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Der Königsee

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
DCLXXVII. Vietri Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfzehnter Band (1852) von Joseph Meyer
DCLXXVIII. Der Königsee
DCLXXIX. San Juan de Nicaragua (Greytown) in Mittelamerika
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(Die Fraueninsel) (Die Herreninsel)
DER KÖNIGSEE

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DCLXXVIII. Der Königsee.[1]




Auch der Norden hat seine Eden. Gönnt Neapel den milden Himmel, die lauen Lüfte, das blaue Meer mit seinen lieblichen Inseln, seinen Feuerberg, seine duftenden Orangenhaine, seine feurigen Reben: im Besitze der Alpenwelt darf der Deutsche kein Land um die Schönheiten der Natur beneiden.

Dieses reizende Bild aus den deutschen Alpen ist nur Eins von Tausenden.

Von dem mit dem prächtigsten Grün überkleideten Hügel des Vorgrunds siehst Du in ein weites Thal, dessen ganze Fläche, bis dicht unter Deinem Standpunkte, mit einem prächtigen Wasserspiegel ausgegossen ist, welchen die schillernden Farben des Smaragds und Malachits durchleuchten. Reizend geformte Eilande tauchen empor wie die Nymphen des Sees. Sie sind mit Obsthainen bepflanzt, aus denen bald ein Kloster, bald ein Kirchlein heraussieht, bald ein schmucker Landsitz, weiß, mit grünen zierlichen Gallerien und Fensterläden; oder ein stattlich Gasthaus mit vorspringenden und buntbemalten flachen, steinbelasteten Giebeln, das schon aus der Ferne der Gesellschaft winkt, die unter Musik und Gesang auf dem Dampfer die grüne Woge durchschneidet. – Unwiderstehlich zieht’s Dich hinaus in’s Boot, das Seethal hinauf. Die Ufer sind bald flach und mit Gehöften und Weilern besetzt, bald schroff und von bewalderen Höhen überschattet. Dort tritt ein Felsenriff kühn in die dunkle Fluth; Du umfährst es und ein neues [62] Bild überrascht Dich. Senkrecht und starr bauen sich die Ufermauern auf, und nur wenige Kiefern und Fichten, deren Kronen der Sturm längst abgestreift hat, wagten sich hinaus auf ihre Zinnen. Ueber diese erste Terrasse erhebt sich, weiter rückwärts, ein höheres Felsenstockwerk, über dieses ein drittes, viertes, fünftes, sechstes, deren Zacken hoch in den flimmernden Duft hinansteigen. Schneefelder ziehen in den Furchen herab, Wolkensäulen rauchen aus den Schluchten auf, ein mächtiger Gießbach bricht aus dem Felsbauch, und in der Ferne stürzt eine schäumende Wassersäule über die Bergwand nieder, geisterhaft eingehüllt in einen weißen Schleier. Sehnsüchtig blickst Du aus Deinem Nachen hinan, nach den umdufteten Höhen und schwelgst in den Vorstellungen von ihrer Herrlichkeit. Doch, erst dann, wenn Du selbst oben warst und herabschautest auf die Welt in der Tiefe, wenn Du dort oben geruht hast in den Strahlen der Abendsonne und Dir alles Menschliche verschwand vor der Größe Deiner Umgebung, wenn Du von den Gipfeln der ewigen Ruhe hinunter sahst in die Klüfte und Gründe, die Eis- und Felsblöcke ausfüllen, und Dich das Gefühl überkommen hat, als wärest Du auf den Straßen und Plätzen, auf den Thürmen und Mauern einer ungeheuern Stadt, von Berggeistern bewohnt: dann erst wirst Du im Buche der Alpen lesen lernen. – Ein Erbauungsbuch ist’s – und die Gebete, die Du daraus lernst, wirst Du niemals vergessen. –