Der Knabenmord in Xanten vor dem Schwurgericht zu Cleve vom 4. bis 14. Juli 1892/Tag 10

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Zehnter Verhandlungstag.

Der Präsident, Landgerichtsdirektor Kluth, eröffnet gegen ein viertel 10 Uhr Vormittags wiederum die Sitzung mit etwa folgenden Worten: Ich bin von dem Herrn Staatsanwalt aufgefordert worden, einen Bericht der „Neuen deutschen Zeitung“ in Leipzig richtig zu stellen. Ich komme diesem Wunsche nach. Es heißt in dem Bericht der genannten Zeitung: „Die Sachverständigen begutachten, daß die Flecken im Sack von Blut herrühren. Buschhoff wurde beim Anblick des Sackes leichenblaß. Auch wurde von Sachverständigen konstatirt, daß die Spreu in dem Buschhoff’schen Sack mit der Spreu in den Händen des ermordeten Kindes identisch ist. Die bisher sehr siegesbewußten Vertheidiger waren über diese Feststellung ganz konsternirt“. (Allgemeine Heiterkeit.) Ich kann nicht wissen, welchen Eindruck die einzelnen Feststellungen auf die Herren Vertheidiger ausgeübt haben. Jedenfalls werden Sie sich erinnern, meine Herren Geschworenen, daß drei Metzgermeister bekundet haben, daß die Flecken im Sack höchstwahrscheinlich Rauchflecken, jedenfalls keine Blutflecken seien.

Außerdem haben der Lehrer an der hiesigen Landwirthschaftsschule, Herr Dr. Kögel, und Herr Bürgermeister Schleß übereinstimmend bekundet, daß die Spreu in dem Sack und diejenige in den Händen des Ermordeten grundverschieden war. In einer mir zugegangenen Zeitung ist mir der Vorwurf gemacht worden, daß ich nur die Fehler einiger Zeitungsberichte rüge.

Es wird mir damit gewissermaßen der Vorwurf der Ungerechtigkeit gemacht. Ich habe darauf zu bemerken – ich ersuche die Herren Journalisten hierbei genau Acht zu geben – daß ich nur die Fehler derjenigen Zeitungsberichte richtig stelle, die ich persönlich lese. Daß dies nur eine kleine Zahl ist, ist selbstverständlich.

Eine Ausnahme in dieser Beziehung habe ich nur betreffs der „Niederrheinischen Volkszeitung“ gemacht, da mir diese Zeitung von dem Herrn Ersten Staatsanwalt übergeben worden ist, in deren Bericht ich nur die Stelle, welche die gerügte Unrichtigkeit enthielt, gelesen habe. Im Uebrigen habe ich nur diejenigen Fehler berichtigt, die geeignet waren, die Geschworenen zu beeinflussen oder mich nach Außen hin lächerlich zu machen; letzteres war ich meinem Amt als Vorsitzender des Schwurgerichts schuldig.

Ich habe ferner noch Berichtigungen eintreten lassen auf Wunsch zweier Zeugen. Letztere wären berechtigt gewesen, hervorzutreten und dies hier zu sagen. Da dieselben aber nicht mehr anwesend waren und mich schriftlich um die Berichtigung ersuchten, so glaubte ich diesen Gesuchen entsprechen zu müssen. Wenn ich alle Fehler, die in den Zeitungsberichten enthalten waren, hätte berichtigen wollen, dann hätte ich täglich einen großen Theil der Sitzung mit den Berichtigungen auszufüllen gehabt. Daß Irrthümer in den Zeitungsberichten enthalten sind, ist, wenn man die ungünstigen Plätze in Betracht zieht, die den Herren Berichterstattern angewiesen sind, sehr erklärlich. Leider gestattete der beschränkte Raum eine bessere Placirung der Herren Berichterstatter nicht, die vorgekommenen Irrthümer mögen daher vielfach ohne Verschulden der Herren Berichterstatter in die Zeitungen gekommen sein. Wir treten nun in die Verhandlung ein. Ich ertheile dem Herren Ersten Staatsanwalt das Wort.

Erster Staatsanwalt Baumgard: Meine Herren Geschworenen! Ich habe schon gestern gesagt, eine ganze Reihe von Indizien sind zum Beweise der Schuld des Angeklagten herangezogen worden, ich habe Ihnen gestern bereits auseinandergesetzt, daß diesen Indizien, wie die Verhandlung ergeben, jede objektive und subjektive Grundlage fehlt. Allein es ist von Buschhoff in glaubhaftester Weise nachgewiesen, wo er sich am Peter-Paulstage 1891 aufgehalten hat. Es dürfte Ihnen erinnerlich sein, daß Buschhoff aus Anlaß des Sterbetages seines Vaters Morgens gegen halb 6 Uhr in die Synagoge gegangen ist. Er ist gegen halb 9 Uhr des Morgens nach Hause gekommen. Alsdann hat er verschiedene Geschäftsgänge gemacht. Gegen halb 10 Uhr Vormittags ist er wieder nach Hause gekommen, hat im mittleren Zimmer mit den Zeugen Kock und Traug verschiedene geschäftliche Angelegenheiten besprochen. Etwa gegen 10 Uhr ist Ullenboom mit seinem Pflegekind zu Buschhoff gekommen. Gegen halb 11 Uhr Vormittags ist Buschhoff wieder fortgegangen und gegen halb 1 Uhr wieder nach Hause gekommen. Buschhoff hat durch einwandfreie Zeugen ganz genau nachgewiesen, wo er sich während dieser Zeit aufgehalten hat. Eine ganze Reihe von Zeugen haben ihn während dieser Zeit gesehen. Daß die Zeitangaben stimmen, dafür bürgt der Umstand, daß die Zeugen die Zeit nach dem Läuten zum Hochamt berechneten. Dies Läuten geht aber in pünktlichster Weise vor sich. Gegen 1 Uhr Mittags hat Buschhoff mit seiner Familie Mittag gegessen.

Er hat alsdann ein kleines Mittagsschläfchen gehalten und hierauf die Zeitung gelesen. Gegen 2 Uhr Nachmittags ist Siegmund Isaak und das Fräulein Kahn zu Buschhoff gekommen und sind bis 4 Uhr Nachmittags dort geblieben. Gegen 3 Uhr Nachmittags ist Buschhoff zur Pumpen-Kirmes gegangen, ist bei dieser bis 5 Uhr geblieben, ist alsdann in die Gastwirthschaft zu Schaut gegangen und dort geblieben, bis die Nachricht von der Auffindung der Leiche eintraf. Sie erinnern sich, daß auch genau nachgewiesen wurde, wo sich Frau Buschhoff den ganzen Tag über aufgehalten hat. Ja, ich muß gestehen, in meiner langjährigen kriminalistischen Praxis ist mir noch kein Fall passirt, wo der Alibi-Beweis in so überzeugender Weise gelungen ist. Es ist auch genau festgestellt worden, wo sich der kleine Siegmund Buschhoff den Tag über aufgehalten hat. Es fällt damit auch der Verdacht, daß Siegmund Buschhoff der Thäter sein könnte. Bekanntlich hat ganz besonders der Zeuge Mallmann die Behauptung aufgestellt: Siegmund Buschhoff könnte der Mörder sein. Es muß außerdem berücksichtigt werden, daß, wenn in der Wohnung des Buschhoff der Mord ausgeführt worden wäre, angesichts der kleinen Räumlichkeiten und der leichten Bauart des Buschhoff’schen Hauses doch Jemand ein Schreien, Wimmern oder Wehklagen hätte hören müssen.

Nun könnte man sagen, der Mord kann im Keller stattgefunden haben. Sie haben gehört, daß uns eine Waschfrau bekundete: Sie habe den Keller kurz vor dem jüdischen Osterfeste gereinigt und sie wisse ganz genau, daß nach dieser Zeit eine Reinigung des Kellers nicht stattgefunden hat. Aber abgesehen davon, so hat gestern der Augenschein ergeben, daß der Keller sehr wenig zur Ausführung einer solchen That geeignet war. Sie haben sich überzeugt, daß man vom Nachbarhause aus Alles, was im Keller gesprochen wurde, sehr genau hören und zum Theil auch in den Keller hineinsehen konnte. Allein Niemand hat irgend etwas Verdächtiges gehört oder gesehen. Und daß der ermordete Knabe geschrieen und geweint haben muß, das ist doch selbstverständlich. Daß eine vorherige Betäubung stattgefunden, haben die medizinischen Sachverständigen absolut in Abrede gestellt. Da nun die Aerzte übereinstimmend bekundet haben, daß der Mord am Fundort stattgefunden hat, so ist auch nicht einzusehen, weshalb der kleine Hegmann in das Buschhoff’sche Haus hineingezogen worden sein soll. Viel näher hätte es doch gelegen: das Kind in den Porteweg zu ziehen, und es alsdann in die Küppers’sche Scheune zu führen.

Ich komme somit zu dem Resultat, daß der kleine Hegmann weder in das Buschhoff’sche Hause gezogen noch dort versteckt gehalten und daß der Mord in der Küppers'chen Scheune begangen worden ist. Dies steht bombenfest. Ich wende mich nun zu dem Zeugen Ullenboom. Herr Bürgermeister Schleß hat bekundet, er kenne den Ullenboom nicht genau, den Vater, der ein hochachtbarer Mann war, habe er besser gekannt, allein er habe über Ullenboom niemals etwas Nachtheiliges gehört, nur sei der freundschaftliche Verkehr zwischen Ullenboom und dem Buschhoff aufgefallen. Allein dieser freundschaftliche Verkehr, ist doch durch die nahe Nachbarschaft Beider erklärlich. Daß aber nähere Beziehungen zwischen Beiden nicht stattgefunden haben, geht aus der Bemerkung des Ullenboom hervor, der, befragt, ob er etwa mit der Hermine Buschhoff ein Liebesverhältnis unterhalten, geantwortet habe: „Nie und nimmer, denn Hermine Buschhoff ist eine Jüdin und ich bin Christ“. Es ist wahr, Ullenboom hat sich einmal etwas zu Schulden kommen lassen, allein er hat dies Vergehen sehr bald wieder gut gemacht. Ullenboom soll allerdings verschiedentlich sich ungünstig über Buschhoff ausgesprochen haben. Ullenboom hat jedoch hier erklärt, er habe dies nur gethan, um sich vor Verfolgungen und weiteren wirthschaftlichen Schädigungen zu schützen, hier vor Gericht habe er aber immer die Wahrheit gesagt. Herr Bürgermeister Schleß hat uns im Uebrigen bekundet, daß er dem Ullenboom einen Meineid nicht zutraue. Der Staatsanwalt beleuchtet noch weiter den Leumund anderer Entlastungszeugen und bemerkt im weiteren Verlaufe, daß die eingehendsten Ermittlungen ergeben haben, daß auch nicht ein fremder Jude den Mord begangen habe. Ich will dabei noch bemerken, daß der Verdacht entstand, die fremden Juden haben einen Lustmord begangen. Der vielgenannte Matje Degen, der im Uebrigen kein Jude, sondern ein Katholik ist, seines jüdischen Aussehens wegen aber für einen jüdischen Schnorrer gehalten wurde, war umsomehr des Lustmordes verdächtig, weil behauptet wurde, er sei an den vor einigen Jahren in Essen vorgekommenen Lustmorden betheiligt gewesen. Ich komme daher zu dem Schluß, daß Buschhoff auch nicht der Mitwissenschaft des Mordes verdächtig ist.

Wäre Buschhoff der Mörder oder auch nur Mitwisser des Mordes, dann wäre sein Auftreten am Tage des Mordes jedenfalls nicht ein solch unbefangenes gewesen, man müßte denn annehmen, daß er ein ganz raffinirter Mörder ist. Sie haben ja den Mann vor sich, ich überlasse dies daher Ihrem Urtheile. Bedauerlich ist es ja, daß durch diese Verhandlung die Mordthat keine Aufklärung erfahren hat. Aufgeklärt ist aber die Unschuld des Buschhoff. Dieser ist weder der Mörder, noch der Mordgehilfe noch der Mitwisser. Und ich bemerke Ihnen ausdrücklich, meine Herren Geschworenen, daß wir es hier nicht mit einem Non liquet zu thun haben.

Daß das Verbrechen nicht aufgeklärt ist, bedaure ich ganz außerordentlich, und zwar umsomehr, da ich mir gleich nach Entdeckung der That alle Mühe gab, Klarheit in die Sache zu bringen, den Thäter zu ermitteln. Ich habe sofort in dem in Xanten erscheinenden „Bote für Stadt und Land“ einen Aufruf an die Bevölkerung erlassen, die Thätigkeit der Behörde nicht durch religiöse Erregungen zu stören. Leider hatte diese meine Bitte keinen Erfolg. Ich hoffe, daß, wenn die religiöse Erregung sich wieder gelegt und die Behörde in der Lage ist, klar zu sehen, es doch noch gelingen wird, den wirklich Schuldigen zu ermitteln.

Es ist gesagt worden, die Sache bleibt unaufgeklärt, weil es sich um einen Juden handelt. Nein, meine Herren Geschworenen! nicht weil es sich um einen Juden handelt, ist die Sache unaufgeklärt, sondern weil die Sache unklar ist, deshalb hat man zu einem Juden gegriffen. Man behauptete: es ist von einem Juden ein Ritualmord begangen worden. Dazu bedarf es keiner weiteren Motive, es bedarf blos allgemeiner Verdächtigungen. Allein Sie, m. H. Geschworenen, haben die Pflicht, Alles was außerhalb dieses Saales vorgeht, unbeachtet zu lassen, sondern lediglich auf Grund der Thatsachen, die Sie selbst mit eigenen Augen und Ohren gesehen und gehört, Ihr Urtheil abzugeben.

Auf Grund der Beweisaufnahme kann ich nicht anders als aus Pflicht und Gewissen den Antrag auf Nichtschuldig stellen. Ich bitte Sie, meine Herren Geschworenen, sprechen Sie den Angeklagten frei. (Halblautes Bravo im Auditorium.)

Verth. Rechtsanwalt Stapper (Düsseldorf): Meine Herren Geschworenen! Wenn ich in die Vertheidigung für Buschhoff eintrete, dann erinnere ich zunächst an die Worte des Herrn Präsidenten bei Eröffnung der Sitzung, nur nach bestem Wissen und Gewissen Ihr Urtheil abzugeben. Als in Düsseldorf noch die alte rheinische Kriminalordnung bestand, bis zum 1. Oktober 1879, hatte der Vorsitzende die Pflicht, den Geschworenen den Art. 312 der Kriminalordnung vorzulesen, der folgenden Wortlaut hatte: „Sie schwören und geloben vor Gott und vor den Menschen, mit der gewissenhaftesten Aufmerksamkeit die Belastungsgründe zu prüfen, welche gegen den Angeklagten vorgebracht werden sollen; nicht zu verrathen das Interesse des Angeklagten, noch das der bürgerlichen Gesellschaft, welche ihn anklagt; mit Niemandem Rücksprache zu nehmen, bevor sie ihren Ausspruch gethan haben, nicht zu hören auf die Stimme des Hasses oder der Bosheit, noch auf die der Furcht oder der Zuneigung; sich zu entscheiden nach den Belastungsgründen und den Vertheidigungsmitteln, nach Ihrem Gewissen und Ihrer innigsten Ueberzeugung, mit der Unparteilichkeit und Festigkeit, die einem braven und freien Manne geziemen“. Meine Herren Geschworenen! Wenn Sie, woran ich nicht zweifle, in diesem Sinne Ihr Amt auffassen[WS 1], dann kann Ihr Urtheil nur auf Nichtschuldig lauten.

Dieser Tag wird ein Ehrentag für Sie sein, denn Sie geben einem anständigen, schwer geprüften Manne die Freiheit, einer Familie den Gatten und Vater, einer Gemeinde ein Mitglied wieder, das bisher in der unerhörtesten Weise dem Haß und der Verfolgung eines urtheilslosen Pöbels ausgesetzt war. Sofort als die That entdeckt wurde, da stand es bei der Menge fest: es müsse ein Ritualmord geschehen sein. Das alte, mittelalterliche Märchen, das man schon längst begraben glaubte, war wieder aufgetaucht. Die Hauptursache war, daß Dr. Steiner feststellte, daß kein Blut oder zu wenig Blut bei der Leiche gefunden wurde. Mit Blitzesschnelle verbreitete sich das Blutmärchen durch ganz Deutschland und wurde von Herrn Dr. van Housen sofort nach Emmerich getragen. Sie erinnern sich, meine Herren Geschworenen, daß Herr Dr. van Housen erst, nachdem er die Obduktionsbefunde hier eingesehen, die Erklärung abgegeben hat: Nun habe ich mich überzeugt; ich halte auch den Fundort für den Thatort; ich habe zur Zeit mein Urtheil auf Grund oberflächlicher Besichtigung abgegeben. Es ist ja noch ein anderes Motiv für den Mord angegeben worden. Sie erinnern sich, daß Herr Kriminal-Kommissar Wolff der Meinung gewesen ist: Buschhoff habe den Knaben getödtet, weil er ihm den kleinen Schaden am Grabstein zugefügt habe. Eine solche Annahme kann wohl die Phantasie eines Dichters sein, der einen Kriminalroman zu schreiben beabsichtigt, der Richter kann aber eine solche Vermuthung nie und nimmer für wahr halten. Ich muß ausdrücklich bemerken, m. H., daß gleich nach Entdeckung der That die Behörden sich alle Mühe gegeben haben, den Thäter zu ermitteln. Herr Landgerichtsrath Brixius hat ebenfalls, das beweisen die vielen von ihm vorgenommenen Vernehmungen, alles Mögliche gethan, um Klarheit zu schaffen. Wäre der Mord nicht sofort zum Objekt einer Glaubenshetze gemacht worden, wer weiß, ob es nicht gelungen wäre, schon nach den ersten 8–14 Tagen den Mörder zu entdecken. Sie werden sich erinnern, meine Herren Geschworenen, daß in einer geradezu unerhörten, bisher noch nicht dagewesenen Weise die Gerichtsbehörden aus Anlaß dieses Verbrechens angegriffen worden sind.

Sie erinnern sich vielleicht, meine Herren, jener Sitzung des Abgeordnetenhauses, in der der Abgeordnete Rickert vorlas, daß eine Zeitung geschrieben habe: „Es liegt ein Ritualmord vor, Buschhoff und kein anderer ist der Mörder.“ Wenn man erwägt, wie alle Bemühungen der Behörden, den Schuldigen zu ermitteln, durch das Blutmärchen getrübt worden sind, dann muß man die Ueberzeugung gewinnen, daß System in dieser Hetze liegt. Die Leute haben gar kein Interesse, daß der wirklich Schuldige ermittelt werde, die That an sich war ihnen aber ein willkommenes Agitationsmittel. Es ist hier nicht meine Aufgabe, eine Rede gegen das Treiben der Antisemiten zu halten. Wenn die Leute es als ihre Aufgabe betrachten, dahin zu wirken, daß die Juden aus Deutschland getrieben und die Zeiten des Augustus wieder herbeigeführt werden, habeat sibi. Meine Aufgabe als Kriminal-Vertheidiger ist eine ganz andere. Allein erwägen Sie, meine Herren, wenn es dem Buschhoff nicht gelungen wäre, in so überzeugender Weise sein Alibi nachzuweisen, was hätte dann diese Hetze zur Folge haben können. Ich wende mich nun zu dem eigentlichen Thatbestande. Ich kann mich dabei kurz fassen, da die Herren Vertreter der Anklagebehörde diesen fast erschöpfend beleuchtet haben. Ich will daher nicht noch einmal auf den Alibibeweis des Buschhoff zurückkommen. Jedenfalls halte ich es für sehr vortheilhaft, daß wir uns gestern den Thatort angesehen haben, wir haben dadurch eigentlich erst ein anschauliches Bild erhalten. Ich vermisse die Aufklärung, aus welchem Grunde die Dienstmagd Dora Moll am Abende einige Schritte weiter in der Scheune gegangen ist, als sie nothwendig hatte. Wenn die Moll, wie immer, nur bis zum Strohlager gegangen wäre, dann hätte sie den Leichnam nicht sehen können.

Präsident (den Vertheidiger unterbrechend): Sie werden sich erinnern, Herr Rechtsanwalt, daß die Moll uns sagte: sie sei deshalb näher getreten, da sie die Leiche für Hühner gehalten, die in der Spreu saßen.

Vertheidiger Rechtsanwalt Stapper (fortfahrend): Das ist mir bekannt, Herr Präsident. Allein fest steht, daß sie ohne einige Schritte weiter zu gehen, auch die etwa dort sitzenden Hühner nicht hätte sehen können. Meine Herren! Es ist eine alte kriminalistische Regel, daß, wenn die Schuldfrage zweifelhaft erscheint, die Frage aufgeworfen wird: Kann man dem Angeklagten die That zutrauen? Ich habe nicht nothwendig, Ihnen noch eine Schilderung von dem Angeklagten zu geben, er dürfte Ihnen durch die 10tägige Verhandlung hinlänglich bekannt geworden sein. Ich will Sie blos an den wahrhaft dramatischen Vorgang mit dem Sack erinnern. Ich muß gestehen, als der Sack mit den rothbraunen Flecken dem Angeklagten vorgelegt wurde, da glaubte ich fast selbst, es könnten irgendwelche Anhaltspunkte für die Schuld des Angeklagten festgestellt werden. Allein Sie erinnern sich, mit welcher Unbefangenheit der Angeklagte vortrat und auf die Frage des Präsidenten, wie er die rothbraunen Flecke an dem Sack erkläre, die natürlichste Antwort von der Welt gab: er habe den Sack bei der Fleischräucherung benutzt und die verdächtigen Flecken seien Rauchflecken. Aber außerdem ist doch auch der Lebenswandel des Angeklagten in Betracht zu ziehen. Sie haben gehört, daß Buschhoff aus Anlaß des Sterbetages seines Vaters des Morgens und Abends in die Synagoge ging, daß er dieses Sterbetages wegen bis Mittag fastete, daß er, ehe er sich mit seiner Familie zu Tische setzte, betete. Jemand, der so pietätvoll seiner verstorbenen Eltern gedenkt und als Lohn dafür die Liebe seiner Kinder erweckt, ist nicht das Holz, aus dem Mörder geschnitzt werden. Der Vertheidiger geht noch des Näheren auf die Bekundungen des Zeugen Mölders ein und sucht den Nachweis zu führen, daß die große Erregung in Xanten die Leute zu einer fixen Idee geführt hat, an die sie selbst glaubten. Ebenso sei es dem Mölders ergangen, dieser habe sich förmlich eingeredet, daß er das Hineinziehen des Kindes gesehen habe, während er in Wirklichkeit vielleicht gesehen, wie das Ullenboom’sche Kind in das Buschhoff’sche Haus gezogen worden sei. Dafür spreche auch der Umstand, daß Mölders so spät mit seiner Wahrnehmung hervortrat. Aehnlich verhalte es sich mit der Bekundung des Knaben Heister. So aufgeweckt dieser Knabe auch sein möge, so habe dieser zweifellos ebenfalls unter dem Druck der allgemeinen Erregung und auch erst einige Zeit nach dem Morde seine Wahrnehmungen mitgetheilt. Der Vertheidiger geht noch näher auf die Beweisaufnahme ein und schließt mit den Worten: Ich theile nicht die Hoffnung des Herrn Staatsanwalts, daß nach Schluß dieser Verhandlung die Hetze beendet sein wird, wir werden aber nach Abgabe Ihres Wahrspruches sagen können: Die Wahrheit hat gesiegt!

Verth. Rechtsanwalt Fleischhauer (Cleve): Es dürfte Ihnen bekannt sein, meine Herren Geschworenen, daß ich aus Anlaß der Uebernahme der Vertheidigung in der unerhörtesten Weise angegriffen worden bin. Selbst im Abgeordnetenhause hat sich ein Mann, dessen Stellung voraussetzen sollte, daß er wenigstens bei der Wahrheit bleibt, mich in der unqualifizirbarsten Weise verdächtigt. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, meine Herren Geschworenen, daß ich trotz all dieser Verunglimpfungen es für meine höchste Ehre gehalten habe, gerade den Angeklagten Buschhoff, dessen Unschuld von Anfang so klar zu Tage lag, zu vertheidigen. Meine 10jährige Thätigkeit als hiesiger Anwalt enthebt mich der Mühe, mich Ihnen gegenüber noch weiter zu rechtfertigen, umsomehr, da die Ehre der Angreifer nicht höher steht als ihre Angriffe. Ich kann Ihnen aber auch die Versicherung geben, daß ich nie und nimmer einen Mann verteidigen würde, von dem ich auch nur vermuthen könnte, daß Blut an seinen Fingern klebt. Wäre ich von der Unschuld des Buschhoff nicht überzeugt, hätte ich in dieser Beziehung auch nur noch einen Zweifel, ich stände sicherlich nicht an dieser Stelle. Sie werden sich zu erinnern wissen, meine Herren, daß, als im Dezember v. Js. die Haftentlassung des Angeklagten erfolgte, sich ein Sturm der Entrüstung in der antisemitischen Presse erhob, obwohl mit dieser Haftentlassung das Verfahren noch nicht eingestellt war. Zu dieser Hetze gesellte sich der Messerbefund des Kreisphysikus Dr. Bauer. Dies war die Veranlassung, daß die Wiederverhaftung Buschhoff’s und schließlich auch die Eröffnung des Hauptverfahrens beschlossen wurde. Letzteres geschah nicht, weil man an seine Schuld glaubte, sondern weil man der Welt den Beweis liefern wollte, daß an all‘ den Verdächtigungen kein wahres Wort ist. Und die Verhandlung, deren Leitung an Unparteilichkeit jedenfalls nichts zu wünschen übrig ließ, hat die Unschuld des Buschhoff in glänzender Weise nachgewiesen. Der Herr Erste Staatsanwalt hat Recht, wenn er sagte, mit größerer Genauigkeit hat noch niemals ein Angeklagter sein Alibi nachgewiesen. Und wie benahm sich der Angeklagte? Er, der so sehr Verfolgte und Geschmähte, der unter der furchtbaren Anklage, einen Mord begangen zu haben, sich seit so langer Zeit in Untersuchungshaft befindet, er hat nicht ein hartes Wort gegen die ihn belastenden Zeugen, die aus jedem Vorkommniß Kapital zu schlagen suchten, erwidert. Bald fiel den Zeugen die große Theilnahme, bald die Theilnahmslosigkeit auf. Jedenfalls hat die Verhandlung ergeben, daß kein Zeuge den Hegmann‘schen Eheleuten so viel Theilnahme bekundet hat, als gerade der Angeklagte. Dieser hat sich aber auch als ein in jeder Beziehung wahrheitsliebender Mann erwiesen. Nicht eine Unwahrheit konnte ihm nachgewiesen werden. Als ihm gesagt wurde, er solle bei unerheblichen Dingen doch lieber zugestehen und sich nicht auf’s Leugnen legen, da antwortete er: Ich kann doch nichts zugeben, was nicht wahr ist.“ Der Vertheidiger geht hierauf des Näheren auf die Beleuchtung der Zeugenaussagen ein und fährt alsdann fort: Ich kann die Hoffnung des Herrn Ersten Staatsanwalts auch nicht theilen, daß die antisemitische Hetze mit diesem Prozeß ein Ende haben wird. Ich fürchte: es wird weiter gelogen werden. Es ist eine allbekannte Thatsache, daß, um eine Wahrheit zu verwischen, mindestens 7 Lügen nothwendig sind. Ich bin aber der Meinung, es sind 7 mal 70 Lügen nothwendig, um das Lügengebäude der Antisemiten aufrecht zu erhalten. Allein die große Sorgfalt und Aufmerksamkeit, mit der Sie, meine Herren Geschworenen, den Verhandlungen gefolgt sind, giebt mir die Gewähr, daß, wenn auch die Lügen nicht verstummen werden, so doch in diesem Saale Recht und Gerechtigkeit geübt werden wird. Ich gebe mich ferner der Hoffnung hin, daß mit diesem Prozeß das alte Blutmärchen aus der Welt verschwinden wird. Wenn Sie aus diesem Saale fortgehen, dann ersuche ich Sie, das Bild eines Mannes in Ihr Herz aufzunehmen, der, obwohl seit so langer Zeit der Freiheit beraubt, seiner Familie entrissen, und durch eine wüste Hetze genöthigt sein wird, das bittere Brod des Almosens zu essen, sein Geschick mit Ergebung getragen hat, weil er weiß, daß er unschuldig ist, weil er weiß, daß die Wahrheit an den Tag kommen muß und daß in Preußen noch Recht und Gerechtigkeit geübt wird.

Ich kann meine Vertheidigung umsomehr abkürzen, da die Vertreter der Anklagebehörde in diesem Prozeß das schönste Recht der Staatsanwaltschaft ausgeübt haben, das nicht blos darin besteht, den Schuldigen zu verfolgen, sondern auch dem unschuldig Verfolgten ihren Schutz zu gewähren.

Es tritt hierauf eine längere Pause ein.

Nach Wiedereröffnung der Verhandlung ist der Zuhörerraum und die Tribünen Kopf an Kopf gefüllt, so daß im buchstäblichen Sinne des Wortes kein Apfel zur Erde gehen konnte.

Es nimmt das Wort Vertheidiger Rechtsanwalt Gammersbach (Cöln): Meine Herren Geschworenen! Der Fall Buschhoff, der uns 10 Tage lang beschäftigt hat, geht seinem Ende entgegen. Es unterliegt keinem Zweifeln, daß der Prozeß in den Spalten der Zeitungen noch lange Zeit Gegenstand der Erörterung sein wird. Auch die Bevölkerung in Xanten dürfte sich noch lange mit der Angelegenheit beschäftigen, für uns ist jedoch nach wenigen Stunden die Angelegenheit durch Ihren Wahrspruch erledigt. Meine Herren! Als die Verhandlung begann, da haben wir, die wir die Akten kannten, die Freisprechung erwartet, nachdem wir aber die Beweisaufnahme gehört, ist diese Erwartung bei uns zur Gewißheit geworden.

Die Herren Vertreter der Staatsanwaltschaft und meine beiden Herren Kollegen haben den Gang der Beweisaufnahme in so erschöpfender Weise beleuchtet, die Beweisaufnahme hat auch ein derartiges Ergebniß gehabt, daß ich es nicht für nöthig halte, Sie noch mit einer langen Rede aufzuhalten. Ich will nur zwei Punkte beleuchten, die in der Verhandlung eine Rolle gespielt haben. Meine Herren! Ein Hauptpunkt der Verhandlung war das Gutachten der Herrn Kreisphysikus Dr. Bauer über das Messer, das angeblich bei Ausübung des Mordes gebraucht wurde. Sie wissen, daß das Gutachten die Wiederverhaftung des Angeklagten veranlaßt und zum Theil auch die Veranlassung zur Erhebung der Anklage gegeben hat.

Herr Kreisphysikus Dr. Bauer hat sein Gutachten allerdings aufrecht erhalten, daß der Mord mit dem bei Buschhoff beschlagnahmten Messer Nr. 13 ausgeführt ist. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß das Gutachten des Herrn Dr. Bauer ebenfalls dazu beigetragen hat, die Sachlage zu trüben. Sie werden sich erinnern, meine Herren, daß die medizinischen Sachverständigen mit Bestimmtheit feststellten, daß der Halsschnitt kein Schächtschnitt, nicht einmal ein Metzgerschnitt war. Die medizinischen Sachverständigen bekunden, daß der Schächtschnitt stets senkrecht nach der Luftröhre zu ansetze, während der Halsschnitt des Ermordeten zeigte, daß das Messer schräg eingesetzt war. Die medizinischen Sachverständigen begutachteten endlich, daß das Messer Nr. 13 absolut ungeeignet zur Ausführung des Mordes war, daß vielmehr anzunehmen ist, der Halsschnitt sei mit einem Brodmesser ausgeführt worden.

Hätte Herr Kreisphysikus Dr. Bauer sein Gutachten nicht abgegeben, dann wären Sie höchstwahrscheinlich mit der Angelegenheit nicht beschäftigt worden, denn das Gutachten des Dr. Bauer war die Hauptursache, daß die Anklage erhoben wurde. Aber noch ein anderes Moment ist es, das ich beleuchten muß, da es ebenfalls einen Theil der Verhandlung gebildet hat, es ist dies das immer wieder auftauchende Märchen: die Juden brauchen zu Heil- oder rituellen Zwecken Christenblut. Es ist Ihnen bekannt, daß die Bevölkerung in Xanten, höchstwahrscheinlich veranlaßt durch das Gutachten der Herren Dr. Steiner und van Housen, sofort die Behauptung aufstellte: es ist ein Ritualmord begangen worden. Es unterliegt keinem Zweifel, daß dieses Gerücht das Haupthemmniß für eine erfolgreiche Thätigkeit bildete, die Sache zu klären. Als wir hörten, daß die Anklage erhoben worden sei, da war ich mit meinen Kollegen der Ueberzeugung, daß die Staatsanwaltschaft nicht den Volksaberglauben des Blutmärchens theile, sondern daß sie andere Gründe für die Erhebung der Anklage habe. Für die Staatsanwaltschaft war, davon waren wir von vornherein überzeugt, ein wissenschaftliches Gutachten über den Ritualmord nicht erforderlich. Allein Sie haben gesehen, m. H., daß im Hintergrunde der Zeugenaussagen der Ritualmord stand. Man konnte es dem Zeugen Mallmann nachfühlen, daß er im Herzen die Ueberzeugung von dem Ritualmorde hatte und aus diesem Grunde den Buschhoff für den Thäter hielt. Das angebliche Fehlen des Blutes bei der Leiche und der angebliche Schächtschnitt war die Veranlassung, daß dieser alte Volksaberglaube auftauchen konnte. Das Märchen ist so thöricht, daß ich kurz darüber hinweggehen könnte, wenn ich nicht wüßte, daß dasselbe in den Köpfen der unwissenden Bevölkerung spukt und zu politischen Parteizwecken genährt wird. Wenn man uns Christen vorwerfen würde: wir brauchen das Blut Andersgläubiger und müssen daher Morde begehen, dann würde ich antworten: In unseren Grundgesetzen, in den zehn Geboten, steht: „Du sollst nicht tödten“. Damit ist eigentlich die ganze Beschuldigung widerlegt.

Wir dürfen aber nicht vergessen, daß wir Christen die Zehngebote erst seit 1900 Jahren unser eigen nennen, während die Juden die Zehngebote seit über 3000 Jahren haben. Es kommt aber noch hinzu, daß den Juden der Blutgenuß überhaupt verboten ist. In dem auch jedem Christen zugänglichen alten Testament ist zu lesen: „Ihr sollt kein Blut essen, wer Blut ißt, der soll ausgerottet werden aus meinem Volke, ich werde mein Antlitz von ihm abwenden“. Es ist charakteristisch, daß in China und Madagaskar von der dortigen Bevölkerung dieselbe Anschuldigung gegen die Christen erhoben wird und als Ursache der Christenverfolgung dient. Und ehe das Christenthum seinen Siegeslauf antrat, noch ehe es die herrschende Religion war, da haben die Römer den Christen dasselbe Märchen angedichtet, und zahllose Christen wurden deshalb verfolgt. Der Aberglaube, daß die Juden Blut brauchen, ist bei uns im 13. Jahrhundert aufgetaucht. Damals genoß aber der unglückliche Angeklagte noch nicht den Schutz, den er heute hat. Da trat die größte Macht der damaligen Zeit, der Papst, auf, um diese Märchen zu widerlegen und die Juden vor Verfolgungen zu schützen.

Ich könnte Ihnen zahlreiche päpstliche Bullen vorlegen, in denen dieser Volksaberglaube mit der größten Entschiedenheit bekämpft wird. In den Jahren 1247 und 1253 hat Innocenz IV. sich mit sehr heftigen Worten gegen den Volksaberglauben gewendet. Ich will Sie mit dem Verlesen der Bullen nicht behelligen, es würde dies schließlich stundenlang aufhalten. Allein seit dem 13. Jahrhundert ist das Märchen nicht mehr aus der Welt verschwunden. Es ist immer wieder aufgetaucht und hat zu Judenverfolgungen Veranlassung gegeben. Wiederholt haben sich Gelehrte damit beschäftigt und Gutachten abgegeben. Sie haben von dem als Sachverständigen hier erschienenen Professor Dr. Nöldecke gehört, daß im Jahre 1714 die theologische Fakultät der Universität zu Leipzig auf Veranlassung des Landesherrn ein Gutachten dahin abgegeben hat, daß der Ritualmord in den religiösen Satzungen der Juden nicht vorgeschrieben sei, und daß keine Anhaltspunkte für diesen Volksaberglauben in der jüdischen Literatur vorhanden seien. In dem im Jahre 1883[WS 2] vor dem Wiener Landgericht geführten Prozesse des bekannten Professors Rohling wider den österreichischen Abgeordneten Bloch traten Professor Dr. Nöldecke und Lizentiat Wünsche als Sachverständige auf. Beide Sachverständige gaben dasselbe Gutachten ab. Sie haben gehört, daß Herr Professor Dr. Nöldecke sagte: „Ebenso bestimmt, wie ich behaupten kann, im Talmud steht nichts von dem Eisenbahnwesen, mit derselben Bestimmtheit kann ich sagen: im Talmud steht nichts vom Ritualmord“. Sie haben ferner gehört, daß Herr Professor Dr. Nöldecke die immer wiederkehrende Behauptung, daß den Juden der Ritualmord geboten sei, als frivol bezeichnet. Sie haben ferner von Herrn Professor Dr. Nöldecke gehört, daß der katholische Professor Dr. Bickel an der Universität zu Innsbruck, indem er die Abgabe eines Gutachtens über den Ritualmord ablehnte, letzteren als Schwindel bezeichnete.

Ich erinnere Sie im Weiteren daran, daß Herr Prof. Dr. Nöldecke eine Reihe hervorragender Orientalisten, wie den Geheimen Regierungsrath Professor Dr. de Lagarde u. s. w. nannte, die sich in derselben Weise wie er über den Ritualmord ausgesprochen haben.

Sie haben endlich von Herrn Professor Dr. Nöldecke gehört, daß der Talmud nicht blos den Blutgenuß an sich verbietet, sondern sogar vorschreibt, selbst den Schein zu vermeiden, als ob man Blut genieße. Professor Dr. Delitzsch hat begutachtet, daß weder im Sohar noch im Sefer Halkutim etwas von einem Ritualmorde enthalten sei.

Ich muß nun hervorheben, daß kein Zeuge dem Buschhoff ein anderes Motiv als den Ritualmord untergeschoben hat. Es ist uns allerdings von berufener Seite gesagt worden, zur Aufrechterhaltung der Anklage bedarf es keines Motivs. Bei einem Spitzbuben, einem Raufbold mag wohl dieser Grundsatz mit Recht zur Anwendung gelangen, allein wenn man einen Mann wie den Angeklagten Buschhoff eines so schweren Verbrechens wie des vorliegenden beschuldigt, dann entsteht doch unwillkürlich die Frage: was ist wohl die Ursache des Verbrechens? Das von dem Kriminalkommissar Wolff vermuthete Motiv ist schon aus psychologischen Gründen zu verwerfen. Es ist einmal undenkbar, daß der Angeklagte den Knaben geschlagen und um zu verhüten, daß dies herauskomme, den Knaben ermordet hat, und andererseits ist nicht anzunehmen, daß der Knabe, wenn er mißhandelt worden, sprach- und willenlos geworden wäre, sondern er hätte zweifellos geschrien und geweint.

Dieser Ansicht ist auch der Herr Geheimrath Pellmann. Niemand aber hat den Knaben weinen oder schreien gehört. Ich erachte es für überflüssig, nochmals auf den objektiven Thatbestand einzugehen. Der Angeklagte hat nicht blos in der überzeugendsten Weise sein Alibi nachgewiesen, es ist ihm selbst von seinen erbittertsten Feinden das Zeugniß eines gutmüthigen, braven und ehrlichen Mannes ausgestellt worden. Sie sind außerdem selbst Zeuge gewesen, wie der Angeklagte beim Anblick seines zerstörten Besitzthums in Thränen ausbrach und wie er in der unbefangensten Weise jede Auskunft gab. So übel es ihm auch ergangen ist, er hatte kein Wort des Hasses oder des Zornes, weil er weiß, daß er unschuldig ist und weil er Gottvertrauen hat. Als ich ihm sagte, daß nun die öffentliche Verhandlung stattfinden werde da sagte er mir: Gott sei Dank, da wird meine Unschuld zu Tage treten. Sie, die Richter der Thatfrage, sind nun berufen, über das Schicksal Buschhoff’s zu entscheiden. Ich spreche im Einverständniß mit den Herren Vertretern der Staatsanwaltschaft und dem meiner Herren Kollegen, wenn ich sage: Ihr Wahrspruch kann nur lauten: Auf Ehre und Gewissen bezeuge ich vor Gott und den Menschen, der Angeklagte Buschhoff ist unschuldig.

Der Angeklagte Buschhoff, der, soweit es ihm seine Schwerhörigkeit ermöglicht, mit gespanntester Aufmerksamkeit den Plaidoyers folgt – er hält unaufhörlich seine Hand hinter dem Ohr – bricht oftmals in Thränen aus.

Präs.: Angeklagter Buschhoff, haben Sie noch etwas zu Ihrer Vertheidigung anzuführen? – Buschhoff: Nein, Herr Präsident.

Ein zum Himmel schreiendes, schweres Verbrechen, so bemerkt der Präsident bei der hierauf folgenden Rechtsbelehrung, ist Ihrer Beurtheilung unterbreitet. Das Gesetz verbietet mir, in eine Würdigung der Beweismittel einzutreten. Ich glaube auch, die Verhandlung in einer Weise geleitet zu haben, daß Niemand errathen kann, ob ich für Freisprechung oder für Verurtheilung des Angeklagten bin. Ich will jedoch bemerken, daß das Gericht bei dieser Verhandlung ein von allen anderen Verhandlungen abweichendes Verfahren beobachtet hat. Während sonst, sobald die öffentliche Verhandlung begonnen, neue Beweise nicht mehr zugelassen werden, sind wir, mit Rücksicht auf die große Tragweite und die Wichtigkeit des Falles, auf alle uns im Laufe der Verhandlung angebotenen Beweise eingegangen. Alle diese Beweise haben sich als eitel Dunst erwiesen. Die anonymen Briefschreiber werden vielleicht ihre Freude daran haben, daß es ihnen gelungen ist, den Gerichtshof derartig hinter’s Licht zu führen. Ich gönne ihnen diese Freude. Wir haben die Genugthuung, daß wir in dem Prozeß, der in der ganzen Welt das größte Aufsehen erregt, nichts versäumt haben, daß wir weder Mühe noch Zeit gescheut haben, um Aufklärung zu schaffen. Ich freue mich, daß auch die Herren Geschworenen mit der größten Aufmerksamkeit dem Gange der Verhandlung gefolgt sind. Dies giebt mir die Gewähr, daß Sie, meine Herren Geschworenen, meine bei Eröffnung der Verhandlung an Sie gerichtete Ermahnung: nur auf der Grundlage der Verhandlung nach bestem Wissen und Gewissen Ihren Wahrspruch abzugeben, befolgen werden. Sie wissen, daß die politischen und sozialen Gegensätze sich immer mehr verschärfen, daß die Bevölkerung Deutschlands zum Theil aus Judenfreunden, zum Theil aus Judengegnern besteht. Den Ausdruck „Antisemiten“ will ich nicht gebrauchen. Allein die Wogen des Parteigetriebes dürfen nicht bis an den Richtertisch heranreichen. „Der Dichter steht auf einer höheren Warte als auf der Zinne der Partei“. Dieses Dichterwort muß in seiner Variation auch Ihnen als Richtschnur dienen. Vor dem Richterstuhle sind alle Menschen gleich. Der Richter hat nicht danach zu fragen, ob der Angeklagte ein Jude oder ein Christ ist, er soll ohne Ansehen der Person urtheilen und sich von dem Parteigetriebe der Außenwelt nicht beeinflussen lassen. Sie haben eine Reihe von Zuschriften erhalten, ich bin aber überzeugt, Sie werden keinerlei fremden Einfluß auf sich einwirken lassen. Sie haben die Pflicht, sowohl der Anklage, als auch dem Angeklagten gerecht zu werden, und zwar lediglich auf Grund der Ihnen vorgeführten Verhandlung. Ich hielt es für nöthig, dies hervorzuheben, um damit gleichzeitig den Standpunkt des Gerichtshofes kundzugeben.

Der Präsident giebt im Weiteren den Geschworenen die vorgeschriebene Rechtsbelehrung und bemerkt diesen, daß der Antrag des Staatsanwalts auf Nichtschuldig sie nicht verpflichte, dem Antrage beizustimmen. Der Präsident schließt die Rechtsprechung mit den Worten: Nun lege ich das Schicksal der Anklage und des Angeklagten vertrauensvoll in Ihre Hände.

Der Geschworene Graf v. Loë frägt: Ob die Geschworenen eventuell die Frage wegen Beihilfe oder Mitwissenschaft konstruiren können. Der Präsident bemerkt, daß die Geschworenen lediglich die ihnen vorliegende Schuldfrage zu beantworten haben.

Die Geschworenen ziehen sich hierauf zur Berathung zurück. Nach etwa einer halben Stunde kehren die Geschworenen zurück, und es verkündet der Obmann, Graf von Loë, unter gespanntester Aufmerksamkeit des zahlreichen Publikums: Auf Ehre und Gewissen bezeuge ich vor Gott und den Menschen. Der Wahrspruch der Geschworenen lautet auf die Frage: Ist der Angeklagte Adolf Buschhoff schuldig, am 29. Juni 1891 den Knaben Johann Hegmann zu Xanten vorsätzlich getödtet zu haben und zwar, indem er die Tödtung mit Ueberlegung ausführte: Nein.

Nunmehr wird Buschhoff wiederum auf die Anklagebank geführt und diesem vom Gerichtsschreiber der Wahrspruch vorgelesen.

Die Vertreter der Staatsanwaltschaft erklären, daß sie keine Anträge zu stellen haben.

Hierauf verkündet der Präsident, Landgerichtsdirektor Kluth: Im Namen Seiner Majestät des Königs hat der Gerichtshof für Recht erkannt, daß, nachdem die Herren Geschworenen die Schuldfrage verneint haben, der Angeklagte Buschhoff von der Anklage des Mordes freizusprechen und die Kosten der Staatskasse aufzuerlegen seien. Außerdem hat der Gerichtshof beschlossen, den Angeklagten sofort aus der Haft zu entlassen. Die Sitzung ist geschlossen.

Das Publikum begleitet das freisprechende Urtheil mit einem stürmischen Bravo. Buschhoff weint heftig.

Nacht etwa einer Stunde reiste Buschhoff mit seiner Familie von Cleve ab. Auf dem Bahnhof war in Folge dessen ein furchtbarer Andrang, zu irgend welchen Ruhestörungen ist es nicht gekommen.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: auffasse
  2. vgl. Anmerkung auf Seite 27