Die Deutschen in Böhmen

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Autor: Ein Deutsch-Oesterreicher
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Titel: Die Deutschen in Böhmen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 51, S. 834–838
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[834]
Die Deutschen in Böhmen.
Von einem Deutsch-Oesterreicher.


Der böhmische Besitztitel ist wieder einmal streitig geworden. Die Czechen reclamiren ihn, indem sie ihren Anspruch gewohntermaßen nicht damit begründen, daß sie sich seiner werth zu machen suchen, sondern damit, daß sie die dritthalb Millionen Deutschen in Böhmen und Mähren in Heloten des Slaventhums zu verwandeln trachten. In Wien sitzt augenblicklich ein Ministerium, welches für Deutsche und Deutschthum keine Theilnahme und keine Pietät hegt; nur deshalb kann der Unterdrückungsproceß in Böhmen so unheimlich rasch von Statten gehen; dauert derselbe in begonnenem Maße fort, so würde allerdings bald in Schule und Werkstatt, in Amt und Kaufladen die deutsche Sprache geächtet und verfehmt sein.

Rings umher, über dem Böhmerwald, über dem Erz- und Riesengebirge, leuchtet der Glanz und die Größe des neuen Deutschland, des lange ersehnten und endlich erstandenen jungen deutschen Reiches, aber einen Büchsenschuß von seiner Grenze legt ungestraft der Czeche dem Deutschen seine Faust auf den Nacken, um ihm zu zeigen, daß es ein Gebiet der Wenzelskrone giebt, wo brutale Vergewaltigung ungestraft dem deutschen Geiste Hohn sprechen darf. Die Czechen halten sich für berechtigt, auf deutschem Boden über Deutsche zu herrschen, und glauben daran mit einem Fanatismus, der nur aus geschichtlicher Unbildung herausquellen kann, und eben deshalb kennen sie keine Rücksicht. Der Deutsche in Böhmen aber ist das Opfer dieser fanatischen Nationalrohheit. Zu treu, um anderswo als in Wien sein Heil zu suchen, zu stolz, um von seinem Deutschthum auch nur ein Atom preiszugeben, steht er ausdauernd auf seinem Posten, der mehr als ein Vorposten des Deutschthums, der eine Burg des Deutschthums ist. Er könnte aller Schläge und Schleudern ledig werden, wenn er sich nach dem Beispiele der magyarisirten Deutschen zechisiren wollte, aber er wartet und [835] gewiß nicht vergebens, bis wieder einmal von einer politischen Wendung ein Druck ausgeht, vor dem alle czechischen Gewaltsamkeiten weichen. Man ist nirgends ein wehrloser und ungeschirmter Deutscher, so lange noch ein Reich besteht, welches durch den deutschen Geist groß und mächtig geworden ist.

Es giebt eine wunderhübsche Geschichte, in welcher erzählt wird, wie die Nationalitäten Oesterreichs zum lieben Gott pilgerten, um ihm ihre Wünsche vorzutragen. Die Deutschen, die Ungarn, die Italiener waren abgefertigt; da kamen nächst den Czechen die Slovaken an die Reihe.

„Und was wollt Ihr?“ fragte Gott die Slovaken.

„Allmächtiger,“ erwiderten sie, „wir möchten auch einen Goethe haben.“

Da lächelte der Vater der Welt.

„Der ist vergeben,“ lautete seine mitleidige Antwort.

Jawohl, der ist vergeben. Gewalt, Druck und Unbill können die Czechen mitsammt den Slovaken gegen die Deutschen üben, wo diese sich in der Minderheit befinden. Aber die Stelle in der Cultur und Geschichte, die Verdienste um Bildung und Gesittung, welche die Deutschen sich erworben, sind ihnen nicht mehr zu entreißen. Der Goethe ist vergeben. Als der Knabe Themistocles, weil er begeistert von dem Ruhme der Athener sprach, von dem Spartaner Ephialles mit Stockschlägen bedroht wurde, stand er stille und rief: „Schlag’ zu, aber höre!“ Und Themistocles behielt Recht.

So sollen denn auch diese Zeilen nicht etwa ein Hülfs- und Nothschrei sein, um für die gemißhandelten Deutschen in Böhmen Succurs herbeizurufen. Unsere böhmischen Brüder werden Recht behalten wie Themistocles. Nur sozusagen eine Revision der Acten soll hier vorgenommen und der czechische Anspruch auf die Alleinherrschaft in Böhmen gegen den deutschen Anspruch auf Unabhängigkeit und ungestörte Entwickelung abgewogen werden. Ob ohne Zorn und Voreingenommenheit? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wer möchte sich ganz in der Hand behalten, wenn er als Deutscher von gefährdetem und gepeinigtem Deutschthum spricht? Aber jedenfalls mit jener Sachlichkeit, welche ein deutsches Erbe ist, wie trotz Herrn Ladislaus Rieger der Stephans-Thurm in Wien ein deutsches Werk und deutsches Erbe ist. Und so sei denn auch äußerlich das Für und Wider geschieden und sichtbar gemacht wie Behauptung und Einspruch der Parteien vor Gericht.

Worauf ist der deutsche Anspruch begründet?

Als die deutschen Markomannen von der Sturmfluth der Völkerwanderung aus Böhmen hinweggespült waren, ergossen sich von den Karpathen her die slavischen Czechen über das Land. Doch sie blieben nicht lange die Herren desselben. Karl der Große unterwarf sie, und nach der Theilung des karolingischen Reiches blieben Böhmen und Mähren unter Ludwig dem Deutschen bei Deutschland. Unter den schwachen deutschen Königen der nächsten Zukunft lockerte sich dann wohl das Band der Zusammengehörigkeit, aber nur für kurze Zeit. Heinrich der Vogler stellte das Lehensverhältniß wieder her; Deutsche brachten den Czechen das Christenthum, und die Dynastie der Przemysliden stand völlig unter dem deutschen Einflusse. Der heilige Wenzel selbst, der im Lager der Sachsen am Moldau-Ufer dem deutschen Reiche Treue schwor, zog deutsche Geistliche in das Land; zu Ehren des Patrons der Sachsen, des heiligen Veit, wurde neben der Prager Herzogsburg der Veits-Dom gebaut, den Bischof Tuto von Regensburg einweihte, und der erste Bischof von Prag war ein Deutscher, der Benedictinermönch Thietmar aus Magdeburg. Wenzel wurde von den heidnischen Czechen ermordet; Otto der Große züchtigte die Mörder, und von nun an blieb, einzelne flüchtige Episoden abgerechnet, der Lehensverband zwischen Deutschland und Böhmen unangefochten; Wratislav der Zweite empfing von Kaiser Heinrich dem Vierten für seine Treue die böhmische Königskone.

So war in diesem Abschnitte der Geschichte die politische Entwickelung Böhmens geartet; die culturelle war noch ausschließlicher ein Werk der Deutschen. Die böhmischen Herzöge wählten ihre Gattinnen aus deutschen Fürstenhäusern, dem baierischen, dem der Wettiner und der Babenberger, und man „sagte und sang“ deutsch am Prager Hofe, wie ja bei Wenzel, dem Gatten der Staufin Kunigunde, der deutsche Minnesänger Reinmar von Zweier lebte. Das Prager Bisthum war dem Mainzer untergeordnet; in den Städten war das Magdeburger Stadtrecht maßgebliches Gesetz.

Und während der nächsten Epoche nahm der deutsche Geist noch siegreicher von Böhmen Besitz. Die deutschen Kaiser aus dem Hause Luxemburg schlugen in Prag ihre Residenz auf; Karl der Vierte gründete die Prager Universität und ließ von dem deutschen Baumeister Peter von Gmünd die Domkirche auf dem Hradschin, die mächtige Moldaubrücke, die berühmte Barbara-Kirche in Kuttenberg bauen. Nur der sechste Theil der Scholaren, welche an der Prager Hochschule während der ersten Jahrzehnte ihres Bestehens den Wissenschaften oblagen, war czechisch, während den Rest Deutsche aus Baiern, Schwaben, Franken und Sachsen bildeten.

Dann kam die Hussitenzeit und mit ihr die erste Verfolgung der Deutschen in Böhmen. Sechszehn Jahre lang hausten die Ziska und Procop mit Feuer und Schwert in dem gottgesegneten Lande, und der religiöse Emancipationsdrang war in einen entsetzlichen politischen Terrorismus umgeschlagen. Das Deutschthum, ehedem blühend, wohlbegütert und geistig hochentwickelt, ward schier gänzlich ausgerottet, bis mit den Habsburgern wiederum ein anderes Regiment einzog. Durch mehr als hundert Jahre hatte es von nun ab den Anschein, als sollten mit der Reformation auch deutsche Betriebsamkeit, deutsche Bildung und Gesittung in Böhmen wieder aufleben; die Habsburger wehrten den Böhmen nicht, mit Luther und der Wittenberger Hochschule in unmittelbare Verbindung zu treten. Aber der Hussitismus in seiner Entartung flackerte noch fort; er hatte sich in einen glühenden Deutschenhaß umgewandelt, und als im Jahre 1611 Graf Dohna der Prager Ständeversammlung eine Botschaft des Kaisers verkünden wollte, ward ihm zugerufen: „Deutsch ist in Deutschland, in Böhmen aber Czechisch zu reden.“ Im Jahre 1615 wurde bereits von den Prager Ständen jenes Sprachenzwangssystem beschlossen, welches bestimmte: 1. Künftig und für ewige Zeiten dürfe kein Ausländer, welcher der czechischen Sprache unkundig ist, als Bürger einer Stadt aufgenommen werden. 2. Ein Ausländer, der nach Erlernung der czechischen Sprache das Bürgerrecht erlangt hat, dürfe kein öffentliches Amt bekleiden; erst seine Enkel seien als eingeborene Böhmen zu betrachten. 3. Wo ein deutscher Pfarrer oder Schullehrer vorhanden, solle nach seinem Tode ein czechischer Pfarrer oder Schullehrer angestellt werden. 4. Der Gebrauch der deutschen Sprache sei den Czechen bei Zusammenkünften untersagt; wer hiergegen wiederholt fehle, sei des Landes zu verweisen.

Fünf Jahre nach diesem Sprachengesetze kam die Vergeltung: Der hussitische Adel des Landes, im Aufruhr gegen das Haus Habsburg, flehte in Deutschland um Hülfe, holte sich den pfälzischen Kurfürsten Friedrich, um ihn zum Könige von Böhmen, zum „Winterkönige“, zu erheben. Aber der Adel mitsammt dem neuen Könige erlag in der Schlacht am Weißen Berge; die Czechen flohen nach allen Himmelsrichtungen und fanden in Deutschland eine Zuflucht. Was deutsch war in Böhmen, stand fortan unter der Hut des Habsburgischen Absolutismus und der Jesuiten.

Es befand sich dabei in nationalem Betracht nicht einmal schlecht; denn das Slaventhum trat mehr und mehr zurück. Als Marias Theresia die Zügel der Herrschaft ergriff, fand man Czechen in Böhmen nur noch unter den Bauern und hier und da auch unter den Handwerkern. Mit der Volksschule zog im Jahre 1774 die deutsche Sprache ihre letzten siegreichen Ringe, und es stand keine Schranke mehr zwischen Böhmen und Deutschland aufrecht; die Erziehung war von den untersten bis zu den höchsten Stufen deutsch; in Prag beherrschten deutsche Dichter das geistige, deutsche Künstler das artistische Leben. Joseph der Zweite, der Begründer des ersten deutschen Nationaltheaters, begünstigte selbstverständlich nach Kräften diese Entwickelung. Gluck hatte schon vorher in Prag seine Studien gemacht, und Mozart war der Liebling der Prager. Deutsche Zeitungen hatte es bereits seit dem dreißigjährigen Kriege in Böhmen gegeben, während erst im Jahre 1787 das erste czechische Zeitungsblatt entstand.

Günstiger als seit dieser Zeit hat Böhmen sich materiell und geistig niemals entwickelt: Handel, Gewerbe, Landwirthschaft nahmen in dem Lande, dem die Natur eine reiche Ausstattung mit allen möglichen Hülfsquellen verliehen hat, einen üppigen Aufschwung, und der czechische Bauer wollte lange nicht daran glauben, daß der gute Kaiser Joseph gestorben; der Adel und das betriebsame Bürgerthum waren deutsch in Sitte und Sprache, während das Czechische Bauernsprache geblieben war. Eine literarische Wechselseitigkeit, ein geistiges In- und Miteinanderleben mit Deutschland blühte auf, so recht zum Beweise, daß Böhmerwald und Fichtelgebirge, Erz- und Riesengebirge nichts seien als Bergzüge inmitten [836] des deutschen Landes, keineswegs Grenzscheiden zwischen Deutschen und Deutschen.

Wenn Schiller seinen „Wallenstein“ auf böhmischem Boden auflas, in’s Egerland ging, um daselbst seine Vorstudien zu der gewaltigen Trilogie zu machen, so zweifelte er eben keinen Augenblick, daß sowohl dieser Boden wie die Gestalt Wallenstein’s selbst durch und durch deutsch sind.

Doch dies bei Seite! Es giebt ein unwidersprechliches Zeugniß, daß um die Wende dieses Jahrhunderts in Böhmen das Czechenthum social, politisch und geistig dem Deutschthum den Platz geräumt hatte und zwar nicht zwangsweise, sondern weil es zur Erkenntniß der überlegenen Eigenschaften des deutschen Volksgeistes gelangt war. Dieses Zeugniß haben, ohne es zu wollen, jene „dreiunddreißig Originalböhmen“ abgelegt, welche bei den Ständen gegen die Germanisation in Böhmen protestirten. Und in merkwürdigem Zusammenhange mit dem Nothschrei dieser „Dreiunddreißig“ steht der etwa gleichzeitige Bericht des Oberstburggrafen von Böhmen an den Kaiser Franz, daß es unmöglich sei, Beamte aufzutreiben, welche der czechischen Sprache mächtig wären.

Wie hätte es auch anders, sein können? Rings um Böhmen herum saß von jeher uraltes Deutschthum; an den Grenzen Ober- und Niederösterreichs, Baierns und Sachsens hatte der Czeche niemals festen Fuß gefaßt. Und in Prag, dem Mittelpunkte, gab es zwar czechische Kleinbürger und Handwerker in schwerer Menge, aber das gesellschaftliche und geistige Leben wie dasjenige der Behörden wurzelte in deutschen Ueberlieferungen. Vor dem Usurpator Bonaparte flohen Stein, Scharnhorst, Gentz und Varnhagen von Ense nach Prag, und nach Bonaparte’s Niederwerfung ist nirgends auch nur der leiseste Zweifel zu bemerken, daß Böhmen als ein deutsches Land dem Bunde einzuverleiben sei. Dreißig Jahre später klingt und singt es von deutscher Lyrik in Böhmen: Moritz Hartmann, Alfred Meißner, Uffo Horn stimmen ihre Lieder an. Ein deutscher Publicist, Ignaz Kuranda, muß die Prager Heimath verlassen und gründet in Brüssel die „Grenzboten“. Karl Herloßsohn schreibt vielgelesene Romane. Die Prager Universität gelangt zu erneuter Blüthe, und Männer wie Curtius, Schleicher, Esmarch, Brinz, Herbst und Arlt machen sie zu einer Ruhmesstätte deutscher Wissenschaft. Rokitansky und Skoda, die beiden Begründer der berühmten Wiener medicinischen Schule, sind Czechen von Abstammung, aber sie sind zu den Höhen der deutschen Wissenschaft emporgeklommen und haben, da oben angelangt, den nationalen Gegensatz, der sie umbrauste, weit von sich fort gewiesen. Gleichfalls von diesem nationalen Gegensatze unberührt – wenn sie sich nicht geradezu gegen denselben auflehnten – sind die zahlreichen wohlberufenen Musiker und Musikgelehrten geblieben, welche Prag in neuerer Zeit geboren: Hanslick und Ambros, Moscheles, Dreyschock und Laub, Jenny Lutzer, Pauline Lucca.

Nicht anders als die geistige Physiognomie stellt sich die Entwickelung in der Administration des Landes und in der Ausnützung seiner materiellen Wohlfahrtsquellen dar. Die hervorragenden Industriellen sind Deutsche, wie die erfolgreichsten Landwirthe; die Lehrkräfte sind deutsch wie die Pfadfinder des böhmischen Import- und Exporthandels; Deutsche haben die Kohlen- und Holzindustrie im Westen und Nordosten, die Textilindustrie im Nordwesten und Norden des Landes geschaffen.

Da wir hier weder mit Zahlen noch mit Namen operiren dürfen, wollen wir nicht dem Lexikographen in’s Handwerk pfuschen; sonst könnten wir leicht mit der Gallerie berühmter Deutscher aus Böhmen viele Seiten füllen, denen Oppolzer, der Arzt, Günther, der Philosoph, Unger, der Jurist, und Führich, der Maler, gewiß nicht zur Unzierde gereichen würden.

Worauf nun begründet sich aber der Anspruch der Czechen auf die Alleinherrschaft in Böhmen?

Von ihrem przemyslidischen Herrscherhause ist, die mythische Libussa abgerechnet, wenig Rühmliches zu vermelden. Einer und der Andere dieser Herrscher zeichnet sich durch besondere Unmenschlichkeit aus, wie beispielsweise jener Sobieslaw der Zweite, der für einen Schild voll deutscher Nasen hundert Mark Silber ausbot.

Ueberhaupt ist es unmöglich, bis zu den Hussitenkriegen von einem czechischen Volksthum zu reden, und wie dasselbe mit der Lehre des Johannes Huß sich erfüllte, bietet es wahrlich kein anziehendes Bild. Ziska ist nach Huß gewissermaßen der erste Czeche von Weltruf, und seine Thaten sind Thaten der Rache, der unmenschlichen Grausamkeit. Nein, die czechische Reformation ist weder in ihren Zielen, noch in ihren Motiven, weder in ihren Lehren, noch in ihren Handlungen schöpferisch und befreiend. Luther hat schon Recht, daß er sich gegen den Vorwurf Eck’s in der Leipziger Disputation, als ob er an der böhmischen Sectirerei einen Antheil habe, energisch verwahrt. So lange die Czechen aus ihrem Geiste heraus die Kirche reformiren, so lange diese Hussiten, Taboriten, Calixtiner, Utraquisten und Picarden auf ihre Weise den Katholiscismus reinigen wollen, kommt nichts als blutiger Hader und Bürgerkrieg, als Mord und Brand dabei heraus. Was hätte mit einem Procop oder Ziska ein Martin Luther gemeinsam? Erst als die Czechen sich um Belehrung und Schutz zu dem deutschen Lutherthume flüchten, da keimen wenigstens einzelne gute Früchte aus dieser Verbindung hervor. Luther berichtet selbst im Jahre 1519, daß ihm aus Böhmen seine zehn Gebote und das Vaterunser, in böhmische Sprache übersetzt, zugekommen seien.

Die böhmischen Stände bieten ihm im Jahre 1522 ein Asyl an, und Luther antwortet ihnen, er wäre schon längst und gern nach Böhmen gekommen, aber er wolle den Papisten den Triumph nicht gönnen. Der böhmische Name sei bei dem deutschen Volke „nicht mehr“ verachtet, und er hoffe, es werde noch dahin kommen, daß Deutsche und Böhmen gleichmäßig zu dem Evangelium stehen. Wiederholt erscheinen Gesandtschaften der czechischen „Brüder“ bei Luther in Wittenberg; er verhandelt mit ihnen über Glaubensartikel, und da er sich über die „dunkle und barbarische Sprache der Böhmen“ beschwert, sehen sich die „Brüder“ veranlaßt, ihre Schriften für Luther ins Lateinische zu übersetzen. Die czechischen „Brüder“ sind es auch, an die Luther seine Schrift „vom Anbeten des Sacramentes“ richtete.

Es sind dies, wie gesagt, Zeichen und Keime, daß die Czechen so viel Selbsterkenntniß sich anzueignen im Begriffe sind, um einzusehen, daß von ihnen allein keine epochemachende Bewegung, keine Förderung der Welt ausgehen kann und daß es ihnen zum Heile gereicht, willig die Überlegenheit der Deutschen anzuerkennen. Aber der Deutschenhaß überwuchert bei ihnen Alles. Plötzlich reitet sie der Hochmuth, und sie erlassen im Jahre 1615 das bereits oben erwähnte Sprachenzwangsgesetz, durch welches alles Deutsche in Böhmen mit Füßen getreten wird. Die Gegenreformation mit ihrem entsetzlichen Elend ist ihre gerechte Strafe. Und dann wird es auf volle zwei Jahrhunderte von dem Czechenthum stille.

Da entdeckt im Jahre 1817 Hanka die bekanntlich gefälschte Königinhofer Handschrift, und nun wuchert plötzliche ein ganzer Wald von czechischen Lyrikern und Dramatikern, von czechischen Geschichtsschreibern und Alterthumsforschern aus dem bis dahin so spröden böhmischen Erdreiche empor. Schafarik, der Slovake, kommt nach Prag, um daselbst sein System der slavischen Alterthumskunde aufzustellen; Palacky beginnt als böhmischer Landeshistoriograph in deutscher Sprache seine Geschichte Böhmens zu schreiben, ein großartig angelegtes und mit mancherlei gründlichen Forschungsergebnissen angefülltes Werk, aber von gehässiger deutschfeindlicher Tendenz, sodaß es eine Art von Unschicklichkeit ist, daß ein solches Buch sich der deutschen Sprache bedient.

Noch hält man diese ganze Bewegung lediglich für eine literarische; der nicht einmal ein besonders günstiges Horoskop gestellt wird. Noch kann (im Jahre 1842) ein gewiegter Kenner der slavischen Literaturen, der Pole Adalbert Cybulski, der an der Breslauer Universität über das geistige Leben unter den Slaven Vorlesungen hält, ein fürchterlich wegwerfendes Urtheil über czechische Sprache und Literatur fällen. Jüngst erst sind diese Vorlesungen im Drucke erschienen, und es ist nicht ganz überflüssig, die Kritik über das czechische Geistesleben ihnen zu entnehmen. Professor Cybulski also sagt:

„Während des siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts ist die Literatur der Czechen im eigentlichen Sinne des Wortes zu Grunde gegangen; ihre Sprache, die neben der altslavischen die ältesten und schönsten Denkmäler besitzt, ist während der letzten zwei Jahrhunderte zu einer Bauernsprache herabgesunken. Ihre Nationalität, durch die widrigen Schicksale in ihrem Innersten angegriffen, schien dem deutschen Elemente Platz machen zu sollen, als einige patriotische Männer es unternahmen, den Geist derselben von Neuem zu beleben, die Sprache und Literatur aus ihrer Erniedrigung zu reißen und ihr den vaterländischen Boden wiederzugeben. Die Böhmen sind unter den Slaven das fleißigste Volk. Es ist unglaublich, was sie seit etwa zwanzig Jahren; bei geringen [837] Mitteln und Kräften in der neuen Richtung geleistet haben. Die slavische Sprach- und Alterthumsforschung nahm ihre geistige Thätigkeit am meisten in Anspruch. Aber diese neugeschaffene Literatur hat sich wenig zur Cultur der dem Volke zugänglichen Richtungen herbeigelassen; deswegen bleibt sie noch immer diejenige der Gelehrten; die neue Sprache ist selbst dem Volke nicht durchgängig verständlich. Das Nationalgefühl ist wohl sichtlich erwacht, aber das Volk scheint durch den langen Druck für die den Slaven angeborene Vaterlandsliebe weniger empfänglich geworden zu sein. Selbst die Phantasie, bei den meisten slavischen Völkern dem Verstande überlegen, scheint in den letzten zwei Jahrzehnten gebrochen. Uebrigens haben die Böhmen in der ganzen Geschichte ihrer Literatur wohl gelehrte und ausgezeichnete Schriftsteller, aber keinen großen Dichter aufzuweisen.

Ihre neuesten Dichter sind mehr durch die Richtung, die sie einschlagen, als durch Vollendung bemerkenswerth. Der ausgezeichnetste unter ihnen ist Kolar, evangelischer Prediger in Pest, in der Slovakei in Ungarn geboren, wie denn aus dieser Gegend die meisten heutigen Dichter der Böhmen stammen. Kolar hat über sechshundert Scenen unter dem gemeinsamen Titel ‚Slawy Dcora‘ gedichtet. Der Zweck ist, die gegenseitige Liebe und Sympathie unter den slavischen Stämmen zu wecken, wie denn Kolar der erste und vorzüglichste Anreger der Idee des Panslavismus war, welche er auch in der Broschüre ‚Die literarische Wechselseitigkeit der Slaven‘ auseinandersetzte. Diese Idee selbst zeigt den Mangel eines nationalen Bodens, auf dem sich heutzutage die böhmische Poesie entwickeln könnte. Es fehlt der Glaube, die innere Ueberzeugung von der Möglichkeit eines selbstständigen Nationallebens. Deswegen vergeudet man die Liebe an das gestimmte Slaventhum, lebt entweder in den entferntesten Zeitaltern oder in einer dunklen Zukunft. So steht es denn auch mit der Dichtkunst. … Die bedeutendsten Dichter nach Kolar, Holy und Klazel, der erste in epischer, der andere in lyrischer Gattung, kommen aus diesem Kreise nicht heraus: Es findet sich in dem, was sie geschaffen, viel Lobenswerthes, sowie auch in den Dichtungen Celakowsky’s, aber dies Alles findet Anklang nur in den Herzen der Eingeborenen; ich zweifle, ob es denselben auch im Auslande finden würde.“

So der Pole Cybulski über seine czechischen Blutsverwandten. Man erkennt sofort, was an seiner Weissagung aus dem Jahre 1842 sich erfüllt hat und worin sie fehlging. Die Welt hat sich an die czechischen Dichter nicht gewöhnt, und es ist unterdessen kein neues Gestirn unter ihnen aufgestiegen. Sie haben keinen Mickiewicz und keinen Puschkin. Aber der Panslavismus hat ihnen seine Frucht getragen, wenn nicht unmittelbar, so doch auf mancherlei Umwegen. Da sie in der That kein innerlich entwickeltes Nationalbewußtsein besitzen, so ist ihr nationaler Chauvinismus allezeit nur eine geschickt unterhaltene geistige Exaltation gewesen. Das Mittel hierzu war eben der Panslavismus, der Wand an Wand mit dem Deutschenhasse wohnt. Und da es bei solch unsauberen Instinkten auf das Mehr oder Weniger nicht ankommt, so gesellte sich dazu bei den sogenannten Altczechen der Ultramontanismus und Feudalismus, denen die Jungczechen vergebens entgegenzuarbeiten suchen.

Diese Entwickelung ist nicht zum geringsten Theile das Werk Franz Palacky’s, des „Vaters der czechischen Geschichte“, dem Ladislaus Rieger als Erbe in Deutschenhaß und czechischem Größenwahn auf die Fersen trat. Palacky wurzelte immerhin noch im Literarischen, aber Rieger, der dafür weder Verständniß noch Neigung besaß, verpflanzte die Bewegung sofort auf das politische Gebiet. Dem Parlamente in der Frankfurter Paulskirche setzte man einen Slavenkongreß in Prag entgegen, der freilich ein klägliches Schauspiel bot, da die Slaven mit einander in deutscher Sprache verhandeln mußten, die allen Theilnehmern geläufig war, während die mit den einzelnen slavischen Idiomen sich nicht so verhielt. Auf den Reichstagen von Kremsier und Wien kam dann die Idee eines großböhmischen Staates nackt und unverhohlen zu Tage, mit dem Vorbehalte, die deutschen Grenzkreise Böhmens von den übrigen zu trennen, in den slavischen Theilen aber eine „slavische Cultur“ einzurichten.

Auch davon ward es stille während der zwölf Jahre des Centralismus, während welcher in Wien die czechischen Träume keine Begünstigung fanden.

Aber als im Jahre 1861 Oesterreich sich in einen Verfassungsstaat umwandelte, der allen seinen Angehörigen das gleiche Recht einräumte, als die Deutschen sich stark genug wähnten, ihre Ueberlegenheit in Staat, Gesellschaft und Schule auch auf dem Boden des modernen Staates behaupten zu können, da erhoben sich die Deutschenhasser wilder als je. Sie riefen alle bösen Geister, die religiösen wie die feudalen Dunkelmänner, zu ihrer Hülfe auf; sie brachten mit dem Ministerpräsidenten, den ihr Stamm dem Staate Oesterreich geschenkt hatte, mit dem „Sistirungsminister“ Belcredi, den Gesammt-Staat im Jahre 1866 an den Rand des Abgrundes; sie zogen nach Moskau zum Slavencongresse, um daselbst offen ihre Sympathie für Rußland und den Panslavismus, die beiden blutigen Feinde Oesterreichs, zu verbinden; sie jubelten Napoleon dem Dritten zu, als er über Deutschland herfiel, wie ein nachträglich aufgefundener Brief Ladislaus Rieger’s an den Tuilerienmann deutlicher, als ihnen lieb war, ersehen ließ.

Und ihr Ruf nach Wiederherstellung der Wenzelskrone, schon im Jahre 1871 von befangenen Staatsmännern zur officiellen österreichischen Losung erhoben, aber nach kurzer Weile mitsammt diesen Staatsmännern gerechtermaßen verworfen – dieser wilde, bedrohliche Ruf ist heute wieder in Prag die Parole des Tages, in Wien abermals eines verhängnißvollen Experimentes Werth erachtet. Den Deutschen in Böhmen versagt das Wiener Ministerium seinen Schutz; es zwingt deutsche Beamte, auch in den rein deutschen Bezirken Böhmens ihren Aemtern zu entsagen, weil ihnen die Kenntniß der czechischen Sprache fehlt; es duldet, daß die Prager Hochschule sich entvölkert; es verdrängt die deutsche Sprache aus den Amts- und Schulstuben; es begünstigt den Hader zwischen deutschen Bürgern und deutschen Großgrundbesitzern in Böhmen.

Im Jahre 1871 standen die Czechen noch schmollend dem Wiener Centralparlamente fern; es blieb ihnen nur in dem böhmischen Landtage und in ihren Blättern Raum zur Verunglimpfung, Verdächtigung und Beleidigung der Deutschen.

Aus jener Zeit stammt das niederträchtige Inserat des czechischen Kunstmäcens Naprstek, früher: Fingerhut geheißen, in einer czechischen Zeitung deutscher Zunge: „Es wird ein Lehrling für eine Brauerei gesucht. Die Kenntniß der deutschen Sprache wird nicht verlangt, weil wir in Böhmen solche Hohlköpfe, die aus Preußen kommen, wie z. B. Professor Linker, in den österreichischen Staaten nirgends brauchen können.“ Professor Linker, Philolog an der Prager Hochschule, hatte nämlich seiner Bewunderung der Siege der Deutschen in einer lateinischen Ode Ausdruck gegeben.

Diesmal sind die Czechen im Wiener Parlamente; sie führen in demselben die Mehrheit, welche neben ihnen aus den Reaktionären aller siebenzehn Kronländer besteht; sie haben die Macht in ihren Händen, um das Deutschthum in Böhmen zu zertreten, dasjenige in dem übrigen Oesterreich zu demüthigen. Und das Ministerium in Wien läßt sie gewähren, während es im innigsten Bunde mit dem deutschen Reiche zu sein vorgiebt. Wer erklärt mir, Oerindur, diesen Zwiespalt der Natur?

Nun aber, da das Für und Wider entwickelt ist, muß es zum Spruche kommen.

Was sind die Deutschen dem Staate Oesterreich, und was begehren sie für ihre Landsleute in Böhmen?

Sie sind die Träger der Cultur, der Bildung, des staatlichen Einheitsgedankens in Oesterreich, wie es ihre Landsleute in Böhmen sind. Sie tragen die unvergleichlich größten Lasten im Staate, wie es ihre Landsleute in Böhmen thun. Von ihnen geht die Blüthe der Industrie, des Gewerbes, des Handels aus, wie sie in Böhmen ebenfalls stets von dessen deutscher Bevölkerung ausgegangen ist. Literatur und Kunst sind deutsches Besitzthum; städtische und ländliche Entfaltung empfangen von den Deutschen die nachhaltigsten Impulse. Sie haben Oesterreich in einen Verfassungsstaat umgewandelt und das gleiche Recht Aller vor dem Gesetze, den gleichen Antheil Aller am Staate je nach der Eignung verkündigt. Und nun sollen sie in Böhmen hinausgetrieben werden aus Amt und Schule, sollen, um ihr Dasein zu fristen, die czechische Sprache erlernen, die für Niemanden einen geistigen Gewinn bedeutet, sollen die Tyrannei der Czechen widerstandslos auf sich nehmen, der verbissensten Deutschenfeinde, die irgendwo im ganzen Weltrunde vorhanden sind trotz der Magyaren.

Das muthet ihnen ein angeblich deutsches Regiment zu, das Centralregiment in Wien, genannt das cisleithanische Ministerium.

Was aber sind die Czechen dem Staate Oesterreich, und was begehren sie für sich?

[838] Nicht Gleichheit, sondern unbestrittenes Uebergewicht begehren sie, und zwar nicht blos in Böhmen, das sie sich zu einem Wenzels-Königreiche ausbauen möchten, sondern auch in Oesterreich überhaupt. Sie sind Panslavisten und Schwärmer für Rußland, den natürlichsten Feind Oesterreichs. So lange sie in Böhmen die Zügel führten, war zwischen Böhmerwald und Riesengebirge eine Stätte des Bürgerkrieges, der Zerstörung mit Feuer und Schwert. Verfassungsmäßiges Recht ist ihnen keinen Pfifferling werth, wenn nicht die Verfassung ihnen, und ihren ultramontanen und feudalen Verbündeten alle Freiheit, den Anderen das Helotenthum verhängt. Sie haben kein Verdienst um Oesterreichs geistige, nur ein geringes um seine materielle Wohlfahrt und keines um die Entwickelung des politischen Fortschrittes; denn die Politik ist ihnen nichts als das Instrument ihres nationalen Eigennutzes.

Wenn Oesterreich aufhört, die Ostmark zu sein, der vielleicht in Zukunft den Russen gegenüber dieselbe Mission vorbehalten ist, wie in der Vergangenheit gegenüber den Türken, wenn es sein Beharrungsvermögen einbüßt und in lauter nationale Splitter, einen czechischen, slovenischen, polnischen, deutschen, aus einander fällt, so ist seine historische Sendung beschlossen. Und wo keine historische Sendung ist, da ist auch kein Bestand. Das geschichtliche Oesterreich ruht auf den Schultern der Deutschen; begünstigt es die Czechen und deren Alleinherrschaft in Böhmen, so schafft es wider sich selbst einen Vorposten Rußlands und des Slaventhums. Das ist so einfach, daß sich Niemand mit mangelnder Einsicht entschuldigen kann. Der böhmische Adel, der dreihundert Jahre mit den Jesuiten fraternisirte, glaubt freilich Alles, was – absurd ist; er glaubt auch daran, daß er um Roms willen und wegen seiner feudalen Vorrechte das liberale Deutschthum hassen und verfolgen müsse. So anscheinend gebildet und erkenntnißfähig diese Grafen Leo Thun, Clam-Martinitz, diese Fürsten Lobkowitz und Liechtenstein sind, sie zappeln doch an dem römischen Drahte. Und darin trifft eben Graf Thun mit Ladislaus Rieger, der Concordatsgraf mit dem Moskaupilger zusammen, daß Beide die Reaction wollen, diese alte Feindin und Unterdrückerin alles Deutschen.

„In Bereitschaft sein, ist Alles,“ sagt Hamlet. Man weiß es links und weiß es rechts, welch tiefer Sinn in diesem Worte steckt. Die böhmischen Deutschen kämpfen auf dem Boden der Verfassung tapfer und unentmuthigt; sie sind zweifellos von der Gewißheit durchdrungen, daß sie nicht umsonst Deutsche sind. Der Theil kämpft für das Ganze, und es giebt Zeiten, wo nach dem alten griechischen Philosophen der Theil mehr ist als das Ganze.