Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland/Dreiunddreißigstes Kapitel

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Zweiunddreißigstes Kapitel Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland
von Heinrich Ferdinand Steinmann
Die Rose in der Fremde
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Dreiunddreißigstes Kapitel.




Gegen Mitte des Monat Juli begab sich die Familie von K. auf ihr zweites Gut, wohin ich sie begleitete, weil meine Zeit noch nicht vorbei war. Das Wohnhaus war auch nicht schön, lag aber in einer prächtigen Waldgegend und war von reizenden Anlagen umgeben. Hier hoffte ich schöne Stunden zu verleben, das köstliche Rauschen der Bäume, der poetische Wald- und Erd-Duft, die liebliche smaragdene Dunkelheit der Gebüsche hatte mit einem Zauberschlage mein leicht bewegtes Herz von seinen Schmerzen geheilt und alle Nachtigallen darinnen wach gerufen. Ich wußte noch nicht, auf welche geniale Weise meine edle deutsche Frau mir die gehoffte Freude hier versalzen würde, sollte es aber schon einige Stunden nach unserer Ankunft erfahren. Man wies mir nämlich eine Dachstube als Schulzimmer und ein enges Stübchen daneben für Mathilde und mich zum Schlafgemache an, welches zwei Betten neben einander, aber nur einen Waschtisch und keinen Bettschirm und Spiegel enthielt, obwohl in der ersten Etage mehrere gut möblirte Zimmer unbenutzt waren. Hier verleitete mich meine Berufstreue und Schamhaftigkeit zu einer Uebereilung, indem ich der Frau von K. erklärte, daß ich nicht gewohnt sei, mit meinen Schülerinnen auf einem so vertrauten [351] Fuße zu leben, weil dadurch die zum erfolgreichen Unterrichte nothwendige Achtung sofort verloren gehe, und daher entschlossen sei, einer so anstandswidrigen Einrichtung mich nicht zu fügen. Ich sollte dafür empfindlichst gezüchtiget werden. Frau von K. bettete Mathilden sofort weg, allein schon in der nächsten Nacht sollte ich die Martern kennen lernen, welche Silvio Pellico unter den Bleidächern von Venedig ausstand. Nämlich unter den Zimmern der Dach-Etage war meines das einzige, welches der Mittags- und Nachmittags-Sonne ausgesetzt war, und diese brannte mit solcher Gewalt auf das ganz unverhüllte Fenster und das niedrige, flache Dach, daß mein Schlafgemach mehr einem Backofen glich. Hätte Mathilde es mit mir getheilt, so wäre uns unverzüglich Hülfe aus dieser Noth geworden, so aber beantwortete Frau von K. alle meine Klagen mit Achselzucken und Lächeln, ungeachtet ihre Kinder durch meine täglich acht Stunden dauernden Anstrengungen allbewunderte Fortschritte machten. Das Felsenherz dieser deutschen Edelfrau übertraf an Härte die Herzen der englischen Parvenus bei weitem, jedoch besaß ihr Haus den Vorzug, daß wenigstens kein Mangel zu erdulden war. Vor allem machten Nataliens musikalische Progressen allgemeines Aufsehen, denn obwohl noch kein Jahr verstrichen war, seit sie meinen Unterricht genoß, spielte sie doch schon allerliebst vierhändige Sachen mit mir, und man wird begreifen, wie zärtlich ich dieses süße kleine Wesen liebte, das unter meiner Hand sich in jeder Beziehung so vortheilhaft entfaltete. Als ich sie kennen lernte, war sie ein verzogenes, übelgelauntes Kind mit einem muffeligen Gesichtchen, jetzt das lenksamste, fröhlichste Geschöpf mit einem der freundlichsten Engelsköpfchen, die man sich denken kann, und in Ordnungsliebe, sonderlich in Reinlichkeit beschämte sie ihre Schwester Mathilde, wie in allen andern Tugenden.

Um einen Begriff von dem Bildungsgrade des dortigen Adels zu geben, muß ich noch eine Scene schildern. Wir waren eines Sonntags nach einem Städtchen gefahren, um dem Gottesdienste und der Kirchen-Musik beizuwohnen; außer den Töchtern des Hauses war noch ein armes, schmarotzendes Fräulein von der Parthie. Schon von weitem machte sich der viereckige, mit einem Säulen-Aufsatze gekrönte, von einem grünen, pavillon-artigen Dach überragte Thurm sichtbar, glich aber mehr einem Kiosk als einem Kirchthurm. Die Kirche jedoch war ein respectables Steingebäude, aber kein Kreuz im Grundrisse, zufolge einer Inschrift [352] i. J. 1516 gegründet, und zweimal erneuert. Ihr Aeußeres war ganz schmucklos und entbehrte gänzlich den Charakter der edeln Baustyle, das Innere bildete gleichsam zwei Theile, wovon der östliche den Altar, die Sakristei, mehrere Kapellen, Monumente und Votiv-Tafeln enthielt. Die Decke dieses Theils ist gewölbt und besteht aus Stuck-Reliefs, welche sehr bunt bemalte Arabesken bilden. Auf dem Altare standen Figuren, welche wahre Mißgeburten der Sculptur und Polychromie zu nennen waren, das Chor, dem Altare gegenüber, entsprach der Plumpheit des ganzen Gebäudes. Der westliche Theil der Kirche zerfiel durch zwei Säulen-Reihen, auf denen die horizontale Decke ruht, in drei Schiffe, von denen das mittelste das größte ist. Diese Säulen sind ganz glatt, mit grünen Weinranken bemalt und passen daher eher in einen Tempel des Bachus als in eine Kirche. Die Kanzel, welche an einer der Säulen angebracht ist, erscheint wie der gegenüber stehende Taufstein mit einer Menge grimassirter Farben, Roccoco-Köpfen, Goldklexen und sinnlosen Schnörkeln bedeckt, die Figuren lächerliche Monstra. Nach dem Concerte gesellte sich ein Herr v. Th. zu uns, Schmeichler in rohester Form, der, um eine Portion Essen von Frau v. K. zu erlangen, den Spucknapf geküßt hätte. Um ihr seinen pflichtschuldigen Haß gegen mich kund zu geben, spielte diese Blume des Adels den vollkommensten Lümmel gegen mich, weshalb ihm sämmtliche Damen, mein kleiner Engel ausgenommen, süßen Beifall zulächelten. Dieser Ritter von der traurigen Gestalt begann seine Großthaten damit, daß er vor mir ausspie! Dieser verkörperte Begriff des Knotenthums belustigte mich ungemein, denn jedes Wort aus seinem Munde bewies, daß sein Studium noch nicht den Bereich seines Düngerhaufens überschritten hatte. Schon die äußere Erscheinung des Herrn v. Th. war ein Heldengedicht auf den deutschen Adel: unter seinem breiten Kinn präsentirte sich über einer gelben Weste die Riesenschleife einer bunten Kravatte, an seinen Fäusten strahlten strohgelbe Handschuhe, und aus seiner Rocktasche baumelte eine halbe Elle lang ein geflammter Foulard, mittelst dessen Herr v. Th. den Leuten begreiflich machte, daß er wohl einen Thaler an sich wenden könne. Seine geniale Unterhaltung begann der außerordentliche Mann damit, daß er sich als Kenner der Geschichte und Architektur ankündigte, indem er pathetisch rief: Ist dies nicht eine prachtvolle gothische Kirche, meine gnädige Frau?

[353] „Eine wahre Perle der gothischen Bauart!“ seufzte mit Aufblick zum Himmel die gelehrte Edelfrau.

„Haben Sie je etwas so Herrliches gesehen, wie diese Bildhauerei und Malerei, gnädige Frau?“ rief der Kunstkenner emphatisch, indem er auf einige Thonfiguren mit lackirten Gesichtern zeigte, worunter ein negerartiger Krauskopf einen Christus vorstellen sollte, in der That aber ein Phantasiestück von Häßlichkeit war. Das lose Gewand dieser Figur ließ ein Bein sehen, das auf galoppirende Schwindsucht entschieden hindeutete, während die hochrothen Wangen mit den breiten Backenknochen und ein zum Lachen verzogener Mund eher einen zchechischen Bauer als einen Christus vermuthen ließen.

„Prachtvoll, prachtvoll, echt mittelalterlich!“ flötete die gnädige Frau, indem sie mir einen Blick voll triumphirenden Selbstbewußtseins zuwarf, die ich doch über dieses Gespräch zwischen einem Narren und einer Närrin mir fast die Lippen abbeißen mußte, um nicht in ein olympisches Gelächter ausbrechen zu müssen.

„O, sehen Sie um Gottes willen diese imposanten Verzierungen,“ krächzte mit verdrehten Augen der Sohn des Feldes, auf die Roccoco-Grimassen mit seinen Cyclopen-Fäusten deutend, an denen der kleine Finger so groß wie eine mittelmäßige Gurke war. Er kam mir vor wie ein babylonischer Thurm der Narrheit, der mit seiner Schellenkappe in den blauen Aether hinein ragt.

„So etwas sieht man heut zu Tage gar nicht mehr, versicherte die Gnädige, indem sie das Haupt so hoch empor hob, als wolle sie mit der Nasenspitze an die Sterne tippen. So etwas konnten blos die Gothen hervorbringen! ach, die Gothen waren doch unnachahmliche Künstler, niemand hat die Gothen jemals wieder erreicht.“

Jetzt entdeckte der neue Winkelmann ein buntes, aus Holz geschnitztes Marienbild und andere Figuren, wahre Hermen-Säulen, die durch ihre wahrhaft furchtbare Häßlichkeit Grauen einflößen konnten; aber die Nerven dieses Naturmenschen waren wie Schiffstaue, unzerreißbar. – Statt Schrecken empfand er Behagen, ja Wonne, denn er schrie jubelnd: „Gnädige Frau, gnädige Frau, sehen Sie einmal diese einzigen Bildnereien aus dem Mittelalter, wenigstens aus dem zwölften Jahrhundert!“

„O, sehen Sie, tieffühlender Mann, diesen echten Madonnenblick, wimmerte die Gnädige, spricht sich darin nicht die Hoheit der Himmelskönigin, [354] die Seelenpein der schmerzenreichen Mutter, göttliche Liebe zu den sündigen Menschen aus?“

Die Begeisterung dieser tiefdenkenden Alterthumsforscher dauerte noch lange fort, aber natürlich ließen sich diese hochadeligen Archäologen nicht so tief herab, ein Wort an die subordinirte Person der Gouvernante zu richten. Erst auf dem Heimwege redete mich die große Gelehrte mit vornehmer Herablassung also an: „Nun, hätten Sie wohl erwartet, in der kleinen Stadt eine prächtige gothische Kirche zu finden?“

Nun war die Zeit des Vornehmthuns an mir, und ich sagte mit dem Tone unendlicher Ueberlegenheit: „Von welcher gothischen Kirche sprechen Sie?“

Die Hochgelahrten sahen sich spöttisch lächelnd an und die Gnädige sagte mit Erbarmen: „Nun, hören Sie aufmerksam an, daß man die Bauart jener Kirche, in der wir heute waren, die gothische Bauart oder den gothischen Styl nennt.“

„Davon habe ich allerdings schon gehört, erwiederte ich, allein nach meinen Begriffen hat jene Kirche gar nichts von Gothik an sich, nicht einmal den Grundriß.“

Frau v. K. lächelte mitleidsvoll, auch ein armes Fräulein suchte auf ihrem abgehungerten Gesicht etwas von einem spöttischen Grinsen zu erzielen, allein, da sie das ganze Jahr hindurch nur das Lächeln des Bettlers übte, so mißlang ihr der kühne Versuch jämmerlich. Herr v. Th., der sich der gnädigen Frau auf eine eclatante Weise gefällig zeigen wollte, stellte die alte Erzählung vom Eselsgeschrei sehr gelungen dar, denn sein Lachen glich Grauchens melodischen Tönen vollkommen.

Frau v. K. sagte mit etwas ungewisser Stimme: „Wahrscheinlich haben Sie noch keine gothische Kirche gesehen?“ und sah verlegen lächelnd nach dem hungrigen Echo hin, was sofort ebenfalls lächelte.

Mit erzwungenem Ernste stellte ich die Gegenfrage: „Wo sind denn die durchbrochenen, himmelanstrebenden Thürme? die dünnen hohen Strebepfeiler? die auf Pfeilern ruhenden Spitzbogen, das Wölbdach, die hohen Spitzbogenfenster mit Glasmalerei, das römische Kreuz im Grundrisse? Wer überhaupt nur einen Begriff von Architektur hat, weiß doch, daß dieses die Hauptmerkmale der Gothik sind, des Laub-, Pflanzen- und Blätterwerkes an den Wänden und anderer Kennzeichen zu geschweigen.“

Die gnädige Frau wurde sehr ungnädig und sagte zorn- oder [355] schamglühend: „Diese finden sich nur bei neueren Bauten, die alten Gothen wußten nichts davon.“

Das hungernde Echo und die Feldgottheit sahen Frau v. K. verdutzt an, als ich bestimmt und fest sagte: „Diese Kirche ist vielmehr der Typus des verdorbenen Geschmackes, welcher sich gegen das Ende des funfzehnten Jahrhunderts in Deutschland bildete, und ist mehr komisch als schön zu nennen.“

Die zwei gelehrten Damen lachten laut auf, der Landbauer guckte zweifelhaft bald hierhin, bald dorthin, denn er merkte jetzt, daß er eine verlorene Sache habe vertreten helfen. Ich gönnte den Armseligen die kleine Züchtigung und machte sie dadurch vollständig, daß ich zu Frau v. K. sagte: „Ich habe Sie auf die Gründungs-Jahreszahl 1516 aufmerksam gemacht, die Kirche kann also weder aus den grauen Zeiten der Gothen, noch aus dem Mittelalter stammen, sondern sie stammt sonnenklar aus dem Anfange des 16. Jahrhunderts.“

Jetzt schwiegen sie alle, denn sie hatten die Zahl 1516 offenbar nicht verstanden, weil eine lateinische Inschrift das Weitere mittheilte, und merkten bei aller ihrer grenzenlosen Anmaßung und Dummheit doch, daß sie sich compromittirt hatten. Natürlich dachten sie auch gleich auf Rache, allein da ich baldige Erlösung zu hoffen hatte, so fürchtete ich diese nicht mehr.

Eines Tages sah mich Mathilde einige Briefe versiegeln und fragte sogleich mit der ihr eigenen Keckheit: „An wen schreiben Sie denn da?“

Als ich ihr diese zudringliche Neugierde verwies, sagte Mathilde trotzig: „Wenn Sie mir die Adresse nicht gutwillig nennen, so werden wir schon Mittel finden, sie zu erfahren,“ und entfernte sich mit einem boshaften Lachen. Sollte man es wohl für möglich halten, daß adelige Leute, die in der Oeffentlichkeit die distinguirtesten und feinsten Formen entwickeln, in der Abgeschiedenheit den proletarischen sich mit Vorliebe hingeben? – Ich trug Nachmittags die Briefe persönlich auf das Postamt und hoffte, dadurch die unziemliche Neugierde meiner Prinzipalität zu überflügeln; ich sah aber zu meiner Verwunderung auf dem Rückwege die Equipage der Gutsherrschaft in’s Schloß fahren, und Mathilde sagte mir Abends mit Triumph, daß Mama sich beim Postmeister nach der Adresse meiner Briefe erkundigt und sie erfahren habe. Ich konnte nicht begreifen, weshalb man auf diese unbedeutenden Dinge so vielen Werth lege und sich darüber so große Blößen gebe, da man doch sonst [356] nur für Hofgunst und eine billige Popularität Sinn zeigte. Namentlich dieser letzteren wurde eifrig nachgegangen, denn unter dieser Aegide läßt sich Vieles treiben, was ohne sie Ansehen und den guten Namen zerstören könnte.

Endlich war die Zeit meiner Leiden vorbei, und mit Thränen begrüßte ich den Tag, der mich der Freiheit wiedergeben sollte. – Wir waren auf das Hauptgut gegen Ende des August zurückgekehrt, Michaelis war nach bangem Harren erschienen, ich traf entzückt meine Anstalten zur Abreise, nur der Gedanke an meine geliebte Natalie entlockte mir Thränen des Kummers. Ich forderte von dem Weibe, welches mir den Aufenthalt in ihrem Hause zur Hölle gemacht hatte, getrost ein Zeugniß, denn der Muth des guten Gewissens ist ein starker Held, auch hatte er mich nicht getäuscht, denn am Tage vor meiner Abreise überreichte mir Frau v. K. nicht ohne eine gewisse Verlegenheit ein ehrenvolles Testimonium, welches ich meinen Lesern aus ganz naheliegenden Gründen nicht wörtlich mittheile.

Am Tage vor meiner Abreise nahm die gefühlvolle sinnige Natalie aus eigenem Antriebe einen zärtlichen und rührenden Abschied von mir, weil sie wußte, daß ich ganz früh am nächsten Morgen abreisen wollte. Die Trennung von diesem theuren Kinde wurde mir sehr schwer, denn in ihm waren bisher alle meine Freuden und Hoffnungen concentrirt gewesen.

Wohl dem, der mit Zufriedenheit auf sein Leben und Wirken zurückblicken kann und sich eines höheren Beifalls als des der Menschen bewußt ist! sein Herz ist ruhig, sein Schlummer süß, mit Freuden blickt er der Zukunft entgegen, denn er weiß, daß, die mit Thränen säen, mit Freuden ernten werden und ihre Garben mitbringen. Wohl dem, der die Tugend um ihrer selbst willen übt, ihm wird sie die Schläfe mit Lorbeeren bekränzen und ihn über Schicksal und Menschen erhöhen.