Die Bändigung der drei „Unbezwinglichen“

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Autor: Carus Sterne
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Titel: Die Bändigung der drei „Unbezwinglichen“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 5, S. 80–82
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die Bändigung der drei „Unbezwinglichen“.

Nicht in die geräuschvolle Ringbahn, wie die Ueberschrift anzudeuten scheint, soll uns unsere heutige Plauderei geleiten, sondern in die stillen Laboratorien der Chemiker, in denen während der letzten Tage des Jahres drei große Triumphe über die träge Materie errungen worden sind: man hat daselbst die letzten drei Gase, welche den stolzen Namen der „Incoërciblen“, das heißt der Unbezwinglichen führten, Sauerstoff, Stickstoff und Wasserftoff, sowohl für sich, wie in dem Gemenge, in welchem die ersteren beiden unsere atmosphärische Luft darstellen, dergestalt in die Enge getrieben, daß sie sich in tropfbare Flüssigkeiten verwandelt haben. Das große Interesse, welches sich an diese neueste Errungenschaft der physikalischen Chemie knüpft, ist ein vorwiegend theoretisches, aber doch auch von allgemeiner philosophischer Bedeutung, sofern es die Allgemeingültigkeit gewisser Grundgesetze bestätigt, wie die Auseinandersetzungen alsbald zeigen werden, die wir der Beschreibung jener Experimente vorausschicken müssen.

Die Erfahrungswissenschaft hatte längst gelehrt, daß im Allgemeinen alle Stoffe in drei Zuständen erhalten werden können, die man ihre Aggregatzustände nennt, nämlich: fest, flüssig und gasförmig. Bei dem festen Zustande der Körper nimmt man an, daß ihre kleinsten Theile eine beziehungsweise gleichbleibende Lagerung gegen einander behaupten, wenn man aber fortdauernd Wärme zuführt, so werden jene Theilchen gegen einander verschiebbar, der Körper schmilzt, und wenn die Wärmezufuhr fortdauert, so gelangen die Theilchen dahin, sich gegenseitig abzustoßen, die geschmolzene Masse siedet und verwandelt sich in classischen Dampf, und zwar wird dieses Abstoßungsbestreben der Theilchen, welches wir als Dampfkraft benützen, am schnellsten zur Geltung kommen, wenn der auf der Flüssigkeit ruhende Luftdruck hinweggenommen wird. Es bringt somit im Allgemeinen Abkühlung und Druck Verdichtung der Massen, Wärmezufuhr und Druckabnahme Verdünnung hervor.

Natürlich läßt sich der skizzirte Wandlungsproceß nur bei einfachen und solchen zusammengesetzten Stoffen durch alle drei Stufen hindurchführen, welche die zu ihrer Verflüssigung oder Verflüchtigung erforderliche Hitze ohne chemische Zersetzung vertragen; organische Producte, wie Holz oder Fleisch, lassen sich nicht ohne Zersetzung schmelzen, geschweige denn in Dampf verwandeln. Auch chemische Verbindungen, wie z. B. der kohlensaure Kalk unserer Kalkgebirge, zersetzen sich oft schon vor ihrem Schmelzen in ihre näheren Bestandteile, hier also in Kohlensäure und gebrannten Kalk, aber in einem luftdicht verschlossenen Flintenlaufe kann man jene beiden Bestandtheile zwingen, bei einander zu bleiben, und den kohlensauren Kalk wirklich schmelzen, um eine Art künstlichen Marmors zu erhalten, denn auch der natürliche Marmor ist anscheinend nichts anderes, als unter dem starken Druck darüber liegender Erdschichten durch vulcanisches Feuer halbgeschmolzener kohlensaurer Kalk.

Bei manchen Körpern, wie z. B. der Kohle und den edlen Metallen, gehört eine sehr gewaltige Hitze dazu, um sie zu schmelzen, allein man hat nicht nur die erstere mit Hülfe starker elektrischer Ströme geschmolzen und dabei künstliche schwarze Diamanten erhalten, sondern die edlen Metalle durch die in großen Brennspiegeln verdichtete Sonnenwärme oder durch den elektrischen Strom sogar in Dampf verwandelt. Der amerikanische Physiker A. W. Wright hat erst kürzlich eine Methode entdeckt, um selbst die am schwersten schmelzbaren Metalle, wie z. B. Platin, durch den elektrischen Funken im luftverdünnten Raume zu verflüchtigen, um diesen Metalldampf auf andere Flächen niederzuschlagen und so z. B. Platinspiegel für Fernröhre zu erzeugen, die an Politurfähigkeit und damit auch an unveränderlicher Leistungsfähigkeit alle früheren Teleskopspiegel weit hinter sich lassen dürften. Von manchen Stoffen, wie z. B. dem metallischen Arsenik, schien es eine Zeitlang, als ob sie sich nicht schmelzen ließen, weil sie sich bei starker Erhitzung ohne Schmelzung verflüchtigen. Das liegt aber, wie man bald fand, nur daran, daß ihr Schmelz- und Siedepunkt allzunahe bei einander liegen, in einer luftdicht verschlossenen Glasröhre, in welcher sich der Siedepunkt unter dem eigenen Dampfdrucke erhöht, läßt sich Arsenik sehr leicht schmelzen.

Ebensowohl nun, wie sich alle festen, feuerbeständigen Körper endlich schmelzen und verflüchtigen lassen, wenn man nur den erforderlichen Hitzegrad zu seiner Verfügung hat, so müssen natürlich auch alle flüssigen Körper zur Erstarrung gebracht werden können, was zuweilen schwerer ist, als das Verdampfen derselben. Quecksilber, ein bereits bei circa vierzig Grad unter Null schmelzendes Metall, verdampft schon bei gewöhnlicher Temperatur und mittlerem Atmosphärendruck merklich; die „Fixirung“ dieses beweglichsten aller Körper, bei dem daher der rührigste Gott des griechischen Olympes, Mercur, Pathe stehen mußte, war ehemals ein Bravourstück der alten Physiker; mit den Mitteln der Neuzeit gelingt es – wie wir weiterhin sehen werden – sogar, dasselbe in einem rotglühenden Platintiegel in ein hämmerbares Metall zu verwandeln. Auch die Schwierigkeiten, die man früher fand, ätherische und alkoholartige Flüssigkeiten zum Erstarren zu bringen, sind mit jenen Mitteln gehoben worden, und die Herstellung eines gefrorenen Cognacs oder sonstiger Liqueure bietet keine unüberwindlichen Schwierigkeiten mehr. Vor einigen Jahren haben die Physiker Melsens und Horvath Branntwein von fünfzig Procent Alkoholgehalt bei vierzig bis fünfzig Grad Kälte in Eis verwandelt, welches ganz angenehm schmeckte, während Wassereis von ähnlich niedriger Temperatur[WS 1] Blasen auf der Zunge ziehen dürfte. Erst auf siebenzig Grad abgekühltes Branntweineis schmeckte etwas empfindlich, etwa wie ein Eßlöffel heißer Suppe. Dreißig Grad kalter Branntwein, der wie dicker Syrup fließt, zeigte sich sogar als ein sehr wohlschmeckendes Getränk, man mußte es aber aus hölzernen Bechern probiren, weil an einen Metallbecher die Lippen alsbald anfrieren würden.

Wenn nun alle festen und flüssigen Körper mit unwesentlichen Ausnahmen in die drei Zustände gebracht werden können, wie steht es nun in diesem Punkte mit denjenigen Stoffen, die unter mittleren Druck- und Temperaturverhältnissen nur im luftförmigen Zustande bekannt sind? Ist der Sauerstoff, ohne den wir keine zwei Minuten bestehen können, auch nur der Dampf eines festen Körpers? Ist selbst der dünnste und leichteste aller Stoffe, das Wasserstoffgas, mit welchem man die ersten Luftballons füllte, der Dampf eines erst bei unerhörter Kälte erstarrenden Metalles, wie das Quecksilber ein gewöhnlich flüssiges Metall? Diese Fragen sind theoretisch sehr interessant, und Diejenigen, welche überzeugt sind, daß die Gesammt-Natur von festen und unwandelbaren Gesetzen beherrscht wird, zweifelten schon lange nicht mehr daran, daß auch sämmtlichen Gasen, wie eben allen Stoffen, ihre drei Zustände zukommen. Der große Chemiker, welcher in der französischen Revolution sein Leben auf der Guillotine endigen mußte, Lavoisier, schrieb bereits vor einem Jahrhundert:

„Betrachten wir einen Augenblick, was mit den verschiedenen Stoffen unseres Erdballes geschehen würde, wenn seine Temperatur eine gewaltsame Aendernung erführe! Nehmen wir zum Beispiel an, daß die Erde sich plötzlich in eine viel heißere Region des Sonnensystems versetzt fände, in eine Gegend, wo die gewöhnliche Wärme bedeutend diejenige des siedenden Wassers überstiege, so würden bald das Wasser und alle bei ähnlicher Temperatur siedenden Flüssigkeiten, ja sogar mehrere Metalle verdampfen und Theile der Atmosphäre bilden. Wenn durch eine entgegengesetzte Wirkung die Erde sich plötzlich in sehr kalte Regionen, zum Beispiel in diejenigen des Jupiter oder Saturn versetzt fände, so würde das Wasser, welches heute unsere Flüsse und Meere bildet, sowie wahrscheinlich der größte Theil der Flüssigkeiten, welche wir kennen, sich in feste Berge verwandeln. Die Luft, oder wenigstens ein Theil der luftförmigen Substanzen, welche unsere Atmosphäre zusammensetzen, würde wegen des Mangels eines hinreichenden Wärmegrades aufhören, im Zustande einer unsichtbaren Flüssigkeit zu verharren und tropfbar flüssig werden, und dieser Wechsel würde neue Flüssigkeiten erzeugen, von denen wir heute keine Idee haben.“

Der Seherblick Lavoisier’s hat seit lange, und auf eine weniger das Menschenleben in Frage stellende Weise, seine Bestätigung erhalten. Sechs Jahre nach seinem Tode, um die Wende des Jahrhunderts, gelang es bereits den Naturforschern Monge unnd Clouët, eines jener Gase, welche sich häufig der Atmosphäre beimischen, den stechend riechenden Dampf des brennenden Schwefels, zu einer Flüssigkeit zu verdichten. Im [081] Jahre 1805 verdichtete Northmore das Chlorgas zu einer grüngelben Flüssigkeit, und dies war der erste einfache Stoff, der, bis dahin nur in luftförmiger Gestalt bekannt, in die flüssige Form gebracht wurde. In den nächsten Jahrzehnten folgten Ammoniakgas, Kohlensäure und andere Gase.

In den vierziger Jahren erregte die Verflüssigung des moussirenden Gases unserer Mineralwässer, Biere und Champagner, der Kohlensäure, großes und allgemeines Aufsehen, namentlich seitdem der französische Naturforscher Thilorier (1834) einen Apparat construirt hatte, in welchem die Verflüssigung größerer Massen leicht und schnell bewerkstelligt werden konnte. Es ist eine dem Apparate der Selterwasserfabriken ganz ähnliche Vorrichtung, die, wie dieser, aus zwei starkwandigen, durch eine Röhrenleitung verbundenen Behältern besteht, dem Generator und dem Recipienten. In dem ersteren werden durch eine brausepulverartige Mischung große Massen Kohlensäure erzeugt, die sich in dem zweiten bei mittlerer Temperatur (fünfzehn Grad) zu einer wasserhellen Flüssigkeit verdichten, sobald der Gasdruck auf fünfzig Atmosphären gestiegen ist. Natürlich erfordert dieses Verfahren, wenn es gefahrlos sein soll, einen weit über jenen Druck erprobten sicheren Apparat, wie man sie jetzt in voller Zuverlässigkeit construirt, nachdem eine schlimme Explosion, die einem Assistenten des Herrn Thilorier das Leben kostete, auf die Gefährlichkeit unzureichender Vorrichtungen aufmerksam gemacht hatte.

Man hat die flüssige Kohlensäure seitdem sehr oft dargestellt, weil sie äußerst merkwürdige und schätzbare Eigenschaften besitzt. Sie verdampft, der freien Luft ausgesetzt, so schnell, daß sie in Folge der dabei stattfindenden Wärmebindung Kältegrade erzeugt, wie man sie bis dahin noch gar nicht kannte. Läßt man einen Strahl derselben aus dem Herstellungsapparate in ein vorgehaltenes offenes Gefäß strömen, so entsteht eine Temperaturerniedrigung von achtzig bis neunzig Grad, und der nachfolgenden Flüssigkeit wird soviel Wärme entzogen, daß diese in dem offenen Gefäße zu fester Kohlensäure – einem weißen Schnee – gefriert. Was man nur schwierig mit andern Mitteln erreicht hätte, besorgt die einmal flüssig gewordene Kohlensäure selbst, als wollte sie das alte Sprüchwort bestätigen: „Nur der erste Schritt in einer Sache ist mühsam.“ Die „fixe Luft“, wie die alten Chemiker die Kohlensäure nannten, weil sie in so vielen harten Körpern – Kreide, Magnesia, Potasche, Soda etc. – festgebannt liegt, ist damit wirklich fix geworden und verdampft nunmehr in diesem neuen Zustande verhältnißmäßig langsam, nämlich wegen ihres schlechten Wärmeleitungsvermögens. Man kann sich ein Flöckchen der lockern Masse in die offene Hand legen lassen, ohne daß es schmilzt und ohne daß man eine besondere Kälte empfindet. Würde man aber mit der Fingerspitze das Flöckchen zusammendrücken, so würde man einen brennenden Schmerz empfinden, und eine augenblicklich entstehende Frostblase würde das unvergleichliche Wärmeentziehungsvermögen dieser Substanz an Ort und Stelle besiegeln.

Gießt man auf diese schneeförmige Masse eine Flüssigkeit, die sich mit derselben nicht verbindet, und an sich eine starke Kälte ertragen kann, ohne zu gefrieren, z. B. Aether, so kann man durch die beschleunigte Verdunstung dieses Breies Kältegrade erzeugen, die noch unter hundert Grad hinausgehen, namentlich, wenn man das Gemisch unter eine Luftpumpe bringt und durch schnelles Auspumpen die Verdunstung noch beschleunigt. Dieses einfache Mittel ist in den Laboratorien sehr häufig angewendet worden, um schwer gefrierbare Flüssigkeiten (wie z. B. die oben erwähnnten Spirituosen) zum Erstarren zu bringen oder ihren Gefrierpunkt für wissenschaftliche Zwecke zu bestimmen. Wenn man in einen rothglühenden Platintiegel eine Quantität jenes Breies und schnell darauf ein bis zwei Loth Quecksilber hineinschüttet, so gefriert das Letztere, wie Faraday zeigte, inmitten einer fußhoch aus dem Tiegel emporschlagenden Aetherflamme und kann bei einiger Geschicklichkeit jedesmal als fester Klumpen, wie eine Silbermünze, auf eine bereitstehende Schale geworfen werden, woselbst es allerdings in einigen Secunden wieder schmilzt. In Parenthese mag erwähnt werden, daß die flüssige Kohlensäure in den letzten Jahren von den amerikanischen Technikern Barber und Hill als das zuverlässigste Mittel zur Löschung von Schiffsbränden empfohlen worden ist. Sie verlangen, daß jedes Schiff einige Stahlflaschen voll dieser im Großen zu mäßigen Preisen herstellbaren Flüssigkeit immer mit sich führen solle, um den Inhalt durch eine verzweigte Röhrenleitung sofort in den gefährdeten Raum spritzen zu lassen. Die dort verdampfende Kohlensäure würde nicht nur fabelhaft abkühlend wirken, sondern auch die Flammen sofort ersticken, weil sie aus dem geschlossenen Raume – um den es sich bei Schiffsbränden zunächst immer handelt – die der Flamme Nahrung spendende Luft verdrängt.

Da man mit Hülfe dieser Gemische nunmehr stärkere Kältegrade erzeugen lernte, als jemals vorher, so hat man damit Gase verflüssigen und Flüssigkeiten gefrieren lassen können, welche bis dahin allen Versuchen dieser Richtung Trotz geboten hatten. Allein mit einzelnen hartnäckigen Gasarten war dies bisher trotz alledem nicht gelungen, und bis vor etlichen Wochen mußte man immer noch die Gase eintheilen in solche, die sich bezwingen lassen, und unbezwungene (coërcible und incoërcible Gase). Erst in jüngster Zeit war es dem französischen Chemiker Cailletet gelungen, einige der ausdehnungslustigsten Gase, wie das giftige Kohlenoxyd unserer Oefen, ferner den Hauptbestandtheil der schlagenden Wetter und des Leuchtgases (Methylenwasserstoff), Stickstoffoxyd und ähnliche Gase in Fesseln zu schlagen. Das letztgenannte Gas blieb noch unter dem Drucke von zweihundertundsiebenzig Atmosphären bei acht Grad Wärme, was es war, aber auf elf Grad unter Null abgekühlt, genügte ein Druck von hundertsechsundvierzig Atmosphären, um es zu verflüssigen. Im Anfange des December 1877 bestand das Häuflein der Unbezwungenen nur noch aus den drei Gasen, welche die Hauptrolle im lebenden Körper spielen: Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff. Der Sauerstoff sollte sein Kränzlein zuerst verlieren; am 3. December übergab Herr Cailletet der Pariser Akademie ein versiegeltes Schriftpaket, in welchem, wie sich nun herausgestellt hat, die Bewältigung auch dieser letzten Spröden als, wenn nicht bereits gelungen, so doch nahe bevorstehend verkündigt wurde.

Dennoch sollte ihm ein völlig unabhängig mit demselben Problem beschäftigter Chemiker, Herr Raoul Pictet in Genf, in der wirklichen Verflüssigung des Sauerstoffes zuvorkommen. Der Letztere hatte sozusagen alle Schrauben und Hebel in Bewegung gesetzt, um dieses Ziel zu erreichen. Ein mit flüssigem Schwefeldampfe (schwefliger Säure) gefüllter Cylinder wurde beständig durch eine Luftpumpe von dem verdampfenden Gase befreit (welches, von Neuem verdichtet, dem Cylinder immer wieder zugeführt wurde), um damit eine Kälte von fünfundsechszig bis siebenzig Grad Celsius in diesem Cylinder zu erzeugen. Derselbe diente nur zur Kühlung eines zweiten inneren Cylinders, in welchem feste Kohlensäure durch eine Verdampfung unter der Luftpumpe eine Kälte von hundertundvierzig Grad Celsius erzeugte. Durch diesen Raum endlich war das starke Glasrohr gezogen, in welchem Sauerstoffgas unter einem Drucke von fünfhundertundsechszig Atmosphären hindurchströmen konnte. Am 22. December, als man dieses Experiment in den Laboratorien der Gesellschaft für die Fabrikation physikalischer Instrumente zu Genf anstellte, sah man aus dem innersten mit gefrorener Kohlensäure umgebenen Rohre einen dünnen Strahl flüssigen Sauerstoffs hervortreten, als man das unter einem Drucke von dreihundert Atmosphären befindliche, stark abgekühlte Sauerstoffgas frei ausströmen ließ. Wie die Kohlensäure in dem früher beschriebenen Versuche nur durch ihre eigene Wärmebindung den zurückbleibenden Theil zum Erstarren bringt, so verflüssigte sich auch der Sauerstoff nur erst in Folge der eigenen Ausdehnung; auch er kann sich mithin rühmen, nur durch sich selber besiegt worden zu sein.

Acht Tage später, am Sylvester des scheidenden Jahres, versammelten sich in dem Laboratorium der Pariser Normalschule die berühmtesten Chemiker Frankreichs, Berthelot, Boussingault, St. Claire-Deville, Maskart und viele Andere, um der Verflüssigung der beiden letzten Gase (Stickstoff und Wasserstoff) durch Cailletet beizuwohnen. Seine Methode beruht auf denselben Principien, aber sie geht einfacher auf ihr Ziel los. Die Gase werden mittelst einer hydraulischen Presse einem Drucke bis zu dreihundert Atmosphären ausgesetzt, dabei durch verdampfende, flüssige, schweflige Säure auf neunundzwanzig Grad unter Null abgekühlt und dann plötzlich in Freiheit gesetzt. Der Apparat wurde zuerst mit Stickstoffgas gefüllt, ein Druck von zweihundert Atmosphären ausgeübt und dann, nach vollendeter Kühlung [082] des durch den Druck erhitzten Gases der Cylinder geöffnet. Man sah eine Anzahl von Tröpfchen flüssigen Stickstoffs sich bilden. Nach diesem gelungenen Versuche kam auch das Wasserstoffgas an die Reihe, und ihm als dem dünnsten und leichtesten aller Körper wurde ein noch stärkerer Druck (zweihundertundachtzig Atmosphären) zu Theil. Es bildete beim Ausströmen einen Nebel, dessen Kälte die anwesenden Gelehrten auf dreihundert Grad schätzten.

Obwohl nun Sauerstoff und Stickstoff, jeder für sich in eine Flüssigkeit verwandelt worden waren, blieb es doch nicht ohne Interesse, in einem dritten Experimente auch ihre Mischung, die atmosphärische Luft, zu einer Flüssigkeit zu verdichten. Vorher sorgsam getrocknet und von Kohlensäure befreit, entströmte sie dem Apparate als ein dünner Flüssigkeitsstrahl, vergleichbar demjenigen der mit Parfüms gefüllten Refraicheure. Der Traum der alten griechischen Philosophen von der Verwandlung des einen ihrer Elemente in das andere, die Verdichtung der Luft zu einer wasserähnlichen Flüssigkeit war hiermit erfüllt, freilich in anderer Weise, als sie es gemeint haben.

Es ließ sich erwarten, daß man bei den denkwürdigen Erfolgen des December 1877 sich nicht beruhigen würde. Schon am 11. Januar 1878 konnte Pictet an den berühmten Chemiker Dumas in Paris telegraphisch melden, daß er jenen dünnsten aller Stoffe, welchen Dumas trotz dessen seiner chemischen Eigenschaften halber vor vierzig Jahren ein gasförmiges Metall genannt hatte, daß er das einem Drucke von sechshundertundfünfzig Atmosphären ausgesetzte Wasserstoffgas als stahlblaue Flüssigkeit seinem Apparate entströmen gesehen habe. Ja dem Flüssigkeitsstrahle folgte ein Hagel fester Stücke, und die Gegenwart ähnlicher fester Körperchen ermittelte Pictet auch in einem mit elektrischem Lichte beleuchteten Strahle flüssigen Sauerstoffs, indem er ihn durch eine besondere optische Vorrichtung genau betrachtete. So ist also bald nach dem ersten Anlauf, mit der unsere Zeit charakterisirenden Schnelligkeit, das letzte Ziel auf diesem Wege erreicht worden, die Verdichtung der Luftarten zu festen Massen, mit denen Immermann’s Münchhausen einst „Luftschlösser“ bauen wollte.

Carus Sterne.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Temepratur