Das Gespenst der Menschheit

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Autor: Alfred Schirokauer
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Titel: Das Gespenst der Menschheit
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aus: Reclams Universum. Moderne Illustrierte Wochenschrift, 33. Jahrgang 1917, Seite 1011–1012
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Erscheinungsdatum: 1917
Verlag: Phillip Reclam jun.
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Erscheinungsort: Leipzig
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Das Gespenst der Menschheit.
Skizze von Alfred Schirokauer.

Das Trommelfeuer gewitterte über die ersten deutschen Stellungen. In den Unterständen geduckt, harrten die Kämpfer mit verbissenen Zähnen und blutleeren Lippen.

Da – eine jähe Pause durchschnitt das Getöse, wie hineingesetzt von einem ungeheueren Schwerte. Dann brach das Donnergeroll mit erneuter Wut los. Doch es war kein Trommelfeuer mehr, es war das Sperrfeuer, das hinter die ersten deutschen Linien gegen die Reserven gelegt wurde. Alles sprang auf, und schon gellten die Schreie der Wachtposten:

„Sie kommen – sie kommen!!“

Über die zerschmetterten, aufgewühlten Grabenreste stürzte alles zur Brustwehr. Von hinten drangen die Reserven heran, trotz Glut und Verderben.

Und da kamen sie auch schon. Schwarmlinien voran, dichter geschlossen dahinter die Sturmkolonnen in fünfzehn brandende Wellen gestaffelt. Das Schützenfeuer knatterte, Schrapnelle sprühten ihr Verhängnis. Dann waren sie im vordersten Graben. Spaten schmetterten nieder auf aufspritzende Schädel, Handgranaten bellten, Brownings zuckten blauweiß auf, Dolche stießen in weiches Fleisch. Unmenschliche Schreie gurgelten, sagendunkle Greuel wüteten.

Kurz war der Kampf. Die Eingedrungenen wurden niedergemacht. Der Gegenstoß folgte, warf den Feind zurück. Das Schnauben, Klirren und Stöhnen drängte sich nach vorn, in das gähnende Trichterfeld. –

Ernst Heßberg, der Dichter, lag im Graben. Das Sprengstück einer Handgranate war in das Knöchelgelenk gedrungen. Die Wunde blutete schmerzend. Er riß das Koppel vom Leibe und schnallte mit festem Griff die geborstene Arterie ab. Dann lag er still und horchte hinaus in den sich vorwärtswühlenden Kampf der dunklen Nacht.

Da regte sich etwas neben ihm. Ein Winseln kroch durch die tote Stille des Grabens. Heßberg hob sich auf dem Ellenbogen empor und tastete neben sich. Er griff in feuchte, klebrige Erde. Wußte, es war Blut. Er tastete weiter, faßte eine Tuchhose, unter der das Fleisch zuckte. Er riß die Taschenlampe vom Gürtel, schraubte sie an. Der blendende Strahl fiel in ein fahles Gesicht. Es war ein Franzose. Der Lichtkegel in Heßbergs Hand suchte die Verwundung. Schwarzes Blut sickerte unter dem Waffenrock aus dem Bund der Hose hervor. Ein Dolchstoß in die Eingeweide. Des Schmerzes im Fuße nicht achtend, beugte der Dichter sich über den Verwundeten.

„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte er.

Der Mann riß die Augen auf, der Mund verzerrte sich.

„Verfluchter deutscher Hund!“ flüsterte er. „Mörder!!“

Heßberg überhörte die Schmähung.

„Haben Sie Durst?“ fragte er und löste die Flasche vom Riemen.

Da sammelte der Franzose seine Kraft und stieß den Fuß mit dem schweren Stiefel dem Dichter in die Seite.

Der Schlag warf Heßberg zurück. Er taumelte und blieb auf der Seite liegen. Das Bein brannte, er fühlte die Ader zuckend pochen. Mit Anstrengung wälzte er sich auf den Rücken und suchte eine bequemere Lage für die schmerzende Wunde.

Über ihm klärte sich der Himmel, weiße Sterne blinkten. In ihm war ein weites Gefühl voll Weh. Und plötzlich wußte er, daß er das Gesicht des Franzosen schon einmal gesehen hatte. Wo? – wo? – grübelte er. Wo ist es mir begegnet?

Weiße Wolken jagten über den Mond, und plötzlich stand er rund und enthüllt am Himmel. Und da wußte Heßberg, wo er diesem Manne begegnet war.

Im November 1913 auf der Friedenstagung, die Grand-Chateret, der Pariser Journalist, veranstaltet hatte. Da waren sie aus Deutschland gekommen. Er und viele andere, und ein großes Festmahl hatte sie vereinigt mit Gelöbnissen und Handschlag, die deutschen und französischen Männer der Feder. Er hatte die deutsche Rede des Abends gehalten und der, der dort neben ihm lag mit zerfetzten Eingeweiden, der Dichter Frédéric Latour, hatte das französische offizielle Wort geführt. Vom Ausgleich aller Gegensätze zwischen den beiden großen Kulturnationen hatte er gesprochen und von dem Werte der persönlichen Bekanntschaft. Jetzt sähe man hinter den Werken die Menschen. Jetzt habe man Auge zu Auge, Seele zu Seele Fühlung genommen und nie mehr könnten sich untilgbare Feindseligkeiten zwischen den Männern eindrängen, [1012] die heute hier Freundschaft schlössen – zum Wohl und Verständnis ihrer Staaten. Denn nun wisse man auf beiden Seiten, wer jenseits der Vogesen wohne, und würde durch Aussprache Mann zu Mann und Herz zu Herz jedes Mißverständnis bannen können, wenn wieder einmal drohende Wolken am Lebenshorizonte der beiden großen Völker auftauchen sollten.

So etwa hatte Latour gesprochen, und auch Heßberg hatte ähnlichen Gedanken Worte geliehen.

Der Dichter bohrte die Zähne tief in die Lippen, der Fuß brannte qualvoll.

Ja, und dann hatte ihm Latour sein Drama „Ewige Liebe“ anvertraut. Er hatte es ins Deutsche übertragen. Wie lange das her war! – Unausdenkliche Zeiten! Im Winter 1913. Unausdenklich lange! Er sann und grübelte und horchte hinaus auf den Kampf, der sich immer weiter, auf die französischen Linien zu, entfernte.

Plötzlich riß ihn eine Bewegung des Verwundeten neben ihm aus dem Gleiten der Erinnerung. Er hob den Kopf. Da sah er, daß Latour sich aufgerichtet hatte und mit angst-irren Augen umherstarrte.

„Was ist?“ stieß Heßberg hervor.

Da fiel der Franzose vornüber gegen ihn und röchelte mit angsterstickter Kehle: „Bruder, ich sterbe. Laß mich dich fühlen – laß mich die Nähe eines Menschen fühlen! – Ich sterbe!“

Heßberg setzte sich aufrecht und streckte dem anderen die Hände entgegen. Latours schweißbedeckte heiße Finger klammerten sich an ihn. Die letzte Furcht der Kreatur vor dem einsamen Ende jammerte aus seinem Munde.

„Laß mich die Wärme eines Menschen fühlen!“

Heßberg rückte näher an ihn heran.

„Ich bleibe hier,“ flüsterte er auf französisch. „Seien Sie ruhig. Sie sterben nicht. Liegen Sie ganz still, jede Bewegung schadet Ihnen. Bald kommen die Sanitäter, ich sehe sie schon in den Gräben. Halten Sie still.“

Er befreite seine Hände und legte den Schwerverwundeten sanft auf den Rücken. Latour tastete wieder nach seinen Händen und umkrallte seine Finger.

„Ich sterbe,“ raunte er, „ich fühle es. Ah, ich habe mir den Tod anders gedacht! Oft habe ich mit Juliette davon gesprochen. In ihren Armen wollte ich sterben. Gut und lind sollte es sein – und ganz leicht.“

Der Mond fiel in sein bleiches Gesicht; es war still und verklärt. Plötzlich zuckte es wieder angstvoll.

„Bleib bei mir, Bruder! Verlaß mich nicht in der letzten Stunde!“

„Ich bleibe ja,“ besänftigte Heßberg, „liegen Sie still, sprechen Sie nicht.“

Der Franzose schloß die Augen, die Lider zuckten. – Stille war zwischen ihnen. Endlich sagte Heßberg leise: „Wissen Sie, wer ich bin?“

Der Franzose öffnete mühsam die Augen und starrte dem Manne in das Gesicht. Sacht schüttelte er den Kopf.

„Heßberg.“

Der Mann bewegte sich nicht. Nur seine Augen weiteten sich in Staunen.

„Heßberg!“ flüsterte er.

Der Dichter sagte: „Ja. Heßberg, der Ihre ‚Ewige Liebe‘ übersetzt hat.“

Der Franzose schloß wieder die Augen. „Seltsam“ – flüsterte er – „seltsam.“

Heßberg nickte. „Sehr seltsam, daß gerade wir beiden uns hier begegnen müssen unter den Millionen. Das Leben ist rätselvoll. Selbst durch Ströme von Blut geht es noch seine Märchenwege.“

Latour seufzte aus tiefster Brust.

„Ah,“ hauchte er, „wie gut, daß Sie bei mir sind! In Einsamkeit sterben, ist so schwer.“ Heftiger umkrallte er Heßbergs Finger. „Es ist leichter zu sterben, wenn eine verwandte Seele bei uns ist, Bruder. Mehr als Bruder sind Sie mir. Meine tiefsten Gedanken haben Sie ins Deutsche getragen. Mein größter Erfolg war in dem Theater in Berlin. Mein Freund, Ihre Landsleute haben mich besser verstanden als die Pariser. Für sie war ich zu dunkel und zu schwer. Nicht graziös geschliffen die Gedanken, zu wenig tändelnder Esprit, zu viel Gewicht. Aber die Deutschen, die haben mich verstanden.“

Da quoll es heiß in Heßberg auf. Barsch sagte er: „Und dennoch haben Sie den Unsinn, den der englische Staatsmann ausgesprochen hat, aufgegriffen und mit der starken Kraft Ihres Geistes zu begründen versucht. Ich habe den Artikel gelesen, in dem Sie vor einem Jahr im „Matin“ beweisen wollten, daß es das Menschengeschlecht - und die deutsche Rasse gibt.“

Der Franzose lockerte den Griff um Heßbergs Hände.

„Krankheit,“ flüsterte er, „Suggestion. Ein Wahnsinn ist über uns gekommen. Nebel fallen in dieser Stunde, in der alles Menschliche aufsteht. Vor dem Tode schweigt die Phrase. Vor dem Tode steht der Mensch, nackt und menschlich. Vor dem dunklen Tore werden wir alle zu armen liebesbangen Geschöpfen Gottes.“

„Sprechen Sie nicht so viel,“ warnte Heßberg. „Liegen Sie still.“

„Lassen Sie.“ Latour schüttelte den schweren Kopf. „Mit mir ist es vorbei. So viele Fragen starren mich an. Sagen Sie, warum müssen wir uns morden? Sie mich – ich Sie? Wird nie die Liebe in der Welt sein?“

„Das kommt wohl daher,“ erwiderte Heßberg traurig, „daß die Menschheit ein Teil ist des großen Alls. Dort geht die Entwicklung wohl jahrhundertelang langsam vorwärts. Aber es genügt der Natur nicht. Dann macht sie böse Sprünge, schmettert Katastrophen aufeinander: Sündflut, Erdbeben, Sturmfluten. So treibt sie es auch mit der Menschheit. Lange Entwicklungen in stillem Gleiten. Dann wird sie durch furchtbare Ereignisse gewaltsam vorwärts geworfen: Völkerwanderung, Hunnenzüge, grausige Kriege. Daß gerade wir in einer solch katastrophalen Zeit leben, ist unser schlimmes, vielleicht auch großes Menschenschicksal.“

„Vielleicht,“ stimmte der Franzose sinnend zu, „vielleicht haben Sie recht. Ja, ja, Sie haben recht. Denn lange, lange Jahre hindurch würden Völker sich nicht zerfleischen, nur weil einige Staatsmänner sie verführen.“

Er stützte sich auf die Ellbogen. Heßberg suchte ihn sacht zurückzudrängen, doch er flüsterte: „Wann – wann endlich wird der Mensch die dunkle Naturgewalt in sich überwinden?“

Er fiel zurück. Die große Frage stand grau in seinen weit aufgerissenen Augen.

Plötzlich, ehe Heßberg wußte, was geschah, hatte der todwunde Mann sich aufgerichtet, sich an der Wand des Grabens emporgetastet, sich mit Aufbietung seiner letzten Kraft über den niedergetrommelten Rand geschwungen und wankte mit weit ausgebreiteten Armen über das Trichterfeld, dem Brausen des Kampfes entgegen. Mit keuchenden Lungen schrie er in die Nacht hinaus: „Brüder – Brüder – laßt ab – laßt ab! – Mordet nicht! – Seid Menschen! – Seid endlich wieder Menschen der Liebe.“

Scharf zeichnete sich seine dunkle Silhouette gegen den mondhellen Himmel. Riesengroß. So schritt er wie ein ragendes Gespenst der Menschheit über das blutende Schlachtfeld mit warnend erhobenen, flehenden Armen.

Dann war er verschwunden. Ein Granattrichter hatte ihn verschlungen.

In der Ferne heulte das Morden. – – –