Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland/Funfzehntes Kapitel

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Vierzehntes Kapitel Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland
von Heinrich Ferdinand Steinmann
Sechzehntes Kapitel
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Funfzehntes Kapitel.




Die Geradheit meines Charakters ersparte mir ein unschlüssiges Schwanken zwischen Recht und Unrecht, ich war schnell entschlossen, die Stelle aufzugeben und eine andere zu suchen. Aber welche? Ein Placement bei einem Wittwer verbot bei meinem Alter die öffentliche Meinung; erwachsene Söhne im Hause bildeten ganz besondere Schreckmittel, vor Ehemännern war ich vielseitig gewarnt worden, und vor den Wittwen hatte mir Frau H. Angst und Schrecken eingejagt. Ich war in einer unaussprechlichen Perplexität und hätte gern meine Profession gegen die einer Putzmacherin oder Köchin vertauscht, wenn es nur möglich gewesen wäre, aus meinem Gleise herauszutreten.

Am folgenden Morgen, gerade als ich im Begriffe war, zu Miß M. zu gehen, kam Herr v. T. und forderte mich zu einem Spaziergange in Kensington-Garten auf, weil er Wichtiges mit mir zu sprechen habe. Ich willigte ein und nahm den kleinen Albert, Fräulein Ch.’s Pflegekind, mit mir, welcher seinen Reifen treibend vor uns her lief.

Es war zu Anfange des Monats März, der Frühling hatte sich zeitiger als gewöhnlich eingestellt, alle Bäume waren schon ausgeschlagen, und die Sonne schien so mild und freundlich darein, daß sich das Herz unwillkürlich dem Leben und der Poesie erschloß. Als wir in einen abgelegenen Theil jener herrlichen Anlagen kamen, ergriff Herr v. T. meine Hand, seufzte mit dem Ausdrucke tiefer Traurigkeit und sagte: „Warum mußte das Schicksal die Kluft der Jahre zwischen uns werfen und mir dann ein Glück zeigen, zu dessen Genusse mir die Natur das Recht versagte?“

[112] „Sie sprechen in Räthseln,“ entgegnete ich.

„Seit ich aus meinem Vaterlande verbannt ward, fuhr jener fort, verging kein Tag, an dem ich mir nicht den Tod wünschte; seitdem ich Sie kenne, möchte ich noch einmal ein Jüngling sein, selbst auf die Gefahr hin, noch einmal alle die Martern des Daseins durchfühlen zu müssen.“

„Es freut mich, entgegnete ich, Ihnen eine bessere Meinung vom Leben beigebracht zu haben.“

„Und dennoch wollen Sie mich in mein lebensmüdes Dasein zurückstoßen, indem Sie mir ihre Gegenwart entziehen, die mich mit ihm aussöhnte?“ versetzte er.

„Ich folge meinem Berufe.“

„Und wenn die Vorsehung Sie nun berief, den Abend eines Scheidenden zu verschönen, oder mit dürren Worten, einen alten Mann zu beglücken?“

„Dem Rufe der Vorsehung werde ich stets mit Freudigkeit folgen,“ erwiederte ich nicht ohne Bewegung.

Herr v. T. drückte meine Hand an sein Herz, und indem er vor mir stehen blieb, blickte er mir lange mit einem unbeschreiblichen Ausdruck der Freude in die Augen, und sagte dann: „Hören Sie mich denn erst ruhig an, ich will Ihnen mit prosaischer Wahrheit ein treues Bild meines Lebens mit wenigen Zügen entwerfen, und dann entscheiden Sie über mein ferneres Schicksal. Ich bin der einzige Sohn eines reichen Weinbergsbesitzers in Lissabon, meine älteste Schwester, funfzehn Jahre älter als ich, heirathete schon mit sechszehn Jahren einen der reichsten Kaufleute dort, und meine zweite, welche zehn Jahre vor mir das Licht erblickte, heirathete einen Beamten. Als ich ein Jahr alt war, verlor ich beide Eltern, und der Gatte meiner ältesten Schwester ward mein Vormund. Er brachte mich in ein Institut, und als ich mündig wurde, betrog er mich um dreißigtausend Pfund Sterling. Demungeachtet war ich noch sehr vermögend, und da mein Schwager kinderlos und kränklich war, unterließ ich um meiner Schwester willen, ihm den Prozeß zu machen, heirathete sehr jung und widmete mich theils der Kaufmannschaft, theils der Diplomatie. Nach einigen Jahren ward ich Wittwer, verheirathete mich zum zweiten Male und verschrieb mein Vermögen meiner Gemalin, weil sie mich glücklich machte, und diese Maßregel wurde wieder für mich selbst zum Glück. Denn als ich wegen [113] meiner Anhänglichkeit an meinen König, Dom Miguel, nebst vielen anderen Staatsgefangenen nach Mozambik deportirt wurde, confiscirte man unser Vermögen; jetzt sah die Regierung, die an mir den fettesten Fang zu thun gehofft hatte, daß sie statt eines Lachses einen Hering an mir besaß, und als auch meine zweite Frau, die ich über Alles geliebt, durch den Tod mir entrissen wurde, nachdem ich von Mozambik entflohen war, befand ich mich in sehr günstigen Finanzverhältnissen. – Mein Schwager hat trotz seiner Gichtleiden ein Alter[WS 1] von achtzig Jahren erreicht, lebt jedoch gegenwärtig in einem Zustande von Schwäche, der täglich sein Ende erwarten läßt. Meine älteste Schwester, welche auch schon in den Siebenzigen steht, ist so leidend, daß die Aerzte bisweilen fürchten, sie werde ihrem Manne vorangehen. Da auch meine zweite Schwester kinderlos und Wittwe ist, so bin ich der Universalerbe eines sehr großen Vermögens, welches sich auf zweimalhunderttausend Pfund belaufen mag.“

Ich fragte Herrn v. T., ob er Kinder besitze, worauf er entgegnete, nie Vater gewesen zu sein, und daß mit ihm sein Haus erlösche. Dann fuhr er fort: „Solche Verhältnisse fordern von meiner Seite die größte Vorsicht und Schonung, meine Schwestern, die erzbigott sind, würden mich enterben, wenn ich eine Lutheranerin heirathete; würden Sie sich aber entschließen können, sich mit mir zu verloben, und den Zeitpunkt abzuwarten, wo jene Hindernisse beseitigt sein werden, so würden Sie sich das Verdienst erwerben, einem Leben, das die Schatten des Abendes schon bedecken, noch ein sanfter Sonnenstrahl zu werden.“

Er küßte bei diesen Worten meine Hand zärtlich und setzte hinzu: „Meine zweite Schwester getraue ich mir für meinen Plan zu gewinnen, aber meine ältere und ihr spitzbübischer Mann sind unerbittlich, sobald ihre religiösen Meinungen in Frage kommen.“

„Allerdings ist es eine kitzliche Bedingung, auf den Tod zweier Menschen zu warten, erwiederte ich; indessen schreiben Sie an meinen Vater und liefern Sie ihm Beweise von der Wahrheit Ihrer Worte, denn ohne seinen Rath und seine Zustimmung würde ich in dieser wichtigen Sache nicht den kleinsten Schritt thun.“

Herr v. T. versicherte mich, sogleich an meinen Vater unter Beibringung aller einschlagenden Beweise schreiben zu wollen, und drang dann in mich, mein Engagement mit Frau T. aufzugeben und lieber ein anderes einzugehen. Ich meinerseits hielt es für Pflicht, sie von [114] meinem Entschlusse, nun nicht in ihre Dienste zu treten, baldmöglichst in Kenntniß zu setzen, wie auch Miß M. denselben mitzutheilen, und begab mich daher, nachdem ich meinen kleinen Schützling nach Hause gebracht, sogleich zu Letzterer.

Es ist niemals gut, in wichtigen Dingen rasch zu handeln, wenn man irgend etwas durch die Zeit gewinnen kann. Ich war eben im Begriffe, gegen diesen Satz stark zu verstoßen, als mir der Zufall zu Hilfe kam: ich fand nämlich Miß M. in Gesellschaft, was mich verhinderte, mit ihr über meine Angelegenheit zu sprechen. Während des Nachdenkens gerieth ich auf den Gedanken, daß es besser sei, mit meiner Heirath mehr in’s Klare zu kommen, ehe ich einen Schritt thäte, der mich möglicher Weise mit Miß M. entzweien konnte und mir sicher die Feindschaft der Frau T. zuziehen mußte, wenn ich ihr keine ehrenvolle Ursache meines Rücktrittes angeben konnte.

Als ich nach Hause kam, schrieb ich sogleich an meinen Vater und theilte ihm meine Bekanntschaft mit Herrn v. T., seinen Heirathsantrag und was ich sonst von ihm gehört hatte, haarklein mit, indem ich zunächst um seinen Rath bat. Gegen meine Umgebung schwieg ich vor der Hand und hatte dies auch von Herrn v. T. verlangt. Mein Vater hatte sogleich von allen Seiten Erkundigungen über Herrn v. T. und seine Familienverhältnisse eingezogen, deren Resultat er mir ungesäumt mittheilte. Mehrere hohe Beamte hatten seine Angaben bestätigt, mein Vater stellte mir das Für und Wider einer Heirath vor, überließ aber einen definitiven Entschluß meiner eigenen Erwägung.

Verliebt war ich durchaus nicht in Herrn v. T., aber seine Gemüthsart, sein Geist und sein Betragen convenirten mir, denn für mich hatte die väterliche Protection eines alten, geistig überlegenen Mannes weit mehr Ansprechendes, als die leidenschaftlichen Prätensionen eines Jünglings. Auch wurde von mir die Aussicht keineswegs übersehen, die sich mir jetzt bot, meinen Eltern ein glückliches Alter zu bereiten, und ich entschied mich für die Wünsche meines Anbeters. Herr v. T. nahm meinen Entschluß mit Entzücken auf und setzte sogleich den Tag unserer Verlobung fest. Es wäre freilich am klügsten gewesen, den Tag überhaupt zu verschweigen und die Verlobung im Stillen zu feiern, allein so sehr sie auch Herr v. T. vor seiner Familie zu verheimlichen wünschte, so sehr lag ihm daran, sein Recht auf mich vor jedem andern Menschen geltend zu machen, weshalb er mich überredete, Fräulein Ch. [115] davon in Kenntniß zu setzen und sie so wie die Familie C. als Zeugen der Feier einzuladen. Sie brachten uns Alle die freudigsten Glückwünsche, und nichts konnte schmeichelhafter sein, als die Aufmerksamkeiten, die ich von allen Seiten erhielt.

Auf mir ruhete nun die schmerzliche Aufgabe, Mistreß T. den Contract zu kündigen und auch Miß M. davon zu benachrichtigen. Mein Bräutigam rieth mir, meine Verlobung und bevorstehende Heirath offen als Grund anzugeben, allein ich wußte, daß der einzige Gram der letzteren darin bestand, daß sie eine alte Jungfer geworden war und nichts sehnlicher wünschte, als in den gesegneten Ehestand zu treten. Ich fürchtete daher ihren Mißmuth zu erregen, wenn ich mich als am Ziele der weiblichen Wünsche angelangt ihr vorstellen würde, denn obwohl fast zwanzig Jahre älter und in vielen Beziehungen sehr großmüthig, war sie doch bezüglich der Altersfrage sehr empfindlich und nahm es stets sehr übel, wenn mich Jemand für jünger hielt. Sie nahm auch meine Erklärung, die mir wirklich ihr gegenüber nicht leicht ward, mit einem süßsauern Gesicht auf, gratulirte mir jedoch, nachdem ich ihr alle gestellten Fragen beantwortet; aber die eisige Kälte, womit sie mich entließ, überzeugte mich augenblicklich, daß mein Vorsprung ein Verbrechen in ihren Augen und ich ihrer Freundschaft dadurch verlustig geworden war. Hierauf begab ich mich nach Grays inn Lane zu Herrn C., wo ich Frau T. fand. Sie empfing meine Erklärung mit sichtbarer Bestürzung und versicherte mich, daß alle ihre Pläne und Hoffnungen an diesem Ereignisse scheiterten, gab jedoch zu, daß mein Verfahren ihr gegenüber vollkommen gerechtfertigt sei. Am Schlusse der Unterredung machte sie mich zu meiner Verwunderung auf die List und Betrüglichkeit der Männer aufmerksam und rieth mir, meinen Bräutigam mit Muse zu prüfen, auch bis zu meiner Verheirathung in ihr Haus zu kommen.

Der Gedanke, daß diese Dame vielleicht das Opfer einer Intrigue sein könne, schoß plötzlich wie ein Pfeil mir durch den Kopf, und ich hätte beinahe eingewilligt; allein das Vertrauen zu meinem Bräutigam und die Erinnerung an das ihm gegebene Versprechen siegten über jede Bedenklichkeit, weshalb ich auf meinem Entschlusse beharrte. Mistreß T. wünschte mir schließlich viel Glück zu meinem Vorhaben und entließ mich ohne ein Zeichen gekränkter Eitelkeit oder von Erbitterung. Ich fühlte mich von einer unaussprechlichen Schwermuth befallen, denn ich fand das Betragen und Verfahren dieser Dame von Anfang bis Ende [116] so durchaus würdevoll und edel, daß die Ueberzeugung sich mir immer unwiderstehlicher aufdrang, die Bosheit allein feinde ein übergeordnetes Wesen an und entreiße mir abermals ein beneidenswerthes Loos. Dies Gefühl ließ mich Thränen vergießen, und doch war ich so befangen, daß ich mir nicht zu rathen wußte, ungeachtet die Hülfe so nahe lag.

Miß Ch. war sehr zufrieden mit diesem Arrangement und glaubte wahrscheinlich, der Augenblick der Erreichung ihres Zweckes sei gekommen. Sie war nämlich ungemein eigennützig und geldgierig, und ihre Forderungen keinesweges freundschaftlich. Mein neues Verhältniß betrachtete sie als eine Goldgrube, welche sie in folgender Weise auszubeuten sich anließ. Sobald wir nämlich allein waren, begann sie ihr Manöver mit folgenden Worten: „Das Glück scheint Sie für die ersten traurigen Jahre Ihrer Jugend entschädigen zu wollen, lassen Sie sich aber von einer erfahrenen Freundin leiten, denn nie kehrt es wieder, wenn einmal verscherzt, sondern rächt sich an dem, der es von sich wies.“

„Und welchen Rath geben Sie mir?“ fragte ich gespannt.

„Für's erste geben Sie Ihre jetzige Lebensweise gänzlich auf, v. T. ist reich und betet Sie an, Sie sind seine Braut, haben seinetwegen Ihre Stellung aufgegeben, folglich muß er für Sie sorgen, und wird es auch, überlassen Sie es mir. Zweitens müssen Sie Ihre religiöse Schwärmerei ablegen, die kann Ihnen in der Meinung Ihres katholischen Bräutigams nur schaden. Uebrigens sind Sie jung und er ist alt, mithin muß er sich mit der Rolle eines Vaters Ihnen gegenüber begnügen, und Sie müssen ein bischen verbindlicher gegen den Fürsten C. sein, den Sie bei Mistreß W. kennen lernten.“

Entrüstet antwortete ich: „Die Gesinnungen, die Sie soeben ausgesprochen haben, sind ein Beweis, daß wir uns beide in einander getäuscht haben, und ich bedauere nur, daß Sie sich nicht eher offen und ehrlich mittheilten, es würde dann manches anders gekommen sein.“

„Ereifern Sie sich nicht, sagte die Ch., Sie wissen, ich habe Sie aus den Klauen der schändlichen N. gerettet, mir verdanken Sie die Freundschaft der Frau E. und der Familie C., nicht minder Ihre Bekanntschaft mit Herrn v. T., und es würde mir daher leicht werden, Sie in der Meinung aller dieser zu verderben.“

„Sie können mir nichts Unrechtes nachsagen!“ antwortete ich mit der Ruhe eines guten Gewissens.

„Die Welt glaubt alles Schlechte, entgegnete sie lächelnd; aber beruhigen [117] Sie sich, Sie wissen, daß ich Sie zu sehr liebe, als daß ich Ihnen etwas Böses zufügen sollte, ich will ja nur Ihr Glück, und dies vereinigt sich ganz mit unserem gegenseitigen Interesse.“

Mir war, als stäke mein Kopf im Rachen eines Tigers, den es gefährlich zu reizen ist, und ich hielt es deshalb für das Beste, gute Miene zum bösen Spiele zu machen.

Die Ch. fuhr fort: „Glauben Sie denn, daß es Ihnen gelingen wird, unschuldig oder unbescholten zu bleiben, wenn Sie fortfahren, Gouvernante zu sein? Bis daher sind Sie kränklich und schwächlich gewesen, Sie haben den Männern eher Mitleid als Lüsternheit eingeflößt; aber jetzt, wo Sie blühend, von üppigen Formen und anziehend sind, werden Sie dieser nicht entgehen, und Sie werden sich den Wünschen Ihrer Gebieter fügen müssen, wenn Sie sich nicht den abscheulichsten Verfolgungen aussetzen wollen. Ist nun die Ehre eines Frauenzimmers wie geschliffener Stahl, den ein Hauch erblindet, so ist es die einer Gouvernante noch viel mehr, weil jedes Gerücht über sie gleichsam registrirt wird, und wem einmal der Ruf verdorben ist, der kommt nicht wieder auf in diesem Fache. Nur wer Protection hat, ist gegen derartige Stürze gesichert, so wie es eben bei mir der Fall ist. Aber Sie als Fremde haben durchaus keine normale Stellung, weder in moralischer noch in geselliger Beziehung, und der erste beste Feind kann Sie stürzen.“

Ich fühlte, daß in Miß Ch.’s Worten viel Wahrheit lag, und ich empfand vor meiner Lage, der Welt und dem Leben einen solchen Abscheu in diesem traurigen Momente, daß ich bitterlich weinte.

„Glauben Sie denn, fuhr sie fort, ich hätte so viele Freunde, wenn ich mich nicht immer gefällig erwiesen hätte? Wie ich zum Beispiel bei der Baronin v. T. im Haag war, machten mir Vater und Sohn zugleich den Hof, und ich mußte oft einen vor dem andern verstecken. Außer diesen gab ich noch den Attachés der verschiedenen Gesandtschaften auf den Dünen Rendezvous, was allerdings viel Gewandtheit erforderte; aber dafür sind sie auch meine Freunde geblieben und stets bereit, mir mit Wort und That beizustehen. Sie wissen, wie sehr ich den kleinen Albert liebe, denn die gute Pension, die ich für ihn beziehe, trägt viel zu meiner Erhaltung bei; aber auch dieses Glück verdanke ich meiner Verbindlichkeit gegen den jungen Baron v. T., denn Albert ist sein Sohn, und seine Mutter ist die honorable Frau N., berühmte Hofschönheit, [118] welche von ihrem Manne getrennt lebt. Hätte ich die Spröde gespielt, so wäre die Eifersucht und Wachsamkeit der Baronin geweckt worden, aber so ist sie meine treueste Gönnerin geblieben, welche mich bei jeder Gelegenheit auf das wärmste empfiehlt. Und Herr C. hätte sich nicht für mich bei Frau E. verbürgt, wäre ich gewesen wie Sie. Tugend und Schlechtigkeit sind sehr relative Begriffe und verändern ihre Bedeutung nach den verschiedenen Lagen und Personen. Ich bin in einer großen Geldklemme, Sie sollen Ihr Leben genießen und sich von mir leiten lassen, so ist uns beiden geholfen und wir bleiben gute Freunde.“

Ich hatte während der drei Monate, welche ich seit meiner Rückkehr vom Festlande bei Miß Ch. zugebracht hatte, einen ziemlich tiefen Blick in ihren Charakter gethan und wußte, daß sie nur einen Grundsatz, den Eigennutz, hatte, daß ihr jedes Mittel recht war, welches sie zu ihrem Zwecke führte, und daß ihre leidenschaftliche Gemüthsart sie zur Megäre machte, wenn sie auf Hindernisse stieß. Ich hielt es deshalb für rathsam, zu schweigen, und bedauerte im Stillen, eine so schmerzliche Erfahrung an einer Person zu machen, welche mich verpflichtet hatte und wirklich gewisse gute Eigenschaften besaß. So konnte sie z. B. Almosen nicht versagen und war fähig, für die Rettung eines Unterdrückten alle Kräfte aufzubieten. Als Gesellschafterin war sie unvergleichlich wegen ihres unverwüstlichen Humors, ihrer pikanten Causerie und ihrer witzigen Ausfälle. Allerdings trug sie stets stark auf, aber dies gab ihren Erzählungen wie ihrem Umgange etwas ewig Neues und Anziehendes. Alle diese Erwägungen bestimmten mich, sie möglichst zu schonen und ihr nach Kräften aus der Verlegenheit zu helfen, welche sie zu so verächtlichen Hilfsquellen trieb.

Ich fühlte mich nicht wenig erleichtert, als der Thee gebracht wurde, der kleine Albert auf das ersehnte Klirren der Tassen aus dem Nebenzimmer kam und somit dieser cynischen Conversation ein Ende ward. Die Ch. hatte nicht ermangelt, ihr Lieblingsbackwerk, Grumpets und Muffins, zu bestellen, was sie jedesmal that, wenn sie mir ein Compliment[WS 2] machen wollte, erinnerte sich aber nie eher, daß ich dieses geschmacklose Zeug nicht mochte, als bis sie es selbst gespeist hatte. Da saßen wir nun so traulich, daß jeder, der uns gesehen hätte, uns für die zufriedensten Menschen halten mußte. Zwischen uns, etwas rückwärts, brannte ein lustiges Feuer im Camin, Albert saß an der anderen [119] Seite des Tisches, und auf dem Kaminteppich saß auch die Katze und putzte sich – ein vollkommenes Bild irdischer Gemüthlichkeit.

„Herr v. T. wird bald hier sein, Mies macht sich schön, sagte die Ch., indem sie zum dritten Male einschenkte. Sehen Sie, fuhr sie fort, wenn man ein Hinterzimmer hat, wird man nie gefangen; wenn ein Liebhaber vorn herein will, läßt man den anderen durch die Hinterthüre hinaus. O, nichts in der Welt kommt einer Hinterthüre gleich, ein guter General sichert sich stets einen guten Rückzug.“

In demselben Augenblicke klopfte man an die Thüre, und eine Sekunde später trat v. T. herein. Er bemerkte augenblicklich, daß ich verstört aussah, und erkundigte sich mit der größten Theilnahme nach der Ursache.

„Marie kann sich nicht trösten, die beste Stelle, die sich je geboten hat, aufgegeben zu haben, und der Gedanke, wieder Gouvernante sein zu müssen, erfüllt sie mit Gram und Widerwillen,“ sagte die Ch.

Herr v. T. blickte mich verwundert an, und ich gab ihm einen verneinenden Wink. „ In der That, fuhr sie fort, ich sehe keine Möglichkeit, diesen Weg wieder einzuschlagen, denn ihre Verlobung wird gleich bekannt, und unter solchen Umständen findet man nur verschlossene Thüren.“

Meine Angst wuchs immer mehr.

„Und was ist zu thun?“ fragte v. T. besorgt.

„Sie müssen sie in Pension thun bis zu Ihrer Verheirathung, schwatzte die Ch. fort; und wo könnte sie besser aufgehoben sein als bei mir? Hier ist sie vor Nachstellungen und Verleumdungen geschützt, und ich verlange nicht mehr als auf meine Kosten zu kommen. Was aber meine Ehrenhaftigkeit betrifft, so erkundigen Sie sich bei Herrn C., Major E., Capitain H. und einer Menge anderer Standespersonen, die sich alle für mich verbürgen.“

Die Eifernde bemerkte nicht, daß sie zu weit gegangen war, bis sie das schlaue Lächeln bemerkte, das auf dem Gesicht des Portugiesen zuckte.

„Oder erkundigen Sie sich bei Frau E., Majorin C., Baronin v. T.“ sagte sie einlenkend.

„Wenn es der Wunsch meiner Braut ist, versetzte v. T., so bin ich bereit, für jeden Kostenauflauf zu stehen.“

„Nun, nicht wahr, es ist Ihr Wunsch?“ fragte die Ch. mit einem bedeutsamen Wink.

[120] „Wenn Sie glauben, erwiederte ich, daß es keinen andern Ausweg giebt.“ Jedoch war ich fest entschlossen, niemals auf diesen Vorschlag einzugehen. Miß Ch. machte nun ihre Bedingungen, wozu v. T. sich gern verstand, obgleich sie enorm waren; und nun ward sie unerschöpflich in Lobeserhebungen über seine Zärtlichkeit und Großmuth, und Niemand war glücklicher und launiger als sie. Wie groß auch mein Abscheu über diese Nichtswürdigkeit war, so war ich doch schon Diplomat genug, um mein Gefühl zu beherrschen, denn ich erinnerte mich einer Lieblingsmaxime Talleyrands: Un bon diplomat doit ètre à même de recevoir un soufflet sur le derrière sans que sa figure s’enresente. Am folgenden Tage ging ich zu einer Agentin und erhielt sogleich die Adresse einer Lady Maria W., wohnhaft in den Springgärten zu London, welche eine deutsche Erzieherin suchte, und die Agentin rieth mir, sogleich sie aufzusuchen. Es bedurfte dessen nicht, so sehr mir daran lag, placirt zu sein, denn ich fand zu meinem Bedauern, daß die Dame Besuch hatte, weshalb sie mich nicht annehmen konnte, sondern mich auf den nächsten Morgen bestellte. Ich war noch nicht lange wieder zu Hause, als v. T. kam; er hatte das Bedürfniß gefühlt, mich unter vier Augen zu sprechen, das war die Ursache seines frühen Erscheinens. Weil ich fürchtete, daß es zwischen ihm und Miß Ch. zu Streitigkeiten kommen möchte, wenn ich ihm ihre Zumuthungen entdeckte, so schwieg ich gänzlich davon, und das Zartgefühl verhinderte mich gleichfalls, ihre freiwilligen Mittheilungen zu erwähnen; ich fühlte mich jedoch verpflichtet, ihm zu sagen, daß es nie meine Absicht gewesen sei, auf seine Kosten zu leben, ja daß ich mich schon um ein Unterkommen bemüht hätte. v. T. versicherte mich, daß er mich nicht einen Augenblick einer andern Gesinnung fähig gehalten habe.

Unser gegenseitiges Vertrauen wuchs von Tage zu Tage, so daß er nichts ohne mich that, mir jeden Gedanken und Plan mittheilte und gleichsam nur mit meinen Augen sah. Zugleich erschöpfte er sich in den zartesten Aufmerksamkeiten, ja es verging kein Tag, wo er mir nicht einen Beweis seiner Liebe gab. Dabei waren seine Liebkosungen nie andere als väterliche, und gerade dies war es, was meinem Herzen wohl that und ihn mir unendlich theuer machte. Nur derjenige, welcher Jahre lang in der Fremde unter fremden, liebeleeren Menschen gelebt hat, vermag zu verstehen, mit welcher Innigkeit das Herz sich dem [121] Herzen anschließt, das ihm entgegen schlägt, vorzüglich in der Jugend, wo Liebe ihm Bedürfniß ist, wie der Lerche die Luft –

So liebt die Lerche Gesang und Luft,
Und Morgenblumen den Himmelsduft!

Ich bin überzeugt, daß es kein Land giebt, wo der Fremde die Einsamkeit des Herzens so schrecklich empfindet, wie in England, denn in jedem andern Lande wird er mit einem gewissen Interesse behandelt, ja mit Bevorzugung, aber der bornirte Engländer haßt den Fremden, blickt mit Stolz und Verachtung auf ihn, weil er immer ein brutaler Egoist von Staats wegen bleibt, der zugleich als Sohn der Freiheit die continentalen Völker wegen ihrer Knechtschaft verachtet. Hingegen in Deutschland werden sogar die englischen nobodies an den Höfen honorirt, worüber sie selbst sich weidlich lustig machen. – Ich habe manchmal gewünscht, die deutschen Fürsten möchten den knotigen Witzen einmal zuhören, welche diese Ochsenfleisch-Menschen über die pety courts machten.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Altrr
  2. im Original Compliliment