Das Vogelsberger Rind und seine Zucht/Landschläge

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Das Vogelsberger Rind und seine Zucht (1896)
von Erst Ludwig Leithiger
Das rote mitteldeutsche Landvieh


[1]
I. Die Landschläge und ihre Bedeutung für die Hebung der Viehzucht.

Der letzte Zweck bei den Bestrebungen zur Hebung der Viehzucht im Allgemeinen, und bei der Rinderviehzucht im Besonderen, geht dahin, ein Tier zu schaffen, welches unter Berücksichtigung gegebener wirtschaftlicher Verhältnisse, für eine bestimmte Futtermenge möglichst viel tierische Produkte (Milch, Fleisch, Wolle und Kraft) von bester Beschaffenheit hervorbringt. Es ist für die Rentabilität und somit auch für die Zukunft der Viehhaltung von größter Bedeutung, daß der einzelne Landwirt nur Tiere hält, welche zweifellos gute Futterverwerter sind, und daß er auch schon bei der Aufzucht die Gewähr hat, in dem herangezogene Nutz- und Zuchttier ein Tier zu erhalten, welches sicher ein guter Futterverwerter wird. Andernfalls würde er in den aufgewendeten Aufzuchtskosten schon von vornherein einen Teil derselben verloren haben.

Die Sicherheit nach der letzteren Richtung bietet die Vererbung, d. h. die Eigenschaft der Tiere, ihre ihnen innewohnenden Eigenschaften auf die Nachkommen zu übertragen. Die Vererbung wird um so sicherer, je mehr Vorfahren eines Tieres die gleichen Eigenschaften gehabt haben. Treten verschiedenartige Eigenschaften unter den Vorfahren eines Tieres auf, so weiß der Tierzüchter im Voraus niemals, welche Eigenschaften in der Nachzucht auftreten werden. Je gleichmäßigere Eigenschaften die Eltern, Großeltern, Urgroßeltern etc. gehabt haben, desto sicherer ist auch die Vererbung dieser Eigenschaften auf die Nachzucht und hierin liegt [2] die Begründung der Rassenzucht. Es wird heute kein vernünftiger Tierzüchter mehr, ohne die schwerwiegendsten Gründe, fremdes Blut in eine Rasse einführen, weil hierdurch die Sicherheit in der Vererbung im höchsten Grad in Frage gestellt wird. Alle die Versuche, durch Verschmelzung zweier Rassen ein besseres Nutztier mit sicherer Vererbung hervorzubringen, haben entweder nur in den Händen sehr gewandter Züchter Erfolg gehabt, oder sie haben viele Jahrzehnte gebraucht, ehe eine einigermaßen ausgeglichene, sicher vererbende, neue Rasse erzielt wurde. Zu den meisten Fällen aber sind die Bestrebungen vor Erreichung des Zieles aufgegeben, oder es sind andere Richtungen eingeschlagen worden. Auf die Zucht nach Leistung innerhalb der Rasse stützen sich daher heute alle Bestrebungen zur Hebung der Viehzucht.

Ein anderer sehr wesentlicher Gesichtspunkt für die Hebung der Viehzucht wird gewonnen, wenn man sich vergegenwärtigt, wie die Rassen und Schläge entstanden sind: Eine Anzahl Tiere derselben Gattung, in einem größeren oder kleineren Gebiet zusammenwohnend, sind gleichen oder mindestens ähnlichen Lebensbedingungen ausgesetzt gewesen. Die Ernährung ist eine ziemlich gleiche gewesen, die klimatischen Verhältnisse, das Leben im Stall und auf der Weide, die Pflege und die Gesichtspunkte, nach denen die Paarung von Seiten des Menschen beeinflußt wurde, sind gleiche oder ähnliche gewesen. Selbst die Bestandteile des Futters, sein Gehalt an Trockensubstanz und Mineralstoffen, sein Reichtum an Nährstoffen, die Neigung des Bodens: ob bergig, wellig oder eben, haben ihren Einfluß auf die inneren Eigenschaften und Formen der Rasse zur Geltung gebracht, ja sie haben geradezu jeder Rasse erst ihren besonderen Charakter aufgedrückt. Die Tier-Rassen und -Schläge sind also dadurch entstanden, daß eine Gruppe von Tieren derselben Gattung unter ähnlichen oder gleichen Verhältnissen lebte und sich diesen Verhältnissen angepaßt hat. Jede Änderung in den Lebensverhältnissen hat daher auch eine Änderung der Rasseeigentümlichkeiten, [3] wenn diese auch oft erst nach Generationen bemerkbar wird, im Gefolge. Allerdings übt heute der Landwirt als Züchter, durch Zuchtwahl und dadurch, daß er die Tiere zwingt, unter gewissen Verhältnissen zu leben, den größten und weitgehendsten Einfluß auf die Eigenschaften bezw. die Änderung derselben aus, aber die Einwirkung der Natur wird nie ganz beseitigt werden können. Selbst die hochgezüchteten Kulturrassen ändern ihre Eigenschaften, auch wenn Züchtung, Haltung und Pflege dieselben bleiben und nur die veränderten natürlichen Lebensbedingungen auf sie einwirken.

Die Anpassung der Rassen und Schläge einer Tiergattung an die gegebenen natürlichen Verhältnisse ist eine um so größere, je weniger der Mensch als Tierhalter züchtend eingreift, sie muß also bei den sogenannten Naturrassen die weitgehendste gewesen sein. Diese Anpassung hat aber auch zum Vorteil der Tiere selbst und zum Vorteil des Menschen als Tierhalter stattgefunden. So wurde das Tier widerstandsfähiger gegen ungünstige Witterungseinflüsse, oder konnte besonders günstige klimatische Verhältnisse durch höhere Leistungsfähigkeit ausnutzen; kärgliche Ernährungsverhältnisse machten die Tierrasse schließlich kleiner und bewirkten, daß das Tier bei geringeren Ansprüchen an das Erhaltungsfutter doch noch als Nutztier wertvoll blieb, während reichliche Ernährung die Rasse vergrößerte und so schließlich auch den Ertrag erhöhte. Rassen, welche in Ebenen leben, brauchen eine weniger tiefe und breite Brust, weniger kräftige Muskeln und starke Knochen wie Tiere, welche in bergigen Landstrichen wohnen. Ebenso paßt sich das Tier den wirtschaftlichen Bedürfnissen seines Halters an, bezüglich wird denselben durch die Zuchtwahl angepaßt. So haben sich Rassen und Schläge gebildet, die eine bestimmte Nutzung, sei sie in erster Linie Milchproduktion, Fleischproduktion oder Zug, oder mehrere gleichzeitig besaßen. Immer hat sich das Tier den gegebenen natürlichen Verhältnissen angepaßt und ist den Bedürfnissen des Menschen bei zweckentsprechender Zuchtwahl mehr und mehr entgegengekommen. [4] Die Landrassen und Schläge sind daher als das Produkt aus den in der Heimat der betreffenden Tiergruppe anzutreffenden Boden- und klimatischen Verhältnissen unter der Einwirkung der wirtschaftlichen Bedürfnisse der heimischen Landwirtschaft anzusehen. Sie bieten daher die sicherste und gesündeste Grundlage für die Hebung der Viehzucht der betreffenden Gegend. Sie ermöglichen es in kürzerer Zeit bei planmäßigen Züchtungsmaßnahmen einen ausgeglichenen Viehschlag hervorzubringen, weil in diesem Falle die Natur die Züchtungsbestrebungen des Menschen unterstützt. Die Vererbung ist eine sicherere, weil hier die Natur nicht in dem Maße auf Umformungen hindrängt, wie bei Rassen, die unter anderen Verhältnissen gelebt haben.

Es ist ja in den letzten Jahrzehnten, bis in die neueste Zeit herein förmlich Modesache gewesen, die Hebung der Viehzucht einer Gegend dadurch bewirken zu wollen, daß man mit anderen, meist allerdings leistungsfähigeren Rassen kreuzte, die aber ihrer Abstammung und ihrer Heimat nach ganz andere Eigenschaften besaßen, wie die zu verbessernde Rasse. Die erste Absicht war hierbei zumeist nicht eine Verdrängung der Landrasse; man wollte in den meisten Fällen nur eine „Blutzufuhr“, um die Leistungsfähigkeit, bezw. auch nur die Formen zu verbessern. Das Resultat war aber, daß die Nachzucht, bald bestehend aus den verschiedensten Kreuzungsgraden, nicht sicher vererbte. Jetzt drängte man auf weitere Einfuhr der fremden Rasse, um aus den Kreuzungsprodukten heraus eine neue Rasse zu züchten. Aber auch dieser Weg führte, wo die Zucht nicht in den Händen eines Einzelnen lag, nicht zum Ziele. Der ausgeglichene, einheitliche Charakter der Viehzucht der betreffenden Gegend war verloren, und um diesen Mischmasch endlich los zu werden, thaten manche Gegenden, die zur Landrasse nicht mehr zurück konnten, den letzten, allein richtigen Schritt: sie suchten das Blut der einheimischen Landrasse durch fortgesetzte Haltung [5] von Faseltieren[WS 1] neueren Rasse zu verdrängen. So haben große Gebiete neue Viehrassen bekommen, die der Landwirtschaft nicht zum Nachteil sein werden, wenn die neue Heimat in Bezug auf Klima, Boden- und wirtschaftliche Verhältnisse der alten Heimat möglichst ähnlich ist. Wo aber die neue Heimat in dieser Beziehung abweicht, wo man anderseits nicht in der Lage ist, die Haltungsverhältnisse so zu gestalten, wie sie das betreffende Tier in seiner Heimat gewohnt war, da drängen die Natur, unter Umständen auch die Züchtungs- und Haltungsverhältnisse die Rasse zu Abänderungen. Die Abänderungen bestehen aber nicht in Verbesserungen, sondern in Verschlechterungen, die Rasse geht zurück, sie degeneriert. Diese Degeneration kann alle Eigenschaften des Tieres betreffen: die Größe, die Formen der verschiedenen Teile des Körpers, die Stellung der Gliedmaßen, die Bildung des Kopfes, die Haut und vor allem auch die Leistungsfähigkeit. Ich habe wahrgenommen, daß z.B. Simmenthaler Vieh in 3 Generationen so degeneriert war, daß von den Eigenschaften des edlen Simmenthaler Rindes nur noch die Farbe der Haut und Schleimhäute übrig geblieben war. Will man dann eine solche Rasse, die man unter Lebensbedingungen gebracht hat, die von denjenigen der ursprünglichen Heimat mehr oder weniger abweichen, auf seiner Leistungsfähigkeit erhalten, sollen Größe und Formen nicht zurückgehen, so muß fortgesetzt Blut aus der ursprünglichen Heimat der neuen Rasse zugeführt werden. Das neue Zuchtgebiet bleibt vielleicht immer, bestenfalls Jahrzehnte lang abhängig von dem Heimatzuchtgebiet. In wirtschaftlicher Beziehung ist eine solche Abhängigkeit entschieden als ein großer Nachteil zu betrachten und es sollten sich daher Gegenden, die noch einen ausgesprochenen Landschlag haben, sehr reiflich überlegen, ob die Einfuhr fremden Blutes zur Hebung der Viehzucht von den erhofften Vorteilen begleitet sein wird.

Es ist eine weitere, sehr häufig beobachtete Erscheinung, daß bei Tiergattungen, auch bei Rassen und Schlägen, die in [6] andere Gegenden mit anderen Klima- und Bodenverhältnissen versetzt werden, auch die Widerstandsfähigkeit, besonders gegen Krankheiten vermindert wird. Besonders Lunge und Herz, also diejenigen Organe, die neben der Haut den natürlichen Einflüssen stets am meisten ausgesetzt sind, werden geschwächt, so daß sie Krankheiten, in erster Linie ansteckenden Krankheiten, dann weniger zu widerstehen vermögen. Nur so ist es zu erklären, daß manche Rinderrassen in andere Gegenden mit abweichenden Lebensbedingungen versetzt, der Tuberculose in erschreckendem Maße verfallen. Zu ähnlicher Weise verhält es sich mit der Fruchtbarkeit, die sehr häufig zurückgeht, wenn auch in dieser Beziehung beim Rind keine in die Augen fallenden Beispiele zu verzeichnen sind.

Das Streben, rasch eine Verbesserung unserer heimischen Viehrassen und -Schläge zu bewirken, ist in den meisten Fällen die Ursache gewesen, Kreuzungen mit fremden Rassen vorzunehmen. In großen Zuchtgebieten ist diese Kreuzung zunächst noch mehr oder weniger vereinzelt durchgeführt worden, so daß zwar eine große Anzahl Tiere des ursprünglichen Landviehes Blut der fremden Rasse in sich trägt. Man findet dann sehr häufig die Ansicht vertreten, daß die reine Landrasse ja gar nicht mehr vertreten sei und daß daher die Bestrebungen zur Wiederherstellung derselben ohne Aussicht auf Erfolg seien. Wo die Kreuzung schon einen gewissen Grad erreicht hat, da kann dieser Einwurf berechtigt sein. Wo aber die fremde Blutzufuhr eine verhältnismäßig noch geringe ist, da wird man dieses fremde Blut durch consequente Haltung reiner Vatertiere der einheimischen Rasse bald wieder verdrängen können. Die Hauptbedingung wird in diesem Falle nur sein, daß reinrassige Vatertiere beschafft werden können. Ist diese Möglichkeit gegeben, so steht der Wiederbelebung der ursprünglichen Rasse kein Bedenken entgegen.

Aus den vorstehenden Ausführungen dürfte hervorgehen, daß die Landrassen und Schläge die sicherste [7] Grundlage für die Hebung der heimischen Viehzucht darbieten, daß die Verbesserung zwar langsamer vor sich geht als wie durch Kreuzung, daß aber auch das erreichte Ziel von größerem Wert ist, vor Allem aber das Zuchtgebiet unabhängig von fremden Zuchtgebieten macht. Das Voigtländer, Vogelsberger, Harzer, Westerwälder, Wittgensteiner Vieh und ähnliche Schläge stellen noch solche wertvollen Landschläge dar, welche noch die Möglichkeit bieten, aus sich heraus verbessert und rein gezüchtet zu werden, und deshalb müssen alle Anstrengungen gemacht werden, sie zu erhalten und ihre Zuchtgebiete zu erweitern.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Faselvieh: zur Zucht bestimmtes Vieh (Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 2, Leipzig 1796, S. 51, Stichwort Faselvieh)
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