Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland/Zweiunddreißigstes Kapitel

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Einunddreißigstes Kapitel Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland
von Heinrich Ferdinand Steinmann
Dreiunddreißigstes Kapitel
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Zweiunddreißigstes Kapitel.




Eigentlich sollte ich jetzt den letzten Strich an diese Skizzen in Form eines Argumentes thun, allein dadurch würde ich meinen Zweck verfehlen, weil das Motiv zu diesen Enthüllungen eigentlich im letzten Jahre meines Wirkens als Erzieherin liegt. Eine Biographie aber ohne Motiv wäre ganz dasselbe, was ein Bauwerk ohne Schlußstein. Das letzte Jahr meiner pädagogischen Laufbahn war das glücklichste, denn ich widmete es Deutschland, vorurtheilsfreien, gerechten Landsleuten, welche, nicht bestochen durch die verwickelten Beziehungen und geselligen Interessen der Engländer, mich beurtheilten und behandelten, wie sie mich fanden. Indessen ich habe Wahrheit und Gerechtigkeit mir zum strengen Gesetze gemacht und werde unter keiner Bedingung davon abweichen. Unter allen Nationen liebe ich die deutsche am meisten, wenn ich mich daher gezwungen fühle, einige sehr ungünstige Situationen, unter ihnen erlebt, zu schildern, so geschieht dies nicht, um mein Volk herabzusetzen, sondern um zu zeigen, daß auch in Deutschland die Stellung einer Erzieherin in manchen vornehmen Häusern eine sehr zweifelhafte, ja unglückliche ist.

Im Monat August des Jahres 1854 wurde mir durch Frau v. K. in D*** die Gouvernanten-Stelle bei ihrer Schwiegertochter auf[WS 1] deren Rittergute S. im Herzogthume B. angeboten. Frau v. K. rühmte die Gediegenheit des Charakters ihrer Schnur und deren Erziehungs-Systems unendlich, sie entwarf ein so entzückendes Gemälde von ihrer Enkelin Mathilde, daß ich ausrief: O, dieses Kind muß ja ein Engel sein! In Erwägung des psychischen Glückes und der vielen materiellen Vortheile, welche Frau von K. nicht ermangelte in Evidenz zu stellen, wurde mir freilich ein sehr geringer Gehalt geboten, obwohl keine einzige der früheren Erzieherinnen dieser Familie, wie der jetzt sich meldenden sich nur entfernt mit mir messen konnten. Aber vor der Legion der ersteren, welche aus aller Herren Länder in diesem Hause bereits gedient hatten, stiegen mir unheimliche Gedanken auf; jedoch ich schlug sie mir gewaltsam aus dem Sinne, und die Finanzfrage erledigte ich mit dem idyllisch-bucolischen Gedanken: Was ist Geld und Glanz gegen das Glück, mit edeldenkenden, gebildeten Menschen umzugehen! [337] So hatte mich die Zunge jener alten Dame in Verbindung mit den Briefen ihrer Schwiegertochter eingewiegt, daß ich ganz in Arkadien lebte, und jene meine Zusage mit auf das Gut nahm, nachdem sie über meinen sittlichen Werth die allerumfassendsten Erkundigungen eingezogen hatte. An einem freundlichen Oktober-Tage traf ich Nachmittags in der Residenz des Fürstenthümchens ein, wo die Polizei fast so grob wie in Warschau und das Volk beinahe so glücklich wie in Groß-Polen war. Die halbe Armee hatte die Schloß- und Stadt- Wachposten besetzt, ihre Schnurrbärte waren eben so groß wie die der russischen Grenadiere, der Herr Bürgermeister und der Herr Nachtwächter zogen aber eine noch viel wichtigere Amtsmiene als ihre Collegen in London. In ihrem ziemlich ruinösen Landsitze empfing mich die Familie sehr vornehm-krautjunkermäßig, die Damen hielten mir ihre Hände zum Kusse hin, und als ich diese deutschen Kleinstädter etwas frappirt ansah und ihre Hände ungeküßt ließ, zogen sie Gesichter, als ob sie Latwerge genommen hätten. Ihre Weltbildung war mir nun sofort klar; dieser deutsche armselige Adel geht nur auf Demüthigung der übrigen Stände aus, wer seine gewöhnlich sehr hungerige Schwelle überschreitet, soll das Joch passirt haben und sich sofort als ein geringeres Wesen betrachten. Wie anders empfand der edle römische Kaiser Germaniens, welcher nicht gestattete, daß Seneca, der Lehrer des jungen Nero, in Gegenwart seines Zöglings stand oder unbedeckten Hauptes blieb, selbst nicht in Beisein des Kaisers, damit der Schüler seinen Lehrer achten lerne.

Die Familie war eben im Begriff, zu diniren; sie bestand aus den beiden genannten Damen, dem Hausherren, zwei erwachsenen Söhnen, einer dergleichen Tochter von achtzehn, und meinen zwei jüngeren Schülerinnen, der viel bewunderten Mathilde von vierzehn und der kleinen Natalie von sechs Jahren. Das Mahl war sehr anständig und reichlich, wenn es sich auch nicht mit der Tafel des russischen Ministers messen konnte; jedoch hätte der vierte Theil davon meinen bescheidenen Gaumen befriedigt, der sich einzig gegen die Hunger-Kur empört, welche viele reiche Leute den Erzieherinnen ihrer Kinder auflegen. – Die Herren beschäftigten meine Aufmerksamkeit weniger, und mein sehnlicher Wunsch war, so wenig als möglich mit ihnen in Berührung zu kommen, weil mir dieses Geschlecht bisher nur Unheil zugefügt hatte. Desto mehr beschäftigte mich der weibliche Theil der Gesellschaft. Zwei Eigenschaften [338] der Gebieterin des Hauses hatte ich weg, und ich bestrebte mich daher, Vergleiche zwischen ihrer Physiognomie und denen ihrer Töchter anzustellen, um daraus auf alle künftigen Charakter-Demonstrationen zu schließen.

Lavater war von jeher einer meiner Lieblings-Philosophen, und da ich seine Behauptung stets praktisch bewährt gefunden hatte, so ließ ich mich sofort an, seine Theorieen an dem gegenwärtigen Damen-Personal in Anwendung zu bringen. Das Auge, dieser Spiegel der Seele, war bei Frau von K. groß und regelmäßig gestaltet, es hätte sonach auf Großmuth schließen lassen, hätte nicht ein häufiges Zwinkern auf Berechnung und Falschheit hingedeutet, wogegen sein Glanz auf Geistreichheit schließen ließ. Hierin, sowie im Betreff der Haare unterschieden sich ihre beiden ältesten Töchter wesentlich von ihr. Beide hatten kleine, flache, glanzlose und tiefliegende Augen, welche lauernde und drohende Blicke nach mir schossen und sogar mit dem bausbackigen Bedienten auf mich manövrirten. Ihr Haar war spröde und glanzlos, ließ also weder auf Weichheit noch Edelmuth des Herzens schließen. Der Mund hatte bei sämmtlichen drei Damen eine höchst sonderbare und charakteristische Form. Dieser Hauptzug des menschlichen Antlitzes schließt einen Gesammt-Ueberblick des ganzen Charakters in sich, so sehr er auch durch das prosaische Geschäft des Speisens hin und her gezerrt wird. Welch ein vielseitiger Künstler ist doch der menschliche Mund! wie wenig sind seine wahrhaft wunderbaren Leistungen bisher gewürdigt worden! welch schnöder Undank macht sich gegen dieses erhabenste und vollkommenste aller Werkzeuge geltend! In Thüringen muß es Kartoffel-Klöße und Schweinefleisch, Speck und Eierkuchen kauen, in Polen Suppe von Rindskaldaunen, in England Rostbeaf und Plump-Pudding verschlingen, dabei muß es alles fein züngeln und schmecken, nebenbei den ganzen Tag sprechen, nach Befinden auch küssen und singen. Und bei allen diesen unermeßlichen Anstrengungen soll der Mund auch noch schön und die Zierde des menschlichen Antlitzes sein, er, welcher bei manchen Leuten auch eine Unmasse Wein, Bier, Kaffee, Liqueuer, Wasser und Thee mit prüfendem Genusse täglich trinken und vielseitigster Kenner sein muß, er soll auch das Lächeln der Charitinnen und der Venus darstellen. Und, o Himmel, wie viele Jahre hat er gleich zu Anfang seiner Praxis am Sprechen zu lernen! – Der Mund dieser drei Damen also hatte eine sonderbare und charakteristische Form, die mich mit einem [339] ahnungsvollen Grauen erfüllte. Ich gestehe, daß ich mich des unangenehmen Eindruckes der beiden jungen Mädchen kaum erwehren konnte, und es bemächtigte sich meiner eine gewisse Beklemmung, die ich als eine Ahnung böser Tage betrachtete. So sehr mich indessen meine beide ältesten Schülerinnen abschreckten, so sehr fühlte ich mich durch das unbefangene, unschuldige Gesichtchen Nataliens, wie auch durch ihr vertrauenvolles, kindliches Wesen angezogen. In ihr reines Herz hoffte ich den Saamen der Menschenliebe, Frömmigkeit und Biederkeit ungehindert zu streuen und in ihr einen Ersatz für die mir andererseits drohenden Schwierigkeiten zu finden.

Nach aufgehobener Tafel wurde mir mein Schlafgemach gezeigt, welches in einer schlechten Kammer mit zwei Betten, zwei Waschtischen, zwei Stühlen und einem wachsleinenbedeckten Tische bestand und in welcher außer mir noch Mathilde schlief. Da es in dieser Klosterzelle weder Spiegel noch Bettschirm gab, bat ich Frau von K. darum, mußte aber erfahren, daß diese darüber sehr ungehalten schien. Diese Edeldame meinte, ich könne mich ja im Schulzimmer kämmen und ankleiden, brauche mich auch vor Mathilden nicht zu geniren. Ich erwiederte, daß ich eine unüberwindliche Abneigung vor ausgekämmten Haaren in Wohnzimmern und vor Körper-Ausstellungen habe, folglich auf meiner Bitte bestehen müsse. Endlich erhielt ich nach vieler Mühe einen Bettschirm und Rasir-Spiegel, obgleich die Natur mich mit keinem Barte beschenkt hat.

Am folgenden Tage trat ich mein Lehramt an. Ungeachtet Frau von K. ausgezeichnete Pianistin und selbst Componistin war, so wußte doch die älteste Tochter Ernestine wie auch Mathilde äußerst wenig Musik, indessen hatte ich die erstere nicht darin zu unterrichten. Doppelte Mühe hingegen hatte ich mit Mathilden, um ihr nur die Elemente der Tonleiter, des Anschlages, Taktes und Fingersatzes begreiflich zu machen. Weiter war Ernestine in den Sprachen, aber ihre Abneigung vor geistigen Beschäftigungen und ihre Vorliebe für gleichgestimmte Gesellschaft ließ sie in nichts zur Vortrefflichkeit vorschreiten, weßhalb sie auch nur eine höchst einseitige Gesellschafterin abgab. Mathilde glänzte in geistiger Beziehung eben so wenig, wie ihre Schwester, dazu kam aber noch eine unbegrenzte Abneigung gegen alles, was Bildung und Anstand bekundete und das sie als Ziererei bezeichnete. Sie hatte es sich zur [340] Aufgabe gemacht, in Gang, Haltung, Sprache und Bewegung so gemein wie irgend möglich zu erscheinen. Erzählte sie etwas, so schlug sie wie ein Bauer beim Spiele auf den Tisch, gab ich ihr einen Verweis, so stampfte sie wüthend mit den Füßen, fluchte und schimpfte wie ein Landsknecht und rannte davon, um mich bei der Mutter zu verklagen. Dieses war der „Engel,“ der mir so bezaubernd war geschildert worden! Solche Affenliebe hatten die zwei alten Närrinnen von Großmutter und Mutter für dieses verwahrloste Mädchen, daß sie die häßlichen Fehler desselben für leuchtende Tugenden hielten. Welch ein Gemälde der vornehmen Welt, ihrer Verrücktheit, Schlechtigkeit und Gemeinheit müßte entstehen, wenn nur hundert Erzieher und Gouvernanten talent- und muthvoll genug wären, ihre Erlebnisse wahrheitsgetreu zu schildern und der Oeffentlichkeit zu übergeben! Durch die erste Rüge der Unarten Mathildens hatte ich mir den Unwillen der gnädigen Mama zugezogen, sie behandelte mich von nun an ganz en bagatelle, und um mir zu beweisen, daß ich nicht über ihren Kindern, sondern unter ihnen stehe, mußte ich von nun an bei Tische zu unterst sitzen. Ich besaß jedoch zuviel Selbstbewußtsein, um von solchen Kniffen hirnverbrannten Junkerthums nur im Mindesten verwundet zu werden.

Natalie hingegen rechtfertigte meine Hoffnungen im vollkommensten Grade, sie interessirte sich für alles Gute, nahm allen Unterricht mit freudiger Bereitwilligkeit auf, gehorchte auf den Wink, und machte es sich zur Aufgabe, meinen Wünschen zuvor zu kommen. Unbeschreiblich lieb war es mir, daß sie noch ein vollkommenes Naturkind war und bis dahin weder Unterricht noch Dressur bekommen hatte, was den Vortheil für sie hatte, daß ihr Gemüth, rein wie neues Pergament, alle Züge des Unterrichtes rein aufnahm und klar zurück strahlte. Ehe sie noch lesen konnte, lehrte ich sie deutsche und französische Hymnen, Fabeln, Romanzen, von denen sie einige so schön declamiren konnte, daß alle Hörer entzückt waren. Mein Bestreben, ihr Begriffe von Gott und der menschlichen Bestimmung beizubringen, gelang so wohl, daß sie in kurzem alle Hauptlehren des Christenthums in ihren eigenen Worten darstellen und auf jede Frage des Katechismus richtig antworten konnte. Ich lehrte sie aber auch beten, wie mein Vater es mich gelehrt hatte: nämlich das Bedürfniß, Gott zu verehren, ihn zu lieben und von ihm geliebt zu werden, ihm zu danken, ihn zu empfinden und ihm seine [341] Bedürfnisse wie einem liebenden Vater vorzutragen. Oft kam die Kleine, und bat mich, ihr etwas aus der Bibel vorzulesen oder ihr vom lieben Gott zu erzählen. Dann legte ich gern alles bei Seite, nahm sie auf meinen Schooß und erfüllte ihren Wunsch mit Freuden. Natalie war ein reichbegabtes Kind, bald dichtete, bald zeichnete sie niedlich, bald erfand sie etwas. Eines Tages schrieb sie ihr ganzes Glaubensbekenntniß nieder, welches wegen der Richtigkeit der Begriffe, wenn auch nicht wegen der Schreibart ein ganz artiges Erzeugniß war. Daneben zeichnete sie eine Hand, die graziös aus einem Puffärmel langte und ein Stück Geld hielt, worunter wieder die Worte standen:

Gottes Hand
Ist allen Menschen wohlbekannt.

Gewiß kein übler Versuch für ein noch nicht sechsjähriges Kind. Aber auch Natalie war anfangs plump, und marschirte gleich Mathilde über die große Zehe. Um dem abzuhelfen, gab ich ihr Unterricht im Gehen und Tanzen, ließ sie turnen, spielte mit ihr Komödie und Hofgala, was aus dem kleinen Fleischklumpen bald eine Grazie in Miniatur machte. Nach sechs Monaten las sie schon vollkommen gut französisch und deutsch, kannte die Rangordnung aller europäischen Staaten, ihre Hauptstädte, Flüsse und Gebirge, endlich besaß sie einen kleinen Schatz geschichtlicher Thatsachen, die ich ihr bei Erklärung der Landkarte erzählt hatte. Dieses treffliche Kind unterstützte mich aber auch unbeschreiblich in meinen Bemühungen, kein Gegenstand präsentirte sich ihr, ohne ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und über jeden holte sie sich Belehrung von mir ein. Einmal fragte sie mich, was man unter Natur verstehe, einmal wollte sie die Bestandtheile der Himmelskörper oder künstlicher Gegenstände wissen, und da sie mich nie auch nur eine Minute mit müßigen Händen sah, so forderte sie mich selbst auf, sie häkeln und nähen zu lehren, saß dann stundenlang mit den Arbeiten beschäftigt neben mir, während ich sie belehren mußte. An dieses Kind schloß sich mein Herz mit Mutterliebe und ich beschloß in der Hoffnung, in ihm ein in allen Theilen vortreffliches Werk herzustellen, Alles zu ertragen.

Um eine geistige Verbindung zwischen meinen beiden andern Zöglingen und mir herzustellen, gleichsam einen Punkt, auf dem sich unsere Seelen begegnen und vereinigen könnten, machte ich der Frau von K. den Vorschlag, täglich mit ihnen etwas von religiöser Tendenz zu lesen; [342] sie meinte, daß sie Ernestinen dies nicht zumuthen könne, weil ihr Geschmack schon zu entschieden sei; jedoch fand sie meinen Plan für Mathilden ganz zweckmäßig. Hierauf gab sie mir Dodderidges Rise and Progress[WS 2] of religion in the soul – Dodderidges Entstehung und Fortschritt der Religion in der Seele – mit der Bemerkung, daß mit dem Lesen dieses Buches gleich das Studium der englischen Sprache verbunden werden könne. Ein Beweis, welches Gewicht diese Dame auf die Beförderung der Erbauung bei ihrer Tochter legte, die kaum den dritten Theil der Worte, geschweige Sinn und Zusammenhang des Gelesenen verstand! – Außer Mathilde hatte ich noch den sechszehnjährigen Gustav im englischen, französischen und italienischen zu unterrichten, außerdem kam mehrere Nachmittage in der Woche ein Pfarrer W. mit seiner Tochter auf das Gut, um diese mit Mathilden gemeinschaftlich zu unterrichten, weil diese einen Sporn haben mußte in der Person einer fremden Mitschülerin. Diese Pfarrerfamilie bildete den bürgerlichen Pendant zu den Narrheiten der adeligen, das Echo für die ritterlichen Devisen der lächerlichen Don Quixote unseres Edelsitzes. Diese W.’s waren der Conductor aller Gnaden, nur über den Leib des Herrn Pastors führte der Weg zu Herrn v. K., nur über den Pantoffel der Frau Pastorin gelangte man zum Herzen der Frau v. K. Diese ließ sich unmäßig gern die Hände küssen, folglich mußte jeder Petent auch die Hände der Frau Pastorin küssen. Herr v. K. hatte tiefe Verneigungen sehr gern, daher mußte man sich auch vor dem Herrn Pfarrer tiefst verneigen, wer es nicht that, dem ging es wie dem Mordochai, denn es giebt leider auch schwarzröckige Hamane.

Zum unendlichen Aerger sämmtlicher Damen des Ortes wie der Nachbarschaft und nicht minder zu meinem eigenen wetteiferte die gesammte Männerwelt, mich zu protegiren, aber so sehr ich mich auch bemühete, diese Patronate von mir abzuwehren, so erregte dies doch die wüthendste Eifersucht aller Frauen. Rechnet man nun hinzu, daß ich erstens die Hände nicht küßte, zweitens die Unarten der Kinder strafte, drittens nicht schmarozte, und nun viertens die Gunst der Männer ganz ungesucht fand, so wird man die Ungnade der Schönen begreiflich finden.

Eines Tages, als ich mich gerade in der Familie befand, meldete der Diener einen Herrn v. C., und im nächsten Augenblicke sprang ein kreuzfideles Kerlchen wie ein Laubfrosch herein, stolperte ungeschickt wie [343] ein Kalb, das alles großäugig anstaunt, hin und her, während ein aufgequollenes, matrosenartiges Wesen hinter ihm her watschelte. Um anzukündigen, daß er Witz machen wolle, schlug der geistvolle Herr v. C. eine laute Lache auf und sagte: „Das bin ich und das ist mein Bruder, der nur chinesisch spricht oder wie ein Hund bellt.“ – Ein lautes Gelächter belohnte den neuen Aristophanes und alle Hände streckten sich freudig den Ankömmlingen entgegen. Jetzt erhob auch der Chinese seine Stimme, und wirklich hatte sie außerordentliche Aehnlichkeit mit dem Bellen eines jungen Hundes, und wenn sie dann und wann überschnappte, klang sie wie eine Pfennigpfeife, mit denen uns auf Jahrmärkten die Herren Gassenjungen ennuyiren. Ein Paar kugelrunde Glotzaugen gaben diesem wunderlichen Natur-Produkte ganz das Ansehen eines Nußknackers. Er ließ seine Sehmaschinen so prüfend auf dem weiblichen Theile der Gesellschaft herumhüpfen, daß ich alsbald einen Heiraths-Candidaten in ihm verspürte, und richtig bestand schon am andern Tage zwischen ihm und Ernestinen eine recht artige Vertraulichkeit. Diese hatte bis jetzt noch gar keine Sensation unter den Männern hervorgebracht, und es ließ sich daher ihre Dankbarkeit für die unerwarteten Schmeicheleien erklären. Auch er schien eine stammverwandte Dankbarkeit zu empfinden und seine schöne Seele eilte, sie ehebaldigst an den Tag zu legen. Es hatte keines allzu scharfen Auges bedurft, um den eifersüchtigen Haß Ernestinens gegen mich zu entdecken und den edeln Ritter zum Champion sämmtlicher beleidigten alten und jungen Weiber gegen eine – Gouvernante zu machen. Dies war um so spaßhafter, als ich Ernestinens Mutter hätte sein können und unter den mich umschwärmenden Herren sehr viele den Jahren nach meine Söhne; aber ich hatte mich seit zwanzig Jahren nicht verändert, mit der einzigen Ausnahme, daß ich voller und blühender geworden war. Jener Sprößling eines altadligen und sehr morschen Stammbaumes übte nun im Auftrage seiner Dulcinea die altadeligsten Flegeleien an mir Armen aus, gegen die ich keinen Schutz hatte als meine Satyre. Die hatte der neue Bayard allerdings nicht erwartet, und hatte er mich bis jetzt nur aus Rücksicht auf meine Feindinnen angegriffen, so wurde seine Rache jetzt persönlich und um so glühender, als ich ihm ganz unumwunden meine Verachtung bot. Er beschleunigte sein Arrangement mit[WS 3] Ernestinen möglichst, denn die Finsternisse seines Geldbeutels bedurften die goldene Morgenröthe ihrer Dukaten in hohem Grade. Wie man [344] erzählte, hatte er erst ganz zuletzt seine Irrfahrt nach diesen Gestaden gelenkt, nachdem ihn alle Sterne getäuscht hatten.

Es konnte nicht fehlen, daß bei meiner Ueberlegenheit in Wissenschaften und Künsten wie in der höheren Unterhaltung das Patronat der Männerwelt in einer mir höchst widrigen Weise zunahm, weil in gleichem Grade der Haß der Damen gegen mich sich steigerte. Mir war bei diesen albernen Huldigungen zu Muthe, als ob man mir ein Vomitiv in den Magen gösse, aber meine Stellung war eine so höchst schwierige! Benahm ich mich abstoßend, so reizte ich die Rache der Männer und führte sie in’s feindliche Lager, war ich verbindlich gegen sie, so verfolgten mich die Blicke der zürnenden Aspasien und sie schleuderten gleich auf’s neue ihre Anathemen auf mich.

Die für mich harmloseste Passion war die des Pastors – Eierkuchen! Dieser Eierkuchen-Passion fröhnte Herr v. K. rückhaltlos, denn vier Mal in der Woche wurde als Abendessen Eierkuchen aufgetragen, bis das Antlitz des geistlichen Hirten selbst einem wohlgerathenen, glänzenden Eierkuchen ähnelte.

Mathilde machte mir fortwährend durch ihr rohes, ränkevolles Betragen entsetzlichen Verdruß, dabei gab sie sich alle ersinnliche Mühe, die unschuldige Natalie in ihr Geleis zu ziehen, in Folge dessen die letztere auch dann und wann empörende Aeußerungen that. Eines Tages bekannte sie mir ausdrücklich, daß Mathilde ihr solche eingegeben hatte. Um so verwunderter war ich, als mich Frau v. K. einstmals bei Seite rief und mit den Worten präludirte: „Ich bedauere, daß Sie sich mit Mathildchen nicht vertragen können!“

Ich fand diese Anrede und hauptsächlich das Wort „vertragen“ so deplacirt, daß ich erwiederte: „Das Wort „vertragen“ schließt einen sehr unrichtigen Begriff von dem Verhältnisse eines Zöglings zu seiner Erzieherin ein und deutet auf die Möglichkeit von Zänkereien, welche bei einem naturgemäßen Verhalten beider Theile niemals stattfinden können. Ueberhaupt sind Streitigkeiten hier nur dann denkbar, wenn die Mutter Parthei gegen die Erzieherin nimmt und insonderheit derselben Mißachtung beweist.“

Frau v. K. zog ein wahres Eulengesicht bei diesen Worten, indem sie sagte: „Sie verstehen nicht Ihre Stellung in meinem Hause, und wenn Sie sich nicht geachtet glauben, so ist das Ihre eigene Schuld.“

Ich war nicht gewohnt, mich durch solche Luftstreiche einschüchtern [345] zu lassen, sondern antwortete ganz ruhig: „Allerdings, wie Sie meine Stellung verstehen, so verstehe ich sie nicht, und mich durch Schmeicheleien beliebt zu machen, verschmähe ich.“

Sie schluckte den Haken hinunter und sagte ausweichend: „Mathildchen ist ein höchst liebenswürdiges und begabtes Mädchen, dessen vortreffliche Eigenschaften Sie nicht verstehen, deshalb sind Sie ungerecht gegen sie und ich muß Sie bitten, ein anderes Verfahren gegen dieselbe einzuschlagen.“

„Ich habe Mütter gekannt, sprach ich, die es sich zur Pflicht machten, mich um meine Meinung über ihre Kinder zu befragen und mit mir über die zu ihrer Vervollkommnung anzuwendenden Mittel übereinkamen, anstatt die Kinder gegen mich herauszustreichen oder mein Verfahren zu verwerfen. Mathilde hat durchaus keine glänzende Begabung, aber leider hat sie kein gutes Herz und keinen edlen Sinn, was jeder Unbefangene sofort aus dem gemeinen Wesen dieses Kindes erkennen muß. Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen das der Wahrheit gemäß zu sagen.“

Statt mir nun für meinen Muth zu danken, überschüttete mich Frau v. K. mit Schmähungen und Invectiven, welche die Waffen aller gemeinen Seelen sind, ich aber antwortete sehr ruhig: „Ihre Beleidigungen treffen mich nicht, denn mein Bewußtsein dient mir als Schild dagegen.“ Sie fühlte sich doch etwas beschämt bei diesen Worten, denn sie stotterte mit niedergeschlagenen Augen: „Herr Pfarrer W. hat mir vorgeschlagen, mit Ihnen über Mathildchen zu sprechen, er wird Ihnen sagen, wie gut sie ist, denn er kennt sie von Kindheit auf und liebt sie wie seine eigene Tochter.“

„Die Einmischung des Herrn Pastors wie die jeder andern fremden Person muß ich depreciren, ich bin selbst fähig, ein gesundes Urtheil zu fällen und lasse meine Ansicht nie bestechen,“ erwiederte ich. Wir schieden unbefriedigt auseinander.

Am folgenden Abend speiste die ganze Pastorfamilie Eierkuchen auf unserem Rittersitze, der Bediente, ein entschiedener Günstling der Frau v. K., präsentirte mir immer zuletzt, nachdem er mich unter allgemeinem Lachen der Gesellschaft vorher übergangen hatte. Diese Menschen waren innerlich selbst in der Maße Lakaien, daß sie sich nicht genirten, mit einem so verachteten Subjecte grinsende Blicke zu wechseln. Ich nahm keine Notiz von diesen Pöbelstreichen und begab mich nach Tische ohne [346] große Ceremonien auf mein Zimmer. Am nächsten Tage suchte ich Frau v. K. in ihrem Zimmer auf und bat sie, mir die Ursache jener empörenden Behandlung mitzutheilen, und da sie nun das nicht konnte, auch diesen meinen Angriff nicht erwartet hatte, so versuchte sie das allgemeine Despotenmittel: „den unschuldig Entgegnenden zu zerschmettern,“ indem sie sich in ihrer ganzen Höhe aufrichtete und mit aller Kraft ihrer Stimme schrie: „Wie können Sie sich unterstehen, mich wegen ihres beleidigten Stolzes zu incommodiren?“

„Meine Gründe, sagte ich ruhig und bestimmt, sind erstens, weil ich Ihre entwürdigende Behandlung ein für alle Male nicht dulde, und zweitens weil es das Interesse Ihrer eigenen Kinder erheischt, daß Sie Ihrer Erzieherin Achtung erweisen. Von Achtung kann aber nun und nimmermehr die Rede sein, wenn ein Mensch, dessen Gesinnung als Typus der Gemeinheit gilt, mit mir öffentlich ein unwürdiges Spiel treibt, bei solcher Behandlung kann ich unmöglich für das Wohl Ihrer Kinder wirken, Sie vereiteln selbst mein Bestreben, ihren Gemüthern eine religiöse und ästhetische Richtung zu verleihen.“

Frau v. K. schien durch diese Worte ganz besänftigt, versicherte, daß sie mit nichten die Absicht habe, mich zu beleidigen, und hoffte, daß in Zukunft dergleichen Irrungen nicht wieder vorfallen würden. Aber ein gutes Einverständniß kam demungeachtet nicht zu Stande, auch diese Frau war zu undankbar, als daß sie die unermeßliche Mühe hätte würdigen können, die ich mir tagtäglich mit ihren Kindern gab, um sie zu bilden und zu veredeln. Auch diese Dame war der Ansicht, daß ich mit meinem kargen Gehalte ein für alle Male bezahlt und abgefertigt sei. Hingegen hatte ich mir durch meine Witzeleien über die noble Passion des Eierkuchens den wildesten Zorn des geistlichen Herrn zugezogen und mir in ihm einen neuen und gefährlichen Gegner erweckt, der es nicht verschmähte, in seinen gedankenleeren Predigten allsonntäglich mich zu kneipen, sowie ganz unverholen meinen Feind zu spielen. Ich hatte den Humor davon, daß er in seinem blinden Zorne immer daneben hieb. Weil ich z. B. gute Toilette machte, viel gute Garderobe und trotz aller Verluste manchen Schmuck hatte, hielt er mich für eine heimliche Reiche, die aus Habsucht als Gouvernante diene, und rief mir zu: „Bereitet euch Schätze im Himmel, welche nicht Motten und Rost fressen und danach die Diebe nicht graben.“ Oder: „Die da reich werden wollen, fallen in Versuchung und Stricke und viele böse [347] und schädliche Lüste.“ Ein anderes Mal wüthete er unerklärlicher Weise gegen die Geschiedenen. Er predigte nämlich über den ersten Abschnitt des vierten Kapitels Johannis und suchte sehr geschickt zu beweisen, daß die Samariterin von fünf Männern wegen horrender Sünden geschieden worden sei, wobei er ausmalte, welch’ eine greuliche Sünde die Ehescheidung sei. – Im Januar ward die Verlobung Ernestinens mit Herrn v. C. sehr opulent gefeiert und die Hochzeit auf den ersten April festgesetzt. Während man jetzt alle die mannigfachen Vorbereitungen traf, die einer glänzenden Hochzeit vorangehen, fuhr ich fort, mich meiner Pflichten unermüdet und unerschrocken zu entledigen, und in sechs Monaten hatten meine Zöglinge sammt und sonders mehr gewonnen als früher in vielen Jahren. Alle ihre Bekannten und zahlreichen Verwandten machten mir darüber große Lobeserhebungen. Natalie wurde wegen ihrer Talente und Kenntnisse wie wegen der raschen Entwickelung ihrer Verstandeskräfte und Herzensgüte allgemein bewundert; aber das alles rührte meine Umgebungen nicht, im Gegentheile kränkten und verfolgten mich diese Menschen um so grausamer, je mehr ich mir um die Kinder des Hauses Verdienste erwarb. Die Liebe jenes kleinen Engels mußte mich allein für die zahllosen Unannehmlichkeiten und Mißhandlungen entschädigen, die ich zu dulden hatte. Ich wußte nur zu gut, daß der electrische Draht, an dem alle diese Verfolgungen sich über mir entladeten, in England seinen Anfangspunkt hatte, wäre es auch nicht direct von dem sehr edeln Bräutigam ganz unverholen, wenn auch verblümt, angedeutet worden. Die Famlie R. und Consorten, mit denen Herr v. C. sehr liirt war, setzten ihr gutes Werk, das sie in England angefangen, in Deutschland an mir fort. Aber auch hier hatte es die Natur fluchwürdiger Calumnie und schmählicher Tücke; nirgends eine offene Anklage, gegen die man sich offen vertheidigen kann, nichts als heimtückische, meuchelmörderische Angriffe in pöbelhaftester Form, des Ehrenabschneidens in Anspielungen, höhnischen Blicken, dunkeln Bezugnahmen, hämischen Fragen, alles nach Art der Beutelschneider und Banditen zugerichtet. Aber alle diese Bubenstreiche prallten ab an dem Hochgefühle meines inneren Werthes, ich fühlte mich durch Tugend und Talente unendlich über diese Würmerwelt erhaben. – Einstmals, da auch die armen Teufel ihre niedrigen Künste an mir nach Herzenslust erprobt hatten, verließ ich nach aufgehobener Tafel die Gesellschaft, ohne einen der Anwesenden einer Verbeugung zu [348] würdigen, und in meinem Zimmer sang ich die schönste Roulade, die mir noch unter diesen Abderiten aus der Kehle gequollen war. Ich war diesen Abend bei göttlicher Laune und Stimme, denn keine Affenkomödie hätte mir mehr Spaß machen können, als die Einfuhr dieser alten Producte der englischen Klatsch-Industrie. Ich setzte mich an’s Piano und musizirte und trillerte so recht aus der Fülle meiner heitern Seele. Es dauerte nicht lange, so kam Herr v. C. mit seiner Braut und bat um Erlaubniß, mir zuzuhören. Leider konnte ich es mir nicht versagen, den Urheber der gegen mich ausgebrochenen Verfolgung ein wenig zu züchtigen, und ich sagte daher lachend: „Kommen Sie nur, Herr v. C., zum Lohne für Ihre englischen Importationen und ritterlichen Dienste will ich Ihnen mein schönstes Lied vorsingen,“ rief ich muthwillig und sang sogleich die liebliche Canzone: „Ach, wenn Du wärst mein eigen.“

Dies brachte eine gewaltige Wirkung hervor, diese Menschen, welche alle Martern mir zufügten, um sich den edeln Genuß der Schadenfreude zu bereiten, wollten über jene kleine Vergeltung wahnsinnig werden. Aber ich hatte die Bosheit dieser Voltaireschen „Tiger-Affen“ verachten gelernt und befand mich außer ihrer Schußlinie. – Ich gab mir alle ersinnliche Mühe, die Anstifter jener Emeuten, wie ich es schon jenseit des Kanals gethan, so zu entlarven, daß ich sie öffentlich zur Verantwortung ziehen könne, allein immer und immer vergeblich. Ja, wie selten ist es überhaupt den Opfern der Bosheit möglich, für ihre Leiden Genugthuung zu erlangen! Ist das nicht die Klage aller edeln Geister seit Jahrtausenden in Wort und Schrift? und ist nicht der Trost, den selbst die Religion den Duldern für die Leiden dieser Zeit spendet, einer ihrer wichtigsten und schönsten Bestandtheile?

Die Hochzeit wurde mit vielem Pompe gefeiert, und der gefühlvolle Bräutigam nahm über Tafel Gelegenheit, mir eine seiner rohesten Bosheiten zuzufügen; jedoch hatte mir mein Genius auch schon den Balsam für diese Wunde bereitet, und zwar in der Auszeichnung, deren ich bei dem glänzenden Balle Seiten der Landesherrschaft und des höchsten Adels gewürdigt wurde. Die höchsten Personen unterhielten sich längere Zeit auf das huldvollste mit mir, und dies war das Signal für die vornehme Welt, mich der eingehendsten Aufmerksamkeit werth zu finden; man fand zur sichtlichen Befriedigung der Frau v. K., daß [349] ihre Kinder „eine seltene Erzieherin“, „eine Gouvernante von den umfassendsten Kenntnissen“, an mir hätten, daß man sich nun nicht mehr über die glückliche Entfaltung ihrer Anlagen u. s. w. zu wundern brauche.

Einen imposanten Eindruck machte bei diesem Familienfeste der Aufzug mehrerer hundert berittener Landleute, die auf ihren mit Blumen und Bändern geschmückten Pferden den Zug der Wagen noch aus der Kirche begleiteten. Der Bräutigam spielte dann beim Volksfeste den Herzstürmer, suchte sich eine ländliche Zerline heraus und spielte einen ziemlich ergrauten Don Juan, der die seltsame Eigenschaft besaß, eine unglaubliche Menge Kuchen zu essen.

Da meine Stellung durch das unerhörte Benehmen der Dame des Hauses eine immer bedrängtere wurde, so faßte ich endlich den Entschluß, derselben baldigst ein Ende zu machen, denn ich hatte nicht die entfernteste Hoffnung auf Besserung derselben. So viel Bosheit ich auch in England unter den Frauen gefunden hatte, so übertraf die der Frau v. K. doch alles, und es ist ein schmerzlicher Gedanke, daß in Deutschland vielleicht mehr solche Megären sich finden. – Niemand, der so wie eine Erzieherin die innersten Seiten der Familien beobachten kann, ist im Stande, das Demelé der Sitten in den oberen Schichten so zu beurtheilen, es ist so düster, daß gewisse Parthieen ewig unsichtbar bleiben. Wer will z. B. es schildern, wenn Familienhäupter, erwachsene Söhne, ja sogar Hausfrauen den Gouvernanten ansinnen, nicht allein Priesterinnen der Pallas Athene, sondern auch der Venus zu sein? wenn eine Mutter der Erzieherin ihrer jüngeren Kinder den schamlosen Antrag macht, einem älteren Sohne „aus Gesundsheits-Rücksichten“ gefällig zu sein, und die das tugendhafte Weib, das sich mit Indignation abwendet, darum auf das grausamste verfolgt? Sie weiß ja doch, daß solche Frevel unenthüllbar sind. –

Zu Johannis kam Frau v. K. meinen Wünschen durch die Frage zuvor: „Sie scheinen sich in meinem Hause nicht glücklich zu fühlen?“

Es fehlte wenig, so hätte ich ihr die Gegenfrage gestellt, ob in der Hölle auch noch von Glück die Rede sein könne? Ich bekämpfte jedoch mein Gefühl und erwiederte: „Gnädige Frau, Sie werden nicht staunen, wenn ich mit einem entschiedenen Nein antworte.“

Nichtsdestoweniger sah mich die Dame mit sehr weit geöffneten Augen an und sagte gedehnt: „So? Nun, dann ist es wohl am besten, wir trennen uns?“

[350] „Sie nahmen mir einen Stein vom Herzen durch ihren Vorschlag, und ich bekenne Ihnen, daß ich einzig um Ihrer jüngsten Tochter willen so lange in Ihren Diensten, wie es der Fall ist, geblieben bin.“

Was war natürlicher, als daß nach dieser Erklärung das Mißverhältniß noch unerträglicher wurde? Leider, ich bekenne es offen, mußte ich mir den schmerzlichen Vorwurf machen, daß ich mehrmals die günstigsten Placements ohne eigentlich tieferes Motiv verlassen und mich freiwillig dem Unglück überliefert hatte, und mit ewiger Wehmuth werde ich die Namen Eaton, Smith, Sligo, Howard und andere nennen. Selbst an den Palast in Warschau mußte ich in diesem Hause eines deutschen Edelmannes mit Sehnsucht zurück denken!



Anmerkungen (Wikisource)

  1. im Original „auf“ doppelt
  2. Vorlage: Rogress
  3. Vorlage: mi