Die „Reichsunmittelbaren“ in Preußen

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Autor: Dr. I. Jastrow
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Titel: Die „Reichsunmittelbaren“ in Preußen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 348, 350–351
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die „Reichsunmittelbaren“ in Preußen.

Von Dr. J. Jastrow.


Im Königreich Preußen ist kürzlich die Einkommensteuer durch ein Gesetz geregelt worden, welches die Heranziehung des vollen Einkommens aller Staatsbürger zum angesprochenen Zwecke hat. Dieses Gesetz ist bereits in Kraft getreten, und die im ganzen Königreich von den Bürgern eingeforderten Steuererklärungen bilden gegenwärtig das allgemeine Tagesgespräch. Nun wird von dem jetzigen Landtag ein ferneres Gesetz erwartet, durch welches auch die „Reichsunmittelbaren“ in Preußen zur Einkommensteuer herangezogen werden und für das Aufhören ihrer Steuerfreiheit eine Entschädigung erhalten sollen.

Manche unter unseren Lesern haben wohl bei dieser Gelegenheit zum ersten Male das Wort „Reichsunmittelbare“ gehört; andere, die sich erinnern, es schon früher vernommen zu haben, vermögen nicht zu sagen, was darunter verstanden wird. Giebt es Staatsbürger, welche zu dem Deutschen Reiche in einer mehr unmittelbaren Beziehung stehen als alle anderen? Und wenn dies der Fall ist, woher kommt es, daß auf diese unmittelbare Beziehung eine Steuerfreiheit sich gründet? Wie ist es möglich, daß ein Staatsangehöriger für die Verpflichtung, Steuern zü entrichten, noch erst entschädigt werden soll?

Um diese und andere ähnliche Fragen zu beantworten, muß man etwas weit in die Vergangenheit zurückgehen. Es handelt sich hierbei um Einrichtungen früherer Zeiten, deren letzte Ausläufer sich bis in die unserige herein erstrecken. Derartige Einrichtungen darf man nicht beurtheilen, bevor man versucht hat, sie geschichtlich zu verstehen. – –

Im alten Deutschen Reiche, wie es sich bis in die ersten Jahre unseres Jahrhunderts erhalten hat, stand der habsburgische Kaiser an der Spitze von etwa vierzig geistlichen Fürsten, siebzig weltlichen Fürsten und fünfzig Reichsstädten. Diese waren dem Reiche unterthan. Wenn das Reich für die Unterhaltung des Reichskammergerichts Geldbeiträge brauchte, so wurden dieselben von jenen einhundertundsechzig „Gliedern“ des Reiches eingefordert. Wenn eine Reichsarmee auf die Beine gebracht werden sollte, so wurden nach demselben Verzeichniß die Reichsaufgebote verlangt. Wie die einzelnen Reichsfürsten und Reichsstädte die Gelder aufbrachten, wie sie dieselben von den Einwohnern ihrer Lande erhoben, das war ihre eigene Angelegenheit. Denn diese Einwohner waren ihre Unterthanen und standen zu dem Reiche nur in „mittelbarer“ Beziehung, während die Beziehung der Fürsten zum Reiche eine direkte, eine „unmittelbare“ war.

Das ist der Unterschied zwischen mittelbaren und unmittelbaren Reichsangehörigen, wie ihn das alte Reichsrecht kannte.

Die Reichsunmittelbaren erfreuten sich der ausgedehntesten Privilegien. Ein jeder übte in seinem Lande das Recht der Gesetzgebung, der Rechtsprechung, der Steuerausschreibung, kurzum im weseutlichen das Recht der Staatshoheit. Die reichsunmittelbaren Fürsten und Städte zusammen bildeten die Versammlung des Reichstages, welcher im Laufe des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts zu einem dauernden Senat neben dem Kaiser wurde und in der alten Reichsstadt Regensburg seinen ständigen Sitz hatte.

Innerhalb jedes einzelnen Landes wiederholte sich dasselbe Verhältniß im kleinen Maßstabe. Der Landesherr hatte „unmittelbar“ unter sich Prälaten, Ritter und städtische Magistrate. Die Hintersassen und die einzelnen Bürger dagegen standen zum Landesherrn wiederum nur in mittelbarer Beziehung. Auch im Landesstaat waren die „Landesunmittelbaren“ in reichem Maße bevorrechtet. Jeder Ritter und Prälat übte auf seinem Gute oder auf seiner Abtei wenigstens die niedere Gerichtsbarkeit und die Polizei, wie in den Städten der patrizische Magistrat. Auch sie konnten die vom [350] Landesherrn eingeforderten Steuern mit einer gewissen Freiheit unter ihre Hintersassen vertheilen. Dies schlug thatsächlich dazu aus, daß die Steuern. welche der Landesherr ausschrieb, von den Hintersassen getragen, von Rittern, Prälaten und Stadtmagistraten nur vermittelt wurden: die Landesunmittelbären waren thatsächlich in gewisser Beziehung steuerfrei; ihrem Grundbesitz war die Steuerfreiheit theilweise ausdrücklich gewährleistet. Wenn zu Zwecken der landesherrlichen Verwaltung persönliche Dienstleistungen verlangt wurden, Botendienste, Vorspanndienste, Wegebauten u. a. m., so stand dem Landesunmittelbaren vielfach eine Befreiung von diesen Dienstleistungen zu. Als Ganzes bildeten die Landesunmittelbaren einen Landtag neben dem Landesherrn wie die Reichsunmittelbaren einen Reichstag neben dem Kaiser. Wie jeder, der Sitz und Stimme im Reichstag zu Regensburg hatte, ein „Reichsstand^ genannt wurde, so war jeder, der zum Erscheinen im Landtag berechtigt war, ein „Landstand“.

Der Aufbau des Staatswesens glich einer großen Pyramide. Ueber der breiten Unterlage der Land- und Stadtbewohner erhob sich die engere Schicht der Prälaten, Ritter und Magistrate, über diesen die noch engere der Reichsfürsten und Reichsstädte, während an der gemeinsamen Spitze der Kaiser stand. Dieser Staatsaufbau stammte aus einer Zeit, in der er berechtigt war. In niederen Kulturstufen hat sich überall in Europa die Sammlung der Staatskräfte in kleinen Kreisen, und erst allmählich ihre Zusammenfassung in größere vollzogen. Während man aber überall sonst zu einer stärkeren Zusammenfassung der Staatskräfte vorgeschritten war, verharrte Deutschland in dem alten Zustand, der das viel beklagte Bild der Zersplitterung in Kleinstaaten gewährte. Den letzten Stoß versetzte diesem Staatswesen der Zusammenprall mit dem revolutionären Frankreich. In den Jahren 1802 bis 1815 sind in den verschiedensten Richtungen Staatsveränderungen in Deutschland unternommen worden. Sie gingen theils von Napoleon, theils von seinen Gegnern aus, stimmten aber alle darin überein, daß sie die unendliche Vielheit kleiner Staatssplitter zu beseitigen trachteten. Selbst die deutsche Bundesakte vom Jahre 1815, die nach Möglichkeit bestrebt war, alle fürstlichen Rechte in früherem Umfang wiederherzustellen, hat doch statt der einhundertundsechzig Souveräne, welche es vor der französischen Revolution in Deutschland gab, nur fünfunddreißig wieder zugelassen, welche seit damals den „Deutschen Bund“ bildeten. Der ganze Rest der kleinen Herzöge, Fürsten und Reichsgrafen wurde endgültig für einverleibt erklärt. Die ehemals reichsunmittelbaren kleinen Herren wurden von da ab Unterthanen des Souveräns, in dessen Gebiet sie saßen. sie wurden „mediatisiert“. Wenn man seit damals diese Häuser die „reichsunmittelbaren“ genannt hat, so meint man damit die ehemals reichsunmittelbaren. Die Oberhäupter dieser Familien werden auch „Standesherren“ genannt.

Die Familien als solche verloren ihren fürstlichen Charakter nicht. Sie blieben den regierenden Fürstenfamilien Deutschlands und Europas ebenbürtig und bilden mit ihnen zusammen den „hohen Adel“, während alle übrigen, Grafen, Barone, Ritter etc., den „niederen Adel“ bilden.

Welche Stellung sollte nun diesen Familien innerhalb der einzelnen Staaten angewiesen werden? Es war selbstverständlich, daß man sie nicht schlechter stellen konnte als den niederen Adel daselbst. Wenn jeder Ritter zum Erscheinen im Landtag berechtigt war, so mußten um so mehr die Mediatisierten die jetzt in den Adel des Landes eintraten, zum erblichen Sitze im Landtag an der Spitze des gesammten Adels berechtigt sein. Wenn noch in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts jedem Ritter auf seinem Rittergut Gerichtsbarkeit und Polizei zustand, so mußten diese Rechte um so mehr den Mediatisierten auf ihren Domänen bewilligt werden. Wenn der gesammte Ritterstand eine weitgehende Befreiung von persönlichen Dienstleistungen genoß, wenn er sich nicht geringer Steuerprivilegien erfreute, so durfte man jene ehemals reichsunmittelbaren Familien zum mindesten nicht schlechter behandeln. Nach der deutschen Bundesakte „sind die Häupter dieser Häuser die ersten Standesherren in dem Staate, zu dem sie gehören; sie und ihre Familien bilden die privilegierteste Klasse in demselben, insbesondere in Ansehung der Besteuerung.“

Fügte sich so in den Jahren 1802 bis 1815 der hohe Adel in die feudale Verfassung ein, wie sie damals in den einzelnen Staaten vielfach noch bestand, so unterlag seine Stellung allen Aenderungen, denen in der Folgezeit die feudale Verfassung unterlag. Ueberall in Deutschland führte man eine einheitliche staatliche Gerichtsverfassung ein, Gerichte, welche durchweg im Namen des Landesfürsten Recht sprachen und nicht mehr im Namen des Grundherrn. Man setzte bis in die untersten Stufen hinab eine landesherrliche Polizei an Stelle der adligen. Es kamen neue persönliche Dienstleistungen für den Staat auf, welche von Anfang an mit dem Anspruch auftraten, daß sich ihnen niemand entziehen dürfe. Die Pflicht, als Geschworener oder als Schöffe zu dienen, die Pflicht, Aemter der bürgerlichen Selbstverwaltung zu übernehmen, machte nicht wie einst die Pflicht der Frohnden und Wegebauten vor den Thüren der Paläste Halt. Mit einer größeren Ausdehnung der indirekten Steuern war eine steigende Verallgemeinerung derselben verbunden; wenn eine gemeinsame Zolllinie zuerst den preußischen Staat, dann ganz Deutschland umschlang, so wurden an der Grenze die eingehenden Waren verzollt ohne Rücksicht darauf, für welche Klasse von Unterthanen sie bestimmt waren. Aber auch bei einer Neuregelung der direkten Steuern gingen die deutschen Staaten vielfach mit Beseitigung der vorhandenen Ausnahmerechte vor.

In Preußen entwickelte sich die Stellung der Mediatisierten unter beständigen Stößen und Gegenstößen. Die preußische Verfassungsurkunde vom 5. Dezember 1848 sprach die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und die Aufhebung aller Standesunterschiede aus. Kurz darauf, als eine gegentheilige Richtung im ganzen Staatsleben die Oberhand gewann, erfolgte auch hierin ein Rückschlag. Nicht nur daß man die bereits beseitigte Ausnahmestellung der Mediatisierten im Wege der Gesetzgebung wiederherzustellen unternahm, man ließ sich sogar dazu herbei, sie im Wege des Vertrags zwischen dem König von Preußen und seinen ehemals reichsunmittelbaren Unterthanen zu bewerkstelligen; ja, man kam auf den Gedanken, den letzteren für gewisse Verzichte eine Entschädigung anzubieten. Auch die neuere Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches hat sich zu den verschiedenen Rechten, welche die Mediatisierten für sich in Anspruch nahmen, verschieden gestellt. So ist die Befreiung von der Wehrpflicht durch das Reichsmilitärgesetz allen ehemals reichsunmittelbaren Familien ausdrücklich bestätigt worden, während die standesherrlichen Gerichte durch die Reichsgesetzgebung mit einem Federstrich vernichtet und auch die übrigen Privilegien der Standesherren in Justizsachen bis auf verschwindend geringe Ausnahmen beseitigt wurden.

*  *  *

Will man über die heutige Stellung des hohen Adels in Deutschland zu einem Urtheil gelangen, so muß man die verschiedenen Privilegien voneinander sondern. Das Recht der Ebenbürtigkeit, welches diese Familien für sich in Anspruch nehmen, ist wohl von allen das eigenartigste. Wenn etwa ein Prinz von Hohenlohe die Tochter des Fürsten Bismarck geheirathet hätte, so würde dies eine Mesalliance gewesen sein; die Kinder aus einer solchen Ehe wären nicht berechtigt, an dem standesherrlichen Familiennamen oder an dem standesherrlichen Vermögen der Hohenloheschen Familie theilzunehmen. Eine solche Konsequenz mag uns sonderbar anmuthen, aber sie ist doch nur eine Folge davon, daß die eigenthümlichen Hausordnungen des Privat-Fürstenrechts und damit auch dessen völkerrechtliche Seite in allen monarchischen Staaten als maßgebend anerkannt sind. Solange noch der Grundsatz zu Recht besteht, daß in regierenden Häusern nur die „ebenbürtige“ Ehe volles Erbrecht gewährt, haben wir in Deutschland gerade ein Interesse daran, daß der Kreis der Ebenbürtigkeit innerhalb Deutschlands sich nicht verengere: dieses Privileg der standesherrlichen Familien ist in Deutschland ein gewisser Schutzwall dagegen, daß unsere zweiundzwanzig regierenden Familien nicht allzuviel in auswärtige dynastische Interessen hineingezogen werden. Die sonstigen Ehrenrechte, welche den standesherrlichen Familien zukommen, wie das Recht, sich eine Ehrenwache mit bestimmter Uniform zu schaffen, das Recht auf gewisse Ehrentitel (die Gerichte dürfen in Prozessen eines Standesherrn nur von dem „Herrn“ Kläger oder dem „Herrn“ Beklagten reden) u. a. m. sind nicht von ernstlicher Bedeutung. Und das Recht auf Sitz und Stimme im preußischen Herrenhaus ist, solange dieses Haus in seiner heutigen Verfassung besteht, als gerechtfertigt allgemein zugegeben.

Von diesen Privilegien verschieden sind alle die, welche sich auf Staatshoheitsrechte und auf Unterthanenpflichten beziehen. [351] In diesen Fragen ist kein völkerrechtlicher Gesichtspunkt zulässig wie in denen des Privat-Fürstenrechts. Unser heutiges Deutsches Reich beruht auf dem Gedanken, daß für unsere staatlichen Angelegenheiten die völkerrechtlichen Verabredungen des Jahres 1815 keine bindende Schranke bilden. Zwischen den Hohenzollern und ihren Landeskindern hat ein völkerrechtlicher Vertrag keinen Platz. Die Gesetzgebung des Deutschen Reiches und der Einzelstaaten hat hier die Verhältnisse frei und sachgemäß zu regeln. Es war der freie Wille der Reichsgesetzgebung, wenn sie die Standesherren von der Militärpflicht ausnahm. Und es ist ebenso der freie Wille des Gesetzgebers, wenn er ein anderes ihrer Privilegien aufheben will.

Ueber keines dieser Privilegien bestehen aber so irrthümliche Auffassungen wie gerade über die Befreiung von der Einkommensteuer, deren Aufhebung jetzt in Preußen auf der Tagesordnung steht.

Schon über die Frage, um welche Familien es sich dabei denn eigentlich handle, hört man die wunderlichsten Ansichten. Keineswegs haben alle standesherrlichen Familien einen Anspruch auf eine Sonderstellung, sondern nur die, welche in Preußen selbst auf reichsunmittelbaren Gütern sitzen. Ein württembergischer Standesherr z. B., der auf einem Rittergut wohnt, welches er sich in Preußen gekauft hat, genießt hier keinerlei Steuerprivileg. So führt die Matrikel des Herrenhauses den Präsidenten, den Herzog von Ratibor, nicht unter den „vormaligen deutschen reichsständischen Häusern“ auf, sondern unter den „übrigen Mitgliedern mit erblicher Berechtigung“. Denn Ratibor ist nicht reichsunmittelbares Lehen gewesen, schon aus dem einfachen Grunde, weil Schlesien damals nicht zum Deutschen Reiche gehörte. Reichsunmittelbar ist der Herzog von Ratibor nur in seiner Eigenschaft als Prinz zu Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst, d. h. er ist württembergischer Standesherr, aber nicht preußischer. Die Zahl der preußischen standesherrlichen Familien ist also eine eng begrenzte. Es sind die Herzöge von Arenberg und von Croy, die Fürsten von Bentheim, Fürstenberg, Salm, Sayn, Thurn und Taxis, Isenburg, Wied und die Fürsten und Grafen Solms. Hierzu kommen die Grafen von Stolberg, welche zwar nicht bis zur Auflösung des Deutschent Reiches Reichsunmittelbare gewesen sind, in Preußen aber jenen anderen Familien gesetzlich gleichgestellt wurden.

Von diesen elf Häusern, welche einschließlich ihrer Zweige zwanzig Familien umfassen, geht jedoch gerade in Bezug auf das Steuerprivileg wiederum eine Anzahl ab. Zunächst bleiben die beiden Häuser Fürstenberg und Thurn und Taxis, welche nur wegen einiger Güter im Hohenzollernschen als preußische Reichsunmittelbare anzusehen sind, hier außer Betracht, weil die hohenzollernschen Lande ihre eigene Steuergesetzgebung haben, welche diese Privilegien ausschließt. Es scheiden ferner alle Familien aus, welche bloß in den Provinzen Hessen-Nassau und Hannover ihre Domänen haben, da in diesen beiden Provinzen im Diktaturjahr 1866/67 die Steuerprivilegien aufgehoben und durch kein neueres Gesetz wieder eingeführt worden sind. Außerdem aber hat in jenen obenerwähnten Verträgen eine Anzahl Familien auf das Steuerprivileg verzichtet. Nach dieser Durchsiebung bleiben im ganzen nur fünf Familienzweige übrig: Salm-Salm, Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Solms-Braunfels, Solms-Lich-Hohensolms, Wied, denen die drei gräflich Stolbergischen Familien (Stolberg-Stolberg, Stolberg-Wernigerode, Stolberg-Roßla) gleichgestellt sind. Ueber das Recht des Fürsten zu Bentheim-Steinfurt gehen die Ansichten auseinander.

Es sind heute also nur acht bis neun Familien, welche auf preußischem Boden ein Recht auf Freiheit von der Einkommensteuer haben. Wo hier und da eine andere Familie die Steuerfreiheit genossen hat, da ist es zu Unrecht geschehen, theilweise sogar aus bloßem Irrthum der Veranlagungsbehörden.

Wie über den Kreis der Privilegierten, so sind auch über den Inhalt des Privilegs irrige Ansichten verbreitet. Selbst nach der deutschen Bundesakte steht den standesherrlichen Familien nur das Recht zu, die „privilegierteste Klasse“ zu bildett, d. h., es darf in einem Staate keine Bevölkerungsklasse geben, welche günstiger gestellt wäre als die Standesherren. Da es in Preußeu nun eine in Steuersachen privilegierte Bevölkerungsklasse nicht mehr giebt, so ist die Wirksamkeit jener Bestimmung der deutschen Bundesakte von selbst auf Null zusammengeschrumpft. Am allerdeutlichsten würde dies zu Tage treten, wenn man das Vorbild des Königreichs Sachsen befolgte, in welchem das königliche Haus selbst auf die Steuerfreiheit verzichtet und sie nur für König und Königin beibehalten hat. Aber auch in Preußen, wo neben dem königlichen und fürstlichen Hause Hohenzollern auch den drei besiegten souveränen Häusern von Hannover, Hessen und Nassau die Steuerfreiheit bewilligt ist, wird man doch kaum im Ernste behaupten können, daß hiermit eine „Klasse“ der Bevölkerung geschaffen sei, der nun die Standesherren gleichgestellt werden müßten – ganz abgesehen davon, daß die deutsche Bundesakte für die Regelung dieser Verhältnisse im Jahre 1892 ebensowenig ein Hinderniß bilden kann, wie sie in den Jahren 1866 und 1870/71 für die Begründung des Deutschen Reiches ein Hinderniß bilden durfte. Wenn in Preußen die Steuerpflicht jener acht bis neun Familien erst beginnen soll, sobald eine Abfindungssumme für das Aufhören ihrer Steuerfreiheit durch Staatsgesetz festgesetzt ist, so mag dem die Rücksicht zu Grunde liegen, daß auch ein großer Theil der anderen Familien früher solche Abfindungssummen erhalten hat. Doch ist mit dieser „Entschädigung“ nicht gemeint, daß der Staat verpflichtet sein solle, diesen Familien einen Schaden zu ersetzen und ihnen ein so hohes Kapital zu geben, daß aus dessen Zinsen allein die Steuer alljährlich bestritten werden könne. Es kann sich vielmehr nur um kleinere Summen handeln, welche den Zweck haben, den Uebergang in die neuen Verhältnisse weniger plötzlich zu machen. Die Ansicht aber, als ob die Höhe dieser Summe durch Verhandlungen mit den Standesherren festgestellt werden müsse, ist eine irrthümliche. – –

Wer alte Einrichtungen am Maßstab alter Zeiten zu messen weiß, wird Standesprivilegien zu begreifen suchen nach den Zuständen, aus denen sie einstens hervorgegangen sind. Aber soll der historische Sinn, der jeder Zeit gerecht zu werden bestrebt ist, gerade vor der eigenen Zeit Halt machen? Auch unser Jahrhundert mit seiner Kultur und seinen Kulturbedürfnissen, mit seinen Verfassungen und seinen sozialen Anschauungen hat sein Recht und läßt es sich nicht nehmen. Es ist wahr, daß das ausgehende 19. Jahrhundert Steuerprivilegien duldet und sogar erfordert. Aber das sind Privilegien für die Armen und Unbemittelten. Diesen die Steuer zu erlassen oder zu erleichtern, ist das Bestreben der heutigen Gesetzgebung. Damit sind Privilegien für einige Familien, welche zu den reichsten im Lande gehören, mögen sie nun zusammen 70, 80 oder 100 Millionen Mark besitzen, nicht vereinbar. Ein Ueberrest aus alten Zeiten, steht dieses Privileg inmitten einer Umgebung, die den ehemaligen Sinn in seinen Gegensinn verkehrt. Und heute führt es außerdem den merkwürdigst „Rechtszustand“ herbei, daß die Familie der Kaiserin steuerpflichtig ist, die Familie Solms-Lich-Hohensolms aber dafür zu gut sein soll.

Und doch! Handelte es sich um die Frage, ob ein ganzer Stand, der ehemals für unsere Geschichte soviel bedeutete, den ihm gebliebenen Rest von Freiheit behalten oder verlieren soll – man könnte den zähen Vertheidigern des Alten das Mitgefühl nicht versagen, das dem wackeren Kämpfer für eine verlorene Sache so gern gezollt wird. Aber diese Frage ist längst entschieden. Die „Freiheit“ haben auch jene Standesherren bereits aufgegeben. Sie sind bereit, die Pflicht auf sich zu nehmen, sie haben nichts mehr dagegen, daß sie die „Steuererklärung“ ausfüllen, den Steuerzettel annehmen und sich wie jeder andere bei Strafe der Exekution die Zahlung befehlen lassen. Nur wollen die Letzten auf den Zinnen die so lange vertheidigte Festung nicht anders als gegen gute Bezahlung übergeben.

In der Geschichte der standesherrlichen Privilegien giebt es ein vortreffliches Beispiel, welches lehrt, unter welchen Umständen sich ein Privileg erhalten kann. Es ist die Befreiung von der Militärpflicht. Sie hat sich erhalten, weil die jungen Leute aus diesen Familien keinen Gebrauch von ihr machen. Ihr ganzer Ehrgeiz ist darauf gerichtet, dem Vaterland freiwillig denselben Dienst zu leisten, zu welchem andere gezwungen werden. Will der hohe Adel der Nation mehr gelten als der niedere, so muß auch er des Spruches eingedenk sein: „Noblesse oblige!“, „Adel verpflichtet!“