Critik der reinen Vernunft (1781)/Des Canons der reinen Vernunft Zweiter Abschnitt. Von dem Ideal des höchsten Guts, als einem Bestimmungsgrunde des letzten Zwecks der reinen Vernunft.
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Die Vernunft führete uns in ihrem speculativen Gebrauche durch das Feld der Erfahrungen und, weil daselbst vor sie niemals völlige Befriedigung anzutreffen ist, von da zu speculativen Ideen, die uns aber am Ende wiederum auf Erfahrung zurück führeten und also ihre Absicht auf eine zwar nützliche, aber unserer Erwartung gar nicht gemässe Art erfülleten. Nun bleibt uns noch ein Versuch übrig: ob nemlich auch reine Vernunft im practischen Gebrauche anzutreffen sey, ob sie in demselben zu den Ideen führe, welche die höchsten Zwecke der reinen Vernunft, die wir eben angeführt haben, erreichen und diese also aus dem Gesichtspuncte ihres practischen Interesse nicht dasienige gewähren könne, was sie uns in Ansehung des speculativen ganz und gar abschlägt.
Alles Interesse meiner Vernunft (das speculative so wol, als das practische) vereinigt sich in folgenden drey Fragen:
| 1. Was kan ich wissen? 2. Was soll ich thun?
3. Was darf ich hoffen?
Die erste Frage ist blos speculativ. Wir haben (wie ich mir schmeichele) alle mögliche Beantwortungen derselben erschöpft und endlich dieienige gefunden, mit welcher sich die Vernunft zwar befriedigen muß und, wenn sie nicht aufs Practische sieht, auch Ursache hat, zufrieden zu seyn, sind aber von den zwey grossen Zwecken, worauf diese ganze Bestrebung der reinen Vernunft eigentlich gerichtet war, eben so weit entfernet geblieben, als ob wir uns aus Gemächlichkeit dieser Arbeit gleich anfangs verweigert hätten. Wenn es also um Wissen zu thun ist, so ist wenigstens so viel sicher und ausgemacht, daß uns dieses, in Ansehung iener zwey Aufgaben, niemals zu Theil werden könne.
Die zweite Frage ist blos practisch. Sie kan als eine solche zwar der reinen Vernunft angehören, ist aber alsdenn doch nicht transscendental[WS 1], sondern moralisch, mithin kan sie unsere Critik an sich selbst nicht beschäftigen.
Die dritte Frage, nemlich: wenn ich nun thue, was ich soll, was darf ich alsdenn hoffen? ist practisch und theoretisch zugleich, so, daß das Practische nur als ein Leitfaden zu Beantwortung der theoretischen und, wenn diese hoch geht, speculativen Frage führet. Denn alles Hoffen geht auf Glückseligkeit und ist in Absicht auf das Practische und das Sittengesetz eben dasselbe, was das Wissen und das Naturgesetz in Ansehung der theoretischen Erkentniß| der Dinge ist. Jenes läuft zulezt auf den Schluß hinaus: daß etwas sey (was den lezten möglichen Zweck bestimt), weil etwas geschehen soll; dieses, daß etwas sey (was als oberste Ursache wirkt), weil etwas geschieht.Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen, (so wol extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, als auch protensive, der Dauer nach). Das practische Gesetz aus dem Bewegungsgrunde der Glückseligkeit nenne ich pragmatisch, (Klugheitsregel) dasienige aber, wofern ein solches ist, das zum Bewegungsgrunde nichts anderes hat, als die Würdigkeit, glücklich zu seyn, moralisch (Sittengesetz). Das erstere räth, was zu thun sey, wenn wir der Glückseligkeit wollen theilhaftig, das zweite gebietet, wie wir uns verhalten sollen, um nur der Glückseligkeit würdig zu werden. Das erstere gründet sich auf empirische Principien; denn anders, wie vermittelst der Erfahrung, kan ich weder wissen, welche Neigungen da sind, die befriedigt werden wollen, noch welches die Naturursachen sind, die ihre Befriedigung bewirken können. Das zweite abstrahirt von Neigungen und Naturmitteln, sie zu befriedigen und betrachtet nur die Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt und die nothwendige Bedingungen, unter denen sie allein mit der Austheilung der Glückseligkeit nach Principien zusammenstimt, und kan also wenigstens auf blossen Ideen der reinen Vernunft beruhen und a priori erkant werden.
| Ich nehme an: daß es wirklich reine moralische Gesetze gebe, die völlig a priori (ohne Rücksicht auf empirische Bewegungsgründe, d. i. Glückseligkeit) das Thun und Lassen, d. i. den Gebrauch der Freyheit eines vernünftigen Wesens überhaupt, bestimmen und daß diese Gesetze schlechterdings (nicht blos hypothetisch unter Voraussetzung anderer empirischen Zwecke) gebieten und also in aller Absicht nothwendig seyn. Diesen Satz kan ich mit Recht voraussetzen, nicht allein, indem ich mich auf die Beweise der aufgeklärtesten Moralisten, sondern auf das sittliche Urtheil eines ieden Menschen berufe, wenn er sich ein dergleichen Gesetz deutlich denken will.Ich nenne die Welt, so fern sie allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre, (wie sie es denn, nach der Freiheit der vernünftigen Wesen, seyn kan und, nach den nothwendigen Gesetzen der Sittlichkeit, seyn soll) eine moralische Welt. Diese wird so fern blos als intelligibele Welt gedacht, weil darin von allen Bedingungen (Zwecken) und selbst von allen Hindernissen der Moralität in derselben (Schwäche, oder Unlauterkeit der menschlichen Natur) abstrahirt wird. So fern ist sie also eine blosse, aber doch practische Idee, die wirklich ihren Einfluß auf die Sinnenwelt haben kan und soll, um sie dieser Idee so viel als möglich gemäß zu machen. Die Idee einer moralischen Welt hat daher obiective Realität, nicht als wenn sie auf einen Gegenstand einer intelligibelen Anschauung ginge (dergleichen wir uns gar nicht denken können), sondern auf die Sinnenwelt, aber als einen Gegenstand der reinen Vernunft in ihrem practischen Gebrauche und ein corpus mysticum der vernünftigen Wesen in ihr, so fern deren freie Willkühr unter moralischen Gesetzen sowol mit sich selbst, als mit iedes anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit an sich hat.
Das war die Beantwortung der ersten von denen zwey Fragen der reinen Vernunft, die das practische Interesse betrafen: Thue das, wodurch du würdig wirst,| glücklich zu seyn. Die zweite frägt nun: wie, wenn ich mich nun so verhalte, daß ich der Glückseligkeit nicht unwürdig sey, darf ich auch hoffen, ihrer dadurch theilhaftig werden zu können? Es komt bey der Beantwortung derselben darauf an, ob die Principien der reinen Vernunft, welche a priori das Gesetz vorschreiben, auch diese Hoffnung nothwendigerweise damit verknüpfen.Ich sage demnach: daß eben sowol, als die moralische Principien nach der Vernunft in ihrem practischen Gebrauche nothwendig seyn, eben so nothwendig sey es auch nach der Vernunft, in ihrem theoretischen anzunehmen, daß iederman die Glückseligkeit in demselben Maasse zu hoffen Ursache habe, als er sich derselben in seinem Verhalten würdig gemacht hat und daß also das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrenlich, aber nur in der Idee der reinen Vernunft verbunden sey.
Nun läßt sich in einer intelligibelen, d. i. der moralischen Welt, in deren Begriff wir von allen Hindernissen der Sittlichkeit (der Neigungen) abstrahiren, ein solches System der mit der Moralität verbundenen proportionirten Glückseligkeit auch als nothwendig denken, weil die durch sittliche Gesetze theils bewegte, theils restringirte Freiheit, selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftige Wesen also selbst, unter der Leitung solcher Principien, Urheber ihres eigenen und zugleich anderer dauerhaften Wolfarth seyn würden. Aber dieses System der sich selbst lohnenden Moralität ist nur| eine Idee, deren Ausführung auf der Bedingung beruht, daß iederman thue, was er soll, d. i. alle Handlungen vernünftiger Wesen so geschehen, als ob sie aus einem obersten Willen, der alle Privatwillkühr in sich, oder unter sich befaßt, entsprängen. Da aber die Verbindlichkeit aus dem moralischen Gesetze vor iedes besonderen Gebrauch der Freiheit gültig bleibt, wenn gleich andere diesem Gesetze sich nicht gemäß verhielten, so ist weder aus der Natur der Dinge der Welt, noch der Caussalität der Handlungen selbst und ihrem Verhältnisse zur Sittlichkeit bestimt, wie sich ihre Folgen zur Glückseligkeit verhalten werden, und die angeführte nothwendige Verknüpfung der Hoffnung, glücklich zu seyn, mit dem unablässigen Bestreben, sich der Glückseligkeit würdig zu machen, kan durch die Vernunft nicht erkant werden, wenn man blos Natur zum Grunde legt, sondern darf nur gehofft werden, wenn eine höchste Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet, zugleich als Ursache der Natur zum Grunde gelegt wird.Leibnitz nante die Welt, so fern man darin nur auf die vernünftige Wesen und ihren Zusammenhang nach moralischen Gesetzen unter der Regierung des höchsten Guts Acht hat, das Reich der Gnaden und unterschied es vom Reiche der Natur, da sie zwar unter moralischen Gesetzen stehen, aber keine andere Erfolge ihres Verhaltens erwarten, als nach dem Laufe der Natur unserer Sinnenwelt. Sich also im Reiche der Gnaden zu sehen, wo alle Glückseligkeit auf uns wartet, ausser so fern wir unsern Antheil an derselben durch die Unwürdigkeit, glücklich zu seyn, nicht selbst einschränken, ist eine practisch nothwendige Idee der Vernunft.
Practische Gesetze, so fern sie zugleich subiective Gründe der Handlungen, d. i. subiective Grundsätze werden, heissen Maximen. Die Beurtheilung der Sittlichkeit, ihrer Reinigkeit und Folgen nach, geschieht nach Ideen, die Befolgung ihrer Gesetze nach Maximen.
Es ist nothwendig, daß unser ganzer Lebenswandel sittlichen Maximen untergeordnet werde; es ist aber zugleich unmöglich, daß dieses geschehe, wenn die Vernunft nicht mit dem moralischen Gesetze, welches eine blosse Idee ist, eine wirkende Ursache verknüpft, welche dem Verhalten nach demselben einen unseren höchsten Zwecken genau entsprechenden Ausgang, es sey in diesem, oder einem anderen| Leben, bestimt. Ohne also einen Gott und eine vor uns iezt nicht sichtbare, aber gehoffte Welt, sind die herrliche Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung, weil sie nicht den ganzen Zweck, der einem ieden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft a priori bestimt und nothwendig ist, erfüllen.Glückseligkeit also, in dem genauen Ebenmaasse mit der Sittlichkeit der vernünftigen Wesen, dadurch sie derselben würdig seyn, macht allein das höchste Gut einer Welt aus, darin wir uns nach den Vorschriften der reinen aber practischen Vernunft durchaus versetzen müssen und welche freilich nur eine intelligibele Welt ist, da die Sinnenwelt uns von der Natur der Dinge dergleichen systematische Einheit der Zwecke nicht verheißt, deren Realität auch auf nichts anders gegründet werden kan, als auf die Voraussetzung eines höchsten ursprünglichen Guts, da selbstständige Vernunft, mit aller Zulänglichkeit einer obersten Ursache ausgerüstet, nach der vollkommensten Zweckmässigkeit die allgemeine, obgleich in der Sinnenwelt uns sehr verborgene Ordnung der Dinge gründet, erhält und vollführet.
Diese Moraltheologie hat nun den eigenthümlichen Vorzug vor der speculativen: daß sie unausbleiblich auf den Begriff eines einigen, allervollkommensten und vernünftigen Urwesens führet, worauf uns speculative Theologie nicht einmal aus obiectiven Gründen hinweiset, geschweige uns davon überzeugen konte. Denn, wir finden weder in der transscendentalen, noch natürlichen Theologie, so weit uns auch Vernunft darin führen mag, einigen bedeutenden Grund, nur ein einiges Wesen anzunehmen,| welches wir allen Naturursachen vorsetzen und von dem wir zugleich diese in allen Stücken abhängend zu machen, hinreichende Ursache hätten. Dagegen, wenn wir aus dem Gesichtspuncte der sittlichen Einheit, als einem nothwendigen Weltgesetze, die Ursache erwägen, die diesem allein den angemessenen Effect, mithin auch vor uns verbindende Kraft geben kan, so muß es ein einiger oberster Wille seyn, der alle diese Gesetze in sich befaßt. Denn, wie wolten wir unter verschiedenen Willen vollkommene Einheit der Zwecke finden? Dieser Wille muß allgewaltig seyn, damit die ganze Natur und deren Beziehung auf Sittlichkeit in der Welt ihm unterworfen sey, allwissend, damit er das Innerste der Gesinnungen und deren moralischen Werth erkenne, allgegenwärtig, damit er unmittelbar allem Bedürfnisse, welche das höchste Weltbeste erfodert, nahe sey, ewig, damit in keiner Zeit diese Uebereinstimmung der Natur und Freiheit ermangele, u. s. w.
Anmerkungen (Wikisource)
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