Der Dampf auf der Flucht

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Autor: unbekannt
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Titel: Der Dampf auf der Flucht
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aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 737–739
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Flucht der Dampflokomotiven
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Der Dampf auf der Flucht.


Der jüngste und hoffentlich letzte deutsche Bruderkrieg ist nicht nur vor allen großen Kämpfen vor ihm ausgezeichnet durch die Sturmeseile seines Verheerungsgangs und sein rasches Ende, sondern er hat auch ganz neue Kriegsbilder an’s Licht gebracht durch den ehernen Fuß, den er auf die von Dampf und Elektricität getragenen Verkehrsmittel der Gegenwart zu setzen suchte. Das erste Flammenzeichen desselben loderte mit der strategisch gebotenen Zerstörung der Riesaer Elbbrücke auf. Mit gieriger Zunge schlug die gewaltige Lohe aus dem zusammenstürzenden Balkengefüge des stattlichen Bauwerkes zum abendlichen Himmel empor und darüber hin wälzte sich der schwarze Qualm gleich einer gewitterschweren Wolke, dem Laufe des herrlichen Flusses folgend. Prasselnd und zischend stürzten die lodernden Holzstreben in die Fluthen, daß der weiße Gischt hoch auf zum brennenden Trümmerwerke spritzte. Unten aber, im Strombette, kämpften die Wellen mit rauschender, drängender Gewalt gegen das niedergeschmetterte dämmende Gebälk an, während der dadurch stromaufwärts gestaute Wasserspiegel das ganze grauenvoll-prächtige Bild in schauerlichem Abglanz wiedergab.

Nacht ist’s geworden. Beim Flammenscheine der brennenden großen Elbbrücke konnte man am Abend des 15. Juni in der elften Stunde eine Abtheilung preußischer Husaren bemerken, welche schnurgerade auf den Riesaer Staatsbahnhof losritten, dort einen der Bahnbeamten herbeiholten, von den Pferden sprangen und beim trüben Lichte einer Laterne in den verschiedenen Maschinen- und Reparatur-Gebäuden herumtappten, um Locomotiven und Wagen zu annectiren. Aber der Bahnhofsinspector, ein vorsichtiger Mann, hatte Wagen und Maschinen bereits nach Chemnitz schaffen lassen. Als noch die Husaren vergebens jeden Winkel durchspähten, da horch, ein Pfiff! was war das? Rasch stürzten die Reiter aus den Gebäuden und siehe da, der „Hercules“, die letzte neugierige Maschine, welche um jeden Preis die Fremden beschauen wollte, verschwand mit lautem Pfeifen im Dunkel der Nacht.

Diesem ersten Auftreten der Kriegsfurie folgten ein paar Tage Ruhe. Die preußische Armee, ihren rechten Flügel an die Elbe gelehnt, drang nach Böhmen vor und schien nach dem westlichen Theil der sächsischen Bahnen nicht mehr zu fragen. Man suchte auf ihm den Verkehr so lange wie möglich offen zu halten und ließ ihn nur in dem Maße aufhören und sich zurückziehen, je nachdem die Preußen vorrückten. Als diese jedoch am 17. Juni Waldheim besetzten, fand der im selben Augenblick im Bahnhof einlaufende Personenzug es angezeigt, eilig zurück nach Chemnitz zu fahren, ohne sich in nähere Bekanntschaft mit den blauen Gästen einzulassen. Dieser Vorfall und eine Menge anderer beunruhigender Nachrichten zeigten nur zu deutlich, welchen Gefahren in diesem Kriege vor Allem das gesammte Eisenbahnmaterial ausgesetzt sei. Man begnügte sich nicht mit dem Aufreißen der Schienen und Zerstören der Brücken und Viaducte, sondern man bemächtigte sich sofort aller Transportapparate, von der Locomotive bis zum letzten Kohlenwagen. Ebendeshalb brachte man in Chemnitz noch am selben Tage mehrere große Wagen- und Locomotiven-Züge nach Glauchau und Zwickau in Sicherheit. Am 18. Juni aber, wo der Feind ganz nahe an die Stadt streifte, war nicht mehr zu säumen; was Hände hatte, griff zu, um lange, lange Züge zu formiren, die mit drei bis vier starken Maschinen bespannt zum Thore hinaussausten. So kamen zweiundvierzig Locomotiven und viele Hundert Wagen gen Zwickau. Es war Abend sieben Uhr geworden und zwei Maschinen schleppten den letzten von Gößnitz kommenden Zug in den geräumten Bahnhof, die wenigen verwegenen Reisenden stiegen aus, die zwei Locomotiven waren eben im Begriff zu drehen, um rasch wieder zurückfahren zu können, als mehrere Beamte mit der Schreckensbotschaft daher rannten: „Preußische Soldaten stehen draußen vor dem Bahnhof und sperren den Ausgang!“ Das war schon so gut wie gefangen, eine schlimme Geschichte! Aber die beiden Führer des „St. Egidien“ und der „Augustusburg“ verzagten nicht, der Riesenkraft und Vogelschnelle ihrer bestaubten Rosse konnten sie vertrauen und nöthigenfalls durch ein ganzes Regiment reiten, ohne aus dem Schritt zu kommen. Rasch stürmten sie dem Ausgange zu und richtig, dort standen die flinken Husaren, den Säbel in der Faust, auf dem rettenden Geleise, sie wichen nicht vom Platze, während zum Ueberfluß eine ungeheure aufgeregte Menge Volks die Reiter umringt hatte, hin und her wogte und mit größter Spannung den Dingen entgegensah, welche kommen mußten. Jetzt waren die Locomotiven dicht vor den Reitern. Was wird noch werden? fragte man sich. Alles hielt den Athem an, man sah im Geiste den wilden Kampf, die Klingen funkelten, man horchte auf den ersten Schuß – da öffneten sich plötzlich auf beiden Maschinen Abstoßhähne und Schnelldampfer zugleich, der Dampfpfeifen schrille, durchdringende Schreie ertönten und ein wahrer Höllenspuk hub an. Bald waren beide schwarze Riesen in Dampf gehüllt und drangen unbekümmert um Säbel und Pistolen unter Freunde und Feinde hinein. Entsetzt wich Alles den verderbenbringenden Rädern aus, die Pferde bäumten und sprangen zitternd bei Seite, scheu und unruhig gemacht, ließen sie den erschrockenen Reitern keine Zeit ihre Waffen zu gebrauchen. Die Bahn war frei, und wie ein Ungewitter brausten die beiden Renner dahin, „daß Kies und Funken stoben“. Die preußischen Husaren sind gewiß verwegene Burschen, die sich schon mit aller Welt herumgehauen haben, und ihr Ahnherr Ziethen war ein Reitersmann par excellence gewesen, aber solchen Gegnern wäre auch er aus dem Wege gegangen! Er wird euch vergeben, ihr kecken Reiter, und es ganz in Ordnung finden, daß ihr von jeder Verfolgung der „geflügelten Rosse“ abstandet.

Die beiden muthigen Rosselenker hörten den Sturm des Beifalls nicht, der ringsumher losbrach; ohne Ruhe und Rast flogen sie über die geschiente Fläche nach Glauchau. Die Eile war gerechtfertigt, preußische Patrouillen hatten sich auf dem Wege dahin sehen lassen und jeden Augenblick konnte man die Schienen aufreißen; wohlbehalten gelangten sie indessen nach Glauchau und ihr sauve qui peut trieb Alles, was Räder hatte, in die Flucht nach Zwickau.

[738] Alle diese Zusammentreffen mit den preußischen Streifcorps trugen jedoch immer nur den Charakter des mehr Zufälligen an sich, die Hauptgefahr für die sich in Zwickau immer mehr aufhäufenden Transportmittel der sächsischen Bahnen drohte von einer ganz anderen Seite, der Schlag, welcher dagegen geführt werden sollte, war gut ausgedacht und zeigte, wie bald darauf der ganze Krieg, daß Preußen wie überall eine genaue Kenntniß aller einschlagenden Verhältnisse sowohl, wie aller wichtigen Punkte besaß.

Wenn man die Karte zur Hand nimmt, so sieht man, wie die Eisenbahn von Chemnitz über Zwickau führt und sich bei Werdau der Linie anschließt, welche Baiern oder Hof mit Leipzig verbindet. Von letzterem Schienenwege geht dann im Voigtlande bei der kleinen Station Herlasgrün eine andere, aber nur eingleisige Bahn links ab nach Eger oder Böhmen. Der Punkt nun hinter Werdau, wo die beiden Hauptlinien, welche von Leipzig und Chemnitz nach Böhmen und Baiern führen, zusammenlaufen, heißt die Werdauer Curve. Wurde sie vom Feinde besetzt, so war den in Zwickau massenhaft aufgefahrenen Wagen und Locomotiven die Flucht abgeschnitten. Und wie nothwendig diese Flucht eines so außerordentlich starken Transportmaterials war, sollte sich schon am 19. Juni zeigen. Dieselbe Landwehr, welche am frühesten Morgen dieses Tages (nach drei Uhr) ihren gemüthlichen Leiterwageneinzug in Leipzig hielt (vergl. Gartenlaube Nr. 28), besetzte damals sofort den sogenannten „Baierischen Bahnhof“ oder westlichen Staatsbahnhof und das Telegraphenbureau, stellte Posten aus, nahm alle noch vorhandenen Locomotiven (die meisten waren bereits nach Reichenbach in Sicherheit gebracht) sammt Wagen in Beschlag und bemächtigte sich des Frühzuges, welcher um vier Uhr vierzig Minuten nach Reichenbach abzugehen hat[WS 1] und schon reisefertig da stand. Nachdem der Führer der Expedition fertig war, d. h. Alles, was er vorgefunden, für erbeutet erklärt hatte, was bekanntlich sehr schnell geht, wurde eine zweite Maschine requirirt, um zur größeren Sicherheit, natürlich unter militärischer Bedeckung, dem von der Landwehr schon besetzten Zuge voranzufahren. So schnell aber auch das Alles vor sich ging, zwei edle Stunden waren dennoch verflossen, ehe das Abfahrtssignal ertönte; es schlug sechs Uhr, als der Zug die Halle verließ um das großartigste Dampfroß-Wettrennen zu beginnen. In Zwickau fühlte man die Nähe der großen Gefahr, so wie man zuweilen die Nähe eines hinter unserem Rücken befindlichen Menschen empfindet, ohne ihn zu sehen und zu hören. Auch war es von der Leipziger Seite her viel zu ruhig gewesen, als daß dies nicht Verdacht erregen mußte. Noch in der Nacht vom 18. zum 19. Juni lösten sich daher aus den großen dichtstehenden Wagenreihen lange Züge ab, von mehreren Schleppern (Maschinen mit großen Cylindern und also auch größerer Kraft) zugleich gezogen, darunter ganze Trupps Locomotiven, und fuhren ohne Aufenthalt nach Reichenbach i. V. Hier schon verbreitete sich die Nachricht von der Ankunft der Preußen in Leipzig – und als ob sie wie ein Sturmwind in die Feuer der Kessel gefahren wäre, tobte plötzlich ein nie gesehenes Leben durch alle Dampfrosse mit ihren endlosen Wagenreihen – und fort ging’s auf der Bahn nach Hof.

Neunzehn Locomotiven mit mehreren hundert Wagen tobten dahin. Da spannt die Göltzschthalbrücke weit über tausend Ellen lang sich über den Abgrund, nur wenige Thürme Deutschlands erreichen die Höhe, auf welcher sonst die friedlichen Züge sorgfältig signalisirt und in gemildertem Laufe dahin ziehen, – aber heute rast es, wie die ganze Hölle selbst, mit felserschütterndem Toben immer näher und näher. Was ist das Stampfen, Schnauben und Wiehern der Rosse vieler Regimenter gegen diesen Wagendonner und dieses die Luft zerschneidende Pfeifen der Angst von solchen Rennern! Die Leute im Göltzschthale werden ewig an jene Nacht denken! Aus dem Schlafe aufgerissen, sprangen sie aus den Betten und liefen in’s Freie und schauten um sich, denn sie hörten zuerst nur ein Rauschen, wie wenn gewaltige Wasserfluthen heranwogen! Aber schaut nur dort oben, es funkeln feurige Augen, jetzt Pfiff auf Pfiff – es ist also doch ein Zug und kein Wolkenbruch, der das Toben zwischen Himmel und Erde verursacht. Ja, es war ein Bahnzug, aber welch ein Zug! Staunenden Auges konnten sie beim Zwielicht des Dämmermorgens die über die wundervolle Brücke dahinrollende endlose Wagenburg mustern. Welche mächtige, dicke Dampfsäule wälzt sich hinter ihr her, bis sie dort in der Krümmung bei Netzschkau verschwindet! Aber nun folgt Wagenreihe an Wagenreihe, Zug um Zug! Sie kommen von Zwickau. Dort flieht Alles, denn der Feind ist ja schon in Leipzig und naht auf den Flügeln des Dampfes.

Wirklich war der früh von Leipzig abgegangene Landwehrzug währenddem gegen dreiviertel sieben Uhr in Altenburg angekommen, und er fuhr in demselben Augenblicke in die Halle ein, als der trotz alledem ordnungsgemäß von Hof gekommene Postzug eben im Begriff war, pflichtgemäß nach Leipzig weiter zu fahren. Da versah es der in der Halle anwesende altenburgische Officier, welcher die schöne Gelegenheit benutzen wollte, den Postzug zu arretiren. Er machte die Bahnbeamten zu bald auf die drohende Gefahr aufmerksam, indem er den eben aussteigenden Landwehrmännern zurief: „Hierher, Landwehr, hierher! Fest, Landwehr, fest!“ Aber ein Eisenbahnzug läßt sich nicht so leicht halten, wie eine Katze am Schwanze, und dieser wartete dies auch nicht ab, er war zum Thore hinaus, ehe ihn die preußischen Krieger noch recht beschauen konnten, und jagte rechts abschwenkend zurück nach Gößnitz, Crimmitzschau, überall alarmirend, und ebenfalls nach Werdau. Hier stand schon Alles zur Abfahrt fertig, in kurzer Zeit war der dichtbesetzte Bahnhof wie abgekehrt, fünfundzwanzig Locomotiven und lange Reihen Wagen befanden sich abermals auf der tollsten Flucht, und die letzte Maschine fuhr in dem Augenblicke davon, als auf der anderen Seite der dem preußischen Streifzuge vorausziehende dampfende Vorreiter sichtbar wurde.

Jetzt begann ein Rennen, von welchem sich Niemand eine Vorstellung machen kann; die fliehenden Werdauer Züge schlossen sich hinter der Werdauer Curve da, wo die beiden Eisenbahnlinien in eine zusammenlaufen, den letzten flüchtenden Zwickauern an und der Schreckensruf: „Der Feind ist da, er kommt!“ flog unterwegs von Wagen zu Wagen. Die Maschinen arbeiteten, um Vorsprung zu gewinnen, mit aller Kraft, und die Züge rasten dahin mit Windeseile, und zwar jetzt auf beiden Geleisen zugleich und wieder über die Abgründe des Elster- und Göltzschthales auf den schwindelnden Brücken! Die ganze vier Meilen lange Strecke von Werdau bis Herlasgrün war mit fliehenden Zügen und Locomotiven bedeckt; zwei von Hof und von Eger kommende Personenzüge, welche dieser Fluth entgegenkamen, mußten schleunigst umkehren und verkehrt auf und davon fahren, da an kein Halten zu denken war. Alle Ordnung hatte aufgehört, überall die bunteste Reihe, schöne Salonwagen erster und zweiter Classe, Kohlenlowries, Holz-und Postwagen untereinander, hier ein ganzer Zug rußiger Maschinen, Tiger, Bär, Strauß, Wallroß, Giraffe, Nashorn und Gazelle im friedlichen Verein halten sie Schritt, und was für einen Sturmschritt! eins, zwei, drei, vier, und vorbei sind hundert Ellen. Es war eine ganze Armee fliehender Wagen, ein Zug folgte dem anderen in kurzen, wenige Ellen betragenden Abständen: der Lärm der rollenden Räder, die unaufhörlich warnenden Töne der Dampfpfeifen, das Knarren und Schleifen der Bremsen das Krachen und Poltern der Wagen und das Klirren der Ketten, dazu eine dicke, große und schwere Rauchsäule welche von Zeit zu Zeit Alles einhüllte, machte einen großartigen Eindruck. Selbst dem besonnensten Mann wurde unheimlich zu Muthe beim Anblicke dieser brausenden Schaaren, denn bei dem wilden Durcheinander hing das schrecklichste Unglück nur lose über jeder Achse.

Da zog es hin, ein fliehendes Heer, und verkündigte donnernd den Krieg, Ruhe und friedliches Glück schien auf den leeren Wagen aus dem Lande zu ziehen.

Aber o weh! in Reichenbach gerieth die Fluth in’s Stocken, es mangelte plötzlich an Wasser. Der tausend Ellen lange und sehr breite Bahnhof war mit Zügen wie überschwemmt, und die Kraft, welche diese massigen Reihen in Bewegung setzen sollte, schlummerte noch in dem weit entfernten großen Wasserreservoir der Stadt. Es entstand eine unbeschreibliche Unruhe. Nachdem man die ganze Nacht gewacht, gearbeitet und sein Leben in dem gar nicht zu übersehenden Treiben auf den mit hin- und herfahrenden Zügen bedeckten Geleisen oft auf’s Spiel gesetzt hatte, um nur die Wagen noch fester aneinander zu fügen, sollte diese ganze große Wagenburg dennoch in fremde Hände fallen? Nein, man eilt hinaus auf die Höhen, bereit, beim ersten von Werdau kommenden Signal die Schienen aufzureißen, man stürzt nach dem Wasserbehälter und leitet das ganze für die Stadt Reichenbach bestimmte Wasser nach dem Bahnhof; jetzt floß es wieder, Muth und Hoffnung [739] kehrten zurück, denn die Telegraphenarme da oben beim Bahnwärter auf dem Berge, welche den gefürchteten Zug ankündigen mußten, hingen immer noch unbeweglich am Maste herunter und das Wasser rauschte und strömte in die Tender, Rauchsäulen stiegen empor, die Armee fing wieder an zu marschiren, Zug um Zug fuhr ab, immer zwei zugleich nebeneinander, und fort nach Herlasgrün, von da nach Eger. In Herlasgrün aber war derselbe lähmende Wassermangel eingetreten. Viele Züge waren nämlich von ihren Locomotiven mit Anstrengung der letzten Kräfte nach Herlasgrün gefahren worden, in der festen Zuversicht, hier endlich Wasser zu erhalten; es gab auch Wasser, der plötzlich eintretende starke Bedarf erschöpfte indessen bald den geringen Vorrath, – es herrschte überhaupt seit längerer Zeit ein allgemeiner Wassermangel, der sich auf allen Bahnhöfen empfindlich fühlbar machte, – nur wenige Maschinen konnten deswegen ihren Durst löschen und weiterfahren, die größere Anzahl hielt da, aneinander gereiht, und harrte des nassen Elementes. Wohl wurde dies ihnen von geschäftigen Händen in Kübeln, Kannen und Töpfen aus den nächstgelegenen, d. h. ziemlich entfernten, Teichen und Wasserlöchern, Bächen etc. mühsam zugetragen, aber wie viele Kannen verschluckt nicht so ein Tender, ehe es „genug“ heißt!

Diese sich verproviantirenden Züge oder Maschinen versperrten aber den auf zwei Geleisen anstürmenden Colonnen aus Reichenbach den Weg, und die nur mit einem Geleis versehene, dort abzweigende Egerbahn, auf welcher, wie erwähnt, die Flucht weiterging, konnte die anbrausenden Fluthen natürlich nur langsam verschlingen. Eine Stauung trat ein, die immer größere Dimensionen annahm; mehrere Locomotiven, die endlich wieder Wasser erlangt hatten, wandten sich mit ihren Wagen aus diesem Wirrwarr heraus und flohen nach Plauen, um nach Hof zu entschlüpfen, obgleich man die telegraphische Nachricht hatte, an der baierischen Grenze würde, wie bereits angekündigt war, der Vorsicht wegen die Strecke unfahrbar gemacht werden und man könne also schon an der Arbeit sein.

In Plauen angekommen, wird diese letztere Nachricht durch den Telegraphen als bereits geschehen bestätigt. Was nun? Man hängt die Wagen los, läßt sie in Plauen stehen und jagt mit den bloßen Maschinen zurück nach Herlasgrün; einige Maschinen aber sausen hin nach der fünf Meilen entfernten Grenze und treffen die Leute in der besten Arbeit, das Geleis unfahrbar zu machen; beim Anblick der Flüchtlinge baut man jedoch die Strecke schnell wieder und läßt die Versprengten durch. Kaum beginnt aber das Werk der Zerstörung auf’s Neue, als zwei Nachzügler ankommen; soll man schon wieder einhalten? Gewiß, nur nicht warten, und noch einmal baut man dürftig zusammen; die zwei Maschinen rollen darüber hin und sind geborgen!

In Herlasgrün war unterdessen dem Wassermangel nothdürftig abgeholfen worden und der Knäuel begann sich aufzurollen, so daß die von Plauen Zurückkehrenden sich der Hauptarmee anschließen konnten, deren Spitzen bereits in Oelsnitz eintrafen.

In den Städten des Voigtlandes aber, ganz besonders in Adorf, standen die Bürger und Turner mit Spritzen, Schläuchen und Eimern bereit; unermüdlich mit einander wetteifernd, pumpten und trugen sie den so nothwendigen nassen Stoff in die Tender, so daß kein langer Aufenthalt und keine Stockung entstand und der Marsch schnell weiter gehen konnte.

Es war Mittag. In Herlasgrün fing es an wieder ruhiger zu werden; am Horizonte verschwand der letzte Wagen, das Echo der die Thäler durchbrausenden Züge wurde immer schwächer, vereinzelte Rauchschleier zogen an den Fichtenkronen hin und zerflossen in der Luft, endlich war es still. Man hatte nun Zeit, über das so eben Geschehene nachzudenken, denn vorher theilte man die Hast der Züge und konnte ihr Verschwinden kaum erwarten; man schaute sich jetzt ängstlich nach allen Seiten um; aber nein, kein Verstümmelter, kein Unglück, nicht einmal ein zertrümmerter Wagen! War es wirklich möglich, daß Alles so glücklich abgelaufen? Welche unübersehbare Gefahren hatten gedroht bei dem Drauf und Drüber der wuchtigen Massen, dem Unglück war oft kaum auszuweichen gewesen, und dennoch – – Alles glücklich vorüber.

Die einen Tag später nach Zwickau unternommene preußische Expedition, welche vorher bei Werdau auf der Bahn einen tiefen Graben aufgeworfen hatte, überzeugte sich bald, daß Alles entwischt war. Die Kohlenwagen, welche man dort vorfand, kamen noch von den verschiedenen Steinkohlenschächten, wohin sie zur Beladung geschafft worden und dann in der Eile stehen geblieben waren.

Die Hauptarmee des Wagenheers war in Böhmen, in Eger, glücklich angekommen. Den 20. Juni waren daselbst über einhundertundvierzig sächsische Locomotiven und Tausende von Wagen beisammen, denn auch die in Plauen auf der Flucht stehen gebliebenen Wagen wurden einige Tage darauf nachgeholt, indem man an der baierischen Grenze das Geleis herstellte, die Wagen darüberfahren ließ und dann jenes wieder zerstörte.

Sicherlich verdienen die Männer, welche für die Rettung der ihnen anvertrauten Apparate der Bahnen eine solche ganz unberechenbare Gefahr bestanden, unsere Bewunderung so gut, wie die tapfersten Kämpfer im Feuer der Schlacht. Das Glück flog mit ihnen an den Abgründen hin und hielt die Tausende von Rädern treu an den Schienen! Möge dasselbe Glück ihnen den tapfern Dienst auch im Leben des Friedens lohnen!

Die flüchtigen Schaaren sind seitdem mit dem Frieden zugleich in’s Land zurückgekehrt, und der große Durchstich hinter Werdau ist während der Zeit längst wieder ausgefüllt worden, die Züge rollen darüber hin, den friedlichen Verkehr vermittelnd. Auch die Löcher und Durchstiche in Deutschland werden hoffentlich noch ausgefüllt und zwar wiederum durch – die Locomotive, welche die Nationen zusammenführt, weit besser und gründlicher, als dies mittelst Kanonen, Reden und Festessen geschieht.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: bat