Das Gespenst (Gedicht, Gellert)
Ein Hauswirth, wie man mir erzählt,
Ward lange Zeit durch ein Gespenst gequält.
Er ließ, des Geists sich zu erwehren,
Sich heimlich das Verbannen lehren;
Der Geist entsetzte sich vor keinen Charakteren,
Und gab, in einem weissen Tuch,
Ihm alle Nächte den Besuch.
Ein Dichter zog in dieses Haus.
Bat sich des Dichters Zuspruch aus,
Und ließ sich seine Verse lesen.
Der Dichter las ein frostig Trauerspiel,
Das, wo nicht seinem Wirth, doch ihm sehr wohl gefiel.
Erschien, und hörte zu; es fieng ihn an zu schauern;
Er konnt es länger nicht, als einen Auftritt, dauern;
Denn, eh der andre kam, so war er nicht mehr da.
Der Wirth, von Hoffnung eingenommen,
Der Dichter las; der Geist erschien;
Doch ohne lange zu verziehn.
Gut! sprach der Wirth bey sich, dich will ich bald verjagen;
Kannst du die Verse nicht vertragen?
Sobald es zwölfe schlug, ließ das Gespenst sich blicken;
Johann! fieng drauf der Wirth gewaltig an zu schreyn,
Der Dichter (lauft geschwind!) soll von der Güte seyn,
Und mir sein Trauerspiel auf eine Stunde schicken.
Der Diener sollte ja nicht gehen.
Und kurz, der weisse Geist verschwand,
Und ließ sich niemals wieder sehen.
Ein jeder, der dieß Wunder liest,
Daß kein Gedicht so elend ist,
Das nicht zu etwas nützlich wäre.
Und wenn sich ein Gespenst vor schlechten Versen scheut:
So kann uns dieß zum großen Troste dienen.
Auch legionenweis erschienen:
So wird, um sich von allen zu befreyn,
An Versen doch kein Mangel seyn.
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