Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland/Drittes Kapitel

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Zweites Kapitel Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland
von Heinrich Ferdinand Steinmann
Viertes Kapitel
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Drittes Kapitel.




Ich eilte nach Hause, packte meinen Koffer, schrieb an meinen Vater, und während ich so emsig beschäftigt war, brachte ein Mann einen Brief mit meiner Adresse, versicherte, den Schreiber nicht zu kennen und entfernte sich. Den Brief öffnend, fand ich eine Summe in Papieren mit der Aufschrift: A la pieté filiale als ganzen Inhalt. Ich vermuthete in Karl den Absender, allein bei seiner Ankunft versicherte er, daß er von nichts wisse, er erblicke aber bei der Außerordentlichkeit meines Schicksals darin gar nichts Auffallendes, vielmehr würde er sich wundern, wenn mir einmal ein Tag in gewöhnlichem Geleise verstriche. Es lag etwas außerordentlich Feierliches in Karls edeln bleichen Zügen, in seinen Augen standen Thränen. Es war etwas Unaussprechliches in unserem idealen Verhältniß, das[WS 1] wir nie zu erörtern versucht hatten; es lag wie ein stummes Räthsel vor uns, auch jetzt noch war der Oedipus nicht vorhanden, der es lösen konnte. Karl steckte mir einen Ring mit den Worten an den Finger: „Er erinnere Sie an die reinste Liebe, die je ein Jüngling für das Ideal seines Herzens empfand.“ Hierauf entfernte er sich rasch, um mich am andern Morgen zur Post zu begleiten. Ich fuhr mit Extrapost in einem Wagen allein; Karl stand in tiefstem Ernste neben mir, als ich einstieg. Da brach ein Thränenstrom aus seinen Augen, er drückte mich zum ersten Mal in seine Arme, hob mich halb bewußtlos in den Wagen; ich sank vernichtet auf den Rücksitz in lautes Schluchzen ausbrechend. Wir haben uns niemals wiedergesehen und zu spät erkannt, was wir uns waren. Karls Briefe blieben plötzlich aus, ich glaubte ihn seinem Uebel erlegen. Er war der hochherzigste Mensch, den ich auf meinem Lebenswege traf; – es wird die Periode seines Umganges zu dem schönsten Inhalte meines Daseins gehören und der Gedanke mein Stolz bleiben, von diesem herrlichen Jüngling geliebt worden zu sein.

Meine poetischen Phantasieen wurden zwischen Gent und Ostende, der letzten Station, auf eine prosaisch unerquickliche Weise unterbrochen, oder vielmehr zerbrochen, denn der Wagen brach zusammen und fiel vollständig um, so daß ich wie durch ein Wunder der Vorsehung unbeschädigt blieb. So mußte ich ein paar Stunden ganz allein, mitten in [18] der Nacht auf der Heerstraße neben der zermalmten Postschnecke auf und ab gehen, um mich zu erwärmen, denn hineinzukriechen war unmöglich. Der Gedanke an die Möglichkeit, beraubt zu werden, die Furcht vor persönlichem Schaden quälten mich gleichmäßig und mehr als einmal lauschte ich mit Todesangst den Fußtritten einiger Wanderer und betete inbrünstig um Errettung aus dieser Gefahr. Endlich, gerade als mehrere Männer mich anredeten, hörte ich das Knallen einer Peitsche und das Rollen eines Wagens. Bald nachher rollte ich in einer neuen Postchaise dahin, der Ermattung erliegend. Ich mochte wohl ein paar Stunden geschlafen haben, als ich erwachte und zu meiner Freude von der aufgehenden Sonne begrüßt wurde. Weit bog ich mich aus dem Wagen, um das schöne Naturschauspiel recht zu genießen, während sich mein Geist in Betrachtungen erging über die poetischen Bezeichnungen des Psalmisten, der die Sonne mit einem Bräutigam vergleicht, der seiner Braut entgegengeht, dann mit einem Helden, der seine Bahn läuft. Jetzt gingen alle zahllosen Wölkchen, gekräuseltem Silber gleichend, plötzlich in den prachtvollsten Purpur über, und ich dachte unwillkürlich an die edle Poesie der Griechen, welche die Morgenröthe einer Jungfrau vergleicht, die das Thor des Himmels mit rosigen Fingern öffnet. Während ich in diesem Genusse schwelgte, bot sich meinen Blicken links schon ein neues Schauspiel von unendlicher Erhabenheit: das Meer wogte in einiger Entfernung wie eine ungeheure Kristallkugel und schillerte all die Pracht des Himmels in tausend und tausend Lichtern und Flammen zurück. Das Meer besitzt allein die Eigenschaft unter allen Werken der Natur, der Seele eine Ahnung der Allmacht und Ewigkeit zu geben, oder vielmehr diese zwei höchsten und letzten Begriffe zu verbildlichen. Hier schweigen plötzlich alle Gefühle, auch die stürmischsten, vor dem Bilde des Göttlichen, und es wird uns wie in einem vorüberzischenden Blitze deutlich, daß unser Geist ein Funken des Weltgeistes ist und sich sehnet, in diesen zurückzukehren.

In dieser gehobenen Stimmung erreichte ich Ostende und das Hôtel, das unser Einigungspunkt war. Die Geschwister H. empfingen mich mit sichtbarer Freude, denn beide hatten gefürchtet, daß ich gar nicht kommen würde, weil ihnen Herr R… Karls Aeußerungen mitgetheilt hatte. Herr H., der doch jedenfalls mein bevorstehendes Loos voraus kannte, hatte die englische Kühnheit, mit bitterer Ironie zu bemerken: [19] daß das Vertrauen in Betreff meiner Lage wohl auf größere Hindernisse gestoßen sei, als dies in der ihrigen der Fall sein könne.

„Ich bin zwar noch sehr jung, antwortete ich ruhig, aber ich habe dennoch schon in Erfahrung gebracht, daß man in jeder Lage gut und schlecht sein kann, und daß nicht diese, sondern unser Charakter unsere Handlungsweise bestimmt.“

Unsere Ueberfahrt war eine sehr stürmische. In Dover blieben wir zwei Tage, die zu meinen glücklichsten in England gehören; den Weg nach London legten wir mit Eilpost zurück. Dies bot mir Gelegenheit, die herrliche Gegend zu bewundern: überall begegneten dem Auge geschmackvolle Villen mit reizenden Gärten, malerische Dörfer mit idyllischen Hütten, an welchen sich Geländer mit Monatsrosen emporzogen und sich über dem vorspringenden Portale durchschlangen. Alles trägt hier einen weit romantischeren Charakter als bei uns, wo die arbeitende Klasse sich meist noch auf den Besitz des Nöthigen beschränkt.

Ich war verwundert, in Frau H. eine noch sehr schöne Dame zu finden, welche fast jünger schien als ihre Tochter, die durch Kränklichkeit vor der Zeit verblüht war. Aber schon der erste Eindruck, den sie auf mich machte, hätte mir mein Loos weissagen können, denn sie empfing mich kalt und stolz. Man wies mir ein kleines Zimmerchen nach dem Hofe, wie einer Magd, an, von wo ich die dampfenden Schüsseln vorübertragen sah, die man bald nach unserer Ankunft der Familie servirte, während man mir etwas Thee und Butterbrot vorsetzte, ungeachtet man mir keinen Mittag auf der Reise angeboten hatte. Dies ließ mich einen ziemlich tiefen Blick in den Charakter meiner neuen Gebieterin thun, und ich dachte mit klopfendem Herzen an die Warnungen meines jungen Freundes.

Am anderen Morgen sagte mir Fräulein H., nachdem ich ein ähnliches Frühstück genossen, daß man ausfahre, um Einkäufe zu machen, und mir freistehe, mitzufahren, was ich dankbar annahm. Welches Erstaunen, welche Bewunderung bemächtigte sich meiner, als ich durch die breiten, regelmäßigen Straßen fuhr und die edeln Paläste, Plätze, Monumente, Obelisken, Statuen, Kirchen und andere architektonische Wunder erblickte, welche hier dem Auge überall begegnen. Diese fabelhafte Großartigkeit, die Erhabenheit der Ideen und die Ausführung derselben, welche sich überall bekundet, erfüllte mich mit einer tiefen Ehrfurcht. Gewiß, es ist ein großes, edles Volk, dachte ich, indem ich mich meinen [20] Betrachtungen ganz hingab. Man darf es nicht nach den bankerotten, großthuigen, schäbigen Briten bemessen, die, nachdem sie zu Hause fertig sind, das Festland demoralisirend überschwemmen und die größten Schelmereien mit einer Würde, mit einem Schick ausführen, der so zu sagen eine Glorie um die Gaunerei verbreitet. In der City war das Gedränge von Wagen, Reitern und Fußgängern so groß, daß wir oft lange halten mußten. Cheapside bildete schon damals an beiden Seiten eine ununterbrochene Reihe von Spiegelscheiben, die man auf dem Continente an den Kaufläden fast noch nicht kannte, hinter welchen alle Produkte der Welt ausgestellt waren. Niemand, der London sah, wird dem Ausspruch unseres göttlichen Schiller widersprechen, daß es der Markt der Welt ist. Indeß ist der Eindruck, welchen dieses Wogen und Treiben der Menschen, diese Hast und Spannung in den Mienen hervorbringt, keinesweges ein wohlthuender, weil sie eine zu starke Gährung der Leidenschaften voraussetzen lassen, als daß man nicht auch die gefährlichsten Explosionen und Reibungen befürchten sollte. Und diese überschroffen Gegensätze, die einem überall begegnen! Ueberall gebückte Greise in Lumpen gehüllt, halbnackte Kinder, mit hohlen Augen bettelnd, auf allen Kreuzwegen und besuchten Straßen elende Krüppel und verhungerte Bettler, die ihre abgemagerten Hände den Vorübergehenden bittend entgegen strecken und lieber sterben, als in die „Schlachthäuser" gehen.

Da mir mein Vater einen Empfehlungsbrief von dem einen der beiden gefeierten altlutherischen Sectirer in D**, dem Diakon Mag. L., an den Geistlichen der Lutherischen Kirche in London, Dr. Steinkopf, verschafft hatte, so beschloß ich, denselben aufzusuchen, in der Hoffnung, einen Rathgeber an ihm zu finden. Weil Mistreß H. mir die Erlaubniß dazu unter allerlei Vorwänden verweigerte, so benutzte ich die Abwesenheit der Herrschaft bei einem Diner und begab mich in einem Miethwagen nach der Wohnung des Geistlichen. Nachdem ich angenommen war, folgte ich der englischen Dienerin nach dem Büchersaale, übergab ihr den Brief und wartete des Bescheides. Endlich erschien Dr. Steinkopf, das Schreiben in der Hand haltend; er empfing mich sehr höflich und nachdem wir einander gegenüber Platz genommen hatten, fragte er mich, ob er mich unter die persönlichen Bekannten L's. zu zählen habe? Ich erwiederte, daß ich denselben nur habe predigen hören und daß ich den Brief vor sechs Monaten durch meinen Vater erhalten hätte.

[21] „Dann wissen Sie wohl nicht, daß L. kürzlich vom Amte suspendirt worden ist?"

Ich hätte eher den Einsturz des Himmels erwartet, als ein solches Ereigniß, und stammelte nach längerem Schweigen ein leises Nein nebst einer Frage nach dem Warum. Steinkopf zuckte verdrießlich mit den Achseln und fing an, mich über meine Stellung zu befragen. Ich erzählte ihm meine Erlebnisse und daß ich auch jetzt mich nicht glücklich fühle, er gab mir viele gute Lehren, schenkte mir ein paar religiöse Bücher und rieth mir, so lange als möglich bei Mistreß H. auszuhalten und mir ihre Zufriedenheit zu erwerben, weil ohne ihre Empfehlung mein Fortkommen in England unmöglich sei.

Jetzt trat einer jener tragikomischen Entscheidungsmomente ein, die nach meiner Erfahrung denjenigen, der sie erlebt, überzeugen sollten, daß er von einem höhnischen Schicksale zum Spielballe grausamer Launen erkoren ist, wenn ich dies auch mit meiner religiösen Ansicht nicht zu vereinigen weiß. Wer weiß aber auch jenes schreckliche 9. Kapitel des Römerbriefes mit der übrigen christlichen Lehre zu vereinigen? und doch bleibe ich im Glauben und denke mit einem anderen Spruche Pauli: „Nehmt die Vernunft gefangen unter den Gehorsam Christi!" – Da ich wußte, daß Dr. Steinkopf mit dem zweiten D**ner Heiligen, dem Pastor St., den wir als ein Ideal aller Vollkommenheit verehrten, bekannt war und mir an seinem Vertrauen unendlich viel lag, so berief ich mich auf Jenen, als auf meinen Beichtvater. Steinkopf blickte mich eine Weile verwundert an und sagte dann in einem ernsten und nachdrücklichen Tone: „Auch dieses kann nicht zu Ihrer Empfehlung gereichen, denn auch Pastor St. hat sich schwerer Vergehen schuldig gemacht und ist nach Amerika geflüchtet."

Mir war zu Muthe wie einem Stürzenden, der die letzte Stütze brechen fühlt, an die er sich klammerte, denn ich empfand, daß ich unter den ungünstigsten Vorbedeutungen debütirte, und nur mein reines Bewußtsein und mein unerschütterlicher Glaube an Gott konnten mich aufrecht erhalten. „Ja, sagte ich endlich, als ich mich von meinem Schrecken erholt hatte, wenn Geistliche so handeln, dann ist es kein Wunder, wenn Treue, Glaube und Vertrauen unter der Menschheit verschwinden!" – Dr. Steinkopf schien schmerzlich berührt, verwies mich schließlich an Gott als den Vater aller Verlassenen, und hiermit endete diese Unterredung. Da ich des Weges unkundig war, so miethete ich wieder einen [22] Lohnwagen und fuhr nach Hause, wo ich lange vor der Rückkehr der Familie ankam; ich hatte daher Zeit, das ungünstige Zusammenwirken verhängnißvoller Umstände und die Trostlosigkeit meiner Lage zu überdenken und zu beweinen, denn ich hatte schon in den wenigen Tagen, die ich bei H’s. war, die kränkendste Behandlung und die unerträglichsten Entbehrungen erduldet.

Als Frau H. nach Hause kam, hatten ihr die Dienstleute sogleich erzählt, daß ich ausgewesen war, worüber sie in entsetzliche Wuth gerieth und mich auf das gemeinste schmähete und schimpfte. Ich beklagte mich mit Thränen gegen ihre Tochter über dieses Verfahren, allein sie gab mir keine Antwort, sondern seufzte nur bedeutungsvoll.

Ungefähr acht Tage nach unserer Ankunft in London ging die Familie auf einen ihrer Landsitze, B… W… in Herfordshire. Hier machte ich die Bekanntschaft meiner Zöglinge, von denen der älteste ein Knabe, Namens Stuart, eben so roh und unbändig, wie seine Schwester Oriana lenksam und liebenswürdig war. Ihre westindische Bonne Mary B… , eine Mulattin, erzählte mir, daß ihre Gebieterin, die Frau Doctor M… in Trinidad, sie durch vieles Bitten bewogen habe, die Kinder zur Großmutter nach England zu bringen, daß man ihr Rückkehr mit dem nächsten Schiffe und den fortlaufenden Gehalt, den sie bei Doctor M… bezogen, zugesagt habe. Nichtsdestoweniger hatte sie Mistreß H. unter allerlei Vorwänden zurückgehalten, ohne ihr auch nur einen Penny in dieser langen Zeit zu geben; im Gegentheil hatte sie fast ihre ganze mitgebrachte Baarschaft für die allernöthigsten Lebensbedürfnisse ausgegeben. Sie versicherte, daß das hiesige Klima sie den Winter nicht überleben lasse und somit der eigentliche Zweck der Frau H. erreicht sei. – Wirklich war Mary ein Bild der Verzehrung, und ihr Anblick, wie das schmerzliche Schluchzen, unter welchem sie mir ihr Schicksal in Creol-Französisch erzählte, erfüllte mich mit dem tiefsten Mitleiden. Wir gelobten einander treue Freundschaft in unsern gemeinschaftlichen Leiden, und fanden einen Trost darin, einen Gefährten zu haben – solatium est miseris socios habuise malorum!

Frau H's. Wunsche gemäß mußte ich die Kinder während einiger Stunden des Tages unterrichten, aber ihre Unarten durfte ich ihnen nicht untersagen, ohne daß jene würdige Großmutter mich darüber ganz wüthend zur Rede stellte; die Kinder mußten nach ihr gerathen. Sie scheute sich nicht, Zofendienste von mir zu verlangen und überhäufte mich [23] dermaßen mit Arbeit, daß ich nie vor Mitternacht, ja oftmals nicht vor drei Uhr Morgens zu Bette gehen konnte. Dabei erhielt ich und Mary eine unzureichende Menge nahrloser, oft verdorbener Speisen, während sie die eingeborene Dienerschaft nicht zu verkürzen wagte. Hatten wir uns für unsere wenigen Penny einen Hering oder sonst eine Kleinigkeit beschafft, so warf sie es augenblicklich aus dem Fenster. Als sie mich eines Tages bei einem Töpfchen Milch ertappte, nahm sie mir es mit den Worten: „Wie dürfen Sie sich unterstehen, meinen Schweinen die Milch wegzutrinken?" – Mary konnte ihre Rückreise nicht durchsetzen, dieser Teufel von Weibe fertigte das arme Kind mit Vertröstungen und Drohungen von einem Tage zum andern ab. Und doch war dieses ganz entsittete Weib die sehr angesehene Mistreß H.! O Welt, o Menschen! So wurden in England zwei Erzieherinnen von einer sehr geachteten Familie gemißhandelt, weil es ungestraft geschehen konnte. So kam der Winter heran, der der Familie täglich neue Freuden, uns Beiden nur Beschwerden brachte, bis wir das Bett nicht mehr verlassen konnten. Frau H. erschien selbst mit ihrem Arzt an unserem Lager, damit wir nicht unbeachtet mit ihm sprechen konnten; aber auch der Arzt nahm sich wohl in Acht, ihr in irgend einer Weise durch Fragen oder Anordnungen mißfällig zu werden. Er half uns nothdürftig wieder auf die Füße, ohne uns gründlich zu heilen, Mary behielt die Abzehrung, ich die Bleichsucht, unser Ansehen flößte Schrecken und Mitleiden ein. Frau H. ersetzte unsere Schwäche durch Zanken, Schelten und Schimpfen, und wenn wir ihren unmäßigen Forderungen nicht hatten genügen können, so stand die kolossale Cybelen-Gestalt vor uns zwei Schatten, fletschte die großen falschen Zähne und focht so heftig mit den Armen, daß es unserer ganzen Gewandtheit bedurfte, uns außerhalb der Operationslinie zu halten. Fräul. H. spielte dabei stets eine stumme Rolle und tröstete mich mit der Aussicht auf eine bessere Zukunft; ihr Vorwürfe zu machen, fiel mir gar nicht ein, denn ich war die Vertraute ihres Herzens, sie war selbst unglücklich. – Nach Verlauf von drei Monaten brachte mir Frau H., als ich um meinen Gehalt bat, zwei lange Zettel, welche die Rechnungen des Arztes und Apothekers enthielten, nebst einem Ueberschuß von noch nicht zwei Pfund; auch die Reisekosten ersetzte sie mir nicht und gab vor, mein Platz von Brüssel bis Ostende sei schon bezahlt gewesen.

Ich war außer mir, denn die Hoffnung, meine Heimat zu erreichen, [24] war abermals vereitelt, und es blieb mir keine andere als die auf den Tod, dem ich täglich mit Sehnsucht entgegen sah, denn ich litt jetzt so sehr an Migraine und Magenschwäche, daß ich fast nichts mehr verdauen konnte. Nebenbei verminderte sich mein Schmuck und meine Wäsche zusehends, Frau H. wies meine Beschwerden darüber ohne alle Untersuchung als unbegründet zurück, und als ich die Diebin zufällig in dem Hausmädchen entdeckte, wurde dieses fortgejagt und mir die gerichtliche Klage überlassen. So war ich nun auch um die schönsten Sachen gekommen, die ich der Fürstin G., der Gräfin K. und anderen Gönnerinnen verdankte. Hier hatte ich zugleich Gelegenheit zu bemerken, wie sich in England die Gegensätze begegnen. Nicht weit von B… W… – bei E… – lag B… L…, ein zweites prachtvolles Landhaus der Mistreß H., welches damals Lord N. mit Familie bewohnte; diese Menschen waren eben so großmüthig und freigebig, wie die H. niedrig und schäbig war. Dort wurden die Gouvernanten nicht nur mit allem erdenklichen Comfort und Luxus versehen, sondern auch mit der größten Herzlichkeit behandelt, und wenn ich Sonntags im Koth bis an die Knöchel in die Kirche watete, fuhr dort sogar die Dienerschaft.

Im Frühjahr begab sich die Familie wieder zur Season nach London, Mary und ich erblickten hierin eine Aussicht auf unsere Befreiung, allein die unerträgliche Hitze und der dicke Dunst, die hier ewig brodeln, warfen uns wieder auf das Krankenlager. Nach meiner Wiederherstellung ließ Fräulein H. mich in der Times ankündigen, allein alle reflektirenden Damen erschraken vor meiner Todtenblässe, meine Schwäche nahm bei der barbarischen Behandlung der Mistreß H. immer mehr zu, ich sah einer abermaligen Verkümmerung meines Soldes entgegen und sann Tag und Nacht auf Mittel zu meiner Rettung. Endlich fiel mir ein, daß ich die Freundlichkeit der Königin Adelaide, Gemalin Wilhelm IV. oft und viel hatte rühmen hören; an diese schrieb ich, schilderte ihr meine Lage mit allen Einzelheiten und bat sie, mich auf irgend eine Weise daraus zu befreien. Ich schickte den Brief im tiefsten Geheimniß mit der Post ab und harrte mit Schmerzen des Erfolges.

Zu meiner größten Freude erhielt ich schon am zweiten Tage eine sehr gnädige Antwort, worin mich die Königin der Berücksichtigung meines Gesuches versicherte. Ich wähnte mich am Ziele meiner Leiden, und mein Erstes war, Gott ein freudiges Dankgebet zu bringen.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: daß