Die Frauenarbeitsschule in Reutlingen

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Frauenarbeitsschule in Reutlingen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 333
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[333]

Die Frauenarbeitsschule in Reutlingen.

Welch traurig Los hat doch ein Weib, das seinen Lebensunterhalt mit der Nadel verdienen muß! Frauenhandarbeit wird schlecht bezahlt, und doch sind viele Tausende darauf angewiesen. Der englische Dichter Thomas Hood hat ein ergreifendes Lied von diesem Frauenelend gesungen:

„Mit Fingern mager und müd’,
Mit Augen schwer und roth,
In schlechten Hadern saß ein Weib,
Nähend fürs liebe Brot.
Stich! Stich! Stich!
Aufsah sie wirr und fremde;
In Hunger und Armuth flehentlich
Sang sie das Lied vom Hemde. –

Schaffen – Schaffen – Schafen, –
Bis das Hirn beginnt zu rollen!
Schaffen – Schaffen – Schaffen,
Bis die Augen springen wollen!
Saum und Zwickel und Band,
Band und Zwickel und Saum –
Dann über den Knöpfen schlaf’ ich ein
Und nähe fort im Traum.“ –[WS 1]

Wie drüben in England, so ist es auch bei uns in Deutschland. Die Frauenfrage ist in erster Linie Brotfrage. Von hundert Mädchen verheirathen sich etwa vierzig und unter diesen vierzig sind es zum großen Theile die mit Geld und Gut gesegneten; die übrigen sechzig müssen den Kampf ums Dasein, wenn ihnen nicht Eltern und Geschwister hilfreich zur Seite stehen, allein führen. Eine anerkannte Hauptaufgabe unserer Zeit ist es daher, das weibliche Geschlecht für diesen Kampf in rechter Weise zu kräftigen und zu rüsten.

In welcher Weise soll nun aber die weibliche Jugend zur Arbeit erzogen werden? Da ist unter allen deutschen Ländern Württemberg bahnbrechend vorangegangen, indem hier die Regierung sich dieser Angelegenheit thatkräftig angenommen hat. Nicht nur ist hier das einer allgemeinen weiblichen Bildung dienende höhere Mädchenschulwesen in richtige Bahnen gelenkt, sondern auch die berufliche Bildung des weiblichen Geschlechts schon frühe ins Auge gefaßt worden. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist jungen Mädchen die Gelegenheit gegeben, im Post- und Telegraphendienst angestellt zu werden; zahlreiche weibliche Fortbildungsschulen pflegen berufliche Bildungsfächer, an Seminarien werden Lehrerinnen gebildet, hauptsächlich aber sind unter dem Namen „Frauenarbeitsschulen“ beruflich bildende Anstalten ins Leben getreten, und vor wenig Jahren hat sich in die Kette dieser mannigfaltigen Bildungsanstalten die „Haushaltungsschule“ als jüngstes Glied eingereiht.

Ein ganzes Netz von Frauenarbeitsschulen hat sich über Württemberg ausgebreitet. Alle diese Anstalten sind nun der Reutlinger Frauenarbeitsschule als ihrer Muster- und Mutterschule nachgebildet worden; dieselbe verdient daher wohl, unsern Lesern vorgeführt zu werden.

Auf dem Boden einer in Reutlingen seit alten Zeiten herrschenden Arbeitsthätigkeit der Frauen und Mädchen, welche sich mit Herstellung von Bekleidungs- und Luxusgegenständen durch Stricken, Häkeln, Sticken und Knüpfen beschäftigen, ist die Frauenarbeitsschule dieser Stadt erwachsen. Der praktische Blick des künstlerisch wie technisch durchgebildeten Dessinateurs für Gebildweberei, des nunmehrigen Inspektors Lachenmayer, das organisatorische Talent des hochverdienten früheren Präsidenten der königlichen Centralstelle für Gewerbe und Handel in Stuttgart, Geheimrath Dr. von Steinbeis, die einsichtsvolle städtische Verwaltung und hochgebildete Frauen, wie Frau Dr. Zeller, haben zusammengewirkt, um diese eigenartige Anstalt zu schaffen. Gegründet im Jahre 1863, erfreute sie sich einer raschen, mit dem wachsenden Bedürfniß fortschreitenden Entwickelung. Seit 1877 ist die Anstalt im Besitze eines eigenen, besonders für ihre Zwecke erbauten Hauses mit 11 geräumigen, hellen und gut gelüfteten Unterrichtssälen, in denen 300 Schülerinnen untergebracht werden können.

Dr. Otto Hahn schildert in seinem empfehlenswerthen Schriftchen „Die Frau auf dem Gebiete der Arbeit“ (Reutlingen, J. Kocher) die Anstalt folgendermaßen: „Hier findet man nicht die Hörsäle für jene halbgelehrten Vorträge, durch welche höchstens Blaustrümpfe, meistens aber vielwissende und nichts verstehende Salondamen und unglückliche Abcbuchgouvernantinnen ausgebildet werden; es wird auch kein akademischer Unterricht gegeben für Doktorinnen in Theologie, Jurisprudenz und Medizin – dagegen findet man hier in der in einem imposanten Gebäude vereinigten Arbeitsschule eine lange Reihe von Arbeitssälen und in diesen anstatt der Subsellien die verschiedensten Vorrichtungen für die weibliche Handarbeit: Arbeitstische, Nähmaschinen, Strickmaschinen, Flechtapparate, Stickrahmen, Körperformen, Bügeleisen, Wand- und Zeichentafeln etc., daran anschließend aber auch Säle zum Zeichnen und Malen, mit den mannigfachsten Gegenständen versehene Ausstellungs- und Demonstrationslokale und dann zum Abschluß allerdings auch einen geräumigen Hörsaal für Vorträge wissenschaftlichen und künstlerischen Inhalts, ein Turnlokal und selbst ein kleines Theater. Ein das Gebäude umgebender großer Garten mit Weganlagen giebt treffliche Gelegenheit zur Erholung in den Pausen und gewährt, wie das Gebäude selbst, eine reizende Aussicht über die Stadt und die höchst malerische Landschaft, welche zu den unter Leitung von Aufsichtsdamen häufig stattfindenden Erholungstouren an Sonn- und Feiertagen einladet. Alles ordnet sich hier dem Hauptzwecke, der praktischen Ausbildung zu rationeller, präciser, sowohl den Anforderungen des Geschmacks, als denjenigen der Oekonomie entsprechender Ausführung solcher weiblichen Arbeit unter, wie Natur und Sitte sie diesem Geschlechte zugetheilt haben.“

Die Schule, unter dem Protektorate der Königin Olga von Württemberg stehend, ist Staats- und Gemeindeanstalt. Ihr Zweck ist ein doppelter. Einmal will sie durch künstlerischen und technischen Unterricht mittels theoretischer und praktischer Unterweisung Arbeitskräfte für die weibliche Handarbeit heranbilden, und zwar sowohl zur eigenen praktischen Ausübung und Ueberwachung derselben im Haushalt, als auch zur Erzielung der Befähigung für eine selbständige gewerbliche Berufsthätigkeit; sodann sollen durch sie Kandidatinnen des Lehrberufs Gelegenheit finden, den zur Ertheilung des Arbeitsunterrichts an Anstalten gleicher Art, sowie an höheren Mädchenschulen, Pensionaten und Volksschulen erforderlichen Grad von Fachbildung sich anzueignen. Der Unterricht beruht auf einer Verbindung des Zeichnens und Malens mit der Handarbeit. Die Lehrfächer zerfallen in künstlerischen Fachunterricht neben allgemeinem künstlerischen Unterricht (Zeichnen und Malen), technischen Fachunterricht (Arbeitsunterricht) und wissenschaftlichen Unterricht. Der künstlerische Unterricht beginnt mit dem geometrischen und Freihandzeichnen als den Grundlagen für das sich anschließende Musterschnittzeichnen und ornamentale Zeichnen und schließt mit der Lehre von den Farben und ihrer Zusammenstellung, vom Ornament und Dessin und deren Herstellung in Umriß und Farbe. Der Arbeitsunterricht gliedert sich in die fünf Hauptkurse des Gestricks, Handnähens, Maschinennähens, Kleidermachens und Stickens mit je einvierteljähriger Dauer, ferner in die zwei Nebenkurse des Putz- und Blumenmachens, sowie des Bügelns mit ebenfalls einvierteljähriger Dauer. Der wissenschaftliche Unterricht umfaßt Buchführung, kaufmännisches Rechnen und Korrespondenz, Vorträge über deutsche Litteratur, Geschichte und naturwissenschaftliche Gegenstände. Daß bei einer solchen Ausbildung die jungen Mädchen ein besseres Auskommen zu erwarten haben als bei einer andern, die nur mechanische Handfertigkeit gewährt, liegt auf der Hand.

Die Schülerinnen werden vom vierzehnten Lebensjahre an aufgenommen. Mit der Anstalt ist kein Pensionat verknüpft, die Schülerinnen haben aber in Reutlinger Familien gute und billige Verpflegung. Eine eingehende Beschreibung der Anstalt findet man in dem im Verlag von J. Kochers Buchhandlung in Reutlingen erschienenen vortrefflichen Schriftchen „Die Frauenarbeitsschule in Reutlingen, deren Geschichte, Programm und Lehrpläne“ von Rektor Reiniger.

Wohl an 5000 Mädchen und Frauen, allen Kreisen der Gesellschaft, verschiedenen Bekenntnissen, Sprachen und Völkern angehörend, sind dankbare Schülerinnen dieser Anstalt, welche allen eine praktische Bildung für das häusliche Leben gab, vielen zu einer selbständigen beruflichen Stellung verhalf. Als eine Erfahrung erfreulichster Art verdient auch erwähnt zu werden, daß man in solchen Kreisen, in denen man vorzugsweise die Geistesbildung des weiblichen Geschlechts hochschätzt, die Nothwendigkeit einer praktischen Bildung für das Leben und den sittlichen Werth der Erziehung zur Pünktlichkeit und Arbeitstüchtigkeit mehr und mehr erkennt. Es bürgt hierfür wohl der Umstand, daß 65 Prozent von den Schülerinnen der Reutlinger Schule aus höheren Lehranstalten kommen.

Möge jene falsche Sentimentalität, welche meint, daß die Frau nicht zur Arbeit geschaffen sei, mehr und mehr der gesunden Ansicht weichen, daß die Arbeit die rechte Zier jeder Frau, auch der reichsten, ist. Bereits ist ja eine erfreulich lebhafte Bewegung in der Litteratur und im Leben nach diesem Ziele hin erkennbar. Hier möge nur noch zum Schlusse aus dem schon angeführten Schriftchen von Hahn ein Stelle angeführt werden. Er sagt: „Welche Anforderungen werden heute an einen Mann gestellt, und die Frauen sollen nichts von der Last tragen, als wären sie bloß dazu berufen, das mit Aufopferung der Lebenskraft des Mannes Erarbeitete wieder zu zerstören? Das geht nicht. Welcher Mann sollte da nicht vor dem Heirathen überhaupt zurückschrecken, wenn er nur eine solche Frau erwarten darf! Können sich unsere Mädchen noch beklagen, wenn ein Mann vor allem nach Geld sieht, damit er eben solche Ansprüche, welche die arme, wie die reiche macht, von dem Vermögen der Frau auch wieder decken kann? Darum Arbeit und vor allem Erziehung zur Arbeit! Arbeit ist Ehre, Tugend; Betteln und Almosen Schande, Unrecht. Jeder, aber auch jede soll, muß arbeiten, welche arbeiten kann: das ist das erste sociale Gesetz, aber auch das oberste Sittengesetz der Gesellschaft und nicht jene falsch ausgelegte Liebe, ‚jenes ideale Nichtsthun‘, welches nichts ist, als Nehmen. Jeder, der arbeitet, giebt – und es werden der Hilflosen immer weniger, wenn alle bei Zeiten gelehrt werden, sich selbst zu helfen.“




Anmerkungen (Wikisource)