Der Winter in der Kinderstube
Der Winter in der Kinderstube.
Von meinen Fenstern blicke ich in einen Garten – nicht nur das Grün seiner Bäume und die bunten Farben seiner Blumen haben im Sommer mein Auge erfreut; ich habe in dem Garten auch liebe Bekannte und Freunde gefunden, deren Thun und Treiben ich oft zuschaute; hoch in den Kronen der Linden und Kastanien waren es lustige Vöglein und tief unten auf dem Rasenplatze und dem Sandhaufen die drei Kinder meines Gegenüber, ein Mädchen im Alter von zwei Jahren und zwei um je ein Jahr ältere Buben.
Nun ist es still und öde in dem Garten geworden; der Herbst geht zur Neige, gefallen ist das Laub von Zweig und Ast; Nachtfröste haben auch die Spätblumen getötet; verschwunden sind die Stare und still ist es auf Rasenplatz und Saudhaufen geworden. Vom trüben Himmel fallen die ersten Schneeflocken nieder; sie verkünden den Eintritt des rauhen Winters, der das Antlitz der Natur und die Lebensgewohnheiten der Menschen verändert und auch die kleinen Kinder, die sich in der schönen Jahreszeit so oft und lange im Freien umhergetummelt haben, zu Stubengefangenen macht. Ihr Reich, in dem sie jetzt weben und leben, ist die Kinderstube.
Unsere Nachbarinnen bedauern die armen Würmer, daß sie eine so ängstliche, übersorgsame Mutter besitzen. Die Nachbarinnen lassen noch ihre Kleinen in Hof und Straße umhertummeln; sie wollen kein verweichlichtes Geschlecht erziehen, aber ihre Kritik rührt nicht die Leute von gegenüber, und die alte Großmutter, die dort drüben trotz der hohen Jahre als feste Hausstütze mit Rat und That waltet, will nichts von der Abhärtung so kleiner Kinder im Winter wissen. Sie ist auf dem Lande groß geworden und erwidert mit dem Sprichwort: „Kinder und junge Puten muß man warm halten. Kommt Zeit, kommt Rat.“
Ganz und gar hält sie ihre Enkel nicht gefangen, die jungen Puten werden auch ausgeführt, aber vorher hat die Großmutter das Wetter geprüft und nach der Windfahne auf dem benachbarten Kirchturme geschaut. Eine originelle, wohl etwas eigensinnige alte Frau, meinen die jüngeren Mütter, gestern mußten die Kleinen zu Hause bleiben, obwohl der Himmel blaute und die Sonne hell niederstrahlte! Heute schneit es und die Kleinen von unserem Gegenüber gehen wirklich spazieren.
Da rollt ein Wagen durch unsere stille Straße; er hält vor dem Thore des Nachbarhauses; es ist der Wagen des Arztes. Wer ist wohl in dem Hause krank geworden? Dort oben im zweiten Stocke liegt einer der pausbäckigen Buben, die sich gestern an dem schönen klaren Tage im Freien umhertummelten, fiebernd im Bettchen. Betrübt steht die junge Mutter da, denn den lieben kleinen hat eine Lungenentzündung befallen. Er hat sich das schwere Leiden in dem schönen, aber trügerischen Winterwetter geholt.
„Kinder und junge Puten muß man warm halten!“ Wenn die Mütter über den Einfluß der kalten Luft auf die zarten Kinder besser unterrichtet wären, wie viel Kummer und Sorge, wie viel schlaflose Nächte würden ihnen erspart bleiben! Der Winter ist eine harte Jahreszeit und alljährlich rafft er zahlreiche Kinder dahin, die an Katarrhen und Entzündungen der Atmungsorgane zu Grunde gehen. Wie wir im Sommer die Kinder vor allem vor Darmkrankheiten beschützen müssen, sollten wir im Winter von ihnen alle Erkältungsursachen fern halten. Leider aber herrschen im Publikum vielfältig sehr unrichtige Vorstellungen über die Zuträglichkeit des Winterwetters für jüngere Kinder. Professor Brücke hat darüber etwa folgendes gesagt: Ist einmal die Temperatur unter [767] Null gesunken, so ist die Luft um so gefährlicher, je trockener und je kälter sie ist; es ist dabei ganz gleichgültig, ob der Sonnenschein die Haut erwärmt oder nicht. Die kalte trockene Luft wirkt unmittelbar als Reizmittel auf die Atmungsschleimhaut und ist geeignet, sie in katarrhalische Entzündung zu versetzen. Diese aber ist um so gefährlicher für das Kind, je kleiner es ist, wegen der Enge der Wege, welche die Luft zu passieren hat. Das sogenannte naßkalte Wetter, bei welchem die Temperatur der Luft noch oberhalb des Gefrierpunktes liegt, ist viel weniger zu fürchten; ob es regnet oder nicht, ist gleichgültig, wenn das Kind gegen den Regen geschützt ist; Nebel dagegen können nachteilig wirken, und zwar um so mehr, je niedriger die Lufttemperatur ist.
Ja, die erfahrene Großmutter drüben ist in dieser Hinsicht ebenso klug wie der Herr Professor; sie schaut nach dem Wetter, bevor sie die jüngeren Kinder ausführt, sie vermeidet den kalten und trockenen Ost- und Nordwind, wie verführerisch bei ihm auch die Sonne scheint, fürchtet aber nicht den milden Westwind, wenn er auch etwas Schneegestöber mit sich bringt. Und wenn man sie weiter fragt, so giebt sie den Rat, kleine Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter stehen, nur bei gelindem Frost von 2 bis 3° R auf kurze Zeit ins Freie zu führen. Wird der Frost stärker, so behält man sie lieber zu Hause, denn die Gefahr der Erkältung ist dann groß und der Nutzen, den ein kurzer Spaziergang in der frischen Luft bringen kann, verhältnismäßig gering. Muß aber das Kind bei solchem Wetter durchaus einen Weg machen, so sollte man wenigstens dafür sorgen, daß die Luft, die es auf dem Wege atmet, vorgewärmt wird, was dadurch erreicht wird, daß man dem Kinde ein Tuch lose vor den Mund bindet.
Möchten doch die Mütter in Stadt und Land diese Ratschläge befolgen! Möchten sie bedenken, daß der Schutz der kleinen Kinder vor Erkältung im Winter ebenso wichtig ist wie im Sommer die Behütung derselben vor Darmkrankheiten! Die früheste Kindheit ist nicht die Zeit, in welcher man mit Abhärtungsversuchen beginnen soll, und am allerwenigsten eignet sich dazu der Winter.
Unter diesen Umständen sind die Kinder allerdings während einer längeren Zeit auf Stubenaufenthalt angewiesen und die Hygieine der Kinderstube gewinnt gerade zur Winterszeit die größte Bedeutung. Der Genuß der frischen Luft und der Bewegung im Freien wird den Kleinen in hohem Maße entzogen; wir müssen deshalb alles daran setzen, ihnen einen Ersatz dafür zu bieten, damit sie während der rauhen und frostigen Wochen nicht stubensiech werden.
Da kommt zunächst die Luft in der Kinderstube in Betracht. Diese muß zwei Bedingungen erfüllen, sie muß genügend rein und entsprechend warm sein. Die Erfüllung dieser Bedingungen hängt vielfach von der wirtschaftlichen Lage der Familie ab. Verfügt dieselbe nur über eine einzige Stube, in der gekocht, gewohnt und geschlafen wird, dann wird trotz aller Lüftung die Luft in der Wohnung stets zu wünschen übrig lassen. Wohlhabende Familien, die über eine Flucht von Zimmern verfügen, werden ohne Schwierigkeit ihren Kindern gute Luft bieten können. Wir wollen jedoch mit solchen selteneren Fällen nicht rechnen, sondern breitere Volksschichten ins Auge fassen. Die meisten Hausfrauen können sich wohl so einrichten, daß ihre Kinder während des Winters mit genügend frischer Luft versorgt werden, selbst wenn die Familie ihnen keine besondere Kinderstube einräumen kann. Um zu diesem Ziele zu gelangen, bestimmt man die beiden größten und hellsten Zimmer der Wohnung zur Schlafstube und zum Wohnzimmer und heizt beide Räume ständig während des Winters. Früh morgens, während die Kinder noch schlafen, wird das Wohnzimmer aufgeräumt, geheizt und gründlich gelüftet.
Sind nun die Kinder aufgewacht, so bringt man sie ins Wohnzimmer, wo sie bis zu Mittag verbleiben. Während dieser Zeit wird das Schlafzimmer geordnet, gründlich gelüftet und eingeheizt. Das Mittagessen wird im Wohnzimmer eingenommen und nach diesem die Kinder wieder ins Schlafzimmer gebracht, während das Wohnzimmer gelüftet wird. Vor dem Abendbrot verlassen die Kinder wieder die Schlafstube und begeben sich in das Wohnzimmer. Während dieser Zeit wird die Schlafstube gelüftet, und nachdem man die Fenster wieder geschlossen hat und die Luft in dem Schlafzimmer sich erwärmt hat, bringt man die Kleinen zu Bett. Bei einer solchen Hausordnung wird in beiden Zünmern stets gute Luft sein, soweit sie nach der Lage des Hauses überhaupt zu beschaffen ist. Nur muß man dabei eine absichtliche Luftverderbnis vermeiden. Von seiten der Hausfrau geschieht dies dadurch, daß sie auf Kochen oder gar Waschen in den Wohn- oder Schlafräumen verzichtet, der Hausvater muß seinerseits auf das Rauchen in den beiden Stuben verzichten. Dies erscheint eigentlich selbstverständlich, die Erfahrung lehrt aber leider, daß sehr viele Väter in rücksichtslosester Weise in der Stube, die Frau und Kindern zum Aufenthalte dienen soll, ihre Pfeife oder Cigarre rauchen und die Luft verderben. Sie bilden sich dabei ein, daß der Tabaksrauch desinfizierend wirke, also nicht schaden könne; es sei ihnen darum gesagt, daß die desinfizierende Kraft des Tabaksqualmes, soweit etwa eine Verhütung von ansteckenden Krankheiten in Frage kommen sollte, gleich Null ist, während in ihm schlimme Gifte, wie Kohlenoxyd und Blausäure enthalten sind, welche die Gesundheit der Kinder zweifellos in ungünstigster Weise beeinflussen.
Was die Erwärmung der Luft anbelangt, so sollte dieselbe am Tage während des Aufenthalts der Kinder in den betreffenden Räumen etwa 16° R oder 20° C betragen und das Thermometer soll nicht zu hoch, sondern etwa in der Brusthöhe an der Wand angebracht sein. Wir müssen nämlich bedenken, daß das Leben und Spielen der Kinder sich zumeist in dem unteren Teile des Wohnraumes entwickelt, der stets kühler ist alS die oberen Teile. Während der Nacht kann in der Schlafstube von Kindern, die über das Säuglingsalter hinaus sind, die Temperatur auf +10° R oder +12 bis 13° C heruntergehen, ohne daß den Kindern daraus irgend welcher Schaden erwächst. Allerdings muß man Vorsichtsmaßregeln treffen, daß sie sich durch Aufdecken im Schlafe nicht erkälten. Dies wird nicht etwa durch Festbinden der Betten, sondern am zweckmäßigsten dadurch erreicht, daß man den Kleinen lange Nachtjacken aus Flanell anzieht.
Eine gar häufige Ursache der Erkältungen kleiner Kinder bildet ferner der kalte Fußboden der Kinderstube. Grundsätzlich sollten sich Kinder während des Winters nicht in Stuben aufhalten, die über freien ungeheizten Räumen, wie Thorwegen u. dergl., liegen; aber auch über geheizten Räumen ist die Diele im Winter kalt und ihr Einfluß auf die Kinder um so größer, je häufiger sich diese auf der Diele niedersetzen, auf ihr liegen und rutschen. Von jeher hat man darum Kinderstuben mit Teppichen, Decken oder Tierfellen ausgestattet, die in der That die Erkältung vielfach verhüten können. Neuerdings hat man den Teppichen in Wohnräumen den Krieg erklärt, da sie Staubfänger sind und darum unter Umständen auch Ansteckungsstoffe festhalten sollen. Man kann sich dieser Berurteilung der Teppiche nicht ohne weiteres anschließen. Die Ansteckungsstoffe müssen doch von außen in die Wohnung hineingebracht werden und auf die Teppiche wurden sie in der Regel mit dem Schmutz des Schuhwerks gelangen. Diese Art der Verbreitung der ansteckenden Krankheiten gehört aber zweifellos zu seltenen Ausnahmen; in der Regel geschieht sie durch Berührung zweier Personen, durch Benutzung fremden Spielzeuges, durch Kleidungsstücke u. dergl., und unter diesen Umständen ist es für das Zustandekommen der Ansteckung gleichgültig, ob auf den Dielen ein Teppich liegt oder diese blank sind. Verwerflich sind allerdings Teppiche, die nur alle Jahre oder vierteljährlich einmal geklopft werden, sonst aber an der Diele festgenagelt sind. Gegen kleinere Teppiche, die täglich oder zweimal die Woche im Freien geklopft werden können, kann ein besonders triftiger Einwand nicht erhoben werden. Im Gegenteil, man pflegt auf den Teppich mehr Rücksicht zu nehmen als auf die blanke Diele, man vermeidet, ihn zu beschmutzen, und so trägt er mittelbar zur Erhöhung der Reinlichkeit in der Stube bei. Bedenkt man endlich, daß Teppiche, Läufer und Decken wohl geeignet sind, Erkältungen zu verhüten, die gerade die Kinder zur Ansteckung empfänglich machen, so wird man sich wohl entschließen, in der kalten Jahreszeit den Teppich in der Kinderstube zu belassen. Natürlich muß er so gelegt sein, daß er keine Falten wirft und die Kinder nicht zum Fallen bringt.
Was nun die Hautpflege der kleinen Kinder während der Winterszeit anbelangt, so sind warme Reinigungsbäder, wöchentlich einmal bis höchstens zweimal, zu empfehlen. Dagegen sollte man in dieser Jahreszeit von den vielfach gebräuchlichen lauen Waschungen des Körpers zu Abhärtungszwecken lieber absehen. Schon Erwachsene vertragen kaltes Wasser während des Winters weniger gut und bei kleinen Kindern führen diese Abhärtungsversuche während der rauhen Witterung nur zu leicht Erkältungen herbei. Vor allem aber sind diese Waschungen bei schwächlichen blutarmen Kindern, die Wärme bedürfen, zu unterlassen.
Der Winter ist auch die Zeit, in welcher die Unglücksfälle in der Kinderstube häufiger werden. Beleuchtung und Heizung bringen Feuersgefahr mit sich und alljährlich erleidet eine große Zahl von Kindern Verbrennugen und Verbrühungen leichterer oder schlimmster Art. Auch gegen diese Gefahren müssen Vorsichtsmaßregeln getroffen werden, denn selbst bei der aufopferungsvollsten Pflege von seiten der Mutter giebt es doch unvorhergesehene Augenblicke, in welchen die Mutter durch andere Pflichten abgerufen wird und die Kleinen, wenn auch kurze Augenblicke, unbewacht sind. Es sollte darum in Stuben, die kleinen Kindern zum Aufenthalt dienen, die Feuerung der Oefen derart verwahrt sein, daß die Kinder nicht dazu können. Dies geschieht am besten durch eiserne Ofenschirme mit gebogenen glatten Rändern. Töpfe oder gar Eimer mit heißem Wasser sind in der Kinderstube niemals derart aufzustellen, daß Kinder in dieselben hineinstürzen, sie umwerfen oder vom Stuhl und Tisch herabzerren können. Darum ist auch die Küche nicht der Aufenthaltsort für die unerfahrenen Kleinen.
Unsere Hausbeleuchtung wird gegeuwärtig allgemein mit Petroleum besorgt; sie ist sicher zweckmäßig und hygieinisch, aber in der Kinderstube muß die Petroleunmlampe streng beaufsichtigt werden; denn Lampenexplosionen in Kinderstuben sind schon häufig vorgekammen. Man hat zwar Sicherheitslampen konstruiert, die beim Umfallen von selbst erlöschen, aber diese Neuerung fand im Publikum keinen Anklang. Darum muß man suchen, die gewöhnlichen Lampen in der Kinderstube weniger gefährlich zu machen, indem man sie den Kindern unzugänglich macht. Am zweckmäßigsten erweisen sich Hängelampen; wo man sich aber mit Stehlampen behilft, da sollte man diese wenigstens niemals auf schwankenden oder mit Decken versehenen Tischen aufstellen. Die Tischdecke gehört überhaupt nicht in die Stube der Kleinen, denn nur zu oft ziehen sie daran und zerren alles, was auf dem Tische steht, herunter; dann giebt es schlimme Verbrennungen durch Lampenexplosionen oder Verwundungen durch Scherben und Verbrühungen durch heißes Wasser.
Wie einfach und selbstverständlich diese Vorsichtsmaßregeln sein mögen, so lehrt doch die Erfahrung, daß sie häufig außer acht gelassen werden. Es möge darum zu Wintersanfang an dieselben erinnert werden.
Der lange Stubenaufenthalt während des Winters hat auch seine guten Seiten. Mutter und Kind stehen da im innigsten Wechselverkehr. Beim Spiel in der trauten, wenn auch nicht reich ausgestatteten Stube offenbaren sich der Mutter Herz und Seele ihres Lieblings.
Da hat sie vollauf Gelegenheit, kleine Neigungen zum Bösen zu
entdecken und im Keim zu ersticken, und mit Freuden kann sie das
wunderbar sich entfaltende kindliche Gemüt in edlen und guten Regungen
bestärken. Glücklich, wer in der winterlichen Dämmerstunde als Kind auf
der Mutter Schoß das Wahre und Gute zu lieben gelernt hat! Weihevoll
ist ihm auch in späten Lebensjahren die Erinnerung an die Kinderstube.
Darum laßt die jungen Mütter auch darüber wachen, daß die Kinderstube,
die Pflanzschule des künftigen Geschlechles, sich auch in seelischer
Beziehung als Pflegstätte der Gesundheit bewähre! J.