Der König der Zauberer

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Autor: Robert Kraft
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Titel: Der König der Zauberer
Untertitel: oder Im Lande des lebenden Todes.
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Erscheinungsdatum: (1901)
Verlag: H. G. Münchmeyer
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Erscheinungsort: Dresden
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Schiffbrüchig auf der Insel eines skrupellosen Wissenschaftlers.
Heft 6 der Heftromanserie Aus dem Reiche der Phantasie
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Aus dem Reiche der Phantasie.

Herausgegeben von Robert Kraft.

Preis 10 Pfg. = 14 Heller = 15 Ctm.

Heft 6.


Der König der Zauberer
oder
Im Lande des lebenden Todes.
[WS 1]           

6.

Verlag und Druck von H. G. Münchmeyer, Dresden.

Auszug aus der erklärenden Einleitung

zum ersten Bändchen.




Richard ist bis zum zwölften Jahre ein kräftiger, lebensfroher Knabe gewesen, als er durch ein Unglück gelähmt wird.

Am Abend seines vierzehnten Geburtstages sitzt der sieche Knabe allein in der Stube, traurig und freudlos, kein Ziel mehr im Leben kennend. Da erscheint ihm eine Fee. Sie nennt sich die Phantasie, will ihm ihr Geburtstagsgeschenk bringen und sagt ungefähr Folgendes:

In Richards Schlafzimmer befindet sich eine Kammerthür. Jede Nacht wird er erwachen (das heißt nur scheinbar), er soll aufstehen, jene Thür öffnen, und er wird sich stets dort befinden, wohin versetzt zu sein er sich gewünscht hat. Er kann sich also wünschen, was er will, er kann allein sein oder mit Freunden, er kann auch den Gang seiner Abenteuer ungefähr im voraus bestimmen; hat er aber einmal die Schwelle der Thür überschritten, dann ist an dem Laufe der Erlebnisse nichts mehr zu ändern. Alles soll folgerichtig geschehen, der Traum nichts an Wirklichkeit einbüßen. –

Die Erscheinung verschwindet, Richard erwacht aus dem Halbschlummer. Aber die gütige Fee hält Wort, und so findet der arme Knabe im Traume einen Ersatz für sein unglückliches Leben.

Jede Erzählung schildert nun eins seiner wunderbaren Erlebnisse, wie sie ihm die Phantasie eingiebt.




VI.[WS 2]

Der König der Zauberer

oder

Im Lande des lebenden Todes.[1]




Im Rettungsboot.

Alle Rechte vorbehalten.

Zwischen den Inseln des polynesischen Archipels trieb auf ruhigem Wasser ein Boot, mit zwei Männern besetzt, von denen der eine die Ruder, der andere das Steuer handhabte.

Es waren die letzten der Besatzung eines deutschen Segelschiffes, das in einem Typhon seinen Untergang gefunden hatte. Nur Richard Brandt, der zweite Steuermann, und ein Matrose waren dem Tode entgangen, indem sie sich an einem durch dem Wirbelsturm zufällig losgelösten Boote angeklammert hatten, denn zum Aussetzen der Boote war keine Zeit gewesen. – Es gelang ihnen, sich festzuhalten, bis der alles verheerende Typhon vorübergebraust war und ein gewaltiger Regenguß schnell das aufgewühlte Meer beruhigte. Nun richteten sie das gekenterte Boot wieder auf und schwangen sich hinein, und da Ruder und Steuer glücklicherweise festgebunden gewesen waren, konnten sie sich, als nach der furchtbaren Nacht die Sonne wieder aufging, wenigstens vorläufig als gerettet bezeichnen, denn ihre Lage war immer noch eine ganz verzweifelte.

Sie befanden sich im polynesischen Inselarchipel. Das wußten sie. Schlägt man im Schulatlas die Karte des Stillen Oceans auf, so sieht man es darin von kleinen Inselchen wimmeln, die so dicht nebeneinander liegen, daß man sich einbildet, von einer Insel zur anderen schwimmen zu können.

In Wirklichkeit aber ist das ganz anders. Ungefähr dreißig Seemeilen weit reicht auf offenem Meere das Auge, aber die beiden Schiffbrüchigen sahen nichts als Himmel und Wasser, und sie konnten vielleicht wochenlang hin- und herfahren, ohne eine Insel in Sicht zu bekommen.

Hier nützte auch alle Erfahrung des nautisch gebildeten Steuermannes nichts. Ohne Kompaß, Sextant und Seekarte befand er sich in der Lage eines unwissenden Kindes, und außerdem besaßen sie keinen Proviant und keinen Tropfen Trinkwasser.

Dennoch ließen sie den Mut nicht sinken. Ihre einzige Hoffnung auf vollständige Rettung konnte nur darin bestehen, eine Insel zu erreichen oder einem Schiffe zu begegnen. Dazu mußten sie zunächst aus einer Gegend kommen, in der nichts zu sehen war, und so führten sie denn, sich gegenseitig ablösend, wacker die Ruder, indem sie durch Beobachten der Sonne einen möglichst geraden Kurs steuerten und nach dem Horizont und den Vögeln spähten, die allein jetzt Land verraten konnten.

Immer höher stieg die tropische Sonne und brannte mit versengender Glut auf die unbedeckten Häupter der Schiffbrüchigen herab. Schon machte sich der Wassermangel in unangenehmer Weise fühlbar, und bereits sahen sich zwei stiere Augenpaare an, wenn die vor Hitze aufgesprungenen Lippen auch noch von Mut und Hoffnung sprachen.




Das ausgestorbene Schiff.

„Ein Schiff! Gelobt sei Gott, das ist ein Schiff!“ jauchzte plötzlich Gustav, der Matrose, als er den Kopf einmal nach einer anderen Richtung wandte, mit heiserer Stimme auf.

Sie hatten beide längere Zeit nach Osten geblickt, wohin ein Schwarm Vögel strebte, und miteinander beraten, ob das wohl Landvögel seien. Nun sahen sie mit einem Male in der anderen Richtung ein Schiff, und zwar nicht nur als dunklen Punkt, nein, sie konnten sogar deutlich die Segel desselben unterscheiden.

Sie hatten wohlweislich dem leichten Winde entgegengerudert, und dieser brachte das Schiff, während sie darauf zuruderten, ihnen schnell näher. Nach einer halben Stunde konnten sie es deutlich erkennen. Es war ein kleiner Schoner, der nur wenige Segel gesetzt hatte und daher langsamer segelte, als es bei dem Winde möglich gewesen wäre. Nach einer weiteren halben Stunde riefen sie es an – jetzt waren sie gerettet! Als sie sich jedoch dem Schiffe näherten, sagte Richard betroffen: „Merkwürdig, ich sehe wohl das Steuerrad, aber es steht kein Mann daran.“

Es war überhaupt kein Mensch auf dem niedrigen Deck zu sehen. Doch so verödet liegt das Deck von Schiffen zuweilen da, es befindet sich oftmals, wenn die Takelage in Ordnung und der Wind konstant ist, kein Mensch darauf. Aber stets muß am Steuerrade ein Matrose stehen, und daß der hier fehlte, war wirklich ein Rätsel.

Ein starkes Tau hing außenbords herab. An ihm kletterten die beiden Schiffbrüchigen nun hinauf, indem sie das Boot sich selbst überließen. Gustav war zuerst oben, und der nachfolgende Steuermann hörte ihn einen Schrei des Schreckens ausstoßen. Dann stand auch er starr vor Entsetzen da.

In dem tief liegenden Boote hatte sich ihnen vorhin der Anblick entzogen, der sich ihnen jetzt hier oben bot: auf Deck lagen gegen zwanzig Männer, alle lang ausgestreckt, ohne ein Zeichen des Lebens von sich zu geben, also tot – und doch nicht tot. Denn wenn man nicht annehmen wollte, daß sie erst vor wenigen Minuten alle samt und sonders gleichzeitig von einer plötzlichen Todesstarre befallen worden waren, so hätten die Leichen ganz anders aussehen müssen. Aber keine Spur von Todesqual war in den Zügen, kein Zeichen von Verwesung. Es war, als seien sie eben erst mitten in der Arbeit vom Schlage getroffen worden. Ja, es mußte in der That so sein; noch vor einer Minute konnte der Matrose, der jetzt kalt und starr neben dem Steuerrade lag, dieses fest in der Hand gehalten haben, denn das Schiff war ja bisher vor den Wind gesteuert worden und wurde erst in dem Augenblicke, als die beiden Unglücksgefährten es betraten, plötzlich steuerlos und kam aus dem Wind, sodaß die Segel klatschend gegen die Rahen schlugen. Doch nicht dieser Umstand allein versetzte die Seeleute in Schrecken, auch der Anzug, den die Männer trugen, übte eine unheimliche Wirkung auf sie aus. Lebte man denn im Mittelalter? War dieses Schiff etwa nicht ein moderner Schoner, erbaut am Ende des neunzehnten Jahrhunderts? Wie kam es, daß alle diese Männer die Kleidung eines viel früheren Jahrhunderts trugen, lange Schoßröcke mit Gürteln und blanken Knöpfen, kurze Kniehosen aus Samt, Wadenstrümpfe und Schnallenschuhe? Weshalb hatten sie das lange Haar in der Mitte gescheitelt und die Bärte wegrasiert?

„Das ist der fliegende Holländer,“ flüsterte endlich Gustav, fast mit geisterhafter Stimme, „am Tage sind die Männer hier tot, erst bei Nacht werden sie wieder lebendig.“

Obgleich Richard selbst von jenem Grausen befallen worden war, das ein so schauerliches Rätsel auf jeden ausüben mußte, sprang er doch, sich ermannend, sofort an das sich planlos drehende Steuerrad, brachte den Schoner wieder vor den Wind und band die Speichen fest.

Dann wandte er sich an den ihm zunächst liegenden Matrosen, der das Steuerrad geführt hatte – vorausgesetzt, daß dieser auch wirklich ein Matrose gewesen war, denn er glich in seinem sauberen Kostüm aus einem sehr feinen, Richard ganz unbekannten Stoffe und mit den seidenen Strümpfen eher einem reichen Mynheer aus dem zehnten Jahrhundert – und nun begann er, seine Furcht bezwingend, ihn näher zu untersuchen. Der Mann war thatsächlich tot, kalt und noch ganz steif, als wäre er vor fünf Minuten erst plötzlich gestorben. Oder hatte Gustav recht, und hielt die Totenstarre nur während des Tages an, um bei Nacht wieder dem Leben zu weichen?

Aber das moderne Schiff! Ein solches besaß der fliegende Holländer in der Fabel doch nicht!

Der starke Gustav war jetzt zu allem unfähig, er stierte nur immer mit entsetzten Augen auf die altertümlich gekleideten Leichen. So begab sich Richard allein unter Deck. Das Schiff war wohl verproviantiert, sogar mit Brot, das noch ganz frisch war, auch mit geräucherten Fleischwaren, als hätte es eben erst einen nördlichen Hafen verlassen. Richard löschte seinen Durst und aß etwas, rief dann nach Gustav und inspizierte, da dieser seinen Durst vor Schreck ganz vergessen zu haben schien, die Innenräume allein weiter. Schiffspapiere, die er hauptsächlich suchte, fand er nicht; nicht ein einziges war vorhanden. In der Kajüte stieß er jedoch noch auf zwei Leichen, darunter befand sich die einer jungen, schönen Dame, die in eine Art von weißem Nachtgewand gekleidet war.

Ein ganz modernes Schiff, mit allem ausgerüstet, was die Neuzeit den Seefahrern an Proviant, nautischen Instrumenten, Karten und anderem bietet, besetzt mit der Mannschaft einer alten, ausgestorbenen Generation, wie mit den Puppen aus einem Wachsfigurenkabinett! Menschen aus Fleisch und Blut, tot und dennoch keine ausgetrockneten Mumien – da konnten sich die Haare vor Entsetzen sträuben!




Die Galeere.

„Steuermann, kommt herauf, ein neues Wunder!“ erklang da soeben auf Deck Gustavs ängstliche Stimme.

Richard sprang nach oben. Dort schoß ein Schiff heran – ziemlich groß, von ganz alter Bauart, mit übermäßig hoher Back und hohem Hinterteil, ohne Masten – nur von langen Rudern getrieben, die an jeder Seite in doppelter Reihe hervorsahen – eine alte Galeere im neunzehnten Jahrhundert! An eine französische Strafgaleere mußte wenigstens im ersten Augenblicke wohl jeder denken. Der klassisch gebildete Seemann dagegen erkannte sofort, daß er der Bauart nach ein römisches Ruderschiff aus dem Altertum vor sich hatte!

Das Rätsel wurde immer geheimnisvoller. Oder vielmehr jetzt fand es seine Lösung.

Das Ruderschiff fuhr nämlich auf den ausgestorbenen Schoner zu, und als jetzt Richard, dem Beispiel des Matrosen folgend, ebenfalls hinter die Leinewand sprang, die lose vor der Back hing, und durch deren Löcher man alles beobachten konnte, sodaß man im Falle der Not sich auch von hier aus ins Innere des Schiffes zurückziehen konnte, erkannte er deutlich den Mann, der das hochstehende Steuerrad drehte, während sonst kein Mensch bei der Höhe der Brüstung auf der Galeere zu sehen war. Seltsam, der Steuernde auf dem Ruderschiffe aus dem klassischen Altertume trug ebenfalls das holländische Kostüm mit Schoßrock und Wadenstrümpfen!

Mit einem Schlage wurden jetzt alle Ruder, jedes wohl acht Meter lang und die oberen noch länger, auf der einen Seite eingezogen, dann legte das Schiff an, fielen Enterhaken, öffnete sich die hohe Bordwand an einer Stelle, schob sich eine Brücke nach unten hervor, und ein Zug von Menschen schritt darüber und betrat das Deck des Schoners.

Voran ging ein ältlicher Mann, im holländischen Kostüm eine Art von goldenem Heroldsstab in der Hand, hinter ihm schritten zwei andere Holländer in Kniestrümpfen und Schnallenschuhen, dann aber kamen drei Männer von ganz anderem Aussehen.

Der erste von diesen, jedenfalls die Hauptperson, war ein Greis mit schneeweißem Bart und Haupthaar. Er war gekleidet in eine wallende Toga aus einem leichten, himmelblauen Stoffe, das Gewand, das die alten Römer trugen, auf dem Haupte hatte er eine Krone aus Elfenbein, über und über besetzt mit den prachtvollsten Diamanten, die in der Sonne ein sinnverwirrendes Farbenfeuer ausstrahlten, und in der Hand hielt er ein Scepter, das ebenfalls aus Elfenbein und Diamanten zusammengesetzt war. Sein Gesicht war alt und runzlig, aber von einer gesunden, bräunlichen Farbe; kalt und klug blickten darin die großen, blauen Augen. Wohl mochte er eine ehrwürdige Greisenerscheinung sein, doch wegen der an Krone und Scepter gezeigten Pracht konnte man kein Zutrauen zu ihm gewinnen, man bewunderte nicht, sondern fürchtete sich nur, denn auch ein maßloser Stolz, gepaart mit Eitelkeit, welche Eigenschaften durchaus nicht zu einem Greise paßten, prägten sich in den Zügen wie im ganzen Wesen des Alten aus.

Die beiden Männer hinter ihm, noch Jünglinge, waren in ebensolche faltige Gewänder gehüllt, die bis an die mit Sandalen bekleideten Füße reichten und aus einem schneeweißen Stoffe bestanden. Der eine trug an einer seidenen Schnur eine große, goldene Flasche, der andere einen kleinen goldenen Becher.

Als diese das Deck des Schoners betreten hatten, fluteten ihnen noch eine Menge von Männern über die Brücke nach, die wieder wie Holländer aus vergessenen Zeiten, doch in gröbere Stoffe gekleidet waren und mehr den Eindruck von wirklichen Schiffern oder Arbeitern machten.

Zunächst stellten[WS 4] sie sich alle in militärischer Ordnung an der Bordwand des Schoners auf, als wenn sie weitere Befehle erwarteten.




Vor dem ‚König der Zauberer‘.

Der vorausgehende Herold blieb jetzt stehen, stieß den Stab dröhnend aufs Deck nieder und wandte sich mit einer ruckmäßigen Bewegung gegen den Blaugekleideten um. Dann sagte er mit schallender Stimme auf holländisch, welche Sprache sowohl Richard als Gustav verstanden:

„Unser Gebieter hat befohlen, und sein Wort ist schon die Ausführung. Diese Flüchtlinge hier auf dem Schiffe sind des ersten Todes gestorben, als sie die Todesgrenze unserer Insel überschritten.“

Er stampfte darauf nochmals mit dem Stabe auf, machte eine scharfe, halbe Wendung und trat einen Schritt zurück, um nun, steif wie ein Soldat, stehen zu bleiben.

Dies alles war offenbar eine Ceremonie, die man dem Greise schuldete, und die etwas Militärisches an sich hatte. Welch ein buntes Durcheinander!

Römer und ein Ruderschiff aus dem klassischen Altertume, ein moderner Schoner, alte Holländer und preußische Disciplin!

Was waren das nur für Spukgestalten? Waren es die Seelen in verschiedenen Zeitaltern verstorbener Seeleute, die sich hier zusammengefunden? Doch nein, es waren lebende Menschen! Das Auge der beiden Versteckten sah ja so manches, was sich nicht mit Geistern zusammenreimte. Der eine der weiß gekleideten Jünglinge war zum Beispiel über eine Leiste gestolpert, wäre beinahe gefallen – und Geister stolpern doch nicht. Der Greis war mit seinem himmelblauen Gewand an einem Nagel hängen geblieben, ein Mann sprang hinzu und machte ihn frei, wobei in der Toga ein Loch entstand; auch lief ihm der Schweiß in großen Tropfen von der Stirn – das alles war ebenfalls durchaus nicht geisterhaft!

Aber nicht nur die versteckten Beobachter waren starr vor Schreck und Entsetzen; auch die holländischen Männer, selbst einer der hoheitsvollen Jünglinge – und das war vielleicht das Seltsamste – drückten in ihren Zügen und in ihrem ganzen Gebaren offenbar eine grenzenlose Furcht aus. Nur der Herold und der Jüngling mit dem Becher schienen nichts Ungewöhnliches in alledem zu finden.

„Zweifelst Du nun noch an meiner Macht, Scipio?“ wandte sich der Alte mit tiefer Stimme an den jungen Mann neben ihm, der scheu und zitternd dastand.

Der Gefragte raffte sich auf.

„Verzeihe mir, o, Gebieter, wenn ich es je gethan habe,“ entgegnete er mit der größten Demut und Scheu. „Ich bin kein Gottmensch wie Du, sondern ein einfacher Mensch, und Irren ist menschlich. Hast Du aber in Deiner Weisheit beschlossen, mich des zweiten Todes sterben zu lassen, so bin ich bereit dazu, denn ich habe ihn verdient.“

„Ich verzeihe Dir nochmals, Scipio.“ –

Wie? Hatten Richard und Gustav recht gehört? Wie, dieser Greis sollte Macht haben über Leben und Tod? Und er besaß solche Eigenschaften, daß man ihn sogar einen ‚Gottmenschen‘ nannte und ihn verehrte wie ein höheres Wesen? Nein, das konnte nicht sein, er war sicherlich auch nichts anderes, als ein gewöhnlicher Mensch!

Jetzt streckte der sogenannte Gottmensch seine Hand mit dem Scepter aus.

„Sie kannten meine Macht, und sie haben ihr zu widerstreben versucht,“ rief er drohend, „sie waren gewarnt, und sie haben die Warnung mißachtet. So sollen sie des zweiten Todes sterben. Ueber Bord mit ihnen!“

Da kam Leben in die regungslos dastehende Mannschaft. Sie hoben die Leichen auf und warfen sie einfach über Bord. Die Versteckten hörten ganz deutlich die Haifische schnappen, die sich um die Beute stritten, und das Haar sträubte sich ihnen. Was würde ihr Los sein, wenn man sie entdeckte? Von dem Alten dort hatten sie sicherlich kein Mitleid zu erwarten!

Auch der Mann und die Frau wurden aus der Kajüte gebracht, und jetzt erkannte Richard, daß das bildschöne Mädchen kein Nachtgewand, sondern ein altrömisches Frauenkostüm trug.

„Cora kommt auf mein Schiff, ich nehme sie zurück, weil ich ihrer noch bedarf,“ ließ sich da der Alte mit seltsam zitternder Stimme hören, und Richard erkannte, daß große Thränen über seine Wangen in den weißen Bart rannen. Ja, es war nur ein Mensch!

Das Weib wurde dann auf das Ruderschiff geschafft, und der Mann wanderte über Bord. Unterdessen waren andere Matrosen in der Takelage beschäftigt, zogen die Segel ein und wandten das Schiff zur Rückfahrt, nachdem sie es mit der Galeere vertaut hatten. Bei diesen Arbeiten hörte Richard, wie sie sich leise unterhielten, und vernahm deutsche, englische, französische, italienische und spanische Worte, kurz und gut, die Sprachen aller Nationen. Auch diese Leute, die doch mit dem Gottmenschen auf dem Ruderschiff gekommen, waren voll Staunen, Angst und Ehrerbietung über das, was sie soeben zu sehen bekommen hatten. Das war wiederum sehr merkwürdig. –

Nochmals streckte jetzt der Greis das Scepter aus und wies direkt auf die vor der Back befindliche Segelleinwand. Dann sagte er:

„Dieser Vorhang verbirgt zwei fremde Männer. Führt sie mir auf meinem Schiffe vor.“ Hierauf wandte er sich ab, ohne den Erfolg seiner Worte abzuwarten, um auf das Ruderschiff zurückzukehren.

Im nächsten Moment waren Matrosen hinzugesprungen, hatten das Segeltuch zurückgerissen – und Richard und Gustav waren entdeckt!

Ihr Schreck über ihre Entdeckung hinter der Leinwand war zu groß, als daß sie ihre Gedanken hätten sammeln können. Sie waren völlig unfähig, ein Wort hervorzubringen.

Auch die beiden Jünglinge standen vor ihnen.

„Fürchtet Euch nicht,“ sagte der mit dem Becher, der vorhin keine Scheu gezeigt hatte, „unser Gebieter ist streng, aber gerecht. Euer Schicksal ist schon entschieden, und wenn Ihr ihm noch nicht begegnet seid, braucht Ihr auch nicht des ersten Todes zu sterben. Folgt mir!“

Ganz mechanisch folgten nun Richard und Gustav auf das Ruderschiff hinüber, und nur wie durch einen Nebel sah Richard, sobald er sich in dem Häuschen befand, das mitten auf dem Deck des ganz nach altrömischem Muster eingerichteten Schiffes stand, als wüßten diese Leute noch gar nichts von den Errungenschaften menschlichen Geistes in der Nautik und Schiffsbaukunst, wie sich die Matrosen auf die Ruderbänke setzten und den angehängten Schoner nach sich zogen. Er glaubte wirklich, dies alles gaukle ihm nur seine Phantasie vor.

Gustav war nüchterner, er hatte die Frage nicht überhört, ob sie Hunger und Durst hätten, und ließ sich die vorgesetzten Speisen, die aus Brot und verschiedenem kalten Fleisch bestanden, trefflich schmecken, nachdem er eine Flasche Rotwein in eine Kanne gegossen und diese ausgetrunken hatte.

„Vorläufig sind wir noch am Leben,“ sagte er mit einiger Lustigkeit, „und wenn man dreierlei Braten, Wurst, Schinken und solchen Wein vorsetzt – na, mit dem kann man auch nicht so Böses vorhaben! Ich denke, wir sind zwischen Insulaner geraten, die auf einer Insel im Archipel hausen und sich mit geheimnisvollem Hokuspokus umgeben, damit sie ungeladene Gäste von sich fernhalten.“




Der Lebenstrank.

„Kommt mit, meine Freunde, der Gebieter will Euch sehen,“ sagte der Jüngling mit dem Becher, als er die kleine Kabine betrat.

Richard war durch die herzhaften Worte seines Kameraden aus der Träumerei gerissen worden, obgleich derselbe wohl sehr kurze Gedanken haben mußte, daß er das Vorangegangene, ganz Unerklärliche schon vergessen hatte. Denn das war doch kein ‚Hokuspokus‘ gewesen.

Sie wurden nun auf das sehr hohe Vorderteil des Schiffes geführt, auf dem der Greis in einem aus Elfenbein geschnitzten, mit Gold ausgelegten, thronartigen Lehnstuhl saß, während neben ihm der andere Jüngling stand.

„Wer Ihr seid, weiß ich, ebenso, wie Ihr auf den Schoner kommt,“ redete der Alte sie an. „Mir ist nichts verborgen, und wenn ich Euch etwas frage, so thue ich es nur, um Euch zu prüfen und Euch zu überzeugen. Wo befindest Du Dich, mein Sohn?“

„Im polynesischen Archipel,“ entgegnete Richard.

„Wohl, aber siehst Du hier irgendwo eine Insel, eine Küste?“

„Nein, nur Himmel und Wasser.“

„Und doch befindest Du Dich ganz in der Nähe meines Reiches, welches das Land des lebenden Todes ist. So trinke den Trank des Lebens, auf daß Du nicht des ersten Todes stirbst, wenn Du die Grenze meines Landes überschreitest, und laß Deine Augen sehend werden.“

Bei diesen Worten hatte der eine Jüngling den goldenen Becher von seinem Gürtel gelöst, der andere aber füllte ihn aus seiner Flasche mit einer grünen Flüssigkeit und überreichte ihn feierlich Richard.

Einen Augenblick zauderte dieser, denn er dachte an Gift, und die grüne Farbe hatte ihn stutzig gemacht. Doch hier half ja nichts, er mußte trinken, und wenn es auch Gift gewesen wäre. Doch warum sollte man ihn noch nachträglich vergiften? Er leerte also dem Becher, und das Getränk schmeckte gut.

„Himmelbombenelement, was ist denn das?“ rief da staunend neben ihm Gustav, der ebenfalls schon einen Becher getrunken hatte.

Was sie da vor sich sahen, war nämlich eine Hafenstadt, und das Schiff, das darauf zuruderte, war nur noch tausend Meter von der Einfahrt entfernt.

Der Steuermann hatte schon mehrere italienische Häfen gesehen, an denen man noch ungefähr die Anlagen der alten Römer erkannte. Er konnte sich infolge seiner guten Schulbildung auch ungefähr vorstellen, wie ein römischer Hafen im Altertum ausgesehen haben mochte, denn es giebt ja noch Pläne und Beschreibungen von alten Historikern, und moderne Gelehrte haben danach ganze Bilder entworfen. Also solch ein altrömischer Hafen lag zweifellos vor ihm. Charakteristisch waren an ihm vor allem die langen Molen und Steindämme, die sich ins Meer erstreckten und nicht nur zum Schutze der Schiffe, sondern auch als Spazierwege dienten. Sie waren mit Marmorfiguren besetzt, und einige riesige Figuren und Säulen standen mitten im Wasser. Im Hafen lagen nur wenige Schiffe, aber alle von römischer Bauart. Einige waren prächtig geschmückt, sie blitzten von Gold und Silber und bunten Steinen, und dahinter erhob sich die Stadt mit den kleinen weißen Häusern mit platten Dächern, dazwischen großartige Paläste und Säulentempel aus weißem Sandstein oder Marmor, aber – und das ist es, was die römische Stadt gänzlich von einer orientalischen unterscheidet, welche sonst auch solche weiße, platte Häuser hat – alles war mit bunten Steinen in Mosaik ausgelegt oder doch mit bunten Farben geschmackvoll bemalt.

Ehe sich Richard noch von seinem Staunen erholt hatte, legte das Ruderschiff an einer Mole an, und der Jüngling gebot den beiden, ihm zu folgen.




Im Lande des lebenden Todes.

In der Stadt und schon auf der Mole herrschte ein reges Leben, überall wurde gearbeitet, doch war alles grundverschieden von dem Treiben in einer anderen Hafenstadt.

Im Hintergrunde der Stadt ragte eine mächtige Pyramide empor, die oben von einer großen Kuppe gekrönt wurde.

Keine Schiffe wurden ausgeladen, keine befrachtet, keine Dampfkräne keuchten, keine beladenen Rollwagen waren zu erblicken, und man mußte sich erst daran gewöhnt haben und näher zuschauen, um zu bemerken, daß alles, was hier geschah, zur Verschönerung oder Verbesserung der Stadt und Hafenanlage diente. Die Arbeiter waren fast nur Maurer und Steinmetzen; in Schubkarren wurden ihnen Steine und Sand zugeführt, während Schmiede an eisernen Schienen zur Befestigung der Blöcke hämmerten und Bildhauer an Statuen arbeiteten.

Dasselbe Bild zeigte sich auch in der Stadt selbst, die sie, durch herrliche Säulengänge schreitend, auf prachtvollen Mosaikwegen durchwanderten, die so künstlich aus winzigen Steinchen zusammengefügt waren, daß man meinen mußte, zur Herstellung nur eines Quadratmeters gehörten einige Jahre. Ueberall nur Pflaster und Bauarbeiten, Bildhauerei und Malerei, und dabei alles ohne Lärm und Hast, wenn man auch in der Sonne tüchtig schwitzte! Nirgends eine Spur von einem modernen Geschäfts- und Marktleben, keine Läden, keine Fuhrwerke, noch weniger elektrische Straßenbahnen, aber dafür Springbrunnen, Monumente und andere überzahlreiche Verzierungen von künstlerischem Geschmack!

Seltsam stachen von dieser klassisch-schönen Scenerie die Arbeiter ab, die alle das altholländische Kostüm trugen, während einige der Künstler, jedoch nicht alle, mit der römischen Toga bekleidet waren. Mehrere von ihnen promenierten auf den Mosaik-Trottoirs und in den Säulengängen, und Richard vermochte höchst gelehrte Worte von ihnen zu erlauschen, andere dagegen ritten auf prächtigen Rossen mit kurzgeschorenen Mähnen, und alle diese Nichtsthuer waren wie Römer gekleidet.

Der Führer betrat jetzt einen prächtigen Palast, in dem viele Diener, alle Holländer, sich vor ihm neigten, und durchschritt einige Gänge, um Richard und Gustav drei Gemächer anzuweisen, mit der Bemerkung, dies seien vorläufig die ihren, und sie sollten nur hier bleiben, bis er wiederkäme.

Es waren drei sehr kleine Zimmer, wie man solche auch in römischen Häusern findet; Boden, Wände und Decke waren mit wunderbarer Mosaikarbeit belegt, und alles stammte von Künstlerhand; die venetianischen Fenster aber waren mit herrlichen Bildern aus Roms Glanzzeit bemalt, und trotzdem war inwendig alles behaglich eingerichtet, jedoch so seltsam, wie es Richard noch gar nicht kannte, besonders die Betten waren ungeheuer breit, und auf den Simsen war das feinste Porzellan aufgestellt. Selbst ein Ständer mit langen Thonpfeifen und Tabak fehlten nicht, und nun wußte Richard plötzlich, welcher Geschmack die Einrichtung bestimmt hatte. Hier war klassische Schönheit mit altholländischer Bequemlichkeit verbunden worden, im großen und im kleinsten, und selbst die Einwohnerschaft trug dieses gemischte Gepräge.

Die beiden Seeleute setzten sich nun in dem Wohngemach auf schön gepolsterte Lehnsessel nieder, und Gustav griff gleich nach Pfeife und Tabak und begann zu schmauchen.

„Na, Steuermann, hatte ich nicht recht?“ sagte er. „Wir sind hier in der That auf einer sogenannten unentdeckten Insel. Hier läßt es sich ganz gut leben.“

„Sogenannte unentdeckte Inseln giebt es gar nicht,“ erwiderte Richard. „Hier handelt es sich nur um ein tiefes Geheimnis. Aber mag das Rätsel noch so unergründlich erscheinen, ich werde es lösen.“

„Was Geheimnis, was Rätsel! Ich lebe, die Pfeife schmeckt mir, und damit basta. Ein Glück nur, daß es nicht der fliegende Holländer war.“

„Du glaubst an den fliegenden Holländer, an dieses alte Ammenmärchen, und kannst nicht fassen, daß wir es hier mit einem anderen Spuk zu thun haben?“

„Hört, Steuermann, spottet nicht über den fliegenden Holländer. Ich habe einmal einen Matrosen gesprochen, der hatte einen Freund, und was dessen Großvater mütterlicherseits war, dessen Schwiegervater von seiner zweiten Frau ist dem fliegenden Holländer einmal begegnet.“

„Du bist ein sonderbarer Kauz, Gustav. Du findest wohl gar, daß hier alles ganz natürlich zugegangen ist?“

„Warum denn nicht? Das sind Menschen, keine Geister.“

„Von den Geistern ganz abgesehen. Wie erklärst Du Dir aber die Toten auf dem Schiffe?“

„Die waren ursprünglich auch auf dieser Insel und haben, als man erfuhr, daß sie zu entfliehen beabsichtigten, vergifteten Proviant an Bord mit bekommen,“ meinte Gustav mit schlauem Augenblinzeln. „Es wird hier schon dafür gesorgt, daß der lebendig nicht weit kommt, der von der Insel ausreißen will.“

„Ganz richtig, daran habe ich auch schon gedacht. Woher wußte aber der unheimliche Alte, daß wir hinter der Segelleinwand steckten?“

„Das hat er an irgend etwas gemerkt und that dann, als sei er allwissend. Das gehört auch mit zu dem Humbug.“

„Mag schon sein. Woher aber sahen wir plötzlich die Stadt auf einem Festland oder einer Insel, nachdem wir den Trank zu uns genommen hatten?“

„Das wird nicht so plötzlich gekommen sein. Zuerst saßen wir in dem Häuschen, dann sahen wir nur immer nach dem Alten und waren ja überhaupt noch gar nicht ganz klar im Kopfe, darauf drehte sich das Schiff und endlich erblickten wir den Hafen, der nur auf einer ganz kleinen Insel liegen mag, der wir uns unterdessen schnell genähert hatten.“

„Nein, nein, und abermals nein!“ rief Richard, hastig aufspringend und hin- und hergehend. „So einfach ging das nicht zu; das andere mag Humbug oder Hokuspokus sein, wie Du sagst, aber hier liegt ein Geheimnis vor, und ich werde es lösen. Du glaubst an übernatürliche Dinge, das thue ich nicht; Du siehst hierin nichts Außerordentliches, und das thue ich wieder.“

So unterhielten sie sich wohl noch eine Stunde, bis der Eintritt eines Mannes in römischer Toga sie unterbrach. Es war der Jüngling, der vorhin, wohl als ein Zeichen seiner Würde, die goldene Flasche getragen und den Greis wegen seiner Ungläubigkeit um Verzeihung gebeten hatte. Sein Name war Scipio.

„Ich hoffe, es gefällt Euch hier, meine Freunde,“ begann er, „aber Ihr könnt Eure Lage sogar noch zu verbessern suchen. Das liegt nur an Euch. Ihr werdet wohl viel Fragen zu stellen haben, fragt immerzu, ich werde Euch antworten,[WS 5] so viel ich kann, denn ich bin Euch zum Lehrer zugeteilt worden. Zunächst hört aber meine Erklärung an.“

Wie er nun das Nachfolgende hersagte, konnte man annehmen, daß er es schon unzählige Male deklamiert hatte.

„Ihr seid im Lande des lebenden Todes,“ begann er. „Der Name kommt daher, weil hier niemand stirbt und solche, die sich selbst töten, oder von der Außenwelt tot über die Grenze kommen, wieder lebendig gemacht werden können. Das Reich ist ein unsichtbares und wird nur für den Eingeweihten sichtbar, der den Lebenstrank bekommen hat, ohne den er ja auch nicht die Todesgrenze überschreiten könnte. Ist das verständlich?“

Während Gustav mit offenem Munde dasaß, brach Richard in ein schallendes Gelächter aus.

„Nein, das ist mir ganz und gar unverständlich, das ist für mich sogar barer Unsinn. Doch bitte, fahren Sie fort, vielleicht wird es mir dann begreiflich.“

„Der Gebieter und Herrscher im Lande des lebenden Todes ist Erasmus van Teken, welcher den Titel ‚der Gottmensch‘ führt. Erasmus van Teken wurde im Jahre 1254 zu Amsterdam geboren –“

„Aha, von dem habe ich schon gehört,“ unterbrach ihn Richard, „das war ein gar berühmter Gelehrter, der nur leider seine Kenntnisse, die für jene Zeit sagenhaft gewesen sein sollen, dazu mißbrauchte, um als Alchimist und Goldmacher sich den Fürsten aller damaligen Reiche unentbehrlich zu machen. Er war ein Betrüger.“

„Laß mich aussprechen, und Du wirst Deinen Irrtum einsehen. Erasmus durchlief schnell alle Stufen der Wissenschaften, schon mit zwanzig Jahren galt er als eine Leuchte der gelehrten Welt, immer mehr verbreitete sich sein Ruhm, und Du hast recht, Könige und Kaiser bewarben sich um die Gunst, als Schüler zu seinen Füßen sitzen zu dürfen, allerdings nur zu dem egoistischen Zweck, von ihm die Kunst des Goldmachens zu erlernen. Aber ein Betrüger war er nicht, wie Du sagst, und da Du nun bei ihm bist, wirst Du noch viel Wunderbares zu sehen bekommen.“

„Was, Du willst doch nicht etwa behaupten, daß der sogenannte Gottmensch hier noch jener Erasmus van Teken ist?“ rief Richard.

„Es ist noch derselbe, und er wird es ewig bleiben. In seinem neunzigsten Jahre erfand er das Lebenselixir und hatte somit den Tod bezwungen. Er hätte die ganze Menschheit unsterblich machen können, aber er war gewitzigt und verheimlichte seine Entdeckung. Doch wenn Du seine Geschichte kennst, so weißt Du auch, daß man ihn nicht nur mit Gunst und Ehren überhäufte, um von ihm das Geheimnis des Goldmachens zu erlernen, sondern daß man ihn deswegen auch wiederholt in den Kerker warf und den furchtbarsten Folterqualen aussetzte. Und hätte es denn etwa der ganzen Menschheit genützt, wenn alle Gold machen konnten? Nein; Erasmus erkannte, daß es geradezu ein Unglück für die Menschen wäre, wenn das Sterben aufhöre, daß dann schreckliche Zustände kommen mußten, daher behielt er sein neues Geheimnis für sich. Nur sich selbst machte er unsterblich und benutzte die Jahrhunderte, um in tiefster Verborgenheit, den Menschen schon längst für tot geltend, seinen Geist immer mehr zu vervollkommnen. Was ein Mensch nun erreichen kann, wenn er sich acht Jahrhunderte lang ununterbrochen dem Studium der Naturkräfte hingiebt, kannst Du Dir wohl denken. Kurz, für Erasmus gab es bald kein Geheimnis des Himmels und der Erde mehr, seine Geisteskraft kannte keine Schranken mehr, er wurde ein gewaltiger Herrscher im Reiche des Geistes und der Natur.“

Der Sprecher machte eine Pause.

„Nein, aber so was,“ meinte Gustav, „was doch nicht alles in der Welt passiert, und unsereiner hat gar keine Ahnung davon!“

Richard erwiderte nichts. In Gedanken versunken saß er da und wartete, bis Scipio fortfuhr:

„Vor ungefähr hundert Jahren beschloß Erasmus, sich wieder mit Menschen zu umgeben, und als er im Geiste eine Insel im polynesischen Archipel erblickte, die ihm wohlgefiel, versetzte er sich darauf, machte sie, um von der Welt abgeschlossen zu bleiben, unsichtbar und umzog sie mit einer Grenze, die niemand lebendig überschreiten darf. Jenseits dieser Grenze vermag also niemand die Insel zu sehen, wie Du wohl schon selbst gehört haben wirst. Will man sie aber lebendig überschreiten und die Insel schauen, muß man erst von dem Lebenselixir trinken. Unser Gebieter brauchte natürlich auch Menschen, um das, was er vorhatte, ausführen zu können, und die Menschen kamen von selbst. Oft genug verirrt sich ein Schiff hierher, beim Passieren der Grenze fällt die Mannschaft in Todesschlaf; der erhabene Greis weckt sie dann wieder und macht sie zu seinen Unterthanen, indem er die Brauchbaren immer weiter ausbildet, die Unbrauchbaren aber des zweiten Todes sterben läßt, von welchem es kein Erwachen giebt. Viele Schiffe, die man mit der ganzen Mannschaft für im stillen Ocean untergegangen hält, sind auf diese Weise verschwunden. So wächst die Bevölkerung der Insel beständig, außerdem giebt es hier ja auch Frauen. Was willst Du?“

„Mir kommt eine Sache wieder sehr ungereimt vor,“ sagte Richard. „Wenn dieser Mann wirklich so allmächtig wäre, wozu braucht er da Arbeiter, um seine Pläne ausführen zu lassen? Erstens könnte er sich ja Menschen auf seinen Befehl erschaffen, noch einfacher aber wäre es, wenn er nur zu wollen brauchte, damit im Augenblick alles entsteht, was er sich wünscht.“

„Deine Ansicht verrät wenig Scharfsinn,“ entgegnete Scipio. „Doch sie ist Deinem Alter entsprechend. Gar viele haben dasselbe ausgesprochen, als sie hierherkamen, auch ich that es erst. Aber schließlich zeugt es doch wieder von selbständigem Denken, wenn man solch eine Frage aufstellt. – Gott ist allmächtig, allwissend und allgütig. Warum läßt er das Leben der Wesen, die er geschaffen hat, und die er schon darum lieben muß, in einem ununterbrochenen Kampfe sein? Warum verwandelt er nicht durch ein einziges Wort die ganze Welt in ein Paradies, in welchem es keine Mühe und keine Thränen mehr giebt? Weil die einzige Freude in der Welt die Arbeit ist und deren Segen die Entwicklung, und an dieser langsamen Entwicklung durch Ringen und Mühe hat Gott selbst seine Freude. Auch Erasmus hatte sich einst mit den verwirklichten Gebilden seiner Phantasie umgeben, doch er hat alles wieder zertrümmert, um von neuem als einfacher Mensch im Schweiße seines Angesichts zu beginnen. Und wenn er des Abends sein Tagewerk beschaut, da empfindet er Freude und Zufriedenheit.“

Verschämt senkte Richard den Kopf. Er war vollkommen geschlagen worden.

„Du könntest noch ganz andere Fragen stellen,“ nahm Scipio wieder das Wort. „Nun laß Dir aber weiter erklären, wie es hier zugeht. Erasmus hat stets für das klassische Altertum geschwärmt, er hat daher diese Stadt und die ganze Insel nach römischem Muster angelegt, verbunden mit der holländischen Bequemlichkeit seiner Jugendzeit. Also Du verstehst wohl: er schwärmt für die Zeit der Römer, hängt aber auch noch an den Sitten seiner Väter, er ist ein Holländer in der römischen Toga. Alles, was Du hier siehst, ist der Intelligenz seines Geistes und dem Fleiße der Hände seiner Unterthanen entsprungen, und er selbst freut sich an unseren Fortschritten und ist nur Lehrer, nichts weiter. Mit seiner Macht greift er nicht in unser Werk ein. Alle Fortschritte und Erfindungen der Menschheit verachtet er. Die Kunst und Wissenschaft aber geht ihm über alles, darin müssen wir uns fortbilden, um dereinst ihm gleich zu werden, sonst braucht der Mensch hier nichts weiter, als was ihm die Natur an Nahrungsmitteln bietet. Die tausend Nichtigkeiten, welche die Außenwelt nötig zu haben wähnt, giebt es hier nicht.

Die Bevölkerung zerfällt in Sklaven und Freie. Die Sklaven werden zur Arbeit angestellt, sie müssen für die Erzeugung der Nahrungsmittel sorgen, das Feld bebauen und Viehzucht treiben, sie müssen Bauten ausführen, ausbessern und sonst für die Bequemlichkeit sorgen und die Pläne der Freien verwirklichen. Die Freien sind Gelehrte oder Künstler und tragen zur Unterscheidung von den holländisch gekleideten Sklaven das römische Gewand. Jeder muß zuerst als Sklave beginnen, mit den niedrigsten Arbeiten anfangen, die Schulen durchlaufen. Und zwar währt diese Lehr- und Prüfungszeit hundert Jahre. Dann entscheidet der Gebieter, ob er sich zum Freien eignet, oder ob er noch ein oder einige Jahrhunderte als Sklave durchzumachen hat. Auch kann jeder gleich für die Ewigkeit zum Arbeitssklaven bestimmt werden, vorausgesetzt, daß er eine besondere Fähigkeit, etwa sehr große, körperliche Kraft oder eine außerordentliche Geschicklichkeit in irgend einem Fache besitzt. Sonst hebt der Gebieter, falls er ganz unbrauchbar, lasterhaft oder ihm ungehorsam ist, die Wirkung des Lebenselixirs auf, oder verbannt ihn auch in die ‚Hölle‘. Nur große Erfolge in Kunst oder Wissenschaft befähigen einen Sklaven, ein Freier zu werden. Die größte Sünde ist die Zweifelsucht an der Macht und Weisheit unseres Herrschers, und auch der Freie, der dieser Zweifelsucht nochmals überführt worden ist, wird zur ewigen Verdammnis in der sogenannten ‚Hölle‘ verurteilt …“

„Nun ist es aber genug,“ rief Richard, erregt aufspringend. „Kann denn ein Mensch zu verlangen wagen, daß man solchen Unsinn glauben soll? Nein, das ist nicht allein Unsinn, das ist sogar ein Frevel der furchtbarsten Art! Also Euer Herr spielt hier sozusagen den lieben Gott?“

Scipio behielt seine Ruhe; nur nahm sein Gesicht einen seltsam traurigen Ausdruck an.

„Er ist nicht der Schöpfer Himmels und der Erde, er ist nur der Gründer und unbeschränkte Gebieter dieser Insel. Wir alle müssen ihm gehorchen und ihn wie ein höheres Wesen verehren.“

„So, so, und da soll ich wohl nun auch als sein niedrigster Sklave anfangen?“

„Du mußt es, wie jeder Neuangekommene.“

„Hundert Jahre lang?“

„So lange währt die erste Prüfungszeit.“

„Und muß ihn wohl gar ebenso wie Ihr verehren?“

„Du sagst es. Wo wir auch unseren Gebieter treffen, müssen wir unsere Ehrerbietung erweisen. Wehe dem, der es daran auch nur im geringsten fehlen ließ. Er würde den unauslöschlichen Zorn des Gebieters auf sein Haupt laden. Unterhalb der Pyramide, in einem fürchterlichen Abgrunde befindet sich die sogenannte Hölle, in welche der Herrscher die Schwachen, Faulen, Unehrerbietigen und Zweifler an seiner Macht zur ewigen Verdammnis verbannt. Ueber die ganze Art und Weise, wie wir ihn verehren, erhältst Du noch Unterricht, es sind strenge Ceremonien damit verknüpft; so hat die Pyramide sehr viele Stufen, nach welchen sich die Freien rangieren. Je weniger jemand an der Macht des Meisters zweifelt, desto schneller kommt er höher.“

„Daß ich auch recht verstehe,“ sagte Richard, „alle diese Verehrung gilt nicht etwa dem lieben Gott oder Buddha oder Mohammed oder sonst einem Gotte, sondern sie gilt nur dem alten Manne, den ich heute gesehen habe?“

„Du sagst es.“

Richard brach wieder in ein schallendes Gelächter aus. Dann aber wurde er furchtbar ernst; ein hoher Zorn der Entrüstung brach aus seinen Augen hervor.

„Genug, genug!“ rief er. „Wer diesen Worten glaubt und danach handelt, wer seinen Gott verleugnet, um einen Menschen wie ihn zu verehren – der ist allerdings wert, zeit seines Lebens und auch bis in alle Ewigkeit hinein als elender Sklave zu dienen! Führe mich zu dem stolzen Greise, der so vermessen denkt! Ich will ihn fragen, ob er ein Gott ist! Und wagt er es, zu behaupten, mit Gott auf einer Stufe zu stehen, so will ich ihn ins Gesicht einen nichtswürdigen, abgeschmackten Lügner und Aufschneider nennen, den alten Kerl, dem ein Nagel ein Loch in seinen himmelblauen Schlafrock riß, und der in der Sonne wie ein abgetriebener Droschkengaul schwitzte. Und mag er mich dann auch in einen feurigen Ofen stecken, den er vielleicht seine Hölle nennt, mag er als Mensch und Gelehrter die Macht haben, mich[WS 6] Folterqualen auszusetzen, welche seine Phantasie nur zu erfinden vermag, so lange ich meine Zunge regen kann, will ich höhnen und spotten, daß ein Erdenwurm die Unverschämtheit besitzt, sich wie einen Gott verehren zu lassen.“

Auf Scipio machte diese Verachtung und der hervorbrechende Zorn keinen Eindruck.

„Hast Du nicht schon Beweise gefunden, daß er mit übernatürlichen Kräften ausgestattet sein muß?“ fragte er ruhig.

„Nein!“ entgegnete Richard energisch. „Er mag ein großer Gelehrter sein, der in die Tiefen der geheimnisvollen Natur schon weit vorgedrungen ist und viel gelernt hat, aber allmächtig ist er deswegen noch lange nicht. Nur Gott ist allmächtig – und Erasmus ist und bleibt gegen Gott doch nur ein elender Stümper.“

„Ich versichere Dir, daß ich selbst schon über achtzig Jahre alt bin,“ erklärte der Jüngling feierlich, „und siehst Du mir das etwa an? Unser Gebieter besitzt wirklich das Lebenselixir, das den Tod überwindet.“

„Mag sein, ich zweifle nicht daran, daß solch ein Mittel gegen den Tod erfunden werden kann. Aber deswegen wird der Mensch noch immer kein Gott, und wenn er sich auch die Unsterblichkeit verschaffte.“

Diesmal aber verlor der Jüngling die Fassung doch.

„Wer bist Du, daß Du so sprichst?“ staunte er Richard an. „Die Worte, die Du vorhin sagtest, hat hier schon mancher gesprochen, auch ich that es einst. Ist derjenige, der ein Lebenselixir erfunden hat, ein gewöhnlicher Mensch? Steht er nicht bedeutend über ihnen? Müssen wir nicht zu ihm mit Ehrfurcht emporblicken?“

„Ah, ist es nur das, was Euch diesen Menschen so verehrungswürdig macht?“ frohlockte Richard und setzte nun auseinander, was er darüber dachte. Es kann hier nur angedeutet werden, daß es thatsächlich heutzutage viele Gelehrte, Philosophen giebt, die der festen Ansicht sind, der Mensch könne es mit der Zeit noch so weit bringen, sein Leben über die gewöhnliche Altersgrenze hinaus zu verlängern; sie behaupten, die Erfahrung schreite immer weiter, bis eine Unsterblichkeit wohl denkbar ist. Nur darf man hierbei nicht an medizinische Pillen und Salben denken. Es ist eine philosophische Spekulation, deren Richtigkeit indirekt bewiesen wird, zu deren Verständnis aber ein eingehendes Studium gehört. Ueberhaupt, es wird nur gesagt: ‚so könnte es einmal werden‘, ,es ist nicht ausgeschlossen‘, ,es liegt im Bereiche der Möglichkeit‘, ,die Annahme ist berechtigt durch die konstante Entwicklung der Menschen‘. Als Seitenstück kann man zum Beispiel anführen, daß es früher Krankheiten gab, die als unheilbar galten! Wäre damals jemand aufgetreten und hätte gesagt, in hundert Jahren ist diese Krankheit ein überwundener Standpunkt, ja, diese Krankheit giebt es dann nicht mehr – zum Beispiel die schwarzen Pocken und so weiter – so wäre er ins Narrenhaus gesperrt worden!

„Du selbst hast ja an der Gewalt und Macht des Meisters gezweifelt,“ fuhr Richard fort, „ich sehe es Deinem Gesicht an, und Du batest ihn deswegen um Verzeihung. Wie reimt sich das zusammen?“

„Im Laufe von achtzig Jahren lernt man viel,“ entgegnete der Jüngling, und es klang wie ein unterdrückter Seufzer. „Wenn die Erkenntnis wächst, dann kommen wohl Stunden, da sich der gereifte Geist auflehnt, an Wunder zu glauben. So erging es auch mir vor einiger Zeit, als einige Sklaven, angeführt von Cora, der Enkelin des Gebieters, geflohen waren. Es ist uns gelehrt, daß eine Flucht unmöglich sei, weil niemand die Grenze überschreiten könne. Ich hatte schon lange daran gezweifelt, ich konnte es nicht fassen. Der Gebieter selbst fuhr aber dem Schoner nach, und Du hast es ja gesehen, daß er die Wahrheit verkündete.“

„Ja, und er nahm auch die ungläubigsten Sklaven mit, auf daß sie nicht mehr an seiner Wunderkraft zweifelten,“ entgegnete Richard. „O, ich durchschaue den ganzen Humbug. Der sorgt schon dafür, daß die Dummen nicht alle werden.“

„Wie meinst Du das?“

„Daß er ein großer Gelehrter und Zauberer ist, weiter nichts. Er benutzt seine Wissenschaft, um Euch etwas vorzugaukeln, damit Ihr ihn anbetet und bewundert, das schmeichelt seinem Stolz.“

„Wie aber erklärst Du Dir, daß er die Flüchtlinge töten konnte?“

„Er wandte irgend ein Mittel an und nicht etwa eine übernatürliche Kraft; daran glaube ich ein für alle Male nicht.“

„Hast Du nicht gesehen, wie er die Unsichtbarkeit der Insel aufheben kann? Ist das etwa kein Wunder?“

„Merkwürdig ist es, aber ein Wunder ist es nicht. Nehmen wir zum Beispiel an, er habe eine bisher unbekannte Art von Lichtstrahlen entdeckt, wie vor einigen Jahren von Röntgen die sogenannten X-Strahlen erfunden wurden. Diese neuen Strahlen, etwa durch eine besondere Flüssigkeit geleitet, sollen die Eigenschaft haben, den Gegenstand, auf den sie fallen, vollständig durchscheinend zu machen, was ganz leicht denkbar ist. Denken wir nun, sie übten gleichzeitig auf alles Lebende eine tödliche Wirkung aus, die jedoch durch eine Art von Gegengift gleich wieder aufgehoben oder wirkungslos gemacht würde, und stellen wir uns weiter vor, die große Kugel, die auf der Pyramide ruht, sei das Centrum, von welchem diese unsichtbar machenden und tödlich wirkenden Strahlen ausgingen. Doch, was ist das?“

Ein intensiver, heller Ton hallte durch den ganzen Palast, dem noch einige Glockensignale folgten.

„Ich werde gerufen,“ sagte Scipio und entfernte sich hastig.

„Merkwürdig,“ brummte Richard, sich mißtrauisch die Wände des Gemaches ansehend, „das war ja bald, als hätte Scipio die Ausführung meiner Spekulation nicht anhören sollen. Gerade, als ich auf den Kernpunkt der Sache kam, wurde er abgerufen. Sollte der Gebieter vielleicht seine Ohren an dieser Wand haben, falls er das Telephon noch nicht kennt? Sollte ich durch Zufall dem Geheimnis vielleicht schon näher auf die Spur gekommen sein? Diese Idee mit den Strahlen, welche von der Kugel, die in der Nacht leuchten soll, ausgehen, will ich einmal festhalten. Denn hier bleiben werde ich wohl vorläufig. Aber der Mann mag ja nicht das Verlangen an mich stellen, ich solle ihn verehren! – Er könnte sonst etwas von mir zu hören bekommen.“




Der Nachfolger des Zauberkönigs.

Gustav wurde als gewöhnlicher Arbeiter am Hafen beschäftigt, Richard in einer altholländischen Kleidung von feinerem Stoffe als Haussklave im Palaste des Herrschers.

Willig unterzog er sich den ihm zugewiesenen Arbeiten, die in den ersten Tagen nur in Ausfegen und anderen niedrigen Dienstleistungen bestanden, um die Gelegenheit zu benutzen, die nähere Umgebung des Gebieters zu beobachten. Er konnte dies bald noch besser thun, denn von einer ihm unbekannten Protektion wurde er schnell von Stufe zu Stufe befördert, bis er das Amt eines Kammerdieners des Greises bekleidete, immer in dessen unmittelbarer Nähe war, des Nachts auch im Nebenzimmer schlafen mußte, und zwar nur er allein; kein zweiter im ganzen Reiche teilte diese Bevorzugung mit ihm, kein Minister konnte sich mit dem Gewaltigen, der sich wie der Kaiser von China von der anderen Menschheit abschloß, so vertraulich unterhalten, wie er es mit Richard that.

Was hatte diese außerordentliche Gunst zu bedeuten? Offenbar ging ja diese schnelle Beförderung nur von dem Herrscher selbst aus.

Es war auch noch vielerlei dabei, was Richard stutzig machen mußte, bis er sich klar darüber war, was man mit ihm vorhatte: der Alte selbst suchte ihn an sich zu fesseln, wahrscheinlich, um ihn in Geheimnisse einzuweihen, welche seinen anderen Unterthanen heilige Rätsel sein sollten, über deren Lösung nachzugrübeln schon als ein Staatsverbrechen galt.

Als der vertrauteste Diener erkannte Richard, wenn er je daran gezweifelt hätte, daß auch der Gottmensch ein gewöhnlicher, sterblicher Mensch, mit menschlichen Schwächen behaftet und selbst von der Gicht des Alters geplagt war, obgleich er ebenso zu der gewissen Ueberzeugung kam, daß der Greis thatsächlich ein Alter von vielen hundert Jahren hinter sich haben mußte, wie es hier ja auch noch andere gab, die die Grenzen des Menschenlebens weit überschritten hatten. Die Wirkung des Lebenselixirs, das der holländische Gelehrte zu brauen verstand, war eine Thatsache. Aber der Trank verjüngte nicht, er konservierte nur den Menschen; der Jüngling blieb ein Jüngling, und der Zauberer, der das Rezept erst im späten Lebensalter erfunden hatte, blieb ein altersschwacher Greis. Wie schon gesagt, der Gebieter lebte und herrschte in Unnahbarkeit, wie etwa der Kaiser von China, oder vielmehr wie ein Gott, und ein solcher wollte er ja auch sein. Der höchste Beamte im Reiche, seine eigenen Kinder mußten auf den Knieen rutschen, das Gesicht auf die Erde gedrückt, wenn sie sich auf Befehl ihm näherten; zeigte er sich aber in seiner ganzen Würde auf der Straße, mußte sich alles Volk vor ihm niederwerfen und den Saum seines Kleides küssen, und die Freiem waren hiervon nicht ausgeschlossen; er mußte überhaupt fast wie ein Gott verehrt werden; die ihm zu erweisenden Ehren waren genau geregelt; er entschied über Tod und Leben und duldete keinen anderen Gebieter neben sich.

Alles an dem Manne war maßlose Herrschsucht, Stolz und Eitelkeit, und dieses Uebermaß mußte auf den, der ihn in nächster Nähe beobachtete, lächerlich wirken.

Weiter bemerkte Richard im Laufe der Zeit, welche Gesinnung im Volke herrschte. Man liebte den Gewaltigen nicht, sondern man fürchtete ihn nur, ja, man haßte ihn sogar glühend als den Sklaventreiber, aber man wagte nicht, sich gegen ihn aufzulehnen, weil man fast täglich Proben von seiner Uebermacht empfing. Ein furchtbarer Druck lagerte auf dem ganzen Volke, auf den Sklaven wie auf den sogenannten Freien. Von Zufriedenheit war nirgends eine Spur zu finden, alles blickte mit gehässiger Scheu zu dem Alten auf. Das wußte dieser natürlich, und er wurde daher beständig von geheimer Sorge gemartert. Er fürchtete eine allgemeine Rebellion, schien seiner Macht selbst nicht zu trauen, wagte nicht einmal, Spione zu halten, denn das hätte ja den Ruf seiner Weisheit sofort ruiniert, und beobachtete sein Reich nur von versteckten Punkten aus, indem er bei Nacht lauschend und spähend umherschlich, um dann später mit seiner Allwissenheit zu prahlen und jedes Wort des Zweifels an seiner Person mit furchtbarer Grausamkeit zu bestrafen.

Warum nur machte er mit Richard solch eine merkwürdige Ausnahme? Ihm gegenüber zeigte er sich als schwacher Mensch; nie verlangte er von Richard, daß dieser ihn als ein höheres Wesen betrachte, er brauchte auch nicht an der öffentlichen Verehrung des Greises teilzunehmen. Dagegen erhielt Richard täglich Unterricht von einem Minister in Staatswesen, und dann, als die geheimen Artikel daran kamen, übernahm der Gebieter den Unterricht sogar selbst.

„Als dich Scipio hier einführte,“ sagte er eines Tages, „sprachst Du zu ihm von einem Röntgen, welcher die X-Strahlen erfunden habe. Erkläre mir, was Du von diesen Strahlen weißt. Ich will Deine Kenntnisse prüfen, ob Du fähig bist, den Posten zu bekleiden, zu dem ich Dich bestimmt habe.“

Also auch noch dem Vertrauten gegenüber prahlte er mit seiner Allwissenheit, obwohl er ihn nur prüfen wollte!

Richard aber war sich seiner Sache sicher, jetzt prüfte er seinen Lehrer. Nach seiner Erklärung hatte Professor Röntgen Strahlen entdeckt, die die Eigenschaft besaßen, den menschlichen Augen das Unsichtbare in der Atmosphäre sichtbar zu machen, sodaß sie sahen, daß unsere Umgebung in der Luft mit Wesen erfüllt ist, die ungefähr denen der Mikroben im Wassertropfen des Sumpfes gleichen, nur daß sie einen riesenhaften Umfang haben und durch ihre Aetherbeschaffenheit jede feste Materie durchdringen können. Der Apparat, welcher die X-Strahlen erzeugt, spielte also ungefähr die Rolle eines Mikroskopes, oder hier richtiger, eines Makroskopes, war also eine Brille zur Sichtbarmachung von sonst unsichtbaren Wesen.

Richtig, der alte Zauberer ging in die ihm gestellte Schlinge! Er wollte thun, als sei ihm dies alles schon bekannt, vermochte aber seine Aufregung nicht zu bemeistern, als er in dem Gemache auf- und abging, und stellte, da der Gelehrte bei ihm durchbrach, immer neue Fragen.

Plötzlich konnte sich Richard nicht mehr halten, seine Erklärungen kamen ihm selbst zu komisch vor, und er brach in ein lautes Gelächter aus.

Das Antlitz des Alten färbte sich dunkelrot, er schleuderte dem Kecken einen vernichtenden Zornesblick zu, seine Hand wies nach der Thür – und Richards Lachen erstarb, er schlich hinaus. Zu spät erkannte er, was er angerichtet habe; er befand sich doch völlig in der Macht dieses stolzen, gewaltthätigen Mannes, der so etwas wohl nie verzeihen konnte.

Er wartete im Vorzimmer, dachte nicht anders, als daß jetzt die Strafe auf dem Fuße folgen würde, und sah keine Möglichkeit, dieser zu entgehen.

Nach einer Viertelstunde wurde er durch ein Glockenzeichen wieder hereingerufen.

„Setze Dich und höre mich an,“ sagte der Greis, nicht stolz und befehlend, sondern eher gedrückt, indem er dabei immer auf- und abging, und die Worte traurig klangen und stoßweise hervorkamen.

„Du verstehst mich besser zu beurteilen, mein Sohn, als je einer zuvor,“ begann er, „und bei Dir weiß ich auch, daß ich mich vergebens bemühen werde, Dich von meiner gottähnlichen Allmacht zu überzeugen, denn Du bist ein Kind Deiner Zeit, und die Zeiten haben sich, seitdem ich die Welt verlassen habe, sehr geändert. Mit jedem neuen Ankömmling merke ich es mehr; immer schwerer wird es mir, sie zu meinen willenlosen Sklaven zu machen. Ich bin alt. Ich habe lange, lange gelebt, ich sehne mich nach der ewigen Ruhe des natürlichen Todes. Aber zweifelst Du daran, Knabe, daß ich die Macht habe, mein Leben und das meiner Unterthanen nach Belieben zu verlängern?“

„Nein, daran habe ich nie gezweifelt, daß es solch ein Mittel geben kann,“ entgegnete Richard, „und ich glaube, daß Du es besitzest. Deshalb aber bist Du noch nicht allmächtig wie Gott, kannst Du doch noch nicht die Unsterblichkeit erlangen.“

„Du sprichst die Wahrheit, mein Sohn. Wenn ich sterben werde, brauche ich einen Nachfolger, der mich vertritt. Ich weiß keinen. Sie alle, die ich deswegen schon geprüft, habe ich zu schwach erfunden; selbst meine Kinder und Kindeskinder haben sich als untauglich erwiesen, und außerdem hassen mich auch diese. Ach, es ist ein friedloses Dasein. Die Befriedigung meines Stolzes genügt mir nicht mehr, ich möchte es verlassen, um schlafen zu gehen, und dennoch möchte ich wie ein allmächtiger Gott in alle Ewigkeit verehrt werden! Du hast das Geheimnis meiner Macht erkannt, vielleicht nur zufällig, aber Du weißt es dennoch, deshalb habe ich Dich am allermeisten zu fürchten, und deshalb vertraue ich mich Dir lieber gleich ganz an und frage Dich: Willst Du mein Erbe und Nachfolger sein, Richard? Willst Du der König im Reiche des lebenden Todes werden und eine Macht über Menschen ausüben, wie sie kein Kaiser in der Welt kennt? Willst Du aber auch zum Danke dafür sorgen, daß man meinen Namen auch nach meinem Tode verehrt?“

Für Richard kam dieser Vorschlag nicht mehr überraschend. Er hatte Aehnliches schon erwartet. Nur einen Moment währte sein Zögern.

„Nein“, sagte er dann im entschiedensten Tone, „Du verlangst von mir, daß ich einen ungeheueren Frevel begehe, der schon allein darin liegt, daß fernerhin mein ganzes Leben eine lebendige Lüge sein soll. Du bist ein Mensch, und magst Du auch alle irdischen Wissenschaften hinter Dir haben, Du bist doch nur ein Mensch, kein Gott, und nimmermehr werde ich Dich anbeten, noch andere veranlassen, Dich wie einen Gott zu verehren. Die Wahrheit geht über alles, die Lüge ist die Sünde wider den heiligen Geist, die nie verziehen werden kann.“

Wieder verwandelte sich der Greis; mit zornigen Blicken maß er den kühnen Sprecher.

„Ich biete Dir alle Macht der Erde an, und Du, Narr, schlägst es aus thörichter Wahrheitsliebe aus?“ rief er heftig. „Du unterschätzest meine Macht denn doch, und ich werde Dir einmal beweisen, daß ich der Herr über Tod und Leben bin!“

„Töten kannst Du mich wohl, daran zweifle ich nicht,“ sagte Richard unerschrocken, auf alles gefaßt.

Der Greis hatte aus einem Schrank einen runden, mit einem Tuche verdeckten Gegenstand geholt, er entfernte die Verhüllung; eine Kugel kam zum Vorschein, etwa im Durchmesser einer großen Kegelkugel und scheinbar aus Glas.

„Du hast das Richtige erraten,“ fuhr er fort, „meine Macht besteht in den von mir entdeckten Strahlen, lerne ihre Wirkung kennen und den Unterschied, den dieser Zustand vom Tode hat. Ich verurteile Dich für einen Tag zur Verdammnis im Höllenpfuhl.“

Die Kugel in seinen Händen blitzte plötzlich in einem intensiv weißen Lichte auf, gleichzeitig fühlte Richard, wie eine Eiseskälte durch seine Glieder rann und ihm das Blut erstarren machte, er glaubte noch ein teuflisches Hohngelächter in seinen Ohren gellen zu hören, dann verließ ihn die Besinnung.

„Das ist der Todesschlaf, welcher dem Erwachen in der Hölle vorausgeht,“ war sein letzter Gedanke.

Wirklich, da wurde er schon wieder geweckt.

„Wache auf, Richard, es ist schon spät,“ sagte eine ihm wohlbekannte Stimme, und als er die Augen aufschlug, blickte er in die milden, freundlichen Züge seiner Tante. Sie hatte den Langschläfer geweckt.

„Gott sei Dank, daß es nur ein Traum war,“ dachte er erleichtert beim Ankleiden. „Seltsam, was mir die Phantasie da wieder vorgegaukelt hat! Ein wachender Mensch kann gar nicht auf solche Gedanken kommen. Aber einen richtigen Abschluß hat dieser Traum auch noch nicht gefunden, und ich werde ihn später vielleicht einmal fortsetzen, um zu erfahren, was ich weiter im Lande des lebenden Todes erleben werde.“




Heft 7 enthält die Erzählung: „Das Stahlroß“.


Verlag von H. G. Münchmeyer, Dresden.

Karl May’s illustrierte Werke.

Diese neue illustrierte Ausgabe umfaßt die in obigem Verlage erschienenen Werke des bekannten und beliebten Reiseschriftstellers Karl May in Radebeul bei Dresden. Dieselbe erscheint in 6–7 Serien à ca. 30 Lieferungen oder in ca. 30 Bänden à 5–600 Seiten.

Jede Lieferung von 5–6 Bogen, à 16 Seiten,

kostet nur 30 Pfg.

Jede Serie ist für sich abgeschlossen.

Serie I bringt den Reiseroman:

Deutsche Herzen und Helden

mit seinen 4 Abteilungen:

Eine deutsche Sultana,
Die Königin der Wüste,
Der Fürst der Bleichgesichter,
Der Engel der Verbannten.




Zehn Jahre im dunklen Afrika.

Reiseroman von Otto Freitag.

Mit 90 Bilderbeilagen, 17 Karten und

circa 900 Textillustrationen.

90 Lieferungen brosch. à 15 Pf.

18 Bände geb. à 1 Mk.

Zu beziehen durch die meisten Buchhandlungen, wo nicht zu haben, auch direkt franko von der Verlagsbuchhandlung.



Prospekt.

„Aus dem Reiche der Phantasie“


ist der Gesamttitel für das vorliegende, epochemachende Unternehmen, das der bekannte und beliebte Reiseschriftsteller Robert Kraft der reiferen Jugend bietet.

Wohl kein anderer Schriftsteller dürfte geeigneter sein, ein derartiges Werk, das im Genre der Jules Verne’schen Schriften gehalten ist, besser durchzuführen, als Robert Kraft, dessen reiche und unerschöpfliche Phantasie unterstützt wird durch seine Erlebnisse und Erfahrungen, die er auf seinen Weltreisen gesammelt hat.

Schon als 13 jähriger Knabe zog Robert Kraft hinaus in die weite Welt und bereiste dieselbe als Schiffsjunge, Matrose und Forscher viele Jahre. (Siehe seine Werke: „Erlebnisse eines 13jährigen Knaben“ und „Die Vestalinnen oder Eine Reise um die Erde,“ aus dem unterzeichneten Verlage.)

Meisterhaft hat es Robert Kraft in seinem neuesten Werke: „Aus dem Reiche der Phantasie“ verstanden, den Leser nicht allein dauernd zu fesseln, sondern auch dabei zu belehren, und so hofft die Verlagsbuchhandlung, daß er sich durch dieses Werk viele neue und treue Freunde erwerben möge.

„Aus dem Reiche der Phantasie“ erscheint in abgeschlossenen Heften, à 10 Pfg., 10 Hefte in Umschlag broschiert kosten 1 Mk., 30 Hefte in hocheleganter Einbanddecke, gebunden, kosten 4 Mk. Bisher erschienen:

Heft 1) Der letzte Höhlenmensch. – 2) Die Totenstadt. – 3) Der rote Messias. – 4) Die Weltallschiffer. – 5) Die verzauberte Insel. – 6) Der König der Zauberer. – 7) Das Stahlroß. – 8) Die Ansiedlung auf dem Meeresgrund. – 9) Eine Nordpolfahrt. – 10) Die indischen Eskimos.

Die Hefte sind durch alle Buch-, Kolportage- und Schreibwarenhandlungen zu beziehen, wo nicht zu haben, auch direkt franko von der Verlagsbuchhandlung.

     Dresden-A.,

Freibergerstraße 75.

H. G. Münchmeyer.

Fußnoten

  1. Bitte den Text auf der nebenstehenden[WS 3] Umschlagseite zu beachten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Das Coverbild wurde von Thomas Braatz und Gerd-Michael Rose nachbearbeitet.
  2. d. h. Heft 6
  3. Vorlage: nebenstehender
  4. Vorlage: stellen
  5. Vorlage: anworten
  6. Vorlage: mit