesetze als Gebote ansieht, welches sie aber nicht seyn könten, wenn sie nicht a priori angemessene Folgen mit ihrer Regel verknüpften und also Verheissungen und Drohungen bey sich führten. Dieses können sie aber| auch nicht thun, wo sie nicht in einem nothwendigen Wesen, als dem höchsten Gut liegen, welches eine solche zweckmässige Einheit allein möglich machen kan.

 Leibnitz nante die Welt, so fern man darin nur auf die vernünftige Wesen und ihren Zusammenhang nach moralischen Gesetzen unter der Regierung des höchsten Guts Acht hat, das Reich der Gnaden und unterschied es vom Reiche der Natur, da sie zwar unter moralischen Gesetzen stehen, aber keine andere Erfolge ihres Verhaltens erwarten, als nach dem Laufe der Natur unserer Sinnenwelt. Sich also im Reiche der Gnaden zu sehen, wo alle Glückseligkeit auf uns wartet, ausser so fern wir unsern Antheil an derselben durch die Unwürdigkeit, glücklich zu seyn, nicht selbst einschränken, ist eine practisch nothwendige Idee der Vernunft.

 Practische Gesetze, so fern sie zugleich subiective Gründe der Handlungen, d. i. subiective Grundsätze werden, heissen Maximen. Die Beurtheilung der Sittlichkeit, ihrer Reinigkeit und Folgen nach, geschieht nach Ideen, die Befolgung ihrer Gesetze nach Maximen.

 Es ist nothwendig, daß unser ganzer Lebenswandel sittlichen Maximen untergeordnet werde; es ist aber zugleich unmöglich, daß dieses geschehe, wenn die Vernunft nicht mit dem moralischen Gesetze, welches eine blosse Idee ist, eine wirkende Ursache verknüpft, welche dem Verhalten nach demselben einen unseren höchsten Zwecken genau entsprechenden Ausgang, es sey in diesem, oder einem anderen| Leben, bestimt. Ohne also einen Gott und eine vor uns iezt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrliche Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem ieden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft a priori bestimt und nothwendig ist, erfüllen.
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 Glückseligkeit allein ist vor unsere Vernunft bey weitem nicht das vollständige Gut. Sie billigt solche nicht, (so sehr als auch Neigung dieselbe wünschen mag) wofern sie nicht mit der Würdigkeit, glücklich zu seyn, d. i. dem sittlichen Wolverhalten vereinigt ist. Sittlichkeit allein und, mit ihr, die blosse Würdigkeit, glücklich zu seyn, ist aber auch noch lange nicht das vollständige Gut. Um dieses zu vollenden, muß der, so sich als der Glückseligkeit nicht unwerth verhalten hatte, hoffen können, ihrer theilhaftig zu werden. Selbst die von aller Privatabsicht freie Vernunft, wenn sie, ohne dabey ein eigenes Interesse in Betracht zu ziehen, sich in die Stelle eines Wesens sezte, das alle Glückseligkeit andern auszutheilen hätte, kan nicht anders urtheilen; denn in der practischen Idee sind beide Stücke wesentlich verbunden, obzwar so, daß die moralische Gesinnung, als Bedingung, den Antheil an Glückseligkeit und nicht umgekehrt, die Aussicht auf Glückseligkeit die moralische Gesinnung zuerst möglich mache. Denn im lezteren Falle wäre sie nicht moralisch und also| auch nicht der ganzen Glückseligkeit würdig, die vor der Vernunft keine andere Einschränkung erkent, als die, welche von unserem eigenen unsittlichen Verhalten herrührt.

 Glückseligkeit also, in dem genauen Ebenmaasse mit der Sittlichkeit der vernünftigen Wesen, dadurch sie derselben würdig seyn, macht allein das höchste Gut einer Welt aus, darin wir uns nach den Vorschriften der reinen aber practischen Vernunft durchaus versetzen müssen und welche freilich nur eine intelligibele Welt ist, da die Sinnenwelt uns von der Natur der Dinge dergleichen systematische Einheit der Zwecke nicht verheißt, deren Realität auch auf nichts anders gegründet werden kan, als auf die Voraussetzung eines höchsten ursprünglichen Guts, da selbstständige Vernunft, mit aller Zulänglichkeit einer obersten Ursache ausgerüstet, nach der vollkommensten Zweckmässigkeit die allgemeine, obgleich in der Sinnenwelt uns sehr verborgene Ordnung der Dinge gründet, erhält und vollführet.

 Diese Moraltheologie hat nun den eigenthümlichen Vorzug vor der speculativen: daß sie unausbleiblich auf den Begriff eines einigen, allervollkommensten und vernünftigen Urwesens führet, worauf uns speculative Theologie nicht einmal aus obiectiven Gründen hinweiset, geschweige uns davon überzeugen konte. Denn, wir finden weder in der transscendentalen, noch natürlichen Theologie, so weit uns auch Vernunft darin führen mag, einigen bedeutenden Grund, nur ein einiges Wesen anzunehmen,| welches wir allen Naturursachen vorsetzen und von dem wir zugleich diese in allen Stücken abhängend zu machen, hinreichende Ursache hätten. Dagegen, wenn wir aus dem Gesichtspuncte der sittlichen Einheit, als einem nothwendigen Weltgesetze, die Ursache erwägen, die diesem allein den angemessenen Effect, mithin auch vor uns verbindende Kraft geben kan, so muß es ein einiger oberster Wille seyn, der alle diese Gesetze in sich befaßt. Denn, wie wolten wir unter verschiedenen Willen vollkommene Einheit der Zwecke finden? Dieser Wille muß allgewaltig seyn, damit die ganze Natur und deren Beziehung auf Sittlichkeit in der Welt ihm unterworfen sey, allwissend, damit er das Innerste der Gesinnungen und deren moralischen Werth erkenne, allgegenwärtig, damit er unmittelbar allem Bedürfnisse, welche das höchste Weltbeste erfodert, nahe sey, ewig, damit in keiner Zeit diese Uebereinstimmung der Natur und Freiheit ermangele, u. s. w.
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 Aber diese systematische Einheit der Zwecke in dieser Welt der Intelligenzen, welche, obzwar, als blosse Natur, nur Sinnenwelt, als ein System der Freiheit aber, intelligibele, d. i. moralische Welt (regnum gratiae) genant werden kan, führet unausbleiblich auch auf die zweckmässige Einheit aller Dinge, die dieses grosse Ganze ausmachen, nach allgemeinen Naturgesetzen, so wie die erstere nach allgemeinen und nothwendigen Sittengesetzen und vereinigt die practische Vernunft mit der speculativen. Die Welt muß als aus einer Idee entsprungen| vorgestellt werden, wenn sie mit demienigen Vernunftgebrauch, ohne welchen wir uns selbst der Vernunft unwürdig halten würden, nemlich dem moralischen, als welcher durchaus auf der Idee des höchsten Guts beruht, zusammenstimmen soll. Dadurch bekomt alle Naturforschung eine Richtung nach der Form eines Systems der Zwecke und wird in ihrer höchsten Ausbreitung Physicotheologie. Diese aber, da sie doch von sittlicher Ordnung, als einer in dem Wesen der Freiheit gegründeten und nicht durch äussere Gebote zufällig gestifteten Einheit anhob, bringt die Zweckmässigkeit der Natur auf Gründe, die a priori mit der inneren Möglichkeit der Dinge unzertrenlich verknüpft seyn müssen und dadurch auf eine transscendentale Theologie, die sich das Ideal der höchsten ontologischen Vollkommenheit zu einem Princip der systematischen Einheit nimt, welches nach allgemeinen und nothwendigen Naturgesetzen alle Dinge verknüpft, weil sie alle in der absoluten Nothwendigkeit eines einigen Urwesens ihren Ursprung haben.
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 Was können wir vor einen Gebrauch von unserem Verstande machen, selbst in Ansehung der Erfahrung, wenn wir uns nicht Zwecke vorsetzen? Die höchsten Zwecke aber sind die der Moralität und diese kan uns nur reine Vernunft zu erkennen geben. Mit diesen nun versehen und an dem Leitfaden derselben können wir von der Kentniß der Natur selbst keinen zweckmässigen Gebrauch in Ansehung der Erkentniß machen, wo die Natur nicht selbst| zweckmässige Einheit hingelegt hat; denn ohne diese hätten wir so gar selbst keine Vernunft, weil wir keine Schule vor dieselbe haben würden und keine Cultur durch Gegenstände, welche den Stoff zu solchen Begriffen darböten. Jene zweckmässige Einheit ist aber nothwendig und in dem Wesen der Willkühr selbst gegründet, diese also, welche die Bedingung der Anwendung derselben in concreto enthält, muß es auch seyn, und so würde die transscendentale Steigerung unserer Vernunfterkentniß nicht die Ursache, sondern blos die Wirkung von der practischen Zweckmässigkeit seyn, die uns die reine Vernunft auferlegt.
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 Wir finden daher auch in der Geschichte der menschlichen Vernunft: daß, ehe die moralische Begriffe gnugsam gereinigt, bestimt und die systematische Einheit der Zwecke nach denselben und zwar aus nothwendigen Principien eingesehen waren, die Kentniß der Natur und selbst ein ansehnlicher Grad der Cultur der Vernunft in manchen anderen Wissenschaften, theils nur rohe und umherschweifende Begriffe von der Gottheit hervorbringen konte, theils eine zu bewundernde Gleichgültigkeit überhaupt in Ansehung dieser Frage übrig ließ. Eine grössere Bearbeitung sittlicher Ideen, die durch das äusserstreine Sittengesetz unserer Religion nothwendig gemacht wurde, schärfte die Vernunft auf den Gegenstand, durch das Interesse, was sie an demselben zu nehmen nöthigte und, ohne daß weder erweiterte Naturkentnisse, noch richtige und zuverlässige transscendentale Einsichten (dergleichen zu aller Zeit gemangelt| haben), dazu beitrugen, brachten sie einen Begriff vom göttlichen Wesen zu Stande, den wir iezt vor den richtigen halten, nicht, weil uns speculative[WS 2] Vernunft von dessen Richtigkeit überzeugt, sondern, weil er mit den moralischen Vernunftprincipien vollkommen zusammen stimt. Und so hat am Ende doch immer nur reine Vernunft, aber nur in ihrem practischen Gebrauche, das Verdienst ein Erkentniß, das die blosse Speculation nur wähnen, aber nicht geltend machen kan, an unser höchstes Interesse zu knüpfen und dadurch zwar nicht zu einem demonstrirten Dogma, aber doch zu einer schlechterdingsnothwendigen Voraussetzung bey ihren wesentlichsten Zwecken zu machen.
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 Wenn aber practische Vernunft nun diesen hohen Punct erreicht hat, nemlich den Begriff eines einigen Urwesens, als des höchsten Guts, so darf sie sich gar nicht unterwinden, gleich als hätte sie sich über alle empirische Bedingungen seiner Anwendung erhoben und zur unmittelbaren Kentniß neuer Gegenstände empor geschwungen, um von diesem Begriffe auszugehen und die moralische Gesetze selbst von ihm abzuleiten. Denn diese waren es eben, deren innere practische Nothwendigkeit uns zu der Voraussetzung einer selbstständigen Ursache, oder eines weisen Weltregierers führete, um ienen Gesetzen Effect zu geben und daher können wir sie nicht nach diesem wiederum als zufällig und vom blossen Willen abgeleitet ansehen, insonderheit von einem solchen Willen, von dem| wir gar keinen Begriff haben würden, wenn wir ihn nicht ienen Gesetzen gemäß gebildet hätten. Wir werden, so weit practische Vernunft uns zu führen das Recht hat, Handlungen nicht darum vor verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie als göttliche Gebote ansehen, darum, weil wir dazu innerlich verbindlich seyn. Wir werden die Freiheit, unter der zweckmässigen Einheit nach Principien der Vernunft, studiren, und nur so fern glauben, dem göttlichen Willen gemäß zu seyn, als wir das Sittengesetz, welches uns die Vernunft aus der Natur der Handlungen selbst lehrt, heilig halten, ihm dadurch allein zu dienen glauben, daß wir das Weltbeste an uns und an andern befördern. Die Moraltheologie ist also nur von immanentem Gebrauche, nemlich unsere Bestimmung hier in der Welt zu erfüllen, indem wir in das System aller Zwecke passen und nicht schwärmerisch, oder wol gar frevelhaft den Leitfaden einer moralischgesetzgebenden Vernunft im guten Lebenswandel zu verlassen, um ihn unmittelbar an die Idee des höchsten Wesens zu knüpfen, welches einen transscendenten Gebrauch geben würde, aber eben so, wie der, der blossen Speculation, die lezte Zwecke der Vernunft verkehren und vereiteln muß.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: transsendental
  2. Vorlage: specutative


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