Die Bekämpfung der Fettleibigkeit

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Autor: Paul Fürbringer
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Titel: Die Bekämpfung der Fettleibigkeit
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 460, 462–463
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Bekämpfung der Fettleibigkeit.

Von Prof. Paul Fürbringer in Berlin.

Nur wenige Heilmethoden, galten sie nur annähernd häufigen und wichtigen Krankheitsformen, haben sich eingeführt oder sind zu Grabe getragen worden, ohne im Publikum Erregung hervorzurufen. Der Reiz und die Macht der Neuheit ist es im Verein mit den durch die Erfahrung festgelegten Mängeln der früheren Methoden, die selbstverständlich jeder neuen noch abgehen, was die Gemüter in erster Instanz erregt und – seien wir offen – auch die Mehrzahl der Aerzte von heutzutage mit sich fortreißt. Allein nur selten pflegt unsere schnelllebige, kritikvolle Zeit lange das wahre Resultat uns vorzuenthalten. Gar bald hat die Massenarbeit, der Bienenfleiß entschieden, ob uns wirkliche Segnungen zu teil geworden oder eine neue schmerzliche Enttäuschung beschieden gewesen, die uns schnell auf den Rückweg zur bewährteren alten Methode geleitet. Oder es kommt ein Kompromiß zustande: die Vorzüge des neuen Verfahrens verquicken sich mit jenen des früheren zu höherer Vollkommenheit.

Solche Erwägungen treffen so recht für die neueste Gestaltung des Kampfes gegen die Fettleibigkeit zu. In das festgefügte Bollwerk des bisherigen diätetisch-hygieinischen Kurverfahrens ist – fast über Nacht – eine vordem unbekannte Macht eingebrochen, die Schilddrüsenfütterung, und sie hat die Frage nach der Art der Wandlung der Entfettungskuren aktuell gemacht. Noch kennt niemand die Antwort, obwohl es bereits an Parteiungen in ärztlichen wie in Laienkreisen nicht fehlt, welche durch mehr oder weniger bestimmte Stellungnahme das Ziel weit hinter sich gelassen haben.

Unter solchen Umständen wird es vielleicht willkommen sein, wenn eine unbefangene Erörterung des heutigen Standes der einschlägigen Lehre darlegt, in welchem Stadium die Lösung der beregten Frage sich augenblicklich befindet. Gern entspreche ich deshalb der Aufforderung der Redaktion der „Gartenlaube“, das Thema in gemeinverständlicher Form ihren Lesern vorzuführen. Ich vermag das nicht, ohne in gedrängter Darlegung dessen zu gedenken, was ärztliche Erfahrung bis zur Proklamation der neuen Kur auf unserm Gebiete als wahre Errungenschaft gezeitigt hat.

Vorher noch eine kurze Begriffsbestimmung unserer Krankheit. Man sollte es bei der sich jedem Auge aufdrängenden Signatur der Fettleibigkeit nicht glauben, wie wenig hier das Urteil des Publikums dem ärztlichen oft entspricht. Wir haben ungezählte kraftvolle, muskelstarke Klienten beraten, die sich dem Schicksal, das ihnen eine beneidenswerte Harmonie der Körperformen ohne Gesundheitsstörung verliehen, wenig dankbar erwiesen und – meist beeinflußt durch unzweckmäßige Lektüre – der hypochondrischen Wahnidee, an Fettsucht zu leiden, zum Opfer gefallen waren. Nicht selten trug auch eine uns unerklärliche Eitelkeit die Schuld. Den Gegensatz bildeten in starker Minderzahl solche wirklich Fettleibige, welche die Störungen ihres Wohlbefindens auf alles andere, nur nicht auf ihre krankhafte Korpulenz bezogen. Der ärztliche Standpunkt erkennt nur die abnorme, die krankhafte Fettanbildung im Körper als „Fettleibigkeit“ an, unbekümmert um Rücksichten des individuellen „ästhetischen“ Geschmacks. Es muß also das dauernde Mißverhältnis zwischen Fettverbrauch und Fettproduktion bereits zu Gesundheitsstörungen geführt haben. Selbstverständlich sind hier die Grenzen, auch für den Arzt, nicht immer leicht zu ziehen und um so schwerer, je weniger scharf sich der Begriff der Krankheit von jenem des physiologischen Verhaltens abtrennen läßt. Besondere Berücksichtigung verdienen unseres Erachtens endlich jene wirklich leidenden Patienten, welche ihre Beschwerden mit Unrecht auf ihren guten Ernährungszustand beziehen, während der Arzt ganz andere Quellen ausfindig macht. So haben wir bei Dutzenden, welche ungebührlich lange Zeit als lediglich fettkrank galten, als wahre Ursachen der Krankheitssymptome, zum Teil gegen eigenes ursprüngliches Erwarten, schwere Zuckerkrankheit, Brightsche Nierenentartung, Herzklappenfehler, umfängliche Geschwulstbildungen an inneren Organen u. dergl. feststellen können. In solchen Fällen hört Grübeln über Fettleibigkeit auf, auch dann, wenn ein gewisser ursächlicher Zusammenhang derselben mit dem Grundleiden sich nicht ableugnen läßt. Und nun zur Sache, zur rationellen Behandlung der wahren Fettleibigkeit, wie sie ärztliches Mühen bis zur Neuzeit als fast klassische Methode geschaffen und anerkannt hat! Sie ist, wie schon erwähnt, keine medikamentöse, sondern eine diätetische und hygieinische; sie entspricht vorwiegend, wie der ärztliche Sprachgebrauch sich ausdrückt, der ursächlichen Anzeige, d. h. dem durch die Ursachen der Krankheit bestimmten Heilplan. Schon dieser Umstand sichert ihren rationellen Charakter.

Obenan steht selbstverständlich, da die vornehmste Ursache in einer im Verhältnis zum Verbrauch zu reichlichen Einnahme von Nährmitteln gegeben ist, die Beschränkung der Nahrungszufuhr. Aufgabe des Arztes ist es, diese Einschränkung so einzurichten, daß sein Patient dabei eine lästige oder gar bedenkliche Schwächung nicht erfährt und auch keine allzugroßen Qualen aus Anlaß der Nichtstillung seines Appetits erduldet. Hier vereitelt oft genug die menschliche Schwäche die ärztlichen Bemühungen. Die unbezähmbare Gewalt der Verführung, welche die Lockungen der Tafel ausüben, schlägt einen beängstigend großen Prozentsatz der Menschen in ihren Bann und bereitet ihnen ein vorzeitiges, oft genug qualvolles Ende. So war es seit langen Zeiten, so wird es sein und in Zukunft bleiben. „Ich kann mich nicht beherrschen.“ Wie oft ist dieses Geständnis an unser Ohr geschlagen. Mit dieser unbändigen, selbst durch die schlimmsten Erfahrungen nicht zu beschwichtigenden Leidenschaft vermochte unser großer Goethe vor mehr als hundert Jahren nur den „unwiderstehlichen Reiz zum politischen Diskurs“ zu vergleichen. Fast noch schlimmer steht es mit denen, welche den Arzt aus Unkenntnis oder geflissentlich über ihre Haltung zu Speise und Trank täuschen. Unvergeßlich ist mir eine Konsultation, in welcher eine weither zugereiste kolossale Dame auf meine Frage, ob sie zu den starken Esserinnen zähle, treuherzig „Wie ein Vögelchen!“ antwortete, während der Ehegatte mir ins andere Ohr ein überzeugungstreues „Herr Doktor, sie – frißt!“ leise zuraunte. Die hochnotpeinliche Untersuchung ergab, daß die Patientin zwar nicht mit Bewußtsein gelogen, ihr Mann aber unzweifelhaft die Wahrheit gesagt hatte. In einem anderen, eine Dame betreffenden Falle wurden beim Herzählen der Bestandteile der alltäglichen Kost reichlich drei Viertel des wahren Wertes unterschlagen, diesmal nicht mit gutem Gewissen.

Es giebt aber in der That, und ich will es gleich hier anfügen, nicht wenige Fettleibige im Sinne unserer Definition, welche wirklich wenig, recht wenig essen, welche sich auch in Hinsicht der Wahl der Speisen mit rührender Gewissenhaftigkeit an die gleich zu erörternden Vorschriften halten und trotzdem weder ihr Fett noch ihre Beschwerden loswerden. Man kann hier geradezu von einer richtigen, oft genug ererbten „Fettsucht“ sprechen. Solch bedauernswerte, nicht selten schon in der Jugend als Riesenkinder imponierende Individuen sind – Verzeihung für den Vergleich! – die Möpse unter den Menschen im Gegensatz zu den Windhunden, welche durch keine Steigerung oder „rationelle“ Gestaltung ihrer Diät ihre trotz sonstiger Gesundheit hochgradige Magerkeit zu bekämpfen vermögen. Also Rasseneigentümlichkeit, an deren brutaler Herrschaft auch die ärztliche Kunst zu Schanden wird.

Nicht so vollkommen einig, wie über die schon durch schlichte Logik geforderte Notwendigkeit der Herabsetzung der Menge der Nahrung, sind die medizinischen Sachverständigen über das Erfordernis bestimmter Veränderungen in der Zusammensetzung der Speisen, obwohl die Physiologen, insbesondere Prof. Voit, gerade hier mit ihren Forschungen höchst wertvolle Grundlagen geschaffen haben. Wir wissen, daß von den fünf auf die Dauer unentbehrlichen Nährstoffen Eiweiß, Fett, Kohlehydraten, d. i. Stärke und Zucker, Salzen, Wasser die drei erstgenannten die Quellen des in unserem Körper abgelagerten Fettes sind. Besonders verfemt sind in dieser Beziehung die Kohlehydrate, weil sie die eigentümliche Rolle spielen, das aus der Nahrung gebildete Fett vor weiterem Zerfall zu schützen. Stärke und Zucker konservieren also das Fett in unserem Körper. Daher das heutzutage so allgemeine ärztliche Verbot größerer Mengen süßer oder mehlreicher Speisen und die oft schlimmen Folgen einer unseligerweise auf Brot, Kartoffeln, insbesondere aber Kuchen und süße Mehlspeisen gerichteten Leidenschaft. Hier fällt mir u. a. eine überaus stattliche Persönlichkeit, leider abermals eine [462] Dame[1], ein, welche als Nachbarin an der wohlbesetzten Tafel einer süditalienischen Villeggiatur mit schlecht angebrachter Enthaltsamkeit auf die Fleischgänge verzichtete, um stets mit kaum geschwächtem und sicher nicht schlechtem Appetit sich an den süßen Nachspeisen schadlos zu halten. Ihr Umfang wuchs und wuchs trotz redlicher Bemühung, ihm durch Spaziergänge zu steuern, bis eine mitleidsvolle Bemerkung ihr das Unbegreifliche aufklärte.

Also thunlichste Einschränkung von Zucker und Stärke, wohingegen relativ große Eiweißmengen der Entfettung keinen besonderen Abbruch thun! Darin stimmen so ziemlich alle Autoren überein. Anders die Ansichten über die Frage nach der Zulässigkeit des Fettes selbst in der Nahrung. Während die zu entschiedener Berühmtheit gelangte und fraglos recht wirksame Bantingkur das Fett als Nahrungsbestandteil noch in höherem Grade als die Kohlehydrate verbietet, ein Regime, das bis in die neueste Zeit bewährte Spezialisten, u. a. die Prof. Oertel und Kisch, vertreten, will die neuere Ebsteinsche Methode von der Entziehung des Fettes nicht viel wissen. Im Gegenteil! Und so weit ich aus eigener Anschauung die praktischen Resultate übersehe, kann man in der That in Bezug auf Butter, Milch und fette Saucen etwas liberaler als Banting sein, ohne – ganz im allgemeinen – eine wesentliche Einbuße in der Wirkung zu riskieren. Nicht wenige mit trefflichem Appetit ausgestattete Opfer unsrer Krankheit werden die Möglichkeit, ihren Hunger durch fettreichere Nahrung besser stillen zu dürfen, mit innigem Dank begrüßen.

Aber auch die Eiweißzufuhr darf nicht über ein gewisses Maß gesteigert werden. Wir legen auf diese leider nicht immer mit dem genügenden Nachdruck betonte Warnung ein großes Gewicht! Das beliebte „Essen Sie Fleisch und Eier, so viel Sie wollen“ kann Böses stiften und hat bei Völlern schon viel Unheil angerichtet. Ein Kollege, der Fett, Stärke und Zucker für einige Monate so gut wie ganz gemieden, aber unglaubliche Mengen Fleisches vertilgte, ging, obzwar er sonst nach keiner Richtung hin gegen die ärztlichen Vorschriften verstieß, aus der „Kur“ wesentlich – wohlbeleibter hervor. Auch weiß ich von einer Anzahl eigener Klienten, welche wahrhaft erschreckend üppige Berliner Diners bei möglichster Enthaltsamkeit von Mehligem, Süßem und Fettem ungestraft mitmachen zu können geglaubt, daß sie am Ende der Wintercampagne verschiedene Kilos ihrem Fettpolster zugelegt hatten.

Ganz kurz kann ich mich über die Rolle fassen, welche die Getränke als Bestandteile der Entfettungskuren spielen. Die berüchtigten Schmeerbäuche der Restaurateure, Brauer, der treuesten Teilnehmer an studentischen Gelagen und landesüblichen Biertischen erweisen genugsam den bedenklichen Einfluß, welchen der Alkohol als Förderer der Korpulenz übt. Beim Bier mag immerhin der Gehalt von Kohlehydraten, vielleicht auch die Menge der Flüssigkeit außerdem Eigenwirkungen ausprägen. Verlangt doch das Oertelsche und Schweningersche System eine bedeutende Einschränkung der Flüssigkeitsmenge als solcher, zumal während der Mahlzeiten. Es fehlt freilich anderseits nicht an gewichtigen Stimmen, welche gegen die Wasserentziehungskuren bei Fettleibigen Bedenken haben, ja sogar reichlichem Genuß alkoholfreier Getränke das Wort reden. Hier liegen noch ungelöste Widersprüche; denn beide Parteien verfügen über ihre Erfolge. Unter allen Umständen erscheint uns aber der wohlbegründete Ausspruch von Prof. Immermann beherzigenswert, daß eine Durstkur schließlich auf das Gleiche wie eine schwächende Hungerkur hinauskommt.

Ich vermag das Kapitel der diätetischen Behandlung der krankhaften Korpulenz nicht zu schließen, ohne der mitunter maßlosen Uebertreibungen in der ärztlichen Verordnung zu gedenken. Sie haben nicht selten Schlimmeres im Gefolge als die Excesse der Kranken selbst. Wer sich der nötigen Mäßigung im Essen und Trinken überhaupt befleißigt, fährt bei kleinen Uebertretnngen auch in Bezug auf das „absolut Verbotene“ besser als der Völler im Erlaubten. Durch wachsende Erfahrung belehrt, haben wir immer mehr die rigorös einseitigen und reichliche Abwechslung ausschließenden Speiseregulative fürchten und meiden gelernt, wahrlich nicht zum Schaden der von uns Beratenen.

Eine kaum minder wichtige Stellung als die Diätetik nimmt unter den entfettenden Maßnahmen die körperliche Bewegung, d. i. die Muskelarbeit, ein. Daß sie in hohem Maße geeignet ist, Fett zu zersetzen, zu zerstören, darf nicht mehr als zweifelhaft gelten. Auch hier erfüllen wir eine „ursächliche Anzeige“. Drastisch genug wird sie illustriert durch das zweifelhafte Glück, das Mutter Natur zahlreichen Gelähmten und Herzkranken nach vorangegangener Magerkeit durch Gewährung der vordem so schmerzlich ersehnten Leibesfülle spendet. Wer von den Körpergewichtsverlustzahlen Kenntnis nimmt, welche Märsche, kraftvolle gewerbliche Hantierungen, Turnübungen, Reiten, Rudern zu liefern vermögen, der neueren Sporte des Bergsteigens und Radfahrens nicht zu vergessen, versteht es ohne weiteres, daß das „Oerteln“ und „Schweningern“ auf den Faktor der Muskelarbeit besonderen Wert legt. Schon die rastlose Ausübung eines „anstrengenden“ Berufs vermag Erkleckliches zu leisten. Ich kenne Kollegen, deren vorwiegend in den höheren Stockwerken der Berliner Häuser bethätigte Praxis an sich beträchtliche Entfettungswerte alljährlich zu Wege bringt, die leider im Seebade wieder größtenteils kompensiert werden. Ein bekannter Berliner Tanzlehrer verliert jedesmal in der Arbeitssaison 131/2 Kilogramm, welche die Sommerruhe wieder getreulich einbringt. Daß an den mitunter enormen Verlusten an Körpergewicht, welche namentlich der Alpen- und Radfahrsport zu Wege bringt, die Schweißabsonderung wesentlichen Anteil hat, darf nicht geleugnet werden. Aber lediglich um Entwässerungsmethoden, wie sie beispielsweise die noch vielfach gegen unser Leiden empfohlenen Dampfbäder und ähnliche Prozeduren darstellen, handelt es sich hier nimmermehr.

Endlich noch ein Wort über die Bedeutung der Badekuren bei Fettleibigkeit. Daß nicht wenige Kurorte, obenan Marienbad und Karlsbad, glänzende Erfolge aufweisen, selbst da, wo daheim kein Mittel angeschlagen – wer wollte es leugnen? Aber die im Publikum noch immer festgewurzelte Anschauung, daß eigenartige, „specifische“ Wirkungen den chemischen Bestandteilen der Quellen zukommen, trifft, was die Fettleibigkeit anlangt, nicht zu. Denkende und vorurteilsfreie Badeärzte räumen es selbst offen ein, daß die mitunter erstaunlichen Resultate eine Folge mannigfacher Angriffe darstellen, welche vereint auf den Fettreichtum des Körpers einwirken. Fettverminderung durch eine geeignete Diät im Sinne unsrer vorstehenden Erörterungen, durch Muskelarbeit („Terrainkuren“), durch Steigerung der Wasserausscheidung durch Darm und Nieren („alkalisch-salinische“ bezw. Glaubersalzquellen) und manches andere kommt da in Betracht. Ob daneben noch ein gewisses unbekanntes Etwas, an dessen Existenz noch hier und da zäh festgehalten wird, eine Rolle spielt, wird sich voraussichtlich im Laufe der nächsten Jahrzehnte weder beweisen noch widerlegen lassen.

Gegenüber den im Vorstehenden erörterten verhältnismäßig festgefügten Systemen hat zu keiner Zeit eine medizinische Behandlung im engeren Sinne des Worts, das ist eine medikamentöse Therapie der Fettleibigkeit, festen Fuß gefaßt. Selbst die mit gewissen rationellen Grundlagen ausgestatteten Jod- und Pilokarpinkuren – bei letzteren wird durch Einspritzung des Arzneikörpers unter die Haut eine lebhafte Entwässerung des Körpers auf dem Wege der Schweißabsonderung und des Speichelflusses erzielt – sind im wesentlichen verlassen worden. Waren doch beide Medikamente Gifte, deren alltägliche Einverleibung der Organismus unmöglich für lange Zeit ohne Schaden ertragen konnte.

So blieb die nimmer ruhende Sehnsucht der Träger unseres Leidens nach einem Mittel, das nach Art eines relativ unschädlichen Medikamentes die Entfettung besorgte, ohne die lästigen Beigaben besonderer Diätbeschränkung, körperlicher Anstrengung und teurer Badereisen, unbefriedigt – bis die „neue Aera“ der Schilddrüsenfütterung anbrach.

Bei der weitgehenden Erregung der Gemüter über die Entdeckung, welcher gediegenste wissenschaftliche Grundlagen nicht abzusprechen sind, lohnt es sich wohl, mit einigen Worten der auf ein kurzes aber kraftvolles Leben zurückblickenden Entwicklung der Lehre zu gedenken. Gilt sie doch mit Recht als das wichtigste Glied in der Reihe der modernen sogenannten Gewebsfastkuren, bezw. der mit Organextrakten geübten Heilmethoden.[2]

[463] Den Ausgang bildete eine eigentümliche, in unserem deutschen Vaterlande verhältnismäßig seltene Krankheit, das „Myxoedem“, ein schleichendes Siechtum, dessen Opfer vor allem durch zwei Erscheinungen auffallen: eine, zwar nicht wie der Name besagt, schleimigwässrige, sondern vielmehr an derben Speck erinnernde Verdickung und Schwellung der Haut des Körpers, zumal des Gesichts, und bis zur Stupidität, ja selbst zum Kretinismus gesteigerte geistige Stumpfheit. Von besonderem Interesse ist nun die Thatsache, daß dieses Leiden durch eine intensive Erkrankung der Schilddrüse, der „Thyreoidea“, veranlaßt ist, also jener Drüse, welche vor dem Kehlkopf und der oberen Luftröhre lagert und deren krankhafte Vergrößerung den „Kropf“ bildet. Regelmäßig zeigt sich nun bei den Myxoedemkranken die Schilddrüse verkleinert bis geschwunden, und es ist wohl keinem Zweifel unterlegen, daß sie entgegen früheren Anschauungen ein für den Haushalt unseres Organismus notwendiges wertvolles Organ darstellt. Wie wir uns ihre Funktionen zu denken haben, soll uns als ungemein schwierige Frage, welche die verschiedensten Beantwortungen gefunden, nicht weiter beschäftigen. Genug, der Ausfall ihrer Funktionen bedingt die Krankheitserscheinungen des Myxoedems und es beansprucht der Umstand wohl das ungeteilte Interesse der Fachleute wie gebildeten Laien, daß beim Menschen nach operativer Entfernung der Schilddrüse eine dem Myxoedem relativ vollständig entsprechende Krankheit sich entwickelt. Bei dieser befruchtenden, durch die Chirurgen, insbesondere Professor Kocher, vor etwa einem Jahrzehnt gemachten Entdeckung der Uebereinstimmung des operativen Entkropfungssiechtums mit dem selbst entstandenen Myxoedem setzen die grundlegenden Untersuchungen der Schilddrüsenbehandlung des Myxoedems ein. Physiologen, Kliniker und Aerzte wetteiferten in gleich zahlreichen wie belangvollen, die letzten sechs Jahre unserer Litteratur füllenden Bestrebungen,beide Krankheiten bei Mensch und Tier durch die künstliche Zuführung gesunder Schilddrüsen oder ihrer wirksamen Bestandteile zu beeinflussen. Und siehe da, es gelang! Die Tiere, welche man ihrer Schilddrüse beraubte, erkrankten nicht, wenn man die Schilddrüse anderer Tiere in ihre Bauchhöhle einbrachte, und zahlreiche Myxoedemkranke wurden wesentlich gebessert, ja geheilt durch Füttern mit Schaf- und Kalbsschilddrüsen oder Einspritzung von Extrakten derselben unter die Haut, resp. Darreichung trockener Auszugsformen. Ein berauschender Triumph brach aus, zumal in England, dem Lande des Myxoedems, das jetzt sein „new and wonderful remedy“, sein „neues, wunderbares Heilmittel“, hatte. Fehlte es auch nicht an Mißerfolgen, schien sich auch hier dem aufmerksamen Späher nach unliebsamen Nebenwirkungen der hinkende Bote in die glänzende Versammlung der Lobpreiser drängen zu wollen – die Thatsache, daß die Einverleibung der Schilddrüse geeignet ist, mit Erfolg die körperliche und geistige Schwäche der Myxoedematösen und nicht minder die plumpe Anschwellung des Körpers und sonstige Krankheitssymptome unter namhaftem Gewichtsverlust zu bekämpfen, ist eine unleugbare Thatsache.

Was lag näher als der Gedanke, es könne unsere „abmagernde“ Schilddrüse vielleicht auch imstande sein, gleich der eigentümlichen fettähnlichen, die Haut der Myxoedemkranken durchsetzenden Substanz, das wahre Fett der Fettleibigen zum Schwund zu bringen. Dem Gedanken, der freilich nicht mit der Wahrscheinlichkeit rechnete, daß die Fettleibigkeit nichts mit der Schilddrüse zu thun hat, folgte der Versuch, dem Versuche der Erfolg auf dem Fuße. Amerikanische Aerzte berichteten zuerst vor drei Jahren über stattliche Gewichtsverluste. Besonderes Aufsehen in Deutschland veranlaßte dann ein Jahr später Professor Leichtenstern durch die Veröffentlichung seiner Resultate an 27 Fettleibigen. Nicht weniger als 24, also nahezu 90 Prozent, erfuhren eine Entfettung, welche während einer mehrwöchigen Kur bis zu 9,5 Kilo, in der Woche bis zu 5 Kilo betrug! Dabei ging der eine Teilerscheinung der Thyreoidwirkung darstellende Gewichtsverlust ohne „entfernt beängstigende“ Zustände vor sich. Das Ideal aller Entfettungskuren, d. i. die Abmagerung des Körpers ohne Angriff auf seinen Eiweißbestand, schien insofern erreicht, als die Erfolge sich im wesentlichen durch Entziehung von Fett und Wasser – die harntreibende bis zu 6 Litern Tagesquantum liefernde Eigenschaft der Schilddrüse war durch eine Reihe von Forschern festgestellt – erklärten. Mit diesem Nachweis großartiger Erfolge einer zielbewußten Heilmethode bei einer unserer häufigsten und wichtigsten Krankheiten hatte sich die Schilddrüsenbehandlung zu einem der bedeutsamsten Ereignisse auf medizinischem Gebiet gestaltet. Noch in frischem Gedächtnisse stehen mir die überschwenglichen Aeußerungen zahlreicher Klienten in meinem Sprechzimmer, welche mit unentwegter Ueberzeugung allen „früheren“ Entfettungsmethoden nach berühmten Mustern den schleunigen Untergang weissagten.

So weit sind wir nun aber noch nicht gekommen. Es hat sich manches geändert. So fand man – und meine eigenen Beobachtungen führten zu gleichen Resultaten – daß die renitenten Fälle gar nicht spärlich gesät waren, ja, daß so mancher Patient enttäuscht aus der Kur ging, um einige Pfunde – schwerer. Gewiß erklärt sich ein Teil solcher Mißerfolge aus den Extravaganzen in Speise und Trank, welche die Hilfsbedürftigen sich nunmehr gestatten zu können glaubten. Allein ich habe eine wenn auch nicht belangvolle Gewichtszunahme auch bei solchen feststellen können, die sicher bei ihrer gewohnten mäßigen Kost geblieben waren. Also jedenfalls kein sichtlicher Erfolg. Auch scheint mir, daß man bereits in der Aufstellung bestimmter Kategorien geeigneter Fälle zu weit gegangen. Einstweilen habe ich ebensowenig wie Professor Ewald finden können, daß gerade die wahren Fettsüchtigen im Sinne unserer Definition, die also ihr Konstitutionsfett sich keineswegs durch unzweckmäßige Nahrung angemästet haben, oder blutarme Fettleibige oder gar solche mit Schilddrüsenaffektionen besonders auf die Kur mit Abmagerung geantwortet hätten.

Auch die Hoffnung, daß die Schilddrüsenbehandlung den Eiweißbestand unseres Körpers unversehrt lasse, haben spätere Versuchsansteller nicht bestätigen können. Wenigstens lernte man Fälle mit erheblichen Stoffwechselschwankungen kennen, bei denen die durch das Mittel mächtig angeregten Verbrennungsprozesse sich auch am Eiweiß vergriffen. Also eine Steigerung des Gesamtstoffwechsels! Prof. von Noorden vergleicht die Thyreoidinwirkung bei Fettleibigen mit derjenigen eines Blasebalges, welcher ein vordem langsam glimmendes Feuer zur mächtigen Flamme anfacht.

Weiter hat die Beobachtung eine ganze Reihe von Nebenwirkungen kennen gelehrt, welche freilich – ich glaube das voranschicken zu sollen – in ihren besonders unangenehmen und bedenklichen Formen als Folgen des vom Arzte unkontrollierten Excesses gelten müssen, meinem Dafürhalten nach also im wesentlichen vermeidbar sind. Die häufigsten Klagen mir gegenüber bezogen sich auf leicht bis arg belästigende Symptome der reizbaren Schwäche des Nervensystems in der Form von allgemeinen mit verschieden lokalisierten ziehenden schmerzhaften Empfindungen einhergehender Zerschlagenheit des Körpers, Schwindel, Zittern, Schlaflosigkeit und Herzbeschwerden, insbesondere von Herzklopfen, Herzangst, jagendem oder aussetzendem Puls. Meist betrafen solche Beschwerden, über die so gut wie alle erfahrenen Beobachter berichten, Nervöse und Herzleidende; allein sie haben auch nicht bei Nerven- und Herzgesunden gefehlt. Hierzu kommt die von verschiedenen Autoren festgestellte gelegentliche, auf Störungen des Stoffhaushaltes deutende Ausscheidung von Eiweiß und Zucker mit dem Nierensekret. Alle diese Nebenerscheinungen pflegen mit dem allerdings oft genug dringend gebotenen Aussetzen der Kur verhältnismäßig schnell zu schwinden. Es begreift sich, daß die Gefahr bedenklicher Nebenwirkungen dem Publikum um so näher gerückt wird, je willfähriger sich die Apotheken und Droguenhandlungen einem Entfettungssport auf dem Wege des Handverkaufs der Schilddrüsenpräparate erweisen. Wer es an seinen eigenen Patienten erlebt, wie es vom „wilden“ Thyreoidingebrauch zum Mißbrauch nur ein kurzer Schritt ist, wird es auch verständlich finden, wenn Prof. Eulenburg seine warnende Stimme vor dem freien Vertrieb der Präparate erhebt und mit Nachdruck fordert, daß sie nicht anders als auf ärztliche Verordnung abgegeben werden. Es verfängt dabei nichts, ob die geschilderten Erscheinungen als mittelbar den durch die Medikation bedingten Stoffwechselstörungen entspringen oder direkte Folgen einer Vergiftung darstellen, und des Ferneren nichts, daß ein Teil der Beschwerden ihren Ursprung einer schlechten Beschaffenheit der Präparate verdankt, ein anderer als Giftwirkung der reinen Substanz, also, um einen nach Analogie des „Morphinismus“ gebildeten, besonders in England beliebten Ausdruck zu wählen, als „Thyreoidismus“ zu gelten hat. In letzterer Beziehung kann von einer scharfen, sicheren Abgrenzung der Symptome noch nicht gut die Rede sein. Daß Ekel, Erbrechen, Magenschmerz, Verdauungsstörungen, Krankheitsgefühl eine Wirkung giftiger Beimengungen, insbesondere zersetzter Eiweißkörper, sogenannter „Ptomaïne“, also eine Art fauliger Blutvergiftung, sein können, erweist das Ausbleiben dieser Erscheinungen da, wo an Stelle etwas zweifelhaft schmeckender oder riechender


  1. Die Liebenswürdigkeit der Leserinnen wird mich vor dem Argwohn bewahren, als bezweckte ich Angriffe auf das schöne Geschlecht. Allerdings steuern die Frauen zur großen Schar der Fettleibigen das weitaus überwiegende Kontingent bei. Ein Spaziergang in Marienbad, an den Badeanstalten der Ost- und Nordsee oder des Lidos erweist das sofort. Und trotzdem liegt die Schuld mehr bei den männlichen Kolossen als den weiblichen. Zur Ehrenrettung der Damen hat es bereits Prof. Immermann ausgesprochen, daß der natürliche Scharfsinn des Publikums selten irre geht, wenn es dem fettleibigen Mann ohne weiteres den Ruf eines unmäßigen Lebenswandels anheftet, beim korpulenten Weib mehr an die individuelle Anlage zur Krankheit glaubt. D. Verf.     
  2. Vergl. „Gartenlaube“, Jahrg. 1894, S. 654.