Der Fels der Ehrenlegion
Auf dem Bahnhofe einer mitteldeutschen Gebirgslandschaft hielt ein schöner mit zwei Schimmeln bespannter offener Wagen im Schatten einer großen, mit frischem Frühlingsgrün belaubten Buche. In die gelblichen damastenen Kissen zurückgelehnt saß eine jugendliche, in Grau gekleidete Frauengestalt; sie hatte die Arme übereinander gelegt, und ihre großen dunklen Augen waren nach dem Gebirge gerichtet, das in schön geschwungener Wellenlinie sich darstellte.
Jetzt warf sie den Kopf zurück, auf dem eine Art modischen Tirolerhutes mit durcheinander wehenden grünen Hahnenfedern saß; sie erhob sich, nahm eine große in grau Leinen gebundene Mappe aus der Seitentasche des Wagens und begann zu zeichnen, bald rasch in die Landschaft hinausschauend, bald den Blick streng auf das Papier geheftet. Ihre Züge nahmen einen tiefernsten Ausdruck an, das längliche Gesicht, etwas bräunlich angehaucht, von nicht mehr erster Jugendfrische, durchzog sich mit einer leichten Röthe. Sie preßte den schöngeschnittenen Mund, auf dessen Oberlippe sich ein leichter Flaum zeigte, wie in Aerger zusammen; ihre Arbeit schien sie nicht zu befriedigen; sie setzte mehrmals ab, schüttelte den Kopf, ja sie schlug sogar einmal das Buch zu. Vor sich hinnickend, wie sich selber Muth zusprechend, öffnete sie es wieder und arbeitete weiter; allgemach gewannen ihre Mienen einen beruhigten, ja fast zufriedenen Ausdruck.
Durch Anlage der Eisenbahn war ein neuer Standpunkt zur Betrachtung der landschaftlichen Schönheit gewonnen, dessen man vielleicht nie inne geworden wäre; denn das ist nach allen Seiten hin ein auszeichnender Charakter unserer Zeit, daß uns Alles in neue Gesichtswinkel gerückt wird.
Die Zeichnerin wurde immer heftiger in ihrer Arbeit. Trotz des nur mildwarmen Frühlingstages schien es ihr heiß zu werden. Sie nahm rasch den Hut vom Kopfe und legte ihn neben sich. Das dunkle Haar, über der Stirn schlicht angelegt, war in zwei starken Flechten im Nacken aufgesteckt, die Stirn, nicht besonders groß, ließ zumal beim Ernste eine durch die Mitte sich hinziehende Falte wahrnehmen, deren Spur auch bei ruhigem Verhalten noch zu erkennen war. Das ganze Antlitz zeigte deutlich, daß der Ernst des Lebens seine Merkmale darauf zurückgelassen.
Durch den Lerchensang in der Luft und Finkenschlag in dem Baume tönte aus der Ferne ein langgezogener, schriller Ton der Locomotive. Die Zeichnerin machte noch rasch einige Striche, schlug das Buch zu, verbarg es wieder, setzte den Hut auf, und die Arme übereinander schlagend schien sie wieder ruhig warten zu wollen.
Ein Diener in brauner Livree trat zu dem Kutscher, der die Pferde am Lenkriemen hielt, er lüpfte den Hut mit der schwarzen Cocarde und sagte zu der Dame - er nannte sie „Fräulein“ - der Zug sei bereits signalisirt. Er öffnete den Schlag und machte eine Bewegung, als wollte er der Dame aus dem Wagen helfen. Diese aber sagte, ohne den Diener anzusehen, in die Luft hineinstarrend: „Ich steige nicht aus, bringen Sie Fräulein von Korneck hierher.“ Im Ton ihrer Stimme lag ein herrischer, vielleicht auch verdrossener Ausdruck.
Louise Merz, dies ist der Name der Wagenbesitzerin, erwartete eine Jugendfreundin, zu der sie jene Intimität des Pensionats hatte, die sich nur selten fortführt, die aber hier mit ständiger Beflissenheit erhalten wurde: Es war, als ob die Erwartete bereits die Unruhe verursachte, die sie immer mit sich brachte; denn Louise stand auf und setzte sich wieder, sie schien zu überlegen, ob sie nicht doch die Freundin beim Aussteigen begrüßen solle; aber als sie jetzt bemerkte, daß die Beamten des Bahnhofes, die auf den Perron getreten waren, nach ihr schauten, ja sogar Anderen sie zeigten und nach ihr hindeuteten, hielt sie sich wieder ruhig. Die Leute sollten nicht sehen, daß sie eine Freundin von so beweglichem Wesen hatte, die sich gewiß sehr erregt benehmen und Aufsehen erregen wird. Die ganze Umgegend sollte wissen, daß Louise Merz mit dem Leben abgeschlossen und eine matronenhafte Haltung habe.
Die Pferde mußten im Zügel gehalten werden, da jetzt der Zug so nahe heranbrauste. Ein weißes Tuch wehte aus einem Wagen zweiter Classe. Jetzt hielt der Zug an. Eine Frauengestalt reichte dem Diener behutsam ein Wickelkind aus dem Wagen heraus und legte es ihm auf den Arm, dann stieg sie aus; sie war von schlanker Gestalt, hellfarbig gekleidet; sie grüßte nochmals an den Wagen zurück und grüßte nach der wartenden Freundin unter dem Baume. In ihren Bewegungen war eine behende Lebhaftigkeit und sie schaute in die Luft, in die Gesichter der Menschen, als wollte sie ständig fragen, ob es nichts zu lachen gebe. Schachteln und Handtaschen wurden schnell auf den Boden gestellt. Die Angekommene nahm dem Diener das Eingewickelte ab, es schien ein junges Kind zu sein; sie hielt es behutsam und eilte damit zu der Freundin. Die Diener gingen mit dem Gepäck hinterdrein, auch der Bahnhofs-Inspector trug eine Tasche, er [226] kannte die Angekommene, deren Vater einst sein Hauptmann gewesen war.
Als sie bei der Freundin am Wagen stand, rief sie mit heller Stimme: „Louise, was sagst Du dazu, daß ich ein Kind mitbringe?“
Noch ehe die Staunende antworten konnte, wickelte sie die Kissen auseinander und aus denselben sprang ein braun und weißgefleckter Wachtelhund, schüttelte die langen Ohren, wie wenn er aus dem Wasser käme, sprang hin und her und schaute auf seine Herrin, die ihn aber keines Blickes würdigte, sondern unter dem Gelächter der Umstehenden, bald zu dem Inspector, bald zu Louise gewendet, rief: „Ist dies nicht ein artiges Kind unter zehn Jahren? Die reglementstarren Herren Bahnbeamten wollten mir nicht erlauben, meinen wohlerzogenen Freund Scheck mit in den Wagen zu nehmen. Nun denn! Die Tyrannei macht die Menschen klug! Ich habe Scheck als Kind maskirt, und habe damit die lustigsten Abenteuer erlebt. Die Mode, daß man jetzt nur kinderlose Miether in den Häusern haben will, dehnt sich auch auf die Eisenbahnen aus. An mehreren Wagen, wo ich mit dem vermeintlichen Kinde einsteigen wollte, hat man mir sehr menschenfreundlich zugerufen: ‚Hier ist kein Platz mehr!‘ und als ich endlich zornig eingestiegen war, wollten die Frauen das verschleierte Kind sehen, und ein noch sehr acceptabler Wittwer, dem ich gestehen mußte, daß ich keinen Mann hätte, machte mir einen halben Heirathsantrag. Herr Inspector,“ wendete sie sich zu diesem, der übermäßig lachte, „Herr Inspector, ich hoffe, Sie sind kein Philister, daß ich Strafe zu zahlen habe.“ Und als jetzt der Hund, der wissen mochte, daß von ihm die Rede sei, an seiner Herrin emporsprang, sagte sie zu ihm gewendet: „Ja, du warst sehr artig; du hast Menschenverstand.“
Die Bahnbeamten und alle Reisenden, die hier ausgestiegen waren, standen umher und lachten, ja die Kellner aus der Restauration kamen herbei und die Köchin erschien unter der Küchenthür, blickte nach der Gruppe und betrachtete ihren Anzug, der ihr nicht erlaubte, sich von ihrem Reiche zu entfernen. Der Hund schien etwas davon zu ahnen, daß dort ein gutes Herz für ihn sei, denn er verschwand plötzlich.
Mitten in der Heiterkeit der Umstehenden schaute Louise verdrossen drein. Sie bat, daß man fortzukommen eile. Dieser übermüthige Scherz der Freundin war ihr unbehaglich. Kisten, Schachteln und Handtaschen wurden aufgepackt, und als man eben abfahren wollte, fehlte Scheck. Auf wiederholtes Rufen kam er aus der Küche, er leckte sich noch die Lefzen ab, schaute noch einmal zurück zu seiner Wohlthäterin und wurde in den Wagen zu seiner Herrin gesetzt. Die Diener mußten sich offenbar Mühe geben, um nicht fort und fort zu lachen.
Der Wagen rollte auf der Landstraße dahin, die auf dem Bahnhofe Zurückbleibenden schauten ihm lange nach. Der Inspector erzählte den mit den Menschen in der Umgegend minder Bekannten, wer die beiden Damen seien. Der Wirth und die Wirthin gaben Ergänzungen, aber sie wußten doch nicht Alles.
Die Meinungen sind getheilt, die Einen behaupten, Louise sei erst fünfzehn, die Anderen, sie sei schon achtzehn Jahre alt gewesen, als ihr Vater, der reiche Fabrikant Merz, vor zehn Jahren zum ersten Mal zum Abgeordneten gewählt, mit seinem einzigen Kinde nach der Hauptstadt übersiedelte. Als unabhängiger, erfahrungsreicher und gebildeter Mann war Herr Merz ein angesehenes Mitglied der freisinnigen Mehrheit, die ein Ministerium ihres Charakters hatte. Dieses Ministerium war freilich noch nicht streng verfassungsmäßig aus der Mehrheit des Hauses hervorgegangen, vielmehr aus der Wahl des Fürsten, aber es herrschte doch eine eigenthümlich gehobene Stimmung, da man sich einer Regierung erfreute, die mit der allgemeinen Richtung wesentlich übereinstimmte.
Herr Merz hatte kaum mit einer nennenswerthen Gegnerschaft zu kämpfen gehabt, und er nahm das Mandat um so lieber an, als er seinem Naturell nach nicht gerne zur ständigen Opposition gehörte, sondern sich freute, seinen Grundsätzen getreu, loyal sein zu können. Freilich wurde es ihm schwer, seinen großen Fabrikbetrieb einem wenn auch vertrauenswürdigen Geschäftsführer zu überlassen, aber er hoffte auch durch Ortsveränderung und neue Thätigkeit seinen tiefen Lebensschmerz zu verwinden und zeitweise zu vergessen, denn er hatte vor Kurzem seine Gattin, mit der er in vollkommen glücklicher Ehe gelebt, verloren.
In der Miethswohnung, die man in der Residenz bezogen hatte, gestaltete sich bald eine anmuthende Häuslichkeit, der die Schwiegermutter, die den Sohn und die Enkelin begleitete, vorstand.
Die öffentlichen Kammerverhandlungen brachten keine Rede des Herrn Merz, um so wirksamer und geltungsvoller arbeitete er aber in den Abtheilungen, sogenannten Commissionen; er vollführte mit Eifer jene Arbeiten, die wie die Grundmauern eines Gebäudes nicht zu Tage treten, aber den Bau tragen.
Die Großmutter und Louise saßen halbe Tage lang auf der für die Angehörigen der Abgeordneten aufbehaltenen Gallerie. Die Herren unten im Saale blickten oft hinauf nach der würdigen Matrone und dem schönen Mädchen an ihrer Seite, das im Trauerkleide um so anmuthiger erschien. Oft auch kam in Pausen oder langwierigen Abzählungen dieser und jener von den näheren Bekannten aus den Abgeordnetenkreisen auf die Gallerie zu den Damen und unterhielt sich mit ihnen. Louise war meist schweigsam, aber die vielen Dinge, die sie hörte, bildeten eigenthümliche Elemente ihres innern Lebens.
Der Frühling, das Ende der Tagsatzung, wurde wie eine Befreiung begrüßt. Als man auf die Fabrik zurückkehrte, war es Allen, als ob man jetzt erst in’s Freie käme aus der schwülen Luft des Abgeordnetenhauses. Louise zumal schien neu aufzuleben.
Als sie mit Vater und Großmutter im Herbste wieder in die Residenz kam und jetzt nicht mehr in Trauerkleidern, wurde sie von einem großen Kreise als traute Bekannte begrüßt. Auch andere Abgeordnete hatten Frauen und Töchter mitgebracht, und es bildete sich ein eigner Kreis, der seinen besonderen Reiz darin hatte, daß nicht nur eigenthümliche Naturen aus allen Theilen des Landes sich zusammenfanden, sondern auch, daß man monatelang in der Fremde mit einer besonders gearteten Häuslichkeit lebte.
Im dritten Jahre fand sich eine belebende Neuerung. Eine Pensionsfreundin Louises, Marie von Korneck, war mit ihrem Vater nach der Residenz versetzt worden. Die beiden Mädchen waren wohl Freundinnen in der Pension gewesen, ohne sich derart zu verbinden, daß sie diese Beziehung über die Trennung hinaus aufrecht erhielten. Jetzt aber war es, als ob man in der innigsten Freundschaft gestanden hätte: man hatte gemeinsame Jugenderinnerungen, man hatte einander viel zu erzählen von den in alle Welt zerstreuten Genossinnen, von den Pedanterien der Erzieherinnen und einzelner Lehrer, aber auch von jenem Geschichtslehrer, in welchen alle Schülerinnen verliebt waren. Gerade die Gegensätzlichkeit, die in dem Wesen der beiden Mädchen bestand, schien eine neue Anziehungskraft zu üben. Marie hatte etwas soldatisch Entschlossenes, sie war fertig im Wort und sah das Leben als heiteres Spiel an; Louise dagegen hatte etwas Bedachtsames, sie hatte keine raschen Einwürfe und Zwischenreden, sie hörte aufmerksam und ruhig zu, und wenn sie dann sich äußerte, so geschah das in wohlgeordneter geschlossener Rede. Auch die Väter fanden freundlichen Anschluß, und da eben ein liberales Ministerium obenauf war, als dessen Stütze die Partei des Herrn Merz erschien, hatte der Major Korneck keinerlei Hinderung, mit einem politischen Manne von entschieden liberaler Richtung freundschaftlich zu verkehren. Marie von Korneck war rasch in die gesellschaftlichen Vergnügungen der Residenz eingetreten, sie kannte die besten Tänzer, die amüsantesten alten Herren, und der junge Fähnrich von Birkenstock, der ein weitläufiger Verwandter von ihr war und sie Cousine nennen durfte, war ihr dienstwilliger Verehrer, der sich auch der Freundin ergeben zeigte.
Louise wurde bald in den Strudel der Wintervergnügungen gezogen. Den Abgeordneten und ihren Angehörigen waren die Salons der Minister und die ersten gesellschaftlichen Kreise geöffnet. Durch manchen Ballsaal gingen Louise und Marie Arm in Arm, und viele bewaffnete und unbewaffnete Augen richteten sich auf sie.
Man sprach auch von Bewerbern um Louise, aber diese war gleichmäßig freundlich gegen Jedermann und bevorzugte Niemand. Sie war ein belebendes Element in den Männerkreisen, schlagfertig und entschieden in den Antworten; sie hatte nicht umsonst mehrere Tagsatzungen mit angehört, sich bei der Debatte bald für diesen, bald für jenen Redner entschieden, um zu erkennen, daß es ihr an Selbstständigkeit des Urtheils fehlte, bis sich diese herausbildete.
[227] Ein ganz neues Leben that sich ihr auf, als sie mit Marie in die Malerschule eintrat, die ein namhafter Künstler ausschließlich für Mädchen errichtet hatte. Marie verstand gut, menschliche Figuren zu zeichnen, aber sie liebte es noch weit mehr, Carricaturen zu fertigen; Louise hatte Neigung und Talent für die Landschafterei. Im Atelier führte Marie das große Wort, sie wußte von Allem, was in der Residenz vorging, besonders aber in militärischen Kreisen. Wie von selbst aber bildete es sich heraus, daß Louise als die Urtheilsvollste angesehen wurde, und wenn sie um eine Meinung gefragt wurde, gab sie solche mit einer Begründung und einem Eingehen auf etwaige Einwendungen, daß sie, wie von selbst, den Namen erhielt: „Tochter des Parlaments“.
Marie war überaus lustig und heiter und besonders neckisch gegen den Vater Merz. Dieser hatte sich gelobt, nach dem Tode seiner Frau ausschließlich seinem Kinde und den allgemeinen Anliegen des Vaterlandes zu leben, aber schon im ersten Winter, als Marie täglich im Hause verkehrte, fand er eine solche Anmuthung im Umgange mit ihr, die jede Stunde erheiterte, daß er in seinem Vorsatze schwankend wurde. Marie, der diese Neigung nicht entging, hatte nichts Ablehnendes; ja, sie war besonders zutraulich gegen ihn, und selbst der Major hatte ein Benehmen gegen Herrn Merz, als wollte er beständig sagen: Warum bist Du denn so zaghaft, alter Knabe? Die Sache wäre ja mit zwei Worten abgemacht. ...
Wochenlang hörte Herr Merz nichts von den Debatten, die um ihn her im Abgeordnetenhause gehalten wurden, denn er hörte nur die Debatten in seinem Innern, und diese waren so stürmisch, die Parteien kämpften so unparlamentarisch, daß der Vorsitzende, als ruhiger Verstand, sie oft zur Ordnung rufen mußte.
Herr Merz verschloß jede Kundgebung seiner Herzensbewegung, aber diese entging doch seiner Schwiegermutter nicht. Wenn Alles von dem muntern Wesen Mariens entzückt war, Vater und Tochter in ihrem Lobe mit einander wetteiferten, und man sich nach ihrem Weggange so öde und leer vorkam – da schüttelte die alte Dame oft verweisend ihr graues Haupt und löste die feine Hand von dem Strickzeuge, indem sie sagte: „Schade, schade! Fräulein von Korneck wäre die beste Schauspielerin!“
Herr Merz bezwang sich und wiederholte mit Geflissentlichkeit, sowohl vor Marie, wie vor ihrem Vater, daß er auf jede eigne Lebenserneuerung unbedingt verzichtet habe und Alles nur noch von Louise erwarte. Er hoffte immer, daß sein Kind doch bald den Mann finden würde, der diese Fülle von Herz und Geist und diese tiefe Begabung zu würdigen wisse. Auch Louise war frei genug, zu gestehen, daß sie sich zu verheirathen wünsche; aber Jahr um Jahr verstrich, Louise stand mit den besten Männern des Landes in freundlicher Beziehung, anfangs scherzend, dann immer ernster sagte sie, es scheine, daß nur verheirathete Männer sich ihr als tüchtig und geradezu darstellten; die Ledigen wollte sie immer geckenhaft oder sentimental finden, und bald auch glaubte sie, daß dieser und jener nur ihres zu erwartenden bedeutenden Reichthums wegen sich ihr nähere.
Im Sommer kam ein Brief von Marie, worin sie anzeigte, daß ihr Vater gestorben sei und sie nun allein und verlassen dastehe. Louise wünschte, daß der Vater Marie zu sich in’s Haus nehme; aber dieser, der sonst seinem Kinde keinen Wunsch versagte, lehnte es auf das Entschiedenste ab. Er behauptete, daß Louise durch den Anschluß an die Freundin dann ganz sicher kein eignes Leben gewinnen werde; sie sollte eine gewisse Sehnsucht nicht loswerden, um doch noch zu einem eigenen Hausstande zu kommen; in’s Geheim aber hatte er einen Widerwillen gegen Marie, der seltsamer Weise aus der bezwungenen Neigung stammte. Marie schrieb bald darauf, daß sie sich entschlossen habe, mit einer alten Dame auf Reisen zu gehen.
Herr Merz, der sich immer mehr nur dem politischen Leben widmen wollte und es für Pflicht hielt, daß Männer von unabhängiger Stellung sich solchem ausschließlich hingäben, verkaufte seine Fabrik. Er wollte ganz in der Residenz bleiben, aber auf Andringen Louisens zog er nach dem Landgute, das er im Gebirge besaß. Aber eben das Jahr darauf, als er sich völlig frei gemacht hatte, um sich nur dem staatlichen Leben zu widmen, wurde er nicht wiedergewählt. Nach dem ersten Schmerze der Zurücksetzung getröstete er sich aufrichtig – es war nicht bloße Redensart – daß es so viele tüchtige Menschen gebe, welche die Angelegenheiten des Vaterlandes vertreten können. Er sagte oft: man muß dem Rufe folgen, aber man muß auch still abwarten können, wenn man nicht gerufen wird, bis wieder die Zeit kommt.
Daneben war ein Umschwung in den Verhältnissen eingetreten, der es ihm seiner Gemüthsart nach erwünscht machte, nun nicht zur strengen Opposition gehören zu müssen. Er war keine kämpfende Natur, die sich in schroffem Widerstreit wohl fühlt; er liebte die Verträglichkeit, natürlich nur so weit sie mit seinen Grundsätzen vereinbar.
Jetzt konnte er die Sündfluth, die das Chaos zu bringen schien, in seiner behaglichen Arche abwarten. Die Tauben, die ihm die Nachrichten vom Wasserstande draußen brachten, waren die Zeitungen. Er las mit großem Eifer die Kammerverhandlungen; er hatte treffende und auch rednerisch wohlgeordnete Entgegnungen im Kopfe, die er nun leider nicht mehr anbringen konnte. Er widmete sich mit Eifer den Angelegenheiten der Gemeinde und der Landschaft, aber er empfand doch immer noch eine Leere und hoffte eine Erfrischung seines Lebens nur noch von der Verheirathung Louisens. Aber diese hatte das Vierteljahrhundert überschritten und bekannte nun offen, sie habe endgültig mit dem Leben abgeschlossen und wolle sich ganz ihrem kleinen Talente widmen.
Marie war von ihrer mehrjährigen Reise zurückgekehrt und wohnte mit der alten Dame in der Garnisonstadt. Als sie zum Besuche auf das Landhaus des Herrn Merz kam und mit ihm allein war, erkannte sie schnell dessen Befangenheit und sagte im heitersten Tone: „Ach, Herr Merz, warum haben Sie mich nicht vor Jahren geheirathet? Jetzt ist es zu spät, ich bin verlobt.“
„Darf man wissen, mit wem?“ fragte Herr Merz.
„Nein, das darf man nicht wissen.“
Seit jenem ersten Besuche hatte man sich nicht wiedergesehen. Jetzt war Marie eingeladen worden, da man noch einige Tage zusammen sein wollte, bevor Herr Merz und seine Tochter nach Italien reisten.
In raschem Trabe fuhr der Wagen mit den beiden Mädchen die Landstraße entlang.
„Ach, wie glücklich bist Du, solchen Wagen Dein eigen zu nennen!“ rief Marie. „Man sollte gar nicht glauben, daß man so finster drein schauen kann, wenn man im eigenen Wagen dahinfährt.“
Louise kannte das beständige Hadern der Freundin mit ihren ökonomischen Verhältnissen und sie nickte dazu, daß Marie durch allerlei Scherz sich die eigentlich traurige und abhängige Lage erheiterte und befreite. Marie mochte den Gedankengang der Freundin ahnen; sie erklärte, daß das Leben eitel Possenspiel sei, und das Beste wäre, man spiele frischweg mit. Sie erzählte mit großer Lustigkeit, welche Abenteuer sie unterwegs gehabt.
Louise lenkte sie hiervon ab und fragte, wie es ihr bei der Dame gehe, bei der sie jetzt als Gesellschafterin lebte.
„Ach!“ rief Marie, „sie klagt immer über ihre früheren Gesellschafterinnen und klagt zu Anderen gewiß auch über mich. Die edle Dame will immer sehr geliebt sein und dabei sehr wenig Honorar geben! Kehrbesen und Staubwedel sollten sich auf ihrem Wappen kreuzen, denn Auskehren und Abstäuben sind ihre beiden Lebensziele. Jeden Abend muß ihr das Dienstmädchen eine alte Zeitung in kleine Schnitzel zerreißen, diese zerstreut sie dann in die Stuben in alle Ecken, um anderen Tages sicher zu sein, daß überall gekehrt worden ist.“
„Du mußt doch aber froh sein, einen Beruf zu haben,“ suchte Louise abzulenken.
„Beruf? Ich sage wie Rückert – oder ist es nicht von Rückert? – ‚Hätt’ ich auch hunderttausend Thaler Renten, ich hätte mich Euch niemals aufgetischt.‘ Beruf? Sag’ mir doch das Wort nicht mehr. Wenn ich reich wäre, ich heirathete einen Mann, der mir gefällt, und ließe Anderen den Beruf.“
Ein ernster Ton wurde nun von Marie angeschlagen, da sie die Freundin ermahnte, doch nicht fort und fort die Spröde zu bleiben und alle Bewerber abzulehnen.
Louise entgegnete, daß sie mit dem Leben abgeschlossen habe.
„Abgeschlossen?“ lachte Marie. „Warum sagst Du nicht auch: ‚Ich habe ausgerungen, überwunden‘? Du bist ja ein Jahr jünger als ich. Ach, wenn nur Jemand käme, der Dich einmal bändigte!“
„Bändigte? Bin ich denn wild?“
[228] „Nein, nimm mir’s nicht übel, im Gegentheil, Du bist zu zahm, ich meine zu gebildet.“
„Zu gebildet?“
„Ja, Du hast zu viel gesehen, zu viel gedacht. Du erkennst an Jedem sofort die Mängel und daneben denkst Du: der will nicht mich, der will mein Geld. Bei jeder Erscheinung eröffnet sich in Dir eine parlamentarische Debatte. Du bist die Tochter des Parlaments.“
„Gut! Nun hast Du Alles gesagt, nun, bitte, sprich hierüber nichts mehr.“
Louise sagte dies in entschiedenem Tone, und man fuhr geraume Zeit still dahin. Man näherte sich den landwirthschaftlichen Gebäuden, die eine kleine Strecke von dem Herrenhause entfernt waren. Die Hofhunde bellten, sie merkten wohl den neuen Ankömmling, und Scheck war, wie seine Herrin, schnell zur Antwort bereit. Aber Marie befahl ihm, nicht das letzte Wort zu behalten, er gehorchte und schwieg.
Der Wagen hielt vor der Freitreppe des Herrenhauses. Herr Merz hieß Marie willkommen. In das Antlitz des älteren Mannes, das glatt rasirt war, trat eine leichte Röthe; er hatte es vielleicht doch noch nicht ganz verwunden, daß er einstmals zur Freundin seiner Tochter eine vorübergehende, besiegte Neigung empfunden hatte. Marie schlug sofort den neckischen Ton gegen Herrn Merz an und dieser erwiderte ihn mit Freundlichkeit.
Marie wurde auf ihre Zimmer geführt, aber sie kam bald wieder herab und ging mit Herrn Merz vor dem Hause auf und ab. An einem neuen, noch nicht fertigen Anbau, der ein großes Fenster mit einer einzigen Scheibe hatte, fragte sie, was das sei. Herr Merz erwiderte, daß er für Louise ein Atelier gebaut habe, es solle während der Reise nach Italien, die man vorhatte, fertig gemacht werden, da Louise sich ganz ihrem künstlerischen Talente widmen wollte.
„Das ist sehr unrecht von Ihnen. Das durften Sie nicht thun!“ rief Marie trotzig. Auf die verwunderte Frage des Herrn Merz erklärte sie, er hätte nicht willfahren dürfen, daß Louise ihren Vorsatz, mit dem Leben abzuschließen, zur Ausführung bringe. Jetzt habe ein Freier eine neue Concurrenz zu bestehen.
„Ich bleibe dabei,“ rief sie, „Louise muß heirathen. Und wenn ich den Schwanenritter her beschwören muß, sie soll heirathen. Abgeschlossen haben mit dem Leben! Fertig sein! Hat man je so etwas gehört von einem schönen, reichen Mädchen, das – nun ja – das sechsundzwanzig Jahr ist! Geben Sie mir Vollmacht, was ich will, in Bewegung zu setzen?“
„Und wenn ich sie Ihnen nicht gebe?“
„Da haben Sie Recht, dann thue ich’s doch. Aber es ist besser, daß ich’s gesagt habe. Diese Urlaubstage sind mein, ich will sie nützen,“ recitirte sie mit Pathos.
Louise kam herab und der Vater entfernte sich bald. Die beiden Mädchen hielten sich umschlungen und gingen miteinander in den Park.
Plötzlich hielt Marie an und rief: „Ach, ich möchte wissen, wie man auf eigenem Grund und Boden spazieren geht. Also so tritt man auf!“
Sie hob ihr Kleid etwas in die Höhe, ein kleiner Fuß in braunen Stiefeletten zeigte sich und sie setzte ihn mit Nachdruck auf den Boden. In überschwänglichen Ausdrücken führte sie dann weiter, wie glücklich doch Menschen sein müssen, die ein Stück Erde ihr eigen nennen und eine feste Heimath haben. Louise widersprach nicht, denn sie war von tiefem Mitgefühl beherrscht für ein Mädchen, das, aus der höheren Gesellschaftsschichte stammend, heimathlos in der Welt war und das Brod der Dienstbarkeit essen mußte, einer Dienstbarkeit, die sich noch mit einem Scheine der Freiwilligkeit umgab. Sie entgegnete nur endlich, daß Marie reich genug sei, denn sie besitze einen unerschöpflichen Schatz von Humor.
„Berufe mir das nicht!“ rief Marie mit Aengstlichkeit. „Wenn man so etwas beruft, ist es vorbei.“
Die beiden Mädchen waren in ein Dickicht eingetreten, wo die Vögel lustig sangen. Louise stand still und fragte die Freundin, ob sie ihr nicht endlich Näheres sagen wolle zu Andeutungen in einem Briefe, daß sie auf ihrer Reise ein Herz gewonnen habe.
„Jetzt noch nicht,“ fiel Marie rasch ein, „aber bald werde ich es Dir sagen. Bitte, frage mich nichts weiter. Wenn es Zeit ist, werde ich Dir Alles erklären und Du sollst mir helfen.“
Sie sprachen nun von der beabsichtigten Reise nach Italien, und Louise bedauerte, daß Marie sie nicht begleiten konnte. Sie wäre eine gute Führerin gewesen, denn sie kannte Alles bereits.
Marie wußte es und Louise ahnte etwas davon, warum der Vater, der sonst seinem Kinde keinen Wunsch versagte, entschieden ablehnte, daß Marie sie begleite. Schweigsam gingen sie durch den Garten und den Park und kehrten endlich in das Haus zurück. Die Großmutter, die den Tag über unwohl gewesen, hatte sich am Abend erholt. Man saß wohlgemuth beisammen, und nach dem Abendessen begann Marie noch eine Schachpartie mit Herrn Merz. Sie war eine sehr gewandte Schachspielerin, die Partie dauerte sehr lange, die Großmutter und Louise zogen sich zurück und Marie saß allein mit Herrn Merz.
Kaum aber waren sie allein, als Marie die Figuren zusammenwarf und sagte, sie müsse nochmals von Louise sprechen. Herr Merz solle ihr doch die Männer der Umgegend bezeichnen, die auf Morgen zu Gaste kommen sollten, welche darunter seien, die sich um Louise bewerben und welchen der Vater am meisten wünsche; denn es sei von großer Bedeutung, wenn eine Freundin ihr Wohlgefallen an einem Bewerber kundgebe, und sie hoffe damit einen Entschluß Louisens zu Stande zu bringen. Der Vater nannte mehrere, ein Gutsbesitzer und ein junger Beamter aus der nahen Kreisstadt waren ihm gleich werth, aber Louise schien gegen beide Bewerber gleichgültig.
Marie blieb dabei, daß sie die Freundin doch zu einem Entschluß bringe.
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Am andern Mittag, er war hell und frisch, kamen Wagen und Reiter aus der Nachbarschaft, Männer und Frauen wurden bewillkommnet. Marie hatte es durchgesetzt, Louise hatte eine neue Frisur annehmen, auch ihre Lieblingsfarbe – das elegische Grau, wie Marie es nannte – ablegen und sich hellfarbig kleiden müssen. Die Nachbarn und Nachbarinnen sahen sie beim ersten Begegnen staunend und befremdet an. Marie freute sich dessen, denn sie wußte, daß Louise nunmehr viel jugendlicher und lebhafter aussah.
Als der benachbarte Gutsbesitzer und der junge Beamte Marie vorgestellt wurden, machte sie eine Verbeugung, wobei sie jedoch die Augen nicht niederschlug, sondern fast gewaltsam aufriß. Sie musterte Beide und fand, daß dem äußern Anscheine nach die Wahl allerdings schwer sei.
Marie hatte das Glück, daß der angesehenste Mann des Freundeskreises ein ehemaliger Camerad ihres Vaters gewesen. Sie trat dadurch sofort in eine bevorzugte Ehrenstellung, der ganze Kreis gruppirte sich um sie, und Louise that Alles, um sie zum Mittelpunkte des heutigen Tages zu machen.
Der junge Beamte, der sofort erkannte, daß Marie bei Louise von entscheidender Bedeutung war, zeigte sich überaus zuvorkommend gegen sie. Er wußte sich ihr zuzugesellen, als man noch einen Gang durch den Garten machte. Im Laufe des Gesprächs sagte er leichthin, daß er auch Landwehr-Officier sei; er durfte voraussetzen, daß dies bei Marien einen besonders günstigen Eindruck hervorbringe.
Marie fand Erscheinung und Benehmen des Mannes sehr ansprechend, aber – war es Wirklichkeit oder spielte er’s nur? – er that schmachtend, er war nicht kühn und selbstbewußt genug. Marie sagte sich innerlich, daß dies nicht der Rechte sei; denn wer Louisen gewinnen wollte, mußte sie eigentlich dahin bringen, daß sie nach ihm verlangte.
Der junge Beamte schien sich nicht nur auf die Bedeutung von Baumschlag und Vordergrund eingeübt zu haben, er sprach sogar sehr eifrig von dem Glücke des künstlerisch bewußten Schauens und wie die heutige Blüthe der Landschaftsmalerei dem naturforschenden Charakter unserer Zeit entspreche; er deutete auf eine Baumgruppe, auf den Himmel und pries das Glück, in der Wiedergabe von Licht und Luft schwelgen zu können. – Er setzte Alles dies Marien auseinander und gab es doch, wie man sagt, nur zur Post; Marie sollte es der Freundin berichten.
Marie lächelte vor sich hin: „Der ist abgethan. Laß sehen, was der spröde Gutsbesitzer für ein Menschenkind ist!“
Der Gutsbesitzer hielt sich vorzugsweise zu Vater Merz. „Gute Manier, und nicht übel gewählt,“ dachte Marie. „Er hat wahrscheinlich hohe Achtung vor dem Manne, oder aber er heuchelt sie in diesem hohen Grade. Immerhin! Das wirkt gut auf Louise, denn sie liebt ihren Vater schwärmerisch, und wer diese Liebe mit ihr theilt, hat viel gewonnen.“
Im Gegensatz zu dem jungen Beamten sah der Gutsbesitzer in Marien ein Hinderniß. Er war eine ernste, neben seinem Berufe vorzugsweise der Politik zugewandte Natur: Ein Wesen wie Marie, das er schnell erkannt hatte, lenkte den Sinn der Freundin auf das Leichte, Flatterhafte. Er glaubte sogar zu bemerken, daß in dem Benehmen Louisens gegen Marie etwas Gezwungenes sei, er wollte daher mit dieser nicht gemeinsame Sache machen. Ja, als ihn Louise fragte, wie Marie ihm gefalle, sagte er geradezu: „Sie gefällt mir wie Ihnen. Ich glaube, daß Sie nur zeitweise mit einem solchen gewaltsam moussirenden neckischen Wesen leben können.“
Louise suchte ihn in seinem Urtheile zu berichtigen, aber sie that es doch in einer Art, die ihm nicht ganz Unrecht gab, und zum ersten Male schien der Gutsbesitzer seine Hoffnungen für berechtigt halten zu dürfen.
Bei Tische ging es heiter her, der alte Herr von Beuthen, der Marie zu Tisch geführt, hatte das Vorrecht, rücksichtslos sein zu dürfen.
Man sprach von der Reise nach Italien, die Herr Merz und seine Tochter unternehmen wollten, und der alte Beuthen rief: „Sie haben ein Unrecht begangen! Warum bauten Sie für unsere liebe Louise ein Atelier? Eine Kinderstube wäre besser.“
Man lachte. Die Augen Mariens gingen funkelnd am Tische hin und her. Sie sah, wie der junge Beamte erröthete; der Gutsbesitzer aber lachte mit.
Aller Blicke waren auf Louise gerichtet. Diese aber sah drein, als ob der Scherz sie gar nichts anginge. Mit haltungsvoller, unbewegter Stimme sagte sie endlich – sie fühlte, daß sie etwas sagen müsse –: „Ich freue mich, daß ich Herrn von Beuthen zu einem so anmuthigen Scherz Veranlassung gab.“ Sie unterhielt sich sehr eifrig mit einem stattlichen Manne, der neben ihr saß, so daß dessen Frau, die der junge Beamte zu Tische geführt, immer röther im Gesicht wurde, und diese Röthe wurde nicht vermindert, da sie auf Zureden des Beamten von den verschiedenen starken Weinen trank, die nach einander auf den Tisch kamen.
Man stand endlich von Tische auf; die älteren Herren blieben auf der Terrasse bei der Cigarre sitzen und Herr von Beuthen sagte mit gewaltiger Stimme ganz laut: „Es ist eine Schande für das ganze ledige Männergeschlecht, daß Louise noch unverheirathet ist.“
Die jungen Leute erlustigten sich im Garten. Louise stand noch eine gute Weile bei ihrem Tischnachbar in eifrigem Gespräch, aber Marie rief immer dringlicher und sie gesellte sich endlich in den jugendlichen Kreis. Scherz und Munterkeit herrschte und [255] aus einem Dickicht hörte man helles Jodeln, wie von einem jungen Gebirgsbewohner.
Marie hatte es dahin gebracht, daß Louise, die nicht eigentlich singen konnte, aber eine besondere Meisterschaft im Jodeln hatte, diese ihre Kunst preisgab. Sie hatte dabei die Gewohnheit, daß man sie nicht ansehen durfte, sie wendete sich ab, legte die feine linke Hand an die Wange und jodelte mit einer Kraft, als ob der Widerhall von Felsenbergen zurücktönte.
Die Alten und die Jungen mischten sich unter einander und es herrschte Heiterkeit, bis der Abend hereinbrach und die Gäste davonfuhren.
Als Louise wieder mit der Freundin allein war, sagte sie – und ihr Angesicht wurde flammroth –: „Ach, Marie, es ist doch gräßlich, und ich begreife es nicht. Ich bin doch …“
„Was denn?“
„Nein, es ist besser, ich sag’s nicht!“
„Auch mir nicht? Sprich doch!“
„Sieh, da waren so tüchtige, gediegene Männer“ – sie nannte diesen und jenen – „aber die mir ein Gefallen erwecken und die ich gescheidt und anmuthend finde, sind …“
„Verheirathet,“ fiel Marie ein.
„Ja,“ bestätigte Louise und bedeckte das Gesicht mit der Hand, „warum gefallen mir nur solche? Warum kann ich nur zu ihnen frei reden?“
„Und das weißt Du nicht? Du, die Tochter des Parlaments? Freilich, es ist zu einfach. Du läßt Dich solchen gegenüber frei gehen und sie können auch zu Dir unbefangen sein. Bei einem Ledigen aber, da glaubst Du immer, er habe Absichten auf Dich und nun gar auf Deinen Reichthum; da kommst Du nun natürlich nie dazu, harmlos zu sein und Andere unbefangen kennen zu lernen!“
„O, wie recht hast Du, wie recht!“
Lange gingen die beiden Freundinnen still neben einander her, plötzlich trat ein schelmisch triumphirender Zug in die Mienen Mariens und sie sagte:
„Komm, setz’ Dich hier zu mir, ich will Dir auch mein Geheimniß sagen.“
Sie faßte die Hand Louisens, ihre Stimme stockte; Louise sah darin eine tiefe Herzensbewegung, aber es war doch etwas Anderes. Marie erzählte, ganz gegen ihre sonstige geläufige Redeweise öfter innehaltend, sie habe sich soviel als heimlich verlobt mit dem Rittmeister v. Birkenstock in der nahen Garnisonstadt, der, obgleich ein entfernter Verwandter von ihr, doch immer nur auf kurze Stunden und in Gesellschaft mit ihr zusammengewesen. Sie habe nun den Wunsch – denn es sei ihr wichtig, daß sie sich nun näher kennen lernten – Herr Merz möge den Rittmeister zu Besuch einladen, er könne auf dem nahen Gute bei dem Pächter wohnen; es sei ohnedies seine Absicht, den Abschied zu fordern und eine Gutspachtung zu übernehmen, denn er sei der Sohn eines Landwirthes.
Louise versprach das zu bewirken; Marie ging allein auf ihr Zimmer und bald brachte ihr Louise einen offenen Einladungsbrief ihres Vaters. Marie schrieb noch lange in der Nacht einen Brief, den ein Bote noch spät nach dem Bahnhofe trug.
Louise wollte ihre Freundin begleiten, die am zweiten Abend nach der Bahnstation fuhr, um den Rittmeister abzuholen. Louise nannte ihn den Verlobten, die Freundin bestritt diese Bezeichnung, denn sie sei noch keineswegs verlobt; da Louise aber bei dem Worte blieb, ließ sie es gelten.
Marie fuhr allein nach dem Bahnhofe, sie blieb aber nicht, wie wenige Tage vorher ihre Freundin, im Wagen sitzen; sie ging unruhig auf dem Perron und in den neuen, sich erst kümmerlich entfaltenden Gartenanlagen einher, sie sah oft nach der Uhr, die sie in den Gürtel gesteckt hatte.
Der Zug brauste heran, ein junger Mann winkte. Er hatte ein gedrungenes, frisches Antlitz, das durch den mächtigen, langgezogenen Schnurrbart noch etwas besonders Kenntliches hatte. Er stieg aus, er trug ein hellfarbiges, kleidsames Bürgergewand, aber schon auf den ersten Anblick ließ sich der Soldat erkennen. Mit behender Gewandtheit begrüßte er Marie und sagte: „Du sollst den Husarengeist nicht umsonst angerufen haben. Da bin ich! Ich folge Deinem geheimnißvollen Rufe. Ich habe genügenden Urlaub. Nun sprich: wo ist das Abenteuer? wo ist der Unhold, der Drache?“
Marie bat ihn, jetzt nichts zu fragen und überhaupt nicht deutsch zu sprechen. Sie gingen nach dem Wagen, sie setzten sich ein und der Rittmeister fragte: „Es werden mir doch nicht die Augen verbunden?“
Marie lächelte verneinend. Er fragte weiter, ob es ihm, als modernem Ritter, erlaubt sei zu rauchen. Es wurde gewährt.
„Was würdest Du dazu sagen,“ begann Marie endlich, „wenn dieser Wagen, diese Pferde, dazu ein schönes Rittergut und einige Hunderttausende im feuerfesten Schranke Dein Eigen würden?“
„Mit oder ohne Frau?“
„Mit.“
„Mit Dir?“
„Scherze nicht!“
Hastig athmend fuhr Marie fort: „Ach, wir sind doch alle Philister, ich auch. Warum wird mir jetzt auf einmal so bange?“
„Dir bange? Steht dies Wort auch in Deinem Wörterbuche?“
„Du hast Recht! Es ist doch eine so schöne und nützliche, ja sogar moralische Intrigue, die Du mit mir unternehmen sollst.“
„Du siehst mich als romantischen Märchenheld zu Allem gerüstet, vornehmlich mit der Tugend des schweigenden Gehorsams. Ich höre Dein Orakel so geduldig, wie Tamino in der Zauberflöte.“
„Es wird Dir bald Alles offenbar sein. Erinnerst Du Dich noch an Louise Merz?“
„Wer könnte sie vergessen! Soll ich sie heirathen?“
„Ja!“
„Ich bin sofort bereit. – Laß die Kirchenglocken läuten! Ich bin volljährig ... es ist Frühling ... und frische Handschuhe habe ich bei mir.“ ...
„Vetter, es ist Ernst.“
„Man lebt doch im Traume. Hat sie sich also meiner auch noch erinnert, wie ich damals beim Minister mit ihr tanzte? Erinnert sich der Vater meiner auch noch? Er hat eine besonders gute Eigenschaft – er raucht die beste Cigarre.“
„Albrecht, scherze nicht über den ehrenwerthen Mann. Schon um Louisen zu gewinnen, mußt Du ihn verehren.“
„Ich finde ihn bereits hochehrwürdig.“
„Albrecht, sage mir vor Allem, würdest Du Louisen auch heirathen, wenn sie nichts besäße?“
„Nein.“
„Das ist doch wenigstens ehrlich.“
„Bitte, liebe Cousine, laß mich meinen Satz vollenden. Ich könnte sie nicht heirathen, wenn sie arm wäre; aber wenn sie arm wäre und ich reich, dann –“
„Dann würdest Du sie heirathen?“
„Nein, dann würde ich Dich heirathen.“
Marie erröthete, verbot aber dem Vetter fernerhin jeden derartigen Scherz, sonst sei er nicht tauglich zu dem, was er unternehmen solle; denn er müsse eine Zeitlang als ihr Geliebter, ja als ihr Verlobter gelten. Louise verlange das.
„Ich verstehe nicht,“ lachte der Rittmeister.
„Etwas Binde um die Augen muß sich der Herr Rittmeister schon gefallen lassen,“ erwiderte Marie.
Sie gewann ihre heitere Laune wieder und sagte, daß Louise sich keinem Manne unbefangen nähere, der nicht bereits gebunden sei. Gegen Verheiratete und Verlobte zeige sie sich in ihrer ganzen liebenswürdigen Natur und erkenne auch die schönen Eigenschaften solcher Männer vollkommen. Darum solle der Vetter Rittmeister eine Zeitlang als ihr Verlobter gelten.
„Aber Marie, mit was spielst Du? Du weißt ja, daß Du mir –“
„Bitte, laß das. Du weißt ja –“
„Freilich, freilich,“ entgegnete der Rittmeister und machte mit der Hand eine Bewegung durch die Luft, wie wenn man einen Pinsel führt. Marie durchzuckte es, sie legte sich in den Wagen zurück, dann aber, sich rasch erhebend, rief sie wieder mit hellem Tone: „Mach’ mich nicht zur Pedantin! Ich erlaube Dir Aufmerksamkeiten, die Du ja schon als Vetter gegen mich haben darfst.“
„So bitte ich vor Allem um einen Kuß.“
[256] „Schäme Dich! Und Du verscherzest Dir Dein Glück. Wenn es denn durchaus sein muß, hier! küsse mir die Hand.“
„Bitte, zieh’ den Handschuh ab!“
„Nein. Und noch Eins, sei recht freundlich gegen Scheck. Wenn Du durchaus Zärtlichkeiten üben mußt, übertrage sie auf Scheck. Nicht wahr, Du spielst auch Schach?“
„Mein Ruhm ist groß! Wer ertrüge die Qualen der Vorwerkswachen ohne Tabak und Schach?“
„Und Du verstehst auch zu zeichnen?“
„Beleidige die Cadettenschule nicht!“
„Du verstehst also Landschaften aufzunehmen und über Schlagbaum – ich meine Baumschlag – und Perspective gut zu reden?“
„Mein gnädiges Fräulein! Betrachten Sie sich diesen Baum mit seinem melodischen Gezweige, diesen Rhythmus, diese Symphonie –“
„Schon gut!“
„Nein, es geht doch nicht,“ sagte der Rittmeister ernsthaft, „wir machen uns nur lächerlich und Deine Freundin zum Feind. Kann es die spröde Louise uns je vergeben, daß wir mit ihr gespielt haben?“
„So? Also das ist der frische Husarenmuth, der ein schönes Abenteuer welk spricht? Sei ohne Sorge. Nach einigen Tagen müssen wir in Streit gerathen und es muß sich einrichten, daß uns Louise unwillkürlich belauscht. Dann gebe ich Dir den Abschied und Du dankst mir – ich erlaube Dir sogar mir knieend den Dank auszusprechen – Du preisest mich hoch und bekennst ehrlich, daß Du Louisen – wie sagt man doch? – rasend, schwärmerisch, titanenhaft liebst. Und – glaube mir, Du wirst nicht zu lügen haben, es wird in Wirklichkeit so sein.“
Die Beiden sprachen lange nichts mehr. Der Rittmeister schien sich in seine Rolle zu finden. Aus langem Hinbrüten lächelte er auf, erhob sich und reichte dem Kutscher und dem Diener seine Cigarrentasche hin; sie nahmen dankend die Cigarren, sie waren beide Soldaten gewesen und wußten diese Höflichkeit eines Officiers zu schätzen.
Marie nickte triumphirend.
Der Rittmeister hatte von Jugend an eine gute Gewohnheit. Er führte in kurzen Sätzen regelmäßig ein Tagebuch. Das hatte er glücklicher Weise bei sich. Er fand die Zeit verzeichnet, da er Louisen begegnet war, und gute Anhaltspunkte, die seine Erinnerung auffrischten.
Marie fand Alles sehr einnehmend und sie konnte aus dem Gedächtniß noch Manches hinzufügen.
Man war wohlgerüstet, und mit froher Laune fuhr man in das Landgut ein.
[270]
Wie einen Zugehörigen, in herzlicher Zutraulichkeit, hieß Louise den Bräutigam ihrer Freundin willkommen. Sie hatte auf dem nahen Gutshause die Zimmer freundlich für ihn herrichten lassen, und wie er ihr nun dankte, wie der Mann so jugendlich straffen Ansehens mit bewegter Stimme sprach und scheu, ja fast furchtsam erschien, wie er sie groß anschaute und dann die Augen niederschlug, als sie ihn bat, auch ihre Freundschaft anzunehmen – in allem dem lag ein seltsames Widerspiel.
Er erinnerte Louise an die Begegnung in der Residenz, und sie fand es sehr aufmerksam, daß er noch wußte, welches Kleid, welchen Kranz sie trug und was sie damals mit einander gesprochen.
„Wie gefällt er Dir?“ fragte Marie, als sie mit Louise allein war.
„Ich begreife nicht,“ erwiderte Louise, „wie man fragen kann, wie einem Andern der gefällt, dem man sein ganzes Leben widmet!“
Marie schien getroffen von diesem Ernste; sie entschuldigte sich, und ihre sonst so behende Redeweise hatte etwas Stockendes und Stotterndes, da sie hinzufügte, ihre Verlobung mit dem Rittmeister sei noch nicht so entschieden.
Mit dem Vater stand der Rittmeister schnell in gutem Vernehmen, er erklärte zwar alsbald, daß er nur wenig Theilnahme für die politischen Tagesbewegungen habe, aber die Art, wie er das Gut besichtigte, die sachgemäßen und kurzen Bemerkungen, die er doch wiederum gewandt und bescheiden in die Form von Fragen überleitete, gewannen ihm bald Achtung und Neigung des Vaters, der dies auch gegen seine Tochter ausdrückte.
Der Rittmeister erklärte gegen Marie, daß er sich weniger befangen gegen Louise als gegen deren Vater fühle. Er wollte wissen, ob der Vater vom Stande der Sache unterrichtet sei; aber Marie verbot ihm, weiter darnach zu forschen. Sie fand eine angenehme Reizung darin, daß auch der Vetter Rittmeister sich noch in einem Geheimniß bewege. Das gab seinem Benehmen jene weichen Töne, die ihr wirksam erschienen, und schließlich war sie sich selbst noch nicht klar, ob man den Vater in das Geheimniß ziehen dürfe. Einstweilen verschob sie die Entscheidung bis zu einem gelegenen Moment.
Die Großmutter hatte die Mutter des Rittmeisters gekannt, und es eröffnete sich nach dieser Seite hin eine unvermuthete, freundliche Beziehung. Die Großmutter, die sonst immer schweigsam in ihrem Lehnstuhle am Fenster saß, sprach öfter mit dem jungen Manne, in dessen Erscheinung nicht nur, sondern auch in dessen ganzem Behaben sie eine Aehnlichkeit mit seiner Mutter fand.
So waren die Tage auf dem Landgute schön und anmuthig belebt. Man ritt, man fuhr in der Gegend umher, man wandelte nach Aussichtspunkten im nahen Gebirge, und Louise konnte nicht umhin, wiederholt die Freundin glücklich zu preisen, solch’ einen Mann gefunden zu haben. Es erschien ihr gerade angemessen, daß die flatterhafte, immer zum Scherzen aufgelegte Marie einem Manne sich anschloß, der, zumal in Betracht seiner Jugend, einen haltungsvollen Ernst zeigte.
Es fügte sich oft, daß Marie mit dem Vater und Louise mit dem Rittmeister ging, und ein besonders ergiebiges Verständniß erschloß sich daraus, daß auch der Rittmeister im landschaftlichen Zeichnen geübt war.
Man arbeitete gemeinsam, man verglich die Aufnahmen und Louise konnte in der That dem jungen Manne, der, wie er sagte, sein Zeichentalent nur wenig geübt hatte, mancherlei Anweisung geben. Der Rittmeister war sehr gelehrig und überraschte sie oft, wie schnell er ihren Anleitungen nachzukommen verstand.
Marie zog sich oft zurück, wenn Louise mit dem Rittmeister zusammen war. Der Vater äußerte zu seiner Tochter, wie seltsam kalt und fremd ihm das Benehmen der beiden Brautleute vorkäme. Louise fand dies gerade höchst angemessen und sie schilderte den Charakter des Rittmeisters in theilnahmvoller, ja in inniger Weise.
Als der Vater Marien dies wiedererzählte, bat sie ihn, mit ihr in den Garten zu gehen, und hier erklärte sie offen den ganzen Stand der Dinge.
Der Vater war im Innersten betroffen, er erinnerte sich, wie oft die Schwiegermutter gesagt hatte, Marie hätte sollen Schauspielerin werden. Wie ist es nur möglich, solche Dinge in’s Leben hineinzuspielen, die eigentlich nur auf’s Theater gehören und die man dort gelten lassen mag?
Er konnte lange kein Wort finden und endlich erklärte er, daß das Verfahren Mariens, gelindestens gesagt, ein verkehrtes sei; denn sie werde den beabsichtigten Zweck nicht erreichen. Von dieser Stunde an mußte er sich zwingen, sein Benehmen gegen den Rittmeister in der begonnenen Weise fortzuerhalten. Was ist dies für ein Mann, der sich zu einer solchen Intrigue hergiebt? …
Louise und der Rittmeister hatten eines Tages begonnen, die Burgruine in der Nähe zu zeichnen, ja sie wollten sie sofort nach der Natur malen, der Rittmeister in Wasserfarben, Louise in Oel. Sie arbeiteten emsig den ganzen Tag. Marie und der Vater wollten sie am Abend abholen. Der Vater äußerte unterwegs schwere Besorgniß über diesen Vorgang, der zu nichts führe und nur eine herbe Stimmung hinterlasse. Marie wußte aber mit ihrer übermüthigen, sprudelnden Laune darzulegen, daß diese kleine Hinterhaltigkeit viel zu schwer aufgenommen werde; Louise werde anfangs betroffen, ja ärgerlich sein, dann aber glücklich aufjubeln, daß man ihr einmal Gelegenheit gegeben, einen so tüchtigen Mann in unbefangener Weise kennen zu lernen. Sie wiederholte, wie Louise ihr immer gesagt, sie habe das Unglück, daß sie nur Verheirathete und Verlobte in gerechter Weise erkenne. Nun solle das Unglück zum Glück werden. Marie sprach lebhaft und so geschickt, daß der Vater nur noch die Achseln zuckte. Er kam mit Marien bei dem Standpunkte an, wo die Bilder aufgenommen wurden. Ein guter Imbiß wurde aus dem Wagen genommen, man saß wohlgemuth beisammen. Louise war indeß sehr ernst, sie sah oft träumerisch verloren vor sich hin und sagte, sie sei sehr unzufrieden mit ihrer Arbeit. Der Rittmeister gestand, er habe Besseres von Louise erwartet; es sei eine reinliche Sorgfalt in ihrem Bilde, aber es sei zu ängstlich, zu sehr mit sclavischer Treue ausgeführt, es fehle an Kühnheit. Marie sah ihn betroffen an über diese Aussprüche, aber sie lächelte schnell wieder: gerade diese Offenheit, dieser ehrliche Tadel gewinnt Louisen um so entschiedener.
Die Vier wandelten nach der Ruine und erst als der Mond heraufgestiegen war, gingen sie nach dem Wagen und fuhren heimwärts. Es wurde wenig mehr gesprochen, der Vater schlief und auch Marie schien zu schlafen, nur der Rittmeister und Louise wachten. Die Sterne glitzerten am Himmel, die Nachtigallen schlugen in den Büschen und ein würziger Frühlingshauch erfüllte die Luft.
Da faßte der Rittmeister die Hand Louisens. Er hielt sie fest, sie wollte ihm ihre Hand entziehen, sie konnte nicht, sie zitterte. Er drückte ihre Hand und sie? Drückte sie sie wieder? Sie wußte es nicht. Eiskalt überlief sie’s. Ist es doch so? Du liebst einen Mann, der einer Andern angehört? Nein, nein! knirschte sie vor sich hin und ballte die Hände, und unwillkürlich rief sie plötzlich laut: „Vater!“
„Was willst Du?“ fragte der Vater aus dem Schlaf sich erhebend.
„Ach! Habe ich Dich gerufen?“
„Ja!“
„Ich wußte es nicht! Ja! Ich möchte jetzt aussteigen.“
Sie rief den Kutscher an, er hielt, sie öffnete schnell den Schlag, stieg aus und bat den Vater mit ihr auszusteigen. Sie duldete nicht, daß das Brautpaar ebenfalls ausstieg, sie befahl rasch dem Kutscher davonzufahren, und als der Wagen dahinrollte, fiel sie dem Vater um den Hals und rief: „Wehe, wehe! Ich bin schlecht, grundschlecht, ein elendes Wesen! Vater, hilf mir!“
Der Vater konnte kaum ein Wort der Beruhigung hervorbringen. Louise warf sich an seine Brust und mit herzerschütternder Stimme rief sie: „Ach, Vater, ich fürchte, es kann kommen, es will kommen, daß ich den Bräutigam Mariens liebe und er mich.“
„Wenn er aber frei wäre!“
„Ach, bitte, Vater, sprich nicht so. Ach, bitte, laß uns kein Wort sprechen.“
Der Vater wußte selbst nicht, wie er das seltsame Verhältniß erklären sollte. Er konnte nicht sagen, daß er von der Intrigue wußte, denn er mußte sich gestehen, daß er dann allen Einfluß auf sein Kind verlieren würde, und je länger er schweigsam neben seiner Tochter einherging, um so besser erschien es ihm, daß sein Kind selber sich aufraffte und den ersten Keim einer Neigung gegen einen Mann unterdrückte, der sich zu solchem Spiele hergab.
Schweigsam kamen sie bei dem Hause an. Louise eilte auf ihr Zimmer und ließ sagen, daß sie heute Niemand mehr sprechen wolle. Sie saß auf dem Sopha und rang mit sich in tief peinigender Selbstanklage. Mitternacht war vorüber, als sie sich endlich zur Ruhe begab; aber sie fand den Schlaf nicht, sie stand wieder auf und ließ den Vater wecken und ihn bitten, zu ihr zu kommen. Er kam, und nun drang sie in ihn, daß er sie befreie; noch sei es Zeit, noch gebe es ein einziges Mittel. Der Vater sollte wieder erklären, daß der Rittmeister vielleicht doch – aber Louise ließ ihn nicht ausreden; sie rief: „Nein, nie. Ich wäre ehrlos vor mir selbst.“ – Sie bat den Vater, daß man jetzt, sofort, noch in der Nacht die beabsichtigte Reise antrete, sie könne jetzt Marie und ihren Bräutigam nicht wieder sehen. Nochmals suchte der Vater sie zu beschwichtigen; aber Louise schwor, daß sie in der Nacht das Haus verlassen und in die Welt hinaus wandere, wenn der Vater ihr nicht willfahre. Noch nie hatte dieser sein Kind so leidenschaftlich überwältigt gesehen, so entschieden und entschlossen, alle Bande zu zerreißen. Er willfahrte. Louise schrieb noch einen Brief, worin sie der Freundin mittheilte, daß in den nächsten Monaten keine Nachricht sie treffe, – auch an die Großmutter schrieb sie, und im Morgendämmer, als Marie noch schlief, fuhr der Wagen ab, worin Louise und ihr Vater saßen.
Der Rittmeister, der in der Gutswohnung auch keinen Schlaf gefunden hatte und im Morgendämmer am Fenster stand, glaubte zu träumen, da er den mit vielen Koffern bepackten Wagen vorüberfahren sah, in welchem Louise und ihr Vater saßen.
Vater und Tochter waren schon weit, Louise war in einer Ecke des Bahnwagens eingeschlafen – wenigstens hatte sie die Augen geschlossen und hielt sich regungslos – als Marie in den Gartensaal zum gemeinsamen Frühstück ging. Sie war betroffen, daß sich noch Niemand zeigte, Herr Merz war immer früh auf. Da brachte ihr die Wirthschafterin zwei Briefe. Der eine war aus Paris, der andere hatte gar keine Adresse. Marie erröthete, als sie den ersten sah; sie öffnete aber doch schnell den zweiten. Er enthielt die hinterlassenen Zeilen Louisens. Marie konnte nicht fassen, was da geschehen war; sie öffnete den zweiten Brief, sie schien ihn nicht gut lesen zu können, sie faßte sich mehrmals mit der Hand an die Stirn, dann saß sie, lange vor sich hinstarrend, den Brief in der schlaff herabhängenden Hand haltend.
Der Rittmeister wurde gemeldet; Marie versteckte schnell beide Briefe. Der Rittmeister sah überwacht aus. Er sagte Marie, er sehe, wie er doch nicht zu solchen abenteuerlichen Unternehmungen geeignet sei; er trug es scherzhaft vor, aber im Tone seiner Rede lag doch ein Ernst, wie er darlegte, daß dies eine höchst peinliche Lage sei. Er stehe zwischen zwei begehrenswerten Mädchen; das eine solle als seine Braut gelten, das andere seine Gattin werden; er habe zu keinem ein wahres Verhältniß; er halte das nicht länger aus.
Marie hörte ihn geduldig an; sie preßte die Lippen zusammen, und als der Rittmeister endlich fragte, ob er geträumt habe oder ob es wirklich so sei, er glaube heute in der Morgendämmerung Louise und ihren Vater im Wagen davonfahren gesehen zu haben, da reichte ihm Marie den hinterlassenen Brief der Freundin. Sie war aber nicht wenig erstaunt, als der Rittmeister in fröhlichem Tone rief: „Das ist mir eigentlich lieb! Ich bin sie nun los mit sammt ihrem Gelde. Ich hätte mich vielleicht in eine Empfindung hineingelogen, ich war auf dem besten Wege dazu, und doch taugen wir nicht für einander, und ich glaube auch, daß auf ein solches Verhältniß, wie wir es hier anlegten, sich keine wirklich dauernde Lebensbeziehung aufbauen läßt. Das mag in der Komödie hingehen, wo man nicht fragt: wie ist es denn nun, nachdem der Vorhang gefallen? Wie wirkt es denn nach, daß sie Versteckens gespielt?“
Er hielt plötzlich inne und Marie sagte: „Sie wollten uns nicht ausweisen und sind darum aus ihrem eigenen Hause weggegangen.“
Der Rittmeister nickte und Marie fuhr fort: „Ich hätte Herrn Merz nichts davon sagen sollen.“
„Das hast Du gethan?“ rief der Rittmeister. Alles Blut schoß ihm durch die Stirn, seine Augen glänzten und er fuhr fort: „Nun ist Alles gut! Ich bin frei und froh. Ich bin den Geldteufel los und habe dafür den Anmuthsengel. Mir ist wohl, daß die Komödie vorbei ist. Wir wollen den Geldprotzen zeigen, daß wir sie zu Narren gehabt. Bist Du einverstanden?“
„Einverstanden? Ich verstehe nicht!“
„Marie, ich habe eingesehen, daß nur Du zu mir passest. Nun sage mir ohne Zagen frisch weg: findest Du nicht auch, daß ich allein zu Dir tauge? Wir besitzen freilich beide nichts, aber wenn wir einander haben, sind wir reich, und wir sind keine Philister, die sich viel Sorge machen. Ich bin gesund und muthig, ich werde schon mein Leben erobern. Nun sage mir nur ein einziges Wort. Habe ich nicht schon ein Leben erobert? Habe ich nicht Dich? Sprich nur ein einziges Wort!“
Marie griff in die Tasche, sie wollte den andern Brief herausnehmen, den sie aus Paris erhalten, aber sie brachte die Hand wieder leer aus der Tasche. Sie reichte die Hand dem Vetter dar und begann: „Laß mich jetzt nicht reden. Ich habe auch nicht gewußt, daß etwas in mir ist – man nennt es Eifersucht, aber – bitte, laß mich jetzt nichts reden. Vertraue mir, daß ich Alles ernstlich überlege – Du und ich, wir sind keine Kinder mehr. Ja, wir sind keine Kinder – wir haben beide Niemand, der für uns überlegt. Ich bitte Dich, reise Du jetzt zurück, aber gieb Dich keinen Hoffnungen hin – halte fest, ich habe Dir durchaus nichts gesagt. Leb’ wohl! Wenn es Zeit ist, wirst Du von mir hören. Aber nochmals – halte fest, ich habe Dir nichts zugesagt.“
„Und ich lasse Dich nicht,“ rief der Rittmeister, „ich versiegle Dir den Mund!“
Er umarmte und küßte die erbebende, die sich wehrte, dann aber auch ihn heftig umarmte und küßte. Plötzlich rang sie sich los und verließ das Zimmer. Der Rittmeister starrte ihr nach; dann ging er nach der Gutswohnung, legte das kleidsame Bürgergewand ab und in Uniform gekleidet kehrte er wieder nach der Garnisonstadt zurück.
Auch Marie reiste am Abend ab; auf der Heimkehr verbarg sie den kleinen Scheck nicht mehr in so übermüthiger Weise, der [272] Inspector erlaubte ihr, ihn offen in dem Wagen mitzunehmen; sie saß lange still und Scheck schaute verwundert nach ihr, so hatte er seine Herrin noch nie gesehen, sie widmete ihm keinen Blick, viel weniger ein Wort.
Nach einiger Zeit nahm sie den Brief Louisens aus der Tasche, durchlas ihn rasch und zerriß ihn dann vielfältig in kleine Schnitzel, die sie in kurzen Pausen immer wieder aus dem Fenster des Eisenbahnwagens in die Luftströmung hinausflattern ließ. Auf weite Wegstunden hin waren die Papierstückchen zerstreut, Niemand hätte sie wieder zusammenfinden können.
Sie nahm auch den anderen Brief heraus, betrachtete kopfschüttelnd die darin liegende Photographie, dann las sie: „Wessen ist dieses Bild? Nein, so wirst Du nicht fragen, wenn Dein warm und hell strahlendes Auge auf diesem Lichtbilde ruht.
Ich habe mich äußerlich wohl verändert, aber könnte man von der Seele ein Lichtbild aufnehmen, Du würdest keinen fremden Zug darin finden.
Und nun – wo bist Du? Wie lebst Du? Habe ich noch ein Recht, Dich ‚Du‘ zu nennen? Bist Du noch frei? Bist Du noch Dein, um mein zu sein?
Ach, verzeihe die krümmenden Fragezeichen.
Ich habe Dir Positives zu sagen.
Was ich damals auf dem schnell dahin gleitenden Schiffe Dir gelobt, ist nun Erfüllung. Ich bin zu schönen Ehren gekommen und in der Lage, Dir – uns – eine heitere, vor Noth und Sorge geschützte Häuslichkeit aufzubauen.
Ich komme zu Dir, wohin Du mich rufst.
Nur noch Eins, in Treue und Wahrhaftigkeit.
Sollte ich Dir nicht mehr so erscheinen, wie ehedem, so bist Du frei. Wir wollen uns dann feierlich die Hände reichen und sagen: es sollte nicht sein!
Ich überlese den Brief. Ich habe Dir verwirrt geschrieben; ich bin aber klar und weiß mich nur nicht anders zu fassen.
Mein Herz pocht wie damals, als ich Dich rheinabwärts fahren sah.
Ich bin voll Muth und Zuversicht und möchte, so lange ich
athme, seinMarie that einen Riß in den Namen, sie wollte auch diesen Brief zerreißen, aber sie hielt an, und vor sich hin sagte sie: „Er spricht dich frei, um auch selbst frei zu sein und auch neu prüfen zu dürfen. Nein, nein! Er ist eine gerade offene Seele ohne Hinterhalt! Ja, das war er! Ist er’s aber noch?“
Sie starrte lange auf die Photographie, dann steckte sie Brief und Bild wieder in die Tasche. –
Als sie heim kam, fand sie die alte Dame eben damit beschäftigt in gewohnter Weise die Papierschnitzel in allen Zimmerecken zu zerstreuen.
[273]
Monate sind vorüber. Das Dampfschiff hält in Flüelen am Vierwaldstätter See. Auf einem Wagen, dessen italienische Herkunft unverkennbar war, stiegen Herr Merz und seine Tochter, beide sahen gebräunt und frisch aus. Viel Gepäck wurde auf das Dampfschiff gebracht, und der italienische Kutscher dankte dem Herrn und der Dame mit großer Redseligkeit. Noch als das Schiff abgestoßen war, rief er ihnen mit südländisch heftigem Geberdenspiel Lebewohl nach.
Auf dem Dampfschiffe, das über den Vierwaldstätter See fuhr, war eine bunte Gesellschaft und alle Sprachen der gebildeten Welt tönten durcheinander; aber eine gemeinsame Empfindung beherrschte doch die Gemüther Aller: die Schönheit des Ausblicks über den See, nach den hellen Wohnorten an den Ufern und den hochragenden Bergen. Diesen Eindruck übersetzte sich Jeder in seine eigene Weise und die Gespräche erhielten jene seltsame Art, die sich in den Unterredungen der Menschen bildet, wenn Musik sie umtönt. Wie man da innerlich unbewußt hinhorcht auf das melodische Klingen, so sprach man hier von Allerlei, aber die begleitende Empfindung vom Ausblick in die großartige Naturumgebung durchzog alle Wechselrede und ließ sie oft plötzlich verstummen.
Unweit des Steuermanns saß Louise allein und schaute hinaus in die Landschaft. Sie kümmerte sich nichts darum, daß mancher Blick sich nach ihr richtete, ja, sie vermochte es zu überhören, daß man über sie räthselte. Die Einen hielten sie für eine dem Leben sich wieder zuwendende Wittwe, die Anderen für die an den begleitenden alten Herrn verheirathete junge Frau.
Der Vater hatte einen ehemaligen Parteigenossen aus dem Abgeordnetenhause getroffen, der Mann hatte Louise geneckt, daß sie seinen Erwartungen nicht entsprochen, denn er habe sie längst verheirathet geglaubt. Jetzt stand der Vater auf der andern Seite des Schiffes bei dem Manne, und die Beiden unterhielten sich natürlich zunächst über die allgemeinen Verhältnisse; sie waren beide nicht mehr in der unmittelbaren Bethätigung, aber ihre Theilnahme war doch lebendig. Der Parteigenosse erzählte, daß seine Tochter, die sich damals in jener ersten lebhaften Wintersitzung verlobte, ihm bereits drei Enkel geschenkt habe und er werde in den nächsten Tagen in Luzern seine jüngst verheirathete Tochter treffen, die mit ihrem Manne von der Hochzeitsreise aus Italien zurückkehre. Der Mann hatte fünf Töchter, sie waren an Beamte und Officiere und die jüngste an einen Fabrikanten verheirathet. Er erging sich, ganz im Gegensatze zu vielen Anderen, im Lobe der heutigen jungen Männerwelt; sie sei nicht mehr so romantisch, wie wir Alten gewesen, aber sie sei bedachtsamer und energischer. Mit behutsamen aber dennoch unausweichlichen Fragen erkundigte er sich, woher es käme, daß Louise noch ledig sei.
Herr Merz konnte nicht umhin zu erzählen, daß dies, abgesehen von dem Kummer um den Verlust seiner Frau, die einzige Beschwerniß seines Lebens sei; er suche sich darein zu finden, für sein Kind auf das Glück eigner Häuslichkeit zu verzichten.
Der Parteigenosse hatte einen Bruder seines jüngsten Schwiegersohnes, einen Officier, auf dem Dampfschiffe gefunden, er rief ihn nun herbei und stellte ihn Herrn Merz und Louisen vor.
Man machte die Rundreise auf dem See und Louise empfand ein Bangen, daß man nun heute Abend und vielleicht noch länger mit einer zufälligen Begegnung verbringen müsse, der man danklos die so sehr ersehnte Einsamkeit opfert. Als man in eine Bucht des Sees einfuhr, sah man ein helles Haus mit einem neuangelegten Garten, das einladend erschien. Louise hörte, daß hier ein Landungsplatz sei, sie bat den Vater, daß man hier aussteige. Der Ort erschien so heiter, so lockend, – es galt kein Besinnen, – die Glocke läutete, – Louise nahm rasch ihr Handgepäck, sie bestimmte auch den Vater, daß er das seine erfasse, – das Landungsbrett wurde angelegt – Louise und ihr Vater stiegen aus, das Gepäck wurde nachgebracht.
Vom Ufer aus rief der Vater und winkte Louise dem Parteigenossen und seinem jungen Freunde Lebewohl zu, die ihnen verwundert nachschauten, dann aber sich rasch umdrehten.
„Ich danke Dir, Vater,“ rief Louise aufathmend, „ich weiß nicht woher, aber ich meine, ich habe diesen Ort einmal geträumt, – ganz so wie er ist: so glänzte der See, – so sprang der Springbrunnen, – so wie mit einem Schuppenpanzer bekleidet war das Haus und so klang die Glocke, wie jetzt da drüben aus dem Dorfe. Ach, Vater, es ist doch herrlich, wie viel schöne, ruhige Plätze es auf der Welt giebt!“
Die Wirthin war herbeigekommen und hieß die Fremden in französischer Sprache willkommen. Sie deutete nach dem Hause und sagte, daß die beiden Balconzimmer an der Ecke mit der schönsten Aussicht eben heute frei geworden seien. Caspar, das Factotum des Hauses, der mit Stolz die hohe Mütze trug, auf deren Rundung der Name der Pension gestickt war, nickte der Wirthin zu, sein Blick sagte: „das sind vornehme Leute, ein Mann [274] auf dem Schiffe, der drei Orden im Knopfloch trug, hat ihnen noch nachgewinkt.“ Auch der Hund des Hauses schien es für Pflicht zu halten, die Fremden zu begrüßen; er sah Louisen augenzwinkernd an und setzte sich vor ihr nieder. Die Wirthin winkte ihm, da wegzugehen, aber Louise sagte, sie sei eine Freundin der Thiere. Sie lockte den Hund, der munter an ihr empor sprang und dann wieder zu seiner Herrin lief, als wollte er sagen: Siehst Du? Die Fremden haben mich schnell gern; sie wissen bald, daß ich ein guter Kerl bin!
Louise ging am Arme ihres Vaters nach dem Hause. Vor demselben spielten zwei Kinder auf einem Brette. Der Knabe in einer rothen Blouse mit kurzen Beinkleidern und nackten Waden, in feinen, bis an die Knöchel reichenden Strümpfen und naturellfarbenen, gelben Schuhen stand am oberen Ende des Brettes und stemmte einen Stock in den Sand, als ruderte er einen Kahn; ein kleines Mädchen, in die künstlerisch geordnete hierländische Tracht gekleidet, saß am anderen Ende des Brettes auf einem Schemel und bat den Schiffer, er möge erlauben, daß sie einmal aus dem See trinke. Der Knabe gestattete es mit huldreicher Handbewegung, das Mädchen beugte sich tief hinab auf den Sand und that, als ob es Wasser trinke.
Louise hielt ihren Vater an und sagte leise: „O! Wie herrlich!“ Sie grüßte die Kinder in französischer Sprache, sie antworteten in der gleichen, der Knabe in einer Art herablassender Höflichkeit, das Mädchen sehr zierlich.
Vater und Tochter gingen nach ihren Zimmern, sie fanden sie genehm. Louise überließ dem Vater alle Verhandlungen, er fragte, wer die Nachbarn seien, und erhielt zur Antwort, daß davon keinerlei Unruhe zu gefährden; denn es seien Maler, die den ganzen Tag draußen in den Bergen sich umhertrieben. Louise stand auf dem Balcon, sie preßte beide Hände auf die Brust. Jetzt breitete sie die Arme aus, als müßte sie fliegen. Als der Vater zu ihr kam, rief sie: „O Vater, ich meine, es strömt lauter Glückseligkeit auf mich herab. Ich habe gar nicht gewußt, daß es noch so viel Ruhe, solch eine thauige Luft zum Athmen in der Welt giebt.“
„Ja,“ ergänzte der Vater, „Du kannst hier viel Annehmlichkeiten finden, – es wohnen fünf französische Maler mit Frauen und Kindern hier im Hause.“
Wenn man tagelang nur vom bewegten Wagen, vom Dampfschiffe aus in die schnell vorbeifliegende Naturumgebung geschaut hat, dann ist ein ruhiger Ausblick vom festen Wohnsitze wie neue Labung. So saßen nun Vater und Tochter wohlig beisammen auf dem Balcon und schauten hinaus über den See und nach den Bergen. Kein Laut war vernehmbar als das Plätschern des Springbrunnens im Garten und dazwischen manchmal ein helles Jauchzen der Kinder, die sich am Uferweg entlang zu haschen suchten. Das Abendroth brach herein, Himmel und Erde erglühten in immer wechselnden Farbentönen und der See spiegelte sie wieder. Die Nacht kam, die Glocke im Dorfe läutete, die Kinder eilten nach dem Hause; der Knabe mit der rothen Blouse ließ es sich nicht entgehen, die Klingel im Gasthause zu läuten, die die gesammten Einwohner zur gemeinsamen Abendmahlzeit rief.
Als Vater und Tochter in den Saal traten, wendeten sich kurz die Blicke Aller nach ihnen, aber schnell setzte sich das Gespräch wieder fort, das ausschließlich in französischer Sprache geführt wurde. Vater und Tochter saßen, der allgemeinen Regel gemäß, am unteren Ende des Tisches. Der Präsident schien ein alter Soldat zu sein, er hatte einen weißen Schnurrbart und schneeweißes, kurzgehaltenes Haar. Er wendete sich rechts und links zu zwei Frauen, die neben ihm saßen; sein Blick schien zufrieden mit der Betrachtung der neu Angekommenen, denn er nickte den Nachbarinnen zu.
Die Fremden fühlten, daß sie in eine in sich abgeschlossene Gesellschaft eingetreten waren und ruhig abwarten mußten, welche Beziehung sich ihnen ergab. Louisen gegenüber saß ein junger Mann, der mit Niemand sprach. War er ein Ausgeschlossener oder hielt er sich selbst zurück? Es ließ sich nicht entscheiden. Noch ehe vollständig abgespeist war, verließ der junge Mann, ohne Jemand zu grüßen, wie unwillig den Saal. Als man aufstand, begrüßte Louise die beiden Kinder, die ihr bei der Ankunft einen so freundlichen Anblick dargeboten hatten.
In leichter Weise und guter Form näherte sich die Mutter der Kinder Louisen und fragte bald, ob Louise wohl auch Familie zu Hause zurückgelassen habe, da sie sich so sehr an den Kindern erfreue. Louisens Antlitz durchschoß eine Röthe, da sie verneinte. Die Gesellschaft ging nun in den Lese- und Musiksaal, auch Louise begab sich dahin. Einige Männer aber wanderten nach der Veranda und steckten sich Cigarren an; auch Herr Merz ging ihnen nach. Er fand indeß keinerlei Ansprache, er ging allein in den Garten, am Ufer entlang, bis sich der Präsident zu ihm gesellte, der sich bald als Officier aus der französischen Schweiz kund gab. Er war der älteste Stammgast des Hauses und lobte die glückliche Art, wie man hier lebe; man sei nur immer im Zwiespalt, ob man den braven Besitzern zu lieb den behaglichen Ort Anderen empfehlen solle, während doch zu fürchten sei, daß man durch Ueberfülle die hier herrschende Behaglichkeit zerstreue.
Louise, die sich nicht lange im Unterhaltungssaale aufhielt, kam zu ihrem Vater, der seine Tochter dem Oberst vorstellte. Louise fragte, was mit dem Manne vorginge, der so verdrossen ihr gegenüber gesessen habe. Der Oberst erklärte, daß dies ein deutscher Arzt sei; er begleite einen bis zur Schwermuth gesteigerten Nervenkranken, der beständig auf seinem Zimmer bleibe. Der junge Mann sei natürlich von der Gesellschaft seines Patienten, der ihn keinen Augenblick von sich lassen wolle, etwas angegriffen; übrigens beruhe seine Verdrossenheit vornehmlich darauf, daß er nicht französisch spreche und sich nun in der Gesellschaft wie ausgestoßen vorkommen müsse.
Die Wirthin hatte Louisen gesagt, daß nach elf Uhr der Vollmond über den Bergen herabsteige; sie solle den wunderbaren Anblick nicht versäumen. Louise wollte den Mond-Aufgang abwarten, aber sie und der Vater waren so müde, daß sie sich zur Ruhe begaben und bald einschliefen.
Plötzlich aber wurde Louise geweckt, der Vollmond strahlte so hell, daß sie die Augen aufschlug. Sie stieg aus dem Bette, sie stand am Fenster und schaute hinaus in die wundersame, wie traumhaft erleuchtete Landschaft und in den See, darin der Mond in breitem, glitzerndem Strahle sich wiederspiegelte.
Da kam vom oberen See herab ein Kahn geschwommen, glitt in der silbernen Strömung dahin; in dem Kahn saß ein Mann, der jodelte hell in die mondbeglänzte Nacht hinein. Der Kahn kam immer näher, das Jodeln wurde immer deutlicher, immer lebendiger und gewaltiger; die Fenster im Hause öffneten sich, Männer- und Frauenstimmen riefen: „Monsieur Edgar!“ Ein Jauchzen, das wie eine Rakete emporstieg, antwortete vom See herauf, und immer lustiger und übermüthiger jodelte der Mann, der im Kahne saß. Der Wirth und die Wirthin, der Allversorger Caspar eilten nach dem Ufer, riefen einander an: „Herr Edgar kommt!“ und der Hund bellte.
Der Kahn landete. Ein hochgewachsener Mann, mit einem spitzen Hut auf dem Kopfe, den er jetzt lüftete, begrüßte die Wirthsleute und die am Fenster Rufenden und stieg aus. Er erzählte laut, daß kein Dampfschiff mehr in der Nacht hierher ging, er aber habe nicht in der Nähe übernachten wollen und sich darum einen Kahn genommen und hierher gerudert.
Louise hörte noch, wie die Wirthin sagte, sein Eckzimmer sei nicht mehr frei, eine junge Frau und ein alter Herr hätten es erst heut’ genommen, sie würden aber wohl nicht lange dableiben.
Der Fremde ging in’s Haus, das Gepäck war ihm nachgebracht worden. Wieder war Alles still, der Mond schien über die Berge, über den See; Alles war so in sich ruhig, aber Louise fühlte ihr Herz klopfen. Was ist denn das? Ja, wir erleben noch wundersame Begegnisse, wie sie uns in Märchen und Sagen berichtet werden. Ist das nicht ein solches Ereigniß, wie da ein Mann über den mondbeglänzten See daher geschwommen kommt und freudiges Willkommen begrüßt ihn? Wie wird aber dies Alles am Tage aussehen, – mitten in der Prosa unserer Welt mit festen Pensionspreisen?
Der Springbrunnen vor dem Hause plätscherte und quallte und es klang, als ob er auch den Ruf: „Monsieur Edgar! Monsieur Edgar!“ gelernt hätte. So klang es immerfort, bis Louise einschlief.
[275]
Am Morgen wurde Louise erst von der Hausglocke geweckt, die zum gemeinsamen Frühstück rief. Der Vater stand vor ihr und sagte, er habe schon einen weiten Weg in der Umgebung gemacht und bereits, wie Louise gewünscht hatte, ein Telegramm nach Luzern aufgegeben, damit man ihm Briefe und Zeitungen hierher sende. Louise wußte nicht mehr, was sie gewünscht hatte, sie saß aufrecht und besann sich, ob sie in der vergangenen Nacht geträumt oder ein Wirkliches erlebt habe. Sie bat den Vater, im anderen Zimmer zu warten, bis sie sich angekleidet habe, aber sofort fragte sie durch die angelegte Thür, ob der Vater nichts von einem Monsieur Edgar gehört habe, der heut Nacht angekommen sei.
„Ja freilich,“ erwiderte der Vater, „und Alles im Hause strahlt vor Freude, die Wirthsleute, die Gäste, die Kellnerinnen, und vor Allem Caspar, er hat dem Kuhhirten gesagt: Jetzt wird’s erst recht lustig! Monsieur Edgar ist da! – Und ich hörte ihn mit dem Wirthe davon reden, daß man ihm heute wieder die Brücke bauen müsse.“
Louise wollte dem Vater sagen, daß sie die Ankunft des Mannes mit angesehen, sie wollte ihn fragen, ob er den Freudenbringer auch schon gesehen, aber sie hielt sich zurück. Bald ging sie mit dem Vater in den Saal, wo an kleinen Tischen das Frühstück eingenommen wurde. Um einen runden Tisch saßen Männer und Frauen, sie hatten Alle Blick und Wort an einen Einzigen gerichtet, der den Knaben mit der rothen Blouse und das kleine Mädchen, das heut ein weißes Kleid trug, auf seinem Schooße hatte.
Es war ein hochgewachsener Mann, bräunlichen Antlitzes, mit dichtem, schwerem Haupthaar und kurz gehaltenem schwarzem Vollbart. Seine Stimme war wohltönend und der Ausdruck seiner Miene freundlich; jetzt setzte er eine auf dem Tische vor ihm liegende Brille auf und fragte leise die Mutter der beiden Kinder etwas.
Offenbar hatte er nach Louisen und deren Vater gefragt, denn die Antwort wurde ihm ebenfalls leise gegeben und Aller Blicke richteten sich nach dem Vater und der Tochter, die indeß bald allein im Saale waren, denn die Gesellschaft ging nach dem Garten, wo der Neuangekommene – es war Monsieur Edgar – die beiden Kinder hüben und drüben an der Hand führte.
„Wunderlicher Widerspruch!“ sagte der Vater zu Louisen, „die Franzosen, die weit weniger Gefühl für Freiheit als für Gleichheit haben, sind eitle Ordensgecken; sie tragen auf Reisen ihre rothen Bändchen und sogar hier in der schweizerischen Republik, wo es keine Ordensbänder giebt.“ –
„Es mag Eitelkeit darin liegen,“ entgegnete Louise, „aber es giebt ihnen doch auch eine Verpflichtung, sich als nicht gewöhnliche Menschen zu zeigen, und ein ungewöhnlicher Mensch scheint er.“
„Wer?“
„Der Herr Edgar. Als ich ihn in der vergangenen Nacht sah, hätte ich freilich nicht geglaubt, daß er am Tage einen Orden trägt im Angesicht dieser Gebirge, wo Alles das so kleinlich erscheint.“ Sie erzählte dem Vater das Erlebniß der vergangenen Nacht und es lag ein schmerzlicher Ton darin, wie sie hinzufügte, daß im Lichte des Alltags kein ungewöhnliches Ereigniß bestehen bleibe.
Die Wirthin, die herzugetreten war, sagte unaufgefordert den beiden Fremden, daß Monsieur Edgar der Beliebteste von Allen sei. Er sei von Rom aus schon mehrere Sommer hier gewesen und das letzte Mal fünf Monate; er habe ein prächtiges Bild hier aus der Gegend gemalt.
Der Vater fragte, ob die Frau und die beiden Kinder ihm gehörten; die Wirthin verneinte und setzte hinzu, so lustig sei kein verheiratheter Mann und er mache sich auch nichts aus den Frauenzimmern, aber die Kinder habe er gern, er sei ein wahrer Kindernarr.
Louise fragte, ob man nicht die Punkte sehen könne, welche die hier angesiedelten Künstler jetzt malten. Die Wirthin zuckte die Achseln, die Maler hielten es wie die Vögel, die auf Umwegen zu ihrem Nest fliegen, um es nicht zu verrathen; sie sorgten ängstlich dafür, daß man sie in ihrer Arbeit nicht störe, wenn aber Jemand die versteckten Orte finde, wo sie arbeiteten, dann könnten sie es nicht hindern.
Die Männer waren alle fortgegangen, auch der Wirth und Caspar waren nicht zu sehen. Die Mutter der beiden Kinder saß mit anderen Frauen an der Schattenseite des Hauses mit einer Handarbeit beschäftigt. Louise hätte sich gern ihnen zugesellt, aber da sie nicht aufgefordert wurde, ging sie vorüber. Es war still im Hause und im Garten; nur die beiden Kinder spielten am Ufer mit dem Hunde, der, seiner Pflicht bewußt, sich zur Unterhaltung der Gäste herzugeben schien.
Jetzt kam der Nervenkranke mit seinem Begleiter des Wegs daher, Louise und der Vater grüßten, aber der Kranke machte eine abwehrende Bewegung, und so wandelten sie ohne weitere Anknüpfung vorüber.
Louise ging nach ihrer Stube, sie wollte ihren Malkasten mitnehmen und sich einen guten Punkt suchen, aber eine eigene Scheu hielt sie zurück. Wie sollte sie in der Umgebung von Künstlern von Fach sich mit ihren dilettantischen Versuchen hervorwagen?
Sie ging mit ihrem Vater nach dem Dorfe, sie bestiegen eine kleine Anhöhe, die als besonderer Aussichtspunkt gerühmt war. Der Vater hatte das Glück, hier einen Mann zu finden, der seine Sommerfrische im Dorfe hielt und einen Pack der neuesten Zeitungen vor sich liegen hatte. Es ergab sich leichte Anknüpfung und der Mann erbot sich, dem Fremden täglich die ihm zukommenden Zeitungen zu überlassen. Er war ein ehemals hoch angesehenes Mitglied des schweizerischen Bundesrathes, und bald war Herr Merz mit ihm im eifrigsten politischen Gespräch, so daß er und seine Tochter eingeladen wurden, in das kleine Bauernhaus zu kommen, das der alte Herr sich behaglich eingerichtet hatte und, nachdem alle seine Kinder verheirathet waren, nun mit seiner Frau allein bewohnte. Es war ein erquicklicher Einblick in ein stilles, abgeschlossenes Leben.
Als man am Mittag das Haus verließ, sagte Herr Merz: „Man vergißt ganz, mit wie Wenigem man glücklich sein kann.“
„Lieber Vater, das ist nicht wenig, was die Leute haben; sie haben unbeschränkte Ruhe und ein sorgloses Auskommen, das ist nicht wenig.“
„Ja, ja,“ ergänzte der Vater, „wenn Deine Mutter noch lebte und wenn Du Dich verheirathet hättest, ich glaube, die Mutter und ich, wir hätten uns auch ein solches Häuschen an diesem so schönen Fleck Erde gewählt, aber wenn – wenn – das soll man eigentlich nicht sagen.“
Als die Beiden in den Gasthof zurückkamen, wollte sich die Gesellschaft eben zu Tisch setzen; lärmendes Durcheinanderreden wurde laut, weil Monsieur Edgar keine Ausnahme gestatten und nicht von der alten Ordnung abgehen wollte. Er widersprach dem allgemeinen Wunsche, sich oben an den Tisch in die Mitte seiner Freunde zu setzen; nur der Präsident gab ihm Recht, und so setzte er sich als der letzte der Gäste und saß Louise gerade gegenüber neben dem Arzte, der ihn immer grimmig ansah. Es wurde kein Wort hier am Tische gesprochen und nach aufgehobener Tafel waren die Künstler bald alle wieder verschwunden.
Am Mittag gesellte sich Louise zu den zurückgebliebenen Frauen, während der Vater mit dem Bundesrath eine in der Nähe liegende Seidenfabrik besuchte.
Als am Abend die Maler zurückkehrten, wurde Louise Allen vorgestellt und auch Herrn Edgar. Nach der Abendtafel versammelte man sich wieder im Musiksaale, die Mutter der beiden Kinder sang anmuthige französische Lieder; ihre Schwester, ein schlankes junges Mädchen mit blonden Locken, ließ sich erbitten und spielte die Geige, sie selbst übernahm die Clavierbegleitung. Der Anblick des Mädchens mit der Geige und ihren schönen Bewegungen war anmuthig. Das Auge Edgar’s haftete unverrückt auf ihr. Louise saß neben ihrem Vater und sagte leise: „Findest Du nicht auch, daß die Geigenspielerin Marien ähnlich sieht?“
Der Vater nickte. Nun setzte sich Herr Edgar auf den leeren Platz neben Louise und forderte sie auf, auch zu singen oder Clavier zu spielen. Sie betheuerte, daß sie kein musikalisches Talent habe, und im Tone ihrer Worte lag eine Wahrhaftigkeit, daß Herr Edgar sagte, er glaube ihr vollkommen, er sei überzeugt, daß sie nicht aus Ziererei eine unwahre Bescheidenheit kundgebe.
Louise dankte, aber es traf sie doch seltsam, daß der Mann, der noch so wenig mit ihr gesprochen, so auf den Grund ihrer Seele sah. Sie wollte fragen, woher er diese gute Meinung von ihr habe; aber sie unterdrückte es, vielleicht auch – suchte sie sich einzureden – ist dies eine neue Art französischer Höflichkeit.
Als nun Herr Edgar bemerkte, er hätte ihrer Sprechstimme [276] nach geglaubt, daß sie singen könne, erwiderte sie, früher habe sie allerdings etwas Singstimme gehabt, aber so gering, daß sie die weitere Uebung aufgegeben habe.
Herr Edgar fuhr in gewandter Redeweise fort zu erklären, wie doch die Musik allein die einigende Kunst sei. Menschen aus verschiedenen Nationen und Gesellschaftskreisen fänden im Reich der Töne, das über alle Nationalsprachen hinausrage und etwas Kosmisches habe, eine Einigung.
Scherzhaft setzte er hinzu: „Wenn die Werkleute beim babylonischen Thurmbau hätten singen können, es wäre wohl nie die Sprachverwirrung eingetreten.“
Die Art, wie er sprach, hatte etwas einfach Bewegendes und in Scherz und Ernst etwas so Bestimmtes und Sicheres, daß sich nicht nur gesellschaftliche Gewandtheit, sondern auch vielfältiges, einsames Denken daraus erkennen ließ. Louise, die sich daran gewöhnt hatte, von einzelnen Aussprüchen aus den Hintergrund der Seele, die Gesammtheit des Denkens und Empfindens aufzubauen, sah den Sprecher freudigen Blickes an; dieser aber erhob sich bald wieder, setzte sich zur Geigenspielerin und ging dann mit seinen Freunden in den Garten.
Louise folgte bald mit den Frauen. Scherz und Lachen herrschte in der linden Mondnacht am Ufer entlang, und die klatschenden Strandwellen tönten darein.
Louise fühlte sich in der Gesellschaft heimisch, und wieder, als sie mit dem Vater allein war, pries sie das Glück, daß sie hierher gekommen seien.
Am andern Morgen kam der Bundesrath mit seinem Kahne vor dem Hause angefahren, er schickte den Fährmann zu Herrn Merz, daß er mit ihm komme, um weit in den See hinauszufahren und dort zu fischen. Auch der Pfarrer des Dorfes, ein lustiger Camerad, der sich auf seine Angelkunst viel zu Gute that, war mit von der Gesellschaft.
Louise wagte, unter der Mantille verborgen, ihr kleines Skizzenbuch mitzunehmen, sie ging hinaus, die Uferstraße entlang, dann einen Berg hinan, sie fand einen guten Punkt mit weiter Aussicht, und als sie sich versichert hatte, daß Niemand sie sehe, begann sie zu zeichnen.
Am Mittag kam sie von der Arbeit gestärkt fröhlich zurück und es herrschte viel Heiterkeit, denn die drei Männer hatten einen großen Fischzug gethan und die Beute wurde am Mittag verspeist.
Der Himmel bewölkte sich, aber die Maler ließen sich nicht abhalten, zu ihrer Arbeit zu gehen. Caspar, der neben seinen anderen Berufsarten sich die eines untrüglichen Wetterpropheten angeeignet hatte, prophezeite ein schweres Gewitter zum Abend, und kaum saß man bei Tische, als es zu donnern und zu blitzen begann. Nur die Frauen gingen nach dem Musiksaal, aber sie wagten nicht, eine Saite tönen zu lassen, jetzt, wo es draußen so stürmte. Die Künstler waren hinausgegangen, um die Blitzesbeleuchtungen zu sehen; sie kamen erst zurück, als ein ergiebiger Regen hernieder rauschte.
Ein heller Morgen brach an, Baum und Gras glitzerte und die Linien der Berge setzten sich scharf ab von dem blauen wolkenlosen Himmel. Louise wagte es, ihren Malkasten herauszunehmen, ein Knabe trug ihr denselben nach, und den Bergstock in der Hand, stieg sie nicht weit von dem Gasthause einen Vorhügel hinan. An der Seite hörte man den Bach rauschen, der durch das Gewitter viel lebendiger war als bisher. Sie suchte das Bett des Baches höher oben, und je weiter sie schritt, um so muthiger wurde es ihr im Herzen; sie wendete sich oft um und schaute hinaus über den See und war voll Glückseligkeit. Jetzt stand sie auf einem vorspringenden Felsen, wo man den Bach drunten rauschen sah. Sie hielt an, stemmte den Stock in den moosbewachsenen Grund, legte die linke Hand an die Wange und jodelte lustig in die Welt hinaus.
Horch! Unten aus der Schlucht tönt eine Jodel-Antwort zurück. War das nicht die Stimme des Herrn Edgar, wie er in der Mondnacht auf dem See gejodelt hatte?
Abermals ließ Louise einen jauchzenden Ton in die Luft schallen, und abermals erhielt sie gleiche Antwort drunten aus der Schlucht. Dann aber rief eine Stimme: „Komm hierher zu mir, Du lustiger Bub’! Wo bist Du?“
Wie? Ist dies auch Herr Edgar? spricht er deutsch?
Louise ging vorwärts; sie stand am Felsenrande, wo es jäh hinabging, da rief Herr Edgar von unten, aber jetzt in französischer Sprache, sie möge einhalten, sie stehe auf einem gefährlichen Punkte, wo sie herabstürzen könne. Sie grub die Spitze des Stockes in einen Felsenspalt, beugte sich weiter vor, und jetzt sah sie über dem Bach drunten, wo eine leichte Bretterbrücke gebaut war, Herrn Edgar in einen Plaid gehüllt, mit großen Holzschuhen an den Füßen und vor ihm die Staffelei.
„Gehen Sie zurück,“ rief er in ängstlichem Tone, „links zwischen den beiden Tannen durch! Wollen Sie zu mir kommen? Ich will Sie holen! Haben Sie nur Geduld, bis ich mich etwas enthülst habe. Sind Sie denn ganz allein?“
„Nein, ich bin auch da,“ rief der kleine Führer; er war schnell bei Louise und geleitete sie nun hinab. Sie mußte rechts und links sich mit den Händen an Gesträuch und Bäumen halten, um nicht auszugleiten, und endlich stand sie an der Brücke. Aber noch konnte sie nicht hinüber, denn hier war ein Arm des Baches, durch den sie hätte waten müssen.
Herr Edgar bat um Entschuldigung, daß er nicht schnell entgegengekommen sei, aber sein Costüm habe ihn gehindert. Er zeigte auf eine Leiter, die am Ufer lag; der Knabe legte sie schnell über die Strömung des Baches nach dem Felsen, worauf die leichte Brücke ruhte; er bat Louise, rückwärts hinab zu steigen, – sie that es und stand jetzt auf der schwankenden Bretterbrücke.
„Gehen Sie nicht weiter, denn die Brücke trägt nicht zwei Menschen,“ rief Herr Edgar und fügte in scherzendem Tone hinzu: „Die Brücke, die ich mir über den wilden Strom des Lebens gebaut, trägt nur mich allein!“
Louise konnte kein Wort erwidern. Der Maler sagte, daß er sein Waldheiligthum eigentlich vor jedem Anderen verborgen halte, aber da sie es gefunden, solle sie es nun auch ruhig betrachten. In lustigem Tone fügte er hinzu, sie möge seinen Ueberrock annehmen, denn es sei hier sehr kühl, er möchte diesen Ort eigentlich die Rheumatismus-Grotte taufen, denn er habe viel anwenden müssen, um einen Rheumatismus los zu werden, den er sich im vergangenen Jahre hier geholt. Er vermummte sich auch schnell wieder, und nun fragte er: „Also Sie sind auch eine Deutsche, und Sie waren es, die so gejodelt hat? Wunderlich! Also auch Sie können jodeln und nicht singen. Ich hatte Sie für einen Knaben hier aus den Bergen gehalten.“
Er trat scharf auf die Bretterbrücke auf, sie schwankte; aber jetzt fügte er hinzu: „Ich glaube, die Brücke trägt Sie und mich. Kommen Sie herab!“
[289] Der Maler reichte Louisen die Hand, sie stand neben ihm, und bald betrachtete sie das Bild auf der Staffelei, bald den Felsen den Sturzbach und die Umgebung. Was war anziehender, die Wirklichkeit oder deren Wiedergabe durch die Kunst? Der Bach stürzte über einen Felsen wurde aber sofort in zwei Strömungen zertheilt von einem Trümmerstück, auf dem sich eine junge Tanne mühsam hielt. Rechts war eine kleine Schlucht, in der sich das Laub vieler Jahre gesammelt hatte, welches nun in wunderbaren Farben glänzte. Hoch oben durch das Tannengezweig schaute ein kleiner Fleck blauen Himmels hinein.
„Und Sie sagen nichts?“ fragte der Maler, als Louise noch immer stumm dreinschaute.
„Ich möchte am liebsten schweigen. Ich kann nur sagen: das thut wohl; man sieht dem Bilde an, wie wohl es Ihnen bei der Arbeit ist, Licht und Luft und Farben sprechen das in die Seele.“
„Danke. Ich freue mich, daß Sie nicht, wie so manche, namentlich deutsche Damen von besserer Bildung, sofort eine parlamentarische Debatte über ein Kunstwerk eröffnen. Zuerst wird eine Interpellation an den Künstler als verantwortlichen Minister der Natur gestellt: Wie meinen Sie das? Woher haben Sie das? Vor Allem aber, wie decken Sie Ihr Deficit, das die Kunst gegenüber dem Leben doch nie begleichen kann?“
Louise erbebte. Warum erwählt der Künstler gerade diese Vergleiche vor der ehemaligen Tochter des Parlaments?
Herr Edgar aber fuhr heiter fort: „Ach Fräulein, nichts Aergeres, als ein Kunstwerk abdebattiren. Wenn man das, was solch ein Bild sagen will, in Worte sagen könnte, wäre das Malen höchst überflüssig.“
Louise erbebte auf’s Neue. Der Künstler sagte ihr das, was sie in Italien in sich erlebt und sich abgerungen hatte.
„Ich glaube jetzt zu sehen,“ sagte sie, „was die Kunst kann und soll. Die weite Bergeskette erquickt das Auge des Naturfreundes, aber –“
„Nun, aber? –“
„Ach, verzeihen Sie, daß ich mich jetzt doch in Worten ergehe und es mir zu erklären suche.“
„Nein, Sie sind auf dem vollkommen richtigen Wege. Sie zeichnen auch?“
„Ja, ich malte sogar, aber von jetzt an nicht mehr!“
„Ja, so ist’s!“ nahm Edgar auf. „Die Luft bedarf nicht der überwältigenden Massenhaftigkeit der Berge und der weiten Aussicht. Ein paar Bäume, eine Erhöhung und der Himmel darüber, das genügt.“
Louise setzte das Gespräch nicht fort; sie bat nur Herrn Edgar, sich in seiner Arbeit nicht unterbrechen zu lassen, sondern fortzufahren. Es sei ihr von größtem Interesse, so hineinzuschauen in das Entstehen eines Kunstwerkes. Sofort willfahrte Herr Edgar und malte weiter an dem falben Laube, indem er dabei erzählte, daß er diesem Stück Welt sein Lebensglück verdanke; er bat Louise, sich etwas nach der Seite zu biegen; dort an einer nicht leicht zu entdeckenden Stelle hatte er den Orden der Ehrenlegion mit grellen Farben angemalt, und nun erzählte er, daß er dieses Bild zum zweiten Male ausführe, er habe dem Steine da den Namen „Der Fels der Ehrenlegion“ gegeben, denn dem Bilde, das er im vorigen Jahre vollendet, verdanke er seinen Ruf und die äußerliche Auszeichnung, die, wie es nun einmal in der Welt sei, ihre Bedeutung habe. Es war ein eigenthümlich zutraulicher Ton, in dem er sprach; er sah Louise nicht an, er sah nur immer nach dem Felsen und dann wieder auf die Staffelei. Jetzt wendete er sich und fragte, aus welcher Gegend Deutschlands Louise sei.
Sie nannte ihre Heimath, und der Künstler sagte, daß er auch dort manche gute Studie gemacht und noch manches Bild dort auszuführen hoffe. Jetzt malte er weiter und fragte, ob Louise die Garnisonstadt kenne.
Sie bejahte.
„Kennen Sie vielleicht auch die hinterlassene Tochter eines ehemaligen Majors, Marie von Korneck?“
„O gewiß! Das ist meine Jugendfreundin. Sie war vor Kurzem auf unserem Gute mit ihrem Bräutigam.“
Die Brücke krachte, der Maler stürzte, er schrie; auch Louise schrie, aber schnell hob sie das Bild von der Staffelei hoch in der Hand empor, auch sie glitt aus, aber sie hielt das Bild hoch.
Triefend erhob sich der Maler wieder, er sah Louise, die krampfhaft das Bild hoch hielt.
„Nehmen Sie mir es ab, ich kann nicht mehr,“ rief sie.
Er nahm ihr rasch das Bild aus der Hand und hing es glücklich an einen aus dem Wasser hervorragenden Brückenstamm; er umfaßte Louise und trug sie mehr, als er sie führte, nach dem Ufer.
„Haben Sie sich Schaden gethan?“ fragte er.
„Ich glaube, es ist ohne Bedeutung, ich kann nur nicht auf den linken Fuß auftreten.“
[290] Der Knabe war schnell bei der Hand, er eilte hinab nach dem Gasthause, der Vater Louisens kam und mit ihm zwei Träger mit einem Tragsessel. Louise wurde hinabgetragen, neben ihr ging Herr Edgar, er hatte das Bild in der Hand.
Der Unfall Louisens brachte das ganze Haus in neue Bewegung. Zunächst war man froh, einen Arzt unter sich zu haben, und der junge Mann, der bisher so verdrossen und schweigsam, auch von allen Anderen übersehen war, wurde nun in den Mittelpunkt des Interesses versetzt. Er untersuchte den Fuß und fand allerdings eine starke Anschwellung des Knöchels.
Caspar, der Allesversorger, hatte auch für solche Fälle Hülfe bereit. Er kam mit einem Topf Salbe, die er noch aus seinem Dienst im päpstlichen Heere als überaus heilsam für solche Fälle pries. Er war nicht wenig stolz, als der Arzt vorläufig diese Salbe annahm.
Als Louise verbunden war, bat sie, daß man sie allein lasse. Sie räthselte über die Erschütterung, welche die Erwähnung von Mariens Verlobung bei Herrn Edgar hervorgebracht; sie konnte die Lösung nicht finden. Dann suchte sie sich hineinzudenken, was die Mitbewohner jetzt über das Begegniß sprechen möchten. Aber auch dies gelang ihr nicht, und ein beglückender Schlaf befreite sie von allem Sinnen und Grübeln.
Als sie erwachte, war es noch heller Tag und sie sah zu ihrer Freude das Bild auf einer Staffelei vor sich aufgestellt. Sie ließ den Vater und Herrn Edgar rufen und in ruhigem Tone berichtete sie, daß sie natürlich keine Ahnung davon gehabt, in welchem Verhältniß Herr Edgar zu Marie von Korneck gestanden habe. Jetzt zum ersten Male hörte Louise ausdrücklich, daß der Rittmeister nur zum Schein als Bräutigam auf dem Gute zum Besuch war, damit sie ihn um so unbefangener kennen lerne. Sie bedeckte sich das Gesicht mit einem Taschentuche; der Maler aber rief: „Das ist einer ihrer tollen Streiche, aber er ist doch zu frei. Das darf kein Mädchen und am wenigsten ein Mädchen, das durch ein persönliches Gelöbniß mit einem Andern verbunden ist.“
Louise gewann Fassung und Ruhe genug, Marien zu vertheidigen, und sie konnte nicht umhin, auch des ständigen Ausdrucks der Großmutter zu erwähnen, daß Marie Neigung und Beruf zum Theaterspielen habe.
Der Maler sah Louisen ernst an und bat, daß er erzählen dürfe, wie er mit Marie bekannt geworden und welcher Art ihre Verbindung sei. Louise richtete sich auf und athmete tief. Der Vater legte ihr die Hand auf die Stirn und ersuchte den Maler, die Erzählung auf den andern Tag zu verschieben. Louise wagte nicht zu widersprechen, der Maler zog sich zurück und Louise saß allein beim Vater. Sie forschte nochmals nach, ob es in der That ganz so sei, daß der Rittmeister nur als Scheinbräutigam auf dem Gute erschienen war. Herr Merz mußte es wiederholt bestätigen.
Der Abend brach herein, Louise fieberte und der Arzt gab ihr ein beruhigendes Mittel. Vor dem Hause hörte man keinen Laut und Conrad verstopfte auch den Springbrunnen, damit man sein geschwätziges Plätschern nicht höre.
Am Morgen erwachte Louise neubelebt. Herr Edgar ließ fragen, ob er sie besuchen dürfe. Louise bejahte, und nun saß er vor ihr und dem Vater und erzählte:
„Wie Sie, Herr Merz, mir gestern Abend berichteten, haben Sie mit lebhafter Theilnahme sich den allgemeinen Angelegenheiten des Vaterlandes gewidmet, und ich kann Ihnen nur beistimmen, daß die Art, wie die ganze jugendliche Männerwelt heute in Waffen steht, etwas Barbarisches hat. Gewiß! diese Verschwendung von Lebenskraft und Besitz ist ein tiefer Widerspruch mit dem humanen Charakter unserer Zeit; aber vielleicht haben auch Sie weniger in’s Auge gefaßt, wie viele aufgeputzte vornehme Scheinexistenzen ohne gesunde feste Widerlehne sich aus diesen Verhältnissen gestalten. Ich weiß das. Ich bin ein Soldatenkind, ein früh vaterlos gewordenes. Von meinem siebenten Jahre an trug ich die Uniform; meine Mutter lebte kümmerlich und sie entschloß sich sogar in Dienst zu treten. Sie war vierzehn Jahre lang Wirtschafterin auf einem Landgute, nicht weit von Ihrer Heimath. Ich machte ihr vielen Kummer, denn statt, wie es sich gehörte, zum Officier befördert zu werden, verließ ich mit dem Scheine großer Undankbarkeit den Soldatenstand und folgte meiner Neigung zur Kunst. Sie mögen sich den Kummer meiner guten Mutter denken, und in ihre Klagen, daß ich ein Vagabund werde, mischte sich oft und oft der seltsame Ausdruck ihres Schmerzes, daß ich nie wie der Vater einen Orden auf der Brust tragen werde. Sie sehen, daß es nicht Eitelkeit ist, sondern eine Befriedigung des seltsamen Mutterwunsches, daß ich den Orden trage. Doch, entschuldigen Sie, ich erzähle verwirrt. – Ich habe vielerlei Lebensnoth durchgemacht; aber das ist ein Glück unserer Natur, daß wir Schmerz und Noth in nachfolgender Zeit vergessen. Mir ist jetzt, als hätte das ein Anderer erlebt, nicht ich selbst. Es sind jetzt vier Jahre her, da ward mir ein großes Glück zu Theil. Ein deutscher Kaufmann, der sich in Schottland ein bedeutendes Vermögen erworben hatte und sich nun ein schönes Landhaus in der Nähe von Bieberich erbaute, wollte den großen Gesellschaftssaal mit Bildern aus Schottland schmücken. Er hatte bei einem Kunsthändler ein von mir zum Kaufe ausgestelltes Landschaftsbild gesehen, und nun erhielt ich den überraschenden Auftrag, den Gesellschaftssaal zu schmücken. Ich empfing Reisegeld, um einen ganzen Sommer mich in Schottland umherzutreiben. Ich kam zurück und nahm mit frischer Lust meine Arbeit auf. Eine ältere Schwester von der Frau des reichen Kaufherrn, eine Dame des edelsten und durchgeklärtesten Wesens, nahm mich in ihren besonderen Schutz, und ich kann sagen, nächst meiner Mutter hat mir im Leben nie irgend ein Mensch das Herz so tief erquickt, wie Frau Agathe. Was kann es Schöneres geben? Ich hatte wohlwollende, mich freundlich hegende und fördernde Menschen; ich konnte meine Mutter bestimmen, daß sie ihren Dienst aufgab und zu einer Schwester zog, die an den Förster in N. verheiratet ist, und dazu hatte ich große Wandflächen und das beste Licht, um meine Bilder zu malen.
In mir sang und jubelte es beständig. Da siedelte sich im Hochsommer eine Freundin meiner Gönnerin in Bieberich an und bei ihr war Fräulein Marie von Korneck. Sie kamen öfter zu uns in’s Haus; die alte Dame hatte keinen Sinn für Malerei und war stolz und ehrlich genug, ihn nicht zu heucheln. Marie dagegen verfolgte meine Arbeiten mit großer Theilnahme.
So saß ich einst, es war in der Dämmerung, im Garten und träumte so hinein in die Zukunft und in die weite schöne Landschaft. Da hörte ich, wie meine Gönnerin, die mit ihrer Schwester lustwandelte, sagte: ‚Ja, wenn ich mir eine Frau für Edgar wünschen könnte – es wäre Marie Korneck.‘ Mich erschütterte es. Auch ich hatte tiefes Wohlgefallen an dem allezeit frischen Naturell Mariens gefunden, aber sie zu erringen, sie mein zu nennen, war mir nie in den Sinn gekommen. Ich gestehe ganz offen, ich habe eine tiefe Furcht vor der Armuth; ich habe sie kennen gelernt in ihren bittersten Folgen. Oft in stillen Stunden, wenn ich an die Zukunft dachte, sagte ich mir: du darfst dir nie eine Häuslichkeit gründen, die auf einen fraglichen Erwerb gestellt ist. Ich wies jede Anmuthung zurück, und so war ich dreißig Jahre alt geworden und immer mehr befestigte sich in mir der Vorsatz, auf Familienglück zu verzichten, wenn ich es nicht auf eine gesicherte Existenz bauen könnte. Man mag dieses philisterhaft finden – zaghaft – muthlos …“
Herr Merz schüttelte den Kopf verneinend und Edgar fuhr fort: „Ich machte mir selbst oft Vorwürfe wie diese und mit noch strengeren Ausdrücken; aber meine Entsagung auf Liebesglück und Familienglück stellte sich auf die vielbedachte Erwägung: ich war aus der gewöhnlichen bürgerlichen Ordnung, aus dem Streben nach bloßer Versorgung ausgetreten, – ich war meiner Neigung gefolgt in meinem Berufe und war dafür entschlossen, jede andere Neigung nach häuslicher Seßhaftigkeit zu unterdrücken. Ich sagte mir, daß ich das Opfer schuldig sei, und ich sah so viele meiner Berufsgenossen verkommen, weil sie nicht mehr den Eingebungen ihres Genius folgen durften, sondern für Frau und Kind gut verkäufliche Arbeiten ausführen mußten. Ich hatte einen Freund, der auf jedem Bilde, mochte es passen oder nicht, zwei Mädchen anbrachte, ein blondes und ein braunes; das eine wo möglich in Sammet, das andere in der Regel in Seide – das sind Bilder, die sich gut verkaufen, aber sie verunstalten die reine Kunst. So war ich also entschlossen, für mich allein und, so weit es möglich war, für meine Mutter mein Leben frei in meiner Kunst zu erhalten. Eine Familie mit mir in diese Fraglichkeit hineinzuziehen, dazu hielt ich mich nicht für berechtigt.
[291] Jetzt wurde das auf einmal anders, es sprach etwas in mir, daß ich nicht entsagen dürfe. Ich verspottete meine Furcht vor Armuth und sagte mir, es sei Feigheit, man müsse eine Lebensstellung erobern und in bescheidenen Verhältnissen glücklich sein können. Ich näherte mich Marie nun immer mehr, und ihr Frohsinn und ihre Frische belebten mich auf’s Neue. Oft wollte mich wieder die Furcht beschleichen, daß ich es wage, ein anderes Leben an das meinige zu knüpfen, das doch selbst noch so fraglich war; aber wenn ich Marie sah, wenn ich ihre Stimme hörte, waren alle Bedenken verflogen. Wir waren Beide Soldatenkinder, wir hatten Beide jene Bitterkeit der Scheinexistenz kennen gelernt, von der ich Ihnen früher sprach – ich konnte mich noch glücklich nennen im Vergleich zu Marie, denn sie mußte dienen, ihren Jugendmuth den Launen einer nicht unedlen, aber pedantischen und kleinlichen Frau unterordnen, und ich bewunderte ihre Spannkraft, mit der sie doch ihr freies Naturell bewahrte. Aber bei alledem – ich mache mich nicht besser, als ich bin – ich hatte den Muth nicht, ihr meine Liebe einzugestehen, und sagte mir oft: hätte Frau Agathe das Wort nicht hingeworfen, du hättest dir nie ein ernstliches Hinwenden zu Marie gestattet.
So kam der Herbst heran, es war und blieb eine unausgesprochene, halbunterdrückte Beziehung zwischen Marie und mir.
Der Tag der Abreise kam, ich begleitete Frau Agathe nach Bieberich, um den Freundinnen noch einmal Lebewohl zu sagen. Die Koffer waren gepackt; Marie sah sehr erregt aus; wir standen an einem Fenster und schauten hinaus über den Strom; da sagte ich: ‚Es ist gut, daß Sie reisen, so weh es mir auch thut.‘ – Sie sah mich groß an und erwiderte nichts. Mir ward klar, daß ich den Widerspruch, der in mir lebte, unwillkürlich kundgegeben, und ich sagte nur: ‚Geben Sie mir Ihre Hand und lassen Sie mich hier Lebewohl sagen; ich möchte nicht drunten beim Dampfschiffe an der Landungsbrücke … und so lassen Sie mich Ihnen sagen: Freuen wir uns dessen und betrachten wir es als ein Lebensgeschenk, daß wir einander begegnet und unvergeßliche Erinnerungsbilder in der Seele bewahren. Wenn Einem von uns ein Lebensglück beschieden, dann wissen wir, daß das Andere sich in der Ferne dessen erquickt. Ich habe lange darüber gesonnen, ob ich Ihnen nicht ein äußerliches Andenken geben soll; ich finde nichts, und es ist auch besser, Sie haben nichts als einfach die Erinnerung einer Begegnung auf der Lebensreise, und ich wünsche Ihnen von Herzen glückliche Fahrt.‘ –“
Edgar hielt inne. Nach einer längeren Pause fuhr er fort: „Entschuldigen Sie, daß ich das Alles so ausführlich wiederhole; ich weiß nicht, wie es kam, ich werde mich fortan kürzer fassen.
‚Das Dampfschiff kommt!‘ wurde plötzlich gerufen. Koffer und Kasten wurden nach der Landungsbrücke gebracht; ich blieb dabei, nicht, wie meine Gönnerin that, die Freundin noch eine Strecke Wegs zu begleiten; ich sagte der älteren Dame und Marien Lebewohl; wir sprachen kein Wort mehr; ich sah Thränen in ihrem Auge, ich sah sie zittern durch die Thränen in den meinen. Die Koffer wurden hinabgebracht, Alles war leer. Ich ging, den Schmerz verbeißend, in den wie ausgeraubten Zimmern umher und sagte mir: Es ist gut, daß es vorbei ist. Du hast kein Recht, ein anderes Schicksal an das deine zu binden. –
Da sah ich auf dem Nähtischchen Mariens ein Paar gestickte Manschetten liegen – sie waren vergessen worden. – Ich kann nicht sagen, wie es kam – ich nahm die Manschetten in die Hand, ich eilte die Treppe hinab, ich kam noch glücklich bei der Landungsbrücke an, wo das Schiff eben abstoßen wollte. Ich wollte Marien die Manschetten hinüberreichen, aber der Capitain, der glaubte, daß ich noch mitfahren wollte, faßte mich an der Hand, riß mich auf das Schiff, und fort ging’s.
Die alte Frau sah mich verwundert an, aber Frau Agathe reichte mir die Hand und ich sah, wie Marie zitterte. Wir fuhren eine Weile still dahin. ‚Wir haben nur wenige Minuten,‘ sagte ich endlich, ‚denn in Walluf müssen wir aussteigen.‘
‚Es ist lieb von Ihnen, daß Sie noch gekommen sind,‘ sagte Marie. In ihrem Tone lag etwas so Bewältigendes, daß alle Bedenken verschwanden und jeder Blutstropfen in mir aufwallte. ‚Marie,‘ sagte ich ihr, ‚nur wenige Minuten. Nun höre, was ich Dir sage. Ich habe kein Recht, Dein Schicksal an das meine zu binden, und so halte fest: ich will Dein Lebensglück nicht hindern, das Du finden magst. Nur drei Jahre schenke mir, das heißt, ich lasse Dich frei, wenn ich Dir in drei Jahren nicht schreibe. Ich will suchen eine gesicherte Existenz für uns zu finden. Gelingt mir das nicht, so bist Du frei. Ich bitte Dich, binde Dein Leben nicht unauflöslich an mich. Willst Du mir das versprechen?‘ – Sie bejahte. –
Ich kann nicht mehr Alles erzählen – ich habe vergessen zu sagen, daß wir uns unsere Liebe gestanden hatten.
Die Glocke läutete, vor den Augen meiner Gönnerin und der alten Dame küßten wir uns zum ersten Male.“
Wieder machte Edgar eine Pause. Er wagte nicht Louisen anzuschauen, er senkte den Blick zur Erde und doch hätte er gern gewußt, wie Louise ihn jetzt betrachtete. Endlich fuhr er fort:
„Ich war ein seltsamer Mensch voll Widersprüche, bald betrachtete ich mich als verlobt, bald als vollkommen frei. Es ist ja auch nichts geschehen, nichts Bindendes. Meine Arbeit im Hause des Kaufherrn war zu Ende. Ich hatte so viel erworben, um meine Mutter für Jahre sorglos zu stellen, und jetzt wanderte ich frisch und frei in die Welt hinaus. Ich war in Italien und wunderbarer Weise zur selben Zeit, wo auch Marie da war; ich hörte aber erst davon, als sie wieder nach Deutschland zurückgekehrt war. Ich kam hierher. Ich malte das Bild, bei dessen Wiederholung wir uns gefunden haben. Ich habe in Paris die größte Auszeichnung erhalten – ich darf sagen, daß mir die äußere nur meiner Mutter zu lieb von Werth war, und in der That war ihr Brief auf meine Anzeige der Ordensverleihung hin ein überaus glücklicher. Ich habe einen guten Namen und Bestellungen auf viele Jahre hinaus. Jetzt war die Zeit da, wo ich Marien ein auskömmliches Leben bieten konnte. Ich schrieb ihr. Ich bin noch einmal hierher gereist, um auf Bestellung das Bild noch einmal in kleinerem Maßstabe zu wiederholen; – ich erwarte Nachricht von Marie, ja vielleicht sie selbst.“
Edgar hielt inne. „Was nun ist, was geworden ist,“ schloß er, „das wissen Sie.“
Geraume Zeit saßen die Drei stumm neben einander, endlich sagte Louise: „Ich danke Ihnen, Herr Edgar.“
Edgar stand auf und ging davon; der Vater blieb noch bei seiner Tochter, aber bald kam er Edgar nach und wußte nichts weiter zu sagen als: „Ich bitte, wollen Sie nicht eine Cigarre mit mir rauchen?“
Rauchend und schweigend saßen die beiden Männer beisammen, bis der Vater wieder zu Louisen ging.
Tage vergingen, Louise konnte wieder in’s Freie gebracht werden, sie lag auf einem Ruhebett im Garten. Die Kinder spielten um sie her, die Frauen saßen bei ihr, auch der Arzt, der nun wie erlöst erschien, da auch Edgar ein Deutscher war und sich ihm freundlich anschloß, wie der Vater Louisens selbst. Er erwies sich als gediegener und hochgebildeter Mann. Ja, selbst der Schwermüthige, in dessen Begleitung er war, verließ sein einsames Zimmer und kam zu Louisen. Er war der Erste, der das Wort aussprach: „Sie sollten Herrn Edgar heirathen! Sie Beide wären ein schönes Paar.“
Louise erbebte, und alle Umstehenden sahen einander erstaunt an und blickten dann zur Erde. Der Verstörte, der sich zu erholen schien, sprach aus, was Alle dachten.
Man wartete auf Briefe. So oft Caspar, der Allesversorger, den Briefbeutel brachte, war Louise voll Aufregung. Welch eine Nachricht wird von Marie kommen, und wie, wenn gar kein Brief kommt, sondern sie selbst? Sie bat ihren Vater, doch mit ihr abzureisen, aber der Arzt wollte das nicht gestatten und so blieb sie. Tagtäglich im Verkehr mit Herrn Edgar lernte sie dessen gediegene frische Natur und seine offene, freie Seele immer neu erkennen, aber es lag ein Schleier auf ihren beiderseitigen Beziehungen, den sie nicht zu lüften wagten.
Wieder und wieder empfand Louise den schmerzlichen Gedanken, daß sie ihr Herz einem Manne geoffenbart hatte, der einer Andern angehörte. – Endlich am zweiten Sonntage kam ein Brief an Edgar mit der Handschrift Mariens. Louise sah, wie Caspar die Briefe vertheilte – sie sah, wie Edgar erblaßte, da er die Aufschrift las. Er hielt den Brief in der Hand, er öffnete ihn nicht. Die Versammelten hatten Briefe erhalten und gingen damit nach einsamen Bänken, um sie zu lesen. Auch Herr Merz [292] hatte Briefe und Zeitungen erhalten und entschuldigte sich bei seiner Tochter, daß er damit in’s Haus gehe.
Noch immer stand Edgar mit dem unerbrochenen Briefe regungslos da, der Blick Louisens war auf ihn gerichtet, endlich trat er zu ihr, legte den Brief auf die Decke und sagte: „Fräulein Merz, was der Brief auch enthält, ich muß Ihnen vorher sagen, wie ich entschieden habe. Ich kann Marien nicht mehr die Meine nennen, denn mein Herz gehört einer Andern. Ich glaube, daß es minder schlimm ist, einmal die Treue zu brechen, als ein ganzes Leben zu führen in innerer Untreue. Wie ich jetzt bin und bleibe, kann ich Marien nicht mehr glücklich machen. Ich fragte mich, ob es nicht das Beste wäre, wenn ich den unentsiegelten Brief hier in den See werfe. Ihr Blick sagt mir, das darf ich nicht. Gut denn! So wollen Sie den Brief öffnen!“
„Ich?“
„Ja, Sie! Nichts, was mich angeht und in mir lebt, ist ein Geheimniß für Sie und darf Ihnen fremd sein.“
Louise öffnete rasch den Brief. Sie war betroffen, nicht geschriebene, sondern gedruckte Worte darin zu finden. Auf gelbem, pergamentähnlichem Papier stand mit gedruckten Worten:
Albrecht von Birkenstock,
Rittmeister a. D., Amtsrath auf der königlichen Domaine R.
Edgar empfing das gedruckte Blatt, er schlug die Seiten um, es mußte sich doch noch ein Wort von Marie finden, – aber es fand sich keins. Edgar faßte die Hand Louisens und rief: „Nun darf ich’s sagen! Darf ich’s sagen? – Ich bin Dein. – Willst Du mein bescheidenes Loos mit mir theilen?“
„Nicht jetzt, nicht jetzt, nicht hier,“ rief Louise, sie wußte, wie sich von den Fenstern, vom Balcon die Blicke auf sie richteten. „Ich will in’s Haus zurück.“
Caspar war schnell bei der Hand, ein zweiter Mann fand sich nicht; Caspar und Edgar trugen Louisen im Tragsessel nach dem Hause zurück. Sie trafen den Vater in seine Zeitungen vertieft, und er rief:
„Louise, sie schlagen mich wieder zum Candidaten vor. Nächsten Winter sind wir wieder in der Residenz.“
Louise schüttelte den Kopf.
„Du glaubst nicht, daß sie mich wieder wählen?“
„Das nicht, aber ich bin gewählt! Und ich wähle, – hier. Nun bitte, sprich Du!“ wendete sie sich zu Edgar.
Dieser konnte kaum das Wort hervorbringen; der Vater umarmte ihn und umarmte sein Kind. Man saß wohlgemuth beisammen, da erklärte Edgar, daß er Louisen ein bescheidenes, aber auskömmliches Leben bieten könne.
Der Vater lächelte und schilderte das schöne Atelier auf dem Landgute, das einem wirklichen Künstler und nicht blos einem Dilettanten zustehe.
Louise war aufgestanden und sie konnte jetzt ganz schmerzlos auftreten. Der Arzt bat, nur noch einen einzigen Verband anlegen zu dürfen, dann wäre Alles vorbei.
Der alte Bundesrath hielt seit Jahren streng darauf, keinerlei Beziehung zu den Fremden im Gasthause einzugehen; er wollte seine Ruhe nicht stören lassen und er und seine Frau genügten sich vollauf an der Friedsamkeit ihres Hauses und dem erquicklichen Athem der weiten Naturumgebungen. Mit Herrn Merz war er nun in ein so freundliches Verhältniß getreten, daß er seine alte Regel verließ. Die Wirthsleute begrüßten ihn mit großer Ehrerbietung, er dankte in landsmännischer Vertraulichkeit, lobte den Wirth und die Wirthin, und auch Caspar bekam ein gutes Wort. Er ging nach den Zimmern des Herrn Merz und nach einem herzlichen Glückwunsche sagte er: „Sie sind ein so rechter Bürgersmann, daß es sich für Sie und Ihr Kind nicht schickt, eine Verlobung hier, so halb auf der Straße, im Wirthshause, zu feiern. Meine Frau läßt Ihnen auch sagen, Sie sollen zu uns kommen.“
Man nahm das freundliche Erbieten gern an. Im Hause des Bundesrathes unter den theilnahmvollen Blicken der Frau und herzlichen Worten des alten Herrn wurde die Verlobung gefeiert.
Louise trug den Verlobungsring an der Hand, und das Erste, was sie mit dieser Hand unternahm, war, daß sie einen Brief an die Mutter Edgar’s schrieb. Dann wanderte sie an seinem Arme durch das Dorf zurück nach dem Gasthause.
Die Verlobung Louisens versetzte die ganze Gesellschaft in neuen Aufruhr, und wieder kam der Schwermüthige zuerst und brachte seinen vollen Glückwunsch dar. Die Bedrückung, die auf seinem Gemüthe lastete, schien inmitten der heiteren Menschen immer mehr zu schwinden. – Dann kamen die Kinder mit Blumen, die Frauen der Maler, die Männer, – Alles war voll Jubel.
Caspar aber schleppte einen kleinen Böller hinaus nach dem Berge, oberhalb des Felsens der Ehrenlegion; er ließ durch die Wirthin sagen, man möge nicht erschrecken, wenn man schießen höre, – und jetzt krachte es vom Felsen und der Widerhall tönte weit hinaus über den See von den jenseitigen Bergen.
Louise ging mit ihrem Bräutigam nach dem Garten, sie riefen sich alle Augenblicke zurück von der ersten Begegnung bis jetzt. Am Abend, als der Mond hell auf dem See glänzte, stiegen sie in den Kahn und ruderten miteinander hinaus, und draußen jodelten sie miteinander in die linde Nacht hinein, daß es Allen, die es hörten, das Herz erquickte. Wie glücklich aber mochten die da draußen allein sein – –
Auf dem Bahnhofe der mitteldeutschen Gebirgslandschaft hielt wieder ein Fuhrwerk, aber jetzt ein fest verschlossener Wagen. Die Blätter vom Buchenbaume wirbelten durch die Luft, ein naßkalter Strichregen schien sich den Spaß zu machen, bald nach dem Gebirge hin zu ziehen, bald unversehens wieder Kehrum zu machen.
Auf dem Perron zeigte sich kein Mensch, und jetzt, als es pfiff, kam der Kutscher des Wagens eilig heraus, hielt sich den Cocardenhut mit beiden Händen und kaute noch an einem Bissen, den er im Munde hatte.
Der Zug rollte in den Bahnhof, der Inspector begab sich an die erste Wagenclasse, öffnete, hieß Herrn Merz herzlich willkommen und gratulirte ihm zur Wiederwahl. Schnell aber setzte er hinzu: „Entschuldigen Sie, man hat ja noch zur Verheirathung des Fräulein Louise zu gratuliren. Darf man fragen, ob sie mit ihrem Gatten zu uns zurückkehrt?“
„Gewiß! Zum Frühling. Jetzt sind die jungen Leute in Paris.“
Herr Merz stand fröstelnd und den Mantel fest zusammenziehend auf dem Bahnhofe. Der eintretende nordische Winter schien ihm, der aus dem Süden kam, um so schärfer und heftiger. Das Gepäck war ausgeladen, der Zug rollte davon; Herr Merz wollte selber nach seinen Effecten sehen, der Bahnmeister widerrieth ihm das wegen des scharfen Windes, auch der Diener sagte, er werde schon Alles richtig besorgen; aber Herr Merz blieb dabei, er müsse selber nachsehen, es sei da eine Kiste, die besonders behutsam behandelt werden müsse.
„Sie haben doch nicht auch einen Streich gemacht wie damals die Freundin Ihrer Tochter, Fräulein von Korneck, die einen Hund als Wickelkind mitnahm?“
„Nein, nichts dergleichen! Es ist ein Bild, von meinem Schwiegersohne gemalt. Besuchen Sie mich einmal, Sie sollen es sehen.“
„Was stellt es denn dar? den Monte Rosa, den Rigi oder die Jungfrau?“
„Nichts von dem. Eine ganz unbekannte Felsenanhöhe am Vierwaldstätter See, es kennt sie Niemand als wir; sie hieß früher der Fels der Ehrenlegion und heißt jetzt der Fels der Liebe.“