Der 2. Glaubensartikel/Auf daß ich sein eigen sei und in seinem Reiche unter ihm lebe

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« Ich glaube, daß Jesus Christus sei mein Herr Hermann von Bezzel
Der 2. Glaubensartikel
Auf daß ich sein eigen sei »
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Offenb. 5, 9–13. 
Auf daß ich sein eigen sei und in seinem Reiche
unter ihm lebe.
 


 Die erste unter den 129 Fragen, welche der Heidelberger Katechismus in sich schließt, lautet: „Was ist dein größter Trost im Leben und Sterben?“ Und die Antwort heißt: „Daß ich im Leben und im Sterben, beides, nach Leib und Seele, nicht mein, sondern meines treuen Heilandes Jesu Christi bin, der mich erlöset hat von der Gewalt des Teufels und vollkömmlich für mich bezahlt hat mit seinem heiligen Blute.“


I.
 Das ist es, was uns tröstet in allerlei Trübsal, und was uns froh macht über allem Schweren, und was uns reich macht, wenn wir nur arm werden wollen, und immer stiller, daß wir ja gar nicht mehr uns selbst angehören. Wer sich selbst angehört, der muß an sich leiden und an sich sterben. Aber ich gehöre mir nicht mehr an, seitdem einer das Eigenrecht an mich erworben und für mich dargezahlt hat, was ich nie hätte zahlen können. Der Grund meiner Christenhoffnung und die eigentliche innerliche Tiefe meines Christenstandes ist: ich bin sein eigen! oder, wie es die lateinische Übersetzung unseres Katechismus ausdrückt: ich gehöre ihm ganz an. Er hat sich, obwohl ich sein eigen war nach der Schöpfung, das ganze Anrecht an mich erworben durch die Erlösung; denn ich war nach der Schöpfung sein eigen, daß er mich verdürbe, und durch die Erlösung bin ich sein eigen geworden, daß er mich errette. Weil ich dem entlaufen war, dem ich doch nie entlaufen kann, und dem entflohen war, der mich doch immer hält, und mich von ihm gewendet hatte; – denn er war mir zuwider und| entgegen –, so wurde ich sein eigen durch Strafurteil. Er kann mich vernichten, aber was liegt ihm an meinem Tode und was hat er für Genieß, wenn ich nicht bin? Was kann ihm meine Einsamkeit in der Hölle Freude, und meine Verlorenheit im Abgrunde Gewinn sein? Darum hat er sich aufgemacht, daß er den, den er verderben könnte und verderben müßte, erlösete und hat nun meine ganze verkehrte Art in die seine hereingenommen und unter ihr gelitten und hat die große Menge der Schuld auf sich geladen. Und als die letzte Menschenschuld und der letzte gottferne Gedanke und das letzte gottferne Wort bei ihm eingekehrt war, da brach ihm das Herz im Tode und es heißt seitdem: „es ist vollbracht“ (Joh. 19, 30); denn die ganze Sündenwelt kam herbei. Alle, alle, von dem ersten Menschen an, der sein Heimatsrecht und Heimatsglück verscherzte, bis zu deiner und meiner Seele, die überall heimisch war, nur nicht bei ihm, sie kamen alle heran und klagten beweglich unter dem Kreuze über den Schmerz der Heimatlosigkeit: „ich lief verirrt und war verblendet.“ Ich klopfte bei vielen Türen an, und sie wurden mir aufgetan, und als ich hineinsah, war es Fremde. Ich warb um Liebe, und als ich sie erhielt, ließ sie mich kalt. Ich suchte Frieden und jagte ihm nach als dem edelsten Gute des Lebens, und als ich ihn erlangt hatte, war er bereits fortgezogen, und wie ich ihm nachsah, war es nicht Friede. So sind sie alle, ein ganzes Heer von Friedlosen und Lebensbeschädigten und Gottarmen herangetreten und haben unter dem Kreuze ihre Lasten niedergelegt und als einzige Antwort kam die Frage: sind das alle, die da leiden? Sind das alle? Kommt her zu mir alle! (Matth. 11, 28.) Und nun machten sie sich auf mit den zerbrochenen Scherben ihres Glückes, die stolzen Denker mit ihren Systemen, die das Herz doch nicht zum Frieden bringen, die armen Leute, die im Staube ihre Nahrung suchen und im Staube ihre Ehre verlieren. Sie kamen alle herbei, ob mit irdenen Scherben eines armseligen Glückes oder mit goldenen Trümmern| einer erträumten Höhe; sie kamen alle herbei und lernten, daß auch das Kleinste groß ist, wenn man es recht kennt, und daß auch das Kleinste ihm gesagt werden kann und darf. Die Seele, die sich scheute, einem Menschen ihre geheimsten Abgründe zu enthüllen, und das Leben, das sich vor sich selber schämte, und das kleine, armselige Tagewerk, das nichts aufzuzählen hatte als Ärmlichkeit, Schaum und Nichtigkeit, sie kamen alle; und er zog sie alle an sich. Und wo ein Auge tränte, hieß er es, ihm die Tränen ausweinen, und wo ein Mund im Schmerz erbebte, hieß er ihm den Schmerz kundtun, und wo ein Herz nicht mehr Worte fand für das tiefste Leid, da hat er das Leid an sich herangezogen, wie ein Magnet das Eisen an sich nimmt: „Kommet her zu mir alle!“
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 Und weiter: kommet her zu mir alle und mit allem! Auch mit der Torheit, deren ich mich schäme, und mit der Kleinigkeit, die ich kaum mehr weiß. Was dir das Bild der Heimat aus den Augen nahm, und was dir den Frieden der Kindschaft zerstörte, was die innersten Gründe deines Daseins erregte, das darfst du mir alles sagen. Und nun kamen sie von allen Orten und zu allen Zeiten und zu allen Stunden. Und als er am Kreuze hing und ihm Leib und Seele verschmachtete, sah er ein einziges Meer auf sich herziehen. Sünde hieß das Meer, und, die auf ihm heraneilten, waren Sünder. Und so hat er sie erkauft. Denn die Größe, von der unser Katechismus redet: „ganz sein eigen!“ besteht darin, daß ich nicht sein eigen bin, weil ich seiner würdig wäre, schön von Antlitz und würdig von Wesen, weil ich seine Züge unentstellt an mir trüge, den Adel seiner Reinheit und das Gepräge seiner Heiligkeit; sondern verzerrt, verunstaltet, mißraten, innerlich zerfallen und äußerlich zertragen, kam ich zu ihm hin, auf daß ich sein eigen sei. Schon das ist Erlösung, daß ich in der ganzen weiten Welt einen Menschen kenne, der nicht an mir irre wird, wenn ich mich längst aufgegeben habe. Man wird älter, man wird immer mehr seiner müde, immer mehr seiner selbst| überdrüssig, weil man sich nicht entlaufen kann: „ich elender Mensch, wer wird mich erlösen vom Leibe dieses Todes? (Röm. 7, 24.) Wer, wenn er älter wird, sich desto mehr liebt, der sehe wohl zu, wie nahe er der Hölle ist. Wer, wenn die Haare bleichen und das ganze Leben mehr in die Innerlichkeit sich zurückzieht, immer mehr an sich Gefallen hat, der mag wohl zusehen, daß nicht einst in einer schweren endlosen Nacht er dieses Gefallen mit bitterstem Weh büßen möge. Wenn du wissen willst, ob du wirklich innerlich vorwärts kommst, so magst du es daran erkennen, daß du, je älter du wirst, je mehr deiner müde wirst. Ich bin es müde zu leiden: immer wieder die alten Sünden, immer wieder die alten Zweifel, immerfort die alten Fragen und Nöte und Sorgen; und so geht es zu Ende und zu Grabe. Aber einer ist in dieser Welt, die sich so wechselt, in der ich meine Lieben längst begraben habe, und wo ich von anderen scheiden muß, einer ist es, der mit gleichbleibender Gelassenheit mich in meinem Unwert und in meiner Not trägt. Das ist nicht eine erdichtete, nicht eine goldglänzende Gestalt der Phantasie und der seligen Idealisierung, sondern eine Menschengestalt, eine menschliche Persönlichkeit, mitten unter uns getreten, zu der ich sagen kann: „willst du mich dennoch tragen?“ und er antwortet: „versuche es, ob ich dich nicht tragen kann!“
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 Wer nicht mit Jesus als mit seinesgleichen anfängt, der kommt nie über sich selbst hinaus. Wer nicht daran festhält: ich bin sein Eigen geworden, weil er mein Eigen ward, meiner Menschheit Genosse, meiner Not Gefährte, meiner Menschlichkeit Teilhaber, der wird nie einen wirklichen Gewinn haben. So sollst du es wissen: Du gehörst ihm an, denn er hat dein Wesen an sich genommen. Versuchet allenthalben, ist er in alle Not hineingegangen; er hat sich’s nicht von dir erzählen lassen, nicht von dir bloß Bericht empfangen, sondern er ist herabgestiegen in deine Not und ihre Tiefen, in deine Sorgen und ihre Angst. Er hat alles geteilt; und wie er es alles durchlitten und durchmessen und| durchkostet hatte, sprach er: nun gehörst du mir an! Und dann zahlte er dar, was eine verlorene Menschenseele noch wert ist. Du verachtest den Genossen, welcher in zerrissenem Gewande vor dir steht, du schaust gering herab auf das arme Weib, das mit entstellten und von der Sünde durchfurchten Zügen dir folgt, du gibst ihm nur rasch ein paar Pfennige, damit es doch schnell aus deinem Gesichtskreis kommt. Wie peinlich wäre es dir, sähe man dich mit diesem Weibe! Du hältst die Menschenseele nur dann wert, wenn sie in güldener, zierlicher, ziemlicher Fassung vor dir steht: der Geistreiche, der Gewandte, der Einladende, der Anziehende, auch wenn er noch so verderbt ist, erscheint dir bedeutsam und wert. Ihm gehst du nach und um ihn mühst du dich. Aber wenn die Sünde den Mut nicht mehr hat, vielleicht auch nimmer die Kraft, sich zu verbergen, wenn sie in ihrer ganzen Armut und Ungeschminktheit einhertritt, dann verwirfst du die arme Seele. Aber er hat für diese arme Seele, an der du stolz vorübergehst, denselben Preis gezahlt, den er für deine Seele aufwog. Er hat für die Seele der Menschheit und für die Seelen der Menschen und für die ganze große Welt ein einziges, allgütiges, allumfassendes Lösegeld dargeboten, da er sich selbst opferte. Und Gott, in die Wahl gestellt zwischen der verachtetsten und unwertesten Seele und seinem Eingeborenen, seinem Ebenbilde und Abglanz seines Wesens, hat dieses Ebenbild verworfen, damit er die verworfenen Seelen rette, und hat den Heiligen und Reinen verschmäht, damit er des Unreinen Vater wieder sein könne.
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 Seht, da heißt es: er hat mich zu seinem Eigentum erworben, indem er sich für mich gab. Für mich! Für eine gerechte Sache ist manch einer schon gestorben, für eine hohe Sache wagt jetzt mancher sein Leben: für Vaterland, Vaterherd, väterliche Ehre, Volkstum, Volkscharakter hat manch einer sein Leben und seine Kraft, seine Freude und sein Glück geopfert. Aber für die Karikatur des Menschentums, für die jämmerliche| Entstellung des Gottesbildes, für die furchtbar verzeichnete, durch eigene Schuld verzeichnete Existenz eines Menschentums hat nur Einer sich gewagt und dieser Eine spricht: „ich habe dich erlöset, du bist mein!“ (Jes. 43, 1.)

 Ganz, mit allem, zu allen Stunden, an allen Orten, für den größten Preis erkauft, der je gezahlt wurde. Gott hat sich selbst in den Tod gegeben, damit der Mensch hinfort Gottes sei.


II.

 Und nun zum zweiten. Wenn das der Grund ist, der Grund meiner Aneignung an ihn, meiner Zugehörigkeit zu ihm, so soll ich mich auch in seiner Nachfolge als sein Eigentum beweisen, daß ich sein Eigen sei, ganz sein Eigen.

 Ach, mein Christ, die ganze Passionszeit ruft dir zu: wer regiert deine Gedanken? Und wenn du nicht antworten kannst: bei allen Gedanken – bei den Gedanken, die mein Hauswesen regieren, die meinen Verkehr beherrschen, die meine Umgebung leiten – ist Jesus das maßgebendste, dann laß die Passion ferne sein, dann hast du wenigstens nicht gelogen. Wenn du nicht sagen kannst:

In Herz und Sinn, in Wort und Wesen
Sei Jesus und sonst nichts zu lesen!

dann ist es besser, du meidest das Kreuz.

 Auf daß ich sein eigen sei: zuerst in meiner Gedankenwelt. Alle meine Gedanken zerrinnen und zergehen und verwehen, quälen mich und gehen sinnlos in die Weite und kehren erträgnislos in die Enge zurück, wenn sie nicht von Einem zusammengefaßt und beherrscht, von Einem geleitet und regiert, erfüllt und geheiligt werden. Und dieser Eine ist der Mann am Kreuze. Siehe, du spürst es ja, wie deine Gedanken fliehen und wiederkehren, kommen und forteilen, wie sie dich innerlich zermalmen| und zermürben, so daß man oft möchte gar nicht mehr denken können. Da gibt es nur einen Ruhepunkt, bei dem die Wellen zum Frieden und der Wechsel und Wandel zur Stille und all das, was dich verklagt und entschuldigt, zum Schweigen kommt: das ist das Kreuz des Herrn.

 Nimm bei all deinen Gedanken dir vor: ich will dich im Gedächtnis bewahren. Du sollst die Gedanken der Feindschaft aus mir tun, alten Groll und neuen Neid von mir tilgen, Liebe zur Eitelkeit und zum Häßlichen von mir ausglühen und meine Gedanken so einfach und so einheitlich machen, daß es für dieselben eigentlich nur zwei Wege gibt: den einen zu dir und den andern von dir; den einen Weg, auf dem ich meine Sorge dir klage, den andern, auf dem ich deine Gnade preise; den einen Weg, auf dem ich zitternd komme und flehe: „erkenne mich, mein Hüter!“ den andern, auf dem ich lobsagend fröhlich ziehe: „der Herr hat Großes an mir getan, des bin ich fröhlich!“ (Ps. 126, 3.)

 Und was sind deine Worte? Je älter der Mensch wird, desto redseliger wird er, wenn er sich gehen läßt, und desto wortkarger, wenn er daran denkt, daß er aus seinen Worten gerichtet wird. Wo viele Worte sind, da ist viel Sünde. Je älter der Mensch wird und je mehr er Gefallen an sich selber hat, in sich selbst verliebt ist, desto mehr redet er über sich, von sich, mit sich und desto mehr ist er für andere von Unsegen und Unbedeutung. Es ist hart, wenn der Mensch, je älter er wird, desto nutzloser wird, und wenn er, je weniger er gibt, desto mehr nehmen muß, und sollte doch erst recht viel geben.

 Was wird denn von deinen Worten einst gesagt werden? Nimm einmal die Unterhaltung der nächsten zwei Stunden, ehe du heute einschläfst, ins Licht vor seinem Angesicht! Frage dich: was ist durch diese Unterhaltung gegeben worden, gefördert, genützt, oder was ist durch dieselbe geschadet oder verletzt worden?| Du hast vielleicht dort einen Feuerbrand geschürt und hier hast du ein hartes, schnelles Urteil gefällt, das Gottes Engel weitertragen bis vor seinen Thron. Und dort hast du mit leeren Reden dich gesättigt und deine Seele betrogen. Was soll denn dann eigentlich meine Rede regieren? Soll ich Jesum immer im Munde führen, als ob das gottselige Reden etwas wäre? Mit derselben Zunge, mit der ich eben einem Menschen geflucht habe, soll ich des Menschen Sohn preisen? Soll ich mit gottseligen Redensarten mich und andere täuschen und sie zu täuschen versuchen? Das sei ferne. Aber wie man an einem Händedruck spüren kann, ob das Herz die Hände regiert, so muß in jedem deiner Worte der Dank für Jesu Erbarmen und das Verlangen, ihm wirklich zu dienen, erkennbar sein.

 Immer muß man sich sagen: wenn jemand nicht reicher von uns scheidet, als er kam, so wird er unser Verkläger. Wenn dich heute jemand auf der Straße verläßt, dem du nicht einen Segen gegeben hast, so wird dieser, von dir vernachlässigt, dein Unsegen sein.

 Ach, was könnte nur von dieser kleinen Gemeinde erreicht werden, welche Volksmission, welche Volksbekehrung von ihr ausgehen, wenn ihre Worte von Jesus regiert würden! Nicht aufdringlich, aber andringlich; nicht frömmelnd, aber echt; nicht in gesuchter Feierlichkeit, aber in feierlichem Ernste seien deine Worte gesprochen und in Dank gegen Gottes Erbarmen getaucht.

Wollt ihr nicht in dieser Passionszeit Jesum bitten, daß er euren Worten Kraft verleihe? Er braucht nie genannt zu werden, wenn er nur bekannt wird. Man braucht seinen Namen nicht zu nennen, wenn er nur auf den Lippen thront, und wenn nur in unserem ganzen Wesen sein heiliger Ernst leuchtet, leitet und regiert.

 Auf daß ich sein Eigen sei, auch in meinen Werken. Und darum heißt es am Schlusse: „und in seinem| Reiche unter ihm lebe.“ Denn in seinem Reiche kann man auch vegetieren; in seinem Reiche kann man auch Jahrzehnte lang ein unnützer, unfruchtbarer Baum sein: „haue ihn ab, was hindert er das Land!“ (Luk. 13, 7.) Darum hat Luther in großem Ernste gesagt: in seinem Reiche unter ihm lebe. Es kommt nicht darauf an, daß ich bin, aber darauf kommt es an, daß ich lebe. Wenn ich heute nicht mehr bin, so sind es andere, die in diese Lücke eintreten, daß die Lücke sich schließe; aber

Weil ich leb auf dieser Erde
Such’ ich dich, o Hirt der Herde!

Es ist die Hauptsache, daß der Christ lebt. Christ sein hat viel mehr getötet als gewonnen; Christ sein hat die Kanzeln entleert und die Kirchen entvölkert und die Gemeinden geschädigt. Es werden nicht die, die da „Herr, Herr“ sagen, erobern.

 Darauf kommt es an, daß meine ganze Persönlichkeit lebt, nicht mit Worten, nicht mit glänzenden und gleißenden Werken, sondern in ihr selbst, in ihrer Natürlichkeit, die er geheiligt hat, in ihrer Bedeutendheit, die er gewonnen hat, in ihrer Eigenart, in ihrer Einzigartigkeit, die er befreit hat von den Schlacken des selbstwilligen Wesens. So gewiß jeder von uns ersetzt wird, so schnell, so rasch und ganz, so gewiß wird auch keiner mehr auf Erden kommen genau so wie du und ich. Denn jeder hat ganz bestimmte Räume zu beherrschen, ganz bestimmte Zeiten zu durchmessen, ganz bestimmte Menschen zu gewinnen. Und wenn wir diese Räume leer lassen und diese Zeiten nicht auskaufen und diese Menschen nicht gewinnen, so gehen diese Räume klagend und verklagend vor uns her, die unbenützten Zeiten beschuldigen uns gar schwer, und die von uns getäuschten und nicht gewonnenen Menschen erheben die Anklage: sie haben nichts an uns getan! Das ist der größte Vorwurf, den man einem Christen machen kann und der auch in der Ewigkeit als solcher erhoben| wird: man hat an dir nichts gehabt. Du bist in die Kirche gegangen, du bist zum Sakrament gelaufen, du hast auch manches Mal in der Stille gebetet, aber niemand merkte das und niemand wußte das. Und doch heißt es: „wer an mich glaubet, von des Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers ausgehen.“ (Joh. 7, 38.)

 In seinem Reiche werden alle Nutzlosen, die nur einen Raum ausfüllen, werden alle Unfruchtbaren, die nur Zeit abtragen, werden alle Undiensamen, die nur eine gewisse Form des Christentums gezeigt haben, rücksichtslos ausgestoßen. Denn in seinem Reiche gibt es nur eine Losung: arbeite bis an den Abend! Das heißt: unter ihm leben, nicht ein Scheinleben mit allerlei erborgtem Flitter, nicht ein Scheinblühen mit allerlei erträumtem Glanze, sondern wahres Leben mit dem ganzen Ernste einer Persönlichkeit, die alles, was sie ist, durch Christum und darum für Christum ist.

 Auch darauf kommt es nicht an, daß man in seinem Reiche aufgeregt lebt, allerlei anfängt, allerlei Werke beginnt, neue Anstalten gründet, neue Pläne macht, Reichskirchen baut, allerlei Gemeinschaften der Arbeit beitritt, das ist alles nutzlos. Es ist weit besser, du bist ein Mensch für dich, als eine Nummer neben andern. Es ist weit besser, du bist dein eigen in der von Christo erlösten persönlichen Art, als daß du dich da anschließest und dich dort hinzumachst. Dort wirst du getragen und trägst selbst nichts. Jeder Verein – ich bin gewiß kein Gegner christlicher Vereine, sie sind eben ein notwendiges Übel – aber jeder Verein hat die Gefahr, daß einer so viel gilt wie der andere, und einer sich also von dem andern mit fortnehmen läßt, ohne selbst Persönlichkeit zu werden.

 Aber es kommt nicht darauf an, daß du, wenn es einmal zum Sterben geht, ihm deine Vereinszugehörigkeit vorträgst und ihm aufweisest all das, was du an dir hast tun lassen, sondern darauf| kommt es an, daß du sagen kannst: „ich habe in deinem Reiche unter dir gelebt.“ Du allein warst die Autorität, die mein Wesen bestimmte; du warst die Größe, die mein Denken beherrschte, du warst der Inhalt meiner Worte und du warst das Ziel meiner Wünsche; nach dir ging mein Heimweh, und von dir kam meine Hilfe. Ich habe gelebt, so wie du mich gelebt hast, als du mich littest, bis du am Kreuzesstamm meine Schande gebüßt hast: so habe ich dich erlebt, dieweil ich dich liebte, und habe dir gelebt, so gut ich es vermochte. Es war mein ganzes Wesen darauf gerichtet, daß aus meiner armen Art ein Leben herausglühte, von dir geboren, Leben herausströmte, von dir geweckt. Ich lag da, – hartes Gestein, unschön und unscheinbar, ohne Wesen und ohne Wille; da hast du mit deinem Worte mich berührt und mit deinem Blick den Stein geschmolzen. Da ging viel Kraft heraus, und ich wurde nicht müde. Denn nicht der Mensch wird müde, der da lebt, sondern der Mensch wird müde, der nur zu leben scheint. Nicht der Mensch wird matt, der seine Kraft in Christi Nachfolge verzehrt, sondern der wird matt, der seine Kraft an die trügerische Welt vergeudet.
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 So, meine Geliebten, hebt die Passion des Gebenedeiten an. Über ihr steht: „du hast mir Mühe gemacht mit deinen Sünden und hast mir Arbeit gemacht mit deinen Missetaten.“ (Jes. 43, 24.) Aber dieses „du hast“ ist jetzt die Glorie des Sieges: „ich habe die Welt überwunden.“ (Joh. 16, 33) Und über unserer Passion steht: „ich gebe dir mein Herz zum Opfer, darum werde ich nicht müde, sondern ob auch mein äußerlicher Mensch verwest, wird doch der innerliche von Tag zu Tag verneut.“ (2. Kor. 4, 16.) Denn je mehr du für Jesum lebst, desto mehr lebst du von Jesus, und je mehr du von Jesus lebst, desto stärker wirst du. Und wenn sie sagen: „jetzt ist dein Leben aus“, spricht ein Anderer: „nein, ich lebe, und er soll auch leben!“ (Joh. 14, 19.) Und wenn sie an deinem Grabe stehend sprechen: „nun ist es vorüber!“ spricht er: „siehe,| ich mache alles neu!“ (Off. 21, 5.) Das ist die große, selige Passion der Christusnachfolge: man wird eine Persönlichkeit, man behält seine Eigenart, man bleibt in seiner Eigenartigkeit und die ist: alles ihm danken, ihm leben und leiden, ihn lieben zu können.

Liebe, die mich hat gebunden
An ihr Joch mit Leib und Sinn;
Liebe, die mich überwunden
Und mein Herz hat ganz dahin;
Liebe, dir ergeb’ ich mich.
Dein zu bleiben ewiglich.

Amen.



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