Die Gartenlaube (1856)/Heft 3

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[33]

No. 3. 1856.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Vorurtheile.
(Fortsetzung.)


Henriette erröthete und spielte einen Augenblick mit der feinen goldenen Kette, die von dem schlanken Halse über den weißen Morgenmantel herabfiel.

„Vater,“ sagte sie, „ich weiß, daß Sie eine offene Antwort fordern, und darum will ich sie Ihnen geben; aber Sie verzeihen mir,“ fügte sie mit einem unbeschreiblichen Blicke hinzu – „wenn sie nicht so ganz nach Ihrem Wunsche ausfällt. Der junge Freiherr mag allen Anforderungen der großen Gesellschaft entsprechen – den Anforderungen, die ich an meinen zukünftigen Gatten mache, entspricht er durchaus nicht.“

„Henriette, willst Du nichts weiter in Betracht ziehen, als nur die Ansprüche Deiner Person?“ fragte der Oberst, indem er einen forschenden Blick auf seine Tochter warf. „Giebt es für eine Eppstein keine andern Beziehungen; die zu erwägen sind?“

„Vater, meine ältere Sehwester Cäsarine hatte nur die Beziehungen im Auge, von denen Sie reden – sie war nur die folgsame Tochter eines hocharistokratischen Hauses, und ist in diesem Augenblicke eine unglückliche Gattin und Mutter. Dasselbe Schicksal steht mir bevor, und ich kann selbst sagen, ein noch schrecklicheres, wenn ich dem Schwager meiner Schwester die Hand reiche. Die Freifrau sucht für ihren jüngsten Sohn nicht etwa eine Gattin; sie sucht ein Vermögen für ihn.“

„O wie falsch sind Deine Ansichten!“ rief mit Bitterkeit der Baron; „die Familie Erichsheim zählt sich zu den reichsten unserer Provinz; Geld und Gut üben keine Gewalt über sie aus, nur die Ehre – –“

Henriette zuckte unwillkürlich zusammen; mit einer reizenden Impertinenz hob sie den Kopf und sagte:

„Vater, man erzählt den Tod des alten Freiherrn auf mancherlei Weise, und ich glaube, daß mir nur die gelindeste zu Ohren gekommen ist.“

Der Oberst schrak zusammen.

„Henriette, Du hast conspirirt, Du hast Erkundigungen eingezogen, die – –“

„Wahrlich nicht, mein Vater; was ich weiß, ist mir zufällig bekannt geworden.“

„Von jenem Herrn von Nienstedt?“

„Ich habe zu wenig mit ihm gesprochen, um die Unterhaltung auf solche Dinge leiten zu können.“

„Und was weißt Du, Henriette?“

„Daß die Freifrau mit ihrem ältesten Sohne, mit dem Manne meiner armen Schwester, den alten Freiherrn in einer Art von Wuth um’s Leben gebracht hat, als er sich weigerte, eine bestimmte Summe zu einem bestimmten Zwecke herzugeben. Man weiß, der Freiherr war sehr geizig, aber man weiß auch, daß seine Familie eben so verschwenderisch war. Vater, das schöne Gut Nienstedt ist Ihr alleiniges, unbestreitbares Besitzthum – bewahren Sie es, tragen Sie Sorge, daß nie einer dieser Verschwender seine Hand daran lege, noch irgend ein Recht der Verfügung daran erhält; es ist ja möglich, daß Ihren beiden Töchtern Nichts bleibt, als dies Asyl.“

Der Oberst war aufgestanden und ging in großer Bewegung durch das Zimmer. Er hatte am verflossenen Abende mit der alten Freifrau eine lange Unterredung gehabt; und wenn Henriette hierin die Impulse zu allen seinen Unternehmungen erblickte, so hatte sie Recht. Sie las es in den strengen Zügen des Vaters, daß seine Liebe und seine Intelligenz mit einem starken, gewaltigen Feinde im Kampfe lagen; mit einem Feinde, dem er nicht ausweichen konnte. Henriette hatte sich mit dem Muthe und der Entschlossenheit gepanzert, die ein bewährter Erfahrungsfall stets zu verleihen pflegt; sie stützte sich nachdrücklich auf das Unglück ihrer Schwester Cäsarine, und sie konnte es mit vollem Rechte, da ihre Verbindung mit Ignaz unter denselben Verhältnissen stattfinden sollte, als die Cäsarine’s bereits stattgefunden hatte. Dazu kam noch ihre Neigung zu Ludwig, den sie mit dem ersten jugendlichen Feuer eines unverdorbenen Herzens liebte.

Plötzlich blieb der Oberst vor ihr stehen.

„Mein Kind,“ sagte er, sie fixirend; „hast Du wirklich nur das Schicksal Deiner Schwester im Auge? Glaubst Du, daß Du ihr einst mit Deinem Erbtheile, mit Nienstedt, hülfreich beistehen müssen wirst?“

„O, gewiß, mein Vater, und ich schwöre Ihnen, daß es mit Freuden geschehen wird.“

„In diesem Falle bedaure ich, Dich dieser Freude berauben zu müssen – Ludwig von Nienstedt hat sich wieder angekündigt, wie Du weißt, und nach einer Klausel in dem Kaufkontrakte – ich erkaufte das Gut zu einem sehr billigen Preise – steht ihm fünfundzwanzig Jahre ein bedeutendes Besitzrecht zu. Er ist vor Ablauf dieser fünfundzwanzig Jahre erschienen, und ich bin verbunden, diese Klausel zu Deinem Nachtheile zu halten. Nur noch kurze Zeit hält man Dich für ein begütertes Mädchen, dann wird man Dich in die Kategorie der armen Fräulein werfen, deren Verheirathung nur ein Werk des Zufalls ist. Ich überlasse Dich jetzt Deinem Nachdenken, und hoffe, daß es Dir nicht schwer werden wird, das Beste für Dich und Deine Familie herauszufinden. Die Freifrau erwartet diesen Abend meinen definitiven Entschluß; [34] setze mich also diesen Mittag in den Stand, daß ich ihn ertheilen kann. Henriette, vergiß die Ehre unseres Standes, vergiß Deinen Vater nicht!“

Der Oberst entfernte sich. Die letzten Worte hatte er in einem fast bewegten Tone gesprochen.

„Was ist das?“ fragte sich Henriette bestürzt. „Ich bin einem neuen Geheimnisse auf der Spur, und wenn mich nicht Alles täuscht, so hat jene ränkesüchtige Familie der Erichsheim’s meinen armen Vater in eine Schlinge gezogen, aus der er sich ohne Verlust seiner Ehre nicht wieder befreien kann. Der Vermögensantheil Ludwig’s an dem Schlosse ist Nichts – hier liegt eine neue Infamie zum Grunde.“

Sie zog die Glocke; die Kammerfrau erschien.

„Wo ist mein Vater?“

„Er befindet sich auf seinem Zimmer. Herr von Heiligenstein und Herr Ludwig von Nienstedt sind bei ihm.“

„So vollende rasch meine Toilette, denn man wird ohne Zweifel bald nach mir rufen!“


IV.

Wir verlassen das Putzzimmer der jungen Dame, und betreten das Gemach des Herrn von Eppstein, das durch einen kleinen Saal davon geschieden ward. Die beiden Freunde hatten sich so eben auf die Einladung des Obersten niedergelassen.

„Sie sind pressirt, Herr Oberst,“ begann Ludwig; „darum werde ich mich kurz fassen, wenn mir auch bei dem Ernste der Sache ein tieferes Eingehen wünschenswerther erscheint. Mein Besuch hat zunächst den Zweck, mich Ihnen persönlich als den Letzten des Hauses Nienstedt vorzustellen. Ich halte dies aus mehr denn einer Rücksicht für eine Pflicht, die ich nicht umgehen kann.“

„Aus mehr denn einer Rücksicht?“ fragte wie neugierig der Oberst.

„Ja, mein Herr!“

„Und die erste?“

„Weil Sie der gegenwärtige Bewohner meines väterlichen Stammschlosses sind.“

„Sagen Sie lieber: der rechtmäßige, unantastbare Besitzer des Gutes Nienstedt.“

„O gewiß, mein Herr.“ sagte Ludwig lebhaft, „denn Sie haben es mit Ihrem Vermögen erkauft, und ich müßte ein Wahnsinniger sein, wollte ich Ihnen einen Stein daran streitig machen. Ich freue mich vielmehr, daß das Stammschloß der Nienstedt’s auf eine so würdige Familie als die Ihrige übergegangen ist. Muß es mir, dem in der Schule des Lebens gereiften Manne, nicht ein beruhigendes Gefühl sein, wenn er die Orte, die alle seine Jugenderinnerungen einschließen, unter der Obhut eines Mannes weiß, der sie aus Rücksicht für seinen verstorbenen Freund heilig hält? Herr Oberst, als ich vor zwölf Jahren Europa verließ, kannte ich zum Theil die zerrütteten Vermögensumstände meines Vaters, und ich reiste mit dem festen Vorsatze ab, entweder nie, oder mit einer kräftigen Hülfe zurückzukehren. Ich kehre zurück, die Hülfe trage ich bei mir; aber der, dem sie zu Gute kommen soll, ist nicht mehr, selbst meine Schwester schlummert den ewigen Schlummer. Sie standen, was ich damals nicht wußte, da mich meine Studien fern von der Heimath hielten, mit dem alten Baron von Nienstedt in freundlichen Verhältnissen – –“

„Mein Herr, Sie wollten sich kurz fassen,“ sagte unruhig der Oberst.

„Es geschieht, Herr Oberst; ich spreche kein Wort, das nach meinem Gefühle nicht sehr wichtig wäre. O, verschmähen[WS 1] Sie nicht, mich anzuhören, denn ich bilde mir ein, daß ich vor meinem Vater stehe. Und darum muß ich mich zunächst selbst anklagen.“

„Sich selbst anklagen?“ fragte verwundert der Oberst.

„Und diese Anklage mag Ihnen den Beweis von der Aufrichtigkeit dessen liefern, was ich so eben ausgesprochen habe. Es giebt Dinge, mein Herr, die man im Leben nur einmal begehen kann, weil sie mit der Reue das Verlangen erzeugen, das Geschehene ungeschehen zu machen. Zu diesen Dingen zähle ich den letzten heimlichen Aufenthalt in dem Hause meines Vaters. Zu der beabsichtigten großen Reise bedurfte ich einiger Legitimationspapiere und vorzüglich solcher, die sich über meinen Geburtsadel aussprachen. Sie erlassen mir die Erörterung der Gründe, die mich dazu veranlaßten. Ich wiederhole es, daß mich die reinsten Absichten zu dem Unternehmen überhaupt leiteten, und daß mir Alles daran lag, meinen Vater, der mich sicherlich durch alle Mittel zurückgehalten haben würde, nicht in das Geheiumiß zu ziehen. So benutzte ich meinen letzten kurzen Besuch auf Nienstedt dazu, mich eines kleinen Packets Papiere zu bemächtigen, die dem angegebenen Zwecke entsprachen. Der Verlust derselben konnte, wie ich damals wähnte, meinem Vater nicht schaden; mir aber konnten sie in jeder Beziehung den erwarteten Vortheil bringen. Ich verließ Nienstedt, um kurze Zeit darauf nach der neuen Welt, nach meinem Eldorado, zu reisen. Nach einer langen, aber glücklichen Fahrt kam ich in Calcutta an. Ich bedurfte meiner Papiere, und unterwarf sie_der ersten, sorgfältigen Prüfung. Da machte ich die Entdeckung, daß sich ein Document unter ihnen befand, das in den Händen meines Vaters besser aufgehoben gewesen wäre. Ja, Herr Oberst, ich verwünschte meinen Leichtsinn, und würde Alles in der Welt darum gegeben haben, hätte ich das Papier sofort zurücksenden können. Dies aber war aus mehr als einem Grunde ein Ding der Unmöglichkeit, und ich suchte mich mit dem Gedanken zu trösten, daß mein Vater auch ohne dieses Papier eine Summe von 24,000 Thalern zurückerhalten würde, denn der Aussteller war mir als ein Mann von Ehre und hoher Rechtschaffenheit bekannt.“

„Wahrlich, mein Herr,“ sagte der Oberst, indem er rasch und stolz seinen Kopf emporwarf, „in diesem Punkte haben Sie sich nicht getäuscht! Es war diese Sunnne zwar nur eine Spielschuld, aber der Oberst von Eppstein zahlt alle seine Schulden mit gleicher Gewissenhaftigkeit. Verzeihung, Herr von Heiligenstein, da Sie einmal als Zeuge bei dieser delicaten Verhandlung eingeführt sind, so erlauben Sie mir, daß ich sie in Ihrer Gegenwart zu Ende bringe. Ihr Vater, mein Herr,“ wandte er sich zu dem jungen Manne, „war nicht minder gewissenhaft als ich; er verweigerte die Annahme der Schuld, da er mir meinen Ehrenschein nicht zurückerstatten konnte, und da er fürchtete, daß man ihn mir früher oder später präsentiren würde. Noch mehr, mein Herr, Ihr Vater ging in seinem Stolze und in seiner Gewissenhaftigkeit so weit, daß er die Zerrüttung seines Vermögens zu verbergen suchte und mich bat, von einer Angelegenheit ferner nicht zu reden, die nur durch den unglücklichen Schein selbst beseitigt werden könne. Was ich damals nicht begriff, wird mir in diesem Augenblicke klar: der würdige Vater leistete unter den drückendsten Verhältnissen auf eine Forderung Verzicht, von der er fürchtete, daß sie später sein Sohn mit Hülfe des Ehrenscheins gelten machen würde – ja, mein Herr, der alte Herr von Nienstedt hatte schon damals die Ehre seines Sohnes im Auge, dessen Vergehen er zwar nicht kannte, wohl aber ahnte. Es unterliegt keinem Zweifel: seine Ahnung hat ihn nicht getäuscht.“

Ludwig’s Gesicht überflammte eine dunkele Röthe; einen Augenblick vermochte er kaum zu antworten, er schien die Fassung verloren zu haben. Der Oberst stand vor ihm und sah ihn mit großen, glühenden Augen an.

„Herr von Nienstedt,“ sagte er mit kalter Höflichkeit, „Sie sehen, daß es einer weitern Einleitung nicht bedarf – ich erwarte ohne Umschweife Ihren Antrag.“

Die beiden Gäste erhoben sich. Ludwig ermuthigte sich durch einen Blick auf seinen Freund Heiligenstein, dessen Gesicht ruhig und gelassen geblieben war.

„Herr Oberst,“ begann der junge Mann ernst und fest, „ich bin allerdings gekommen, um Ihnen einen Antrag zu stellen, aber er ist anderer Art als Sie wähnen. Der einzige Vertreter der Familie Nienstedt hält es für Pflicht, jeden, auch den leisesten Makel zu erlöschen„ mit dem ein widrigcs Geschick den Schild derselben beflecken könnte. Ich bitte Sie, ein Papier zurückzuempfangen, das mein Vater nie hätte von Ihnen annehmen sollen.“

„Mein Herr!“ rief der Oberst überrascht, indem er einen Schritt zurückwich.

„Diese Erklärung“ fuhr Ludwig fort, „glaube ich Ihnen nur in Gegenwart eines Mannes geben zu können, der von den Intentionen des Verstorbenen am Besten unterrichtet ist, der sein Freund war. O, nehmen Sie es, Herr Oberst, und helfen Sie mir die Mission meines Lebens erfüllen. Und kann ich meinen leichtsinnigen Schritt – wenn ich heute das kühne Unternehmen meiner Jugend noch so nennen darf, da es durch einen herrlichen Erfolg gekrönt ward – kann ich diesen Schritt würdiger ausgleichen? Nicht ich biete Ihnen dieses Document, sondern der verstorbene [35] Herr von Nienstedt. Ehren Sie mit mir sein Andenken, mein Herr, und weisen den Antrag nicht zurück!“ bat Ludwig mit weicher, flehender Stimme.

Der Oberst kämpfte einige Augenblicke mit sich selbst; dann ergriff er das Papier, das ihm der junge Mann bot, betrachtete die Zeilen und flüsterte:

„Es sind meine Schriftzüge! Ich schrieb sie vor sechzehn Jahren!“

Die Erinnerung schien mächtig jene Zeit heraufzubeschwören, denn das Papier erzitterte in der Hand des alten Herrn.

Während dieser Zeit war ihm Heiligenstein näher getreten.

„Herr Oberst,“ sagte er leise, „hören Sie auf den Rath eines Freundes: behalten Sie dieses Papier und vernichten Sie es!“

„Warum?“

„Der Freiherr von Erichsheim –“

„Er ist todt!“

„Aber seine Frau und seine Söhne leben –“

„Ich verstehe Sie nicht, mein Herr!“

„Warnen Sie den Obersten, waren die letzten Worte des verstorbenen Herrn von Nienstedt – ich mußte es ihm in seine kalte Hand versprechen, Glauben Sie mir, ich bin kein müßiger Zuschauer bei dieser Scene. Mit der Rückkehr des jungen Barons sind für mich Pflichten erwachsen, die ich zu erfüllen mich bestreben werde.“

Der Oberst wandte sich zu Ludwig:

„Wohlan, mein Herr, so nehme ich dieses Papier zurück; dessen ungeachtet aber ist die Verpflichtung nicht erloschen, die es mir auferlegt. Ich behalte mir ein Arrangement der Angelegenheit vor.“

Der junge Baron verneigte sich als ein Zeichen seiner Zustimmung.

„Herr von Heiligenstein“ sagte er dann, „mein Geschäft ist zu Ende – damit Sie das Ihrige beginnen können, ziehe ich mich zurück!“

Er verneigte sich vor dem Obersten und verließ hastig das Zimmer. Der Oberst sah erstaunt den Zurückbleibenden an.

„Herr Oberst,“ begann Heiligenstein, „ich setze voraus, daß Sie meine mehr als freundschaftlichen Beziehungen zu den Nienstedt’s gekannt haben.“

„Ich erinnere mich, daß Sie mit einem Fräulein von Nienstedt verlobt waren – der Tod raubte Ihnen die Braut, mein Herr.“

„Aber Adelheid’s Vater betrachtete mich wie seinen Sohn. Demnach konnte es mir nicht fremd bleiben, daß der alte Freiherr von Erichsheim, ein Wucherer en gros, eine bedeutende Hypothek auf dem Gute Nienstedt hatte, und daß er es war, der auf den öffentlichen Verkauf drang. Der Tod ereilte ihn, und was er angefangen, setzte seine Familie fort. In diese Zeit fällt die Abreise des jungen Ludwig. Dann starb der alte Baron, und Sie, mein Herr, traten ein Jahr später den Besitz des Gutes an. Kurze Zeit darauf fand die Verlobung Ihrer ältesten Tochter mit dem ältesten Sohne der Freifrau von Erichsheim statt.“

„O, mein Herr,“ sagte schmerzlich der Oberst, „mein Freund von Nienstedt hat Ihnen sein Vertrauen geschenkt, ich kann mich nicht erwehren, Ihnen auch das meinige zu schenken. Ich war gezwungen, mein armes Kind einem herz- und gefühllosen Manne zu opfern. Die Wittwe von Erichsheim dringt jetzt auf ein Arrangement ihres Vermögens, und um die Hypothekschuld auf Nienstedt aus der Welt zu schaffen, hat sie mir eine Verheirathung unserer jüngsten Kinder vorgeschlagen.“

„Mein Herr, haben Sie Ihrem verstorbenen Freunde Nienstedt kein Versprechen zu erfüllen?“

„Die Abreise seines Sohnes und die ungünstigen Vermögensverhältnisse haben mich von diesem Versprechen entbunden.“

„Der junge Baron ist zurückgekehrt – er besitzt mehr als eine Million, sein Stammbaum ist makellos, und mehr noch, ich habe ihn als einen vortrefflichen Mann kennen gelernt. Herr Oberst, von den Verhältnissen, die wir jetzt berühren, ist ihm Nichts bekannt, er ahnt sie nicht einmal; aber er liebt Fräulein Henriette, und wenn er seinen Stand nicht sofort entdeckte, so geschah es aus Besorgniß, daß sein übereilter Jugendstreich ihm angerechnet werden möge. Ueberlassen Sie Ihrer Tochter die Wahl, Herr Oberst, und alle Ihre Bedenken werden beseitigt sein.“

Heiligenstein schilderte nun in begeisterten Worten die Liebe des jungen Mannes. Dem Obersten schien eine schwere Last vom Herzen genommen zu sein. Beide Männer verbrachten noch länger als eine halbe Stunde im eifrigen Gespräche. Nach Ablauf derselben hatte Heiligenstein die schwierige Angelegenheit so weit geordnet, daß der Oberst, und vorzüglich Ludwig zufrieden sein konnte.

Hinter dem Hotel, das der Oberst von Eppstein mit seiner Tochter bewohnte, dehnte sich ein weitläufiger Garten mit schattigen Laubgängen aus. Hier wollte Ludwig den Freund und Anwalt seiner Herzensangelegenheit erwarten. Seine Stimmung bedarf wohl kaum einer Beschreibung. Er wußte, daß Henriette ihn liebte, und nach der so eben stattgehabten Unterredung mit dem Obersten war ihm klar geworden, daß der Vater in Verhältnissen lebte, die ihn mehr als jede andere Rücksicht bestimmen mußten, der Neigung seiner Tochter kein Hinderniß entgegenzustellen. Und befand er sich nicht im Besitze aller der Mittel, die erforderlich waren, um den Obersten dem Einflusse der Erichsheim’s völlig zu entziehen? Er glaubte nicht mehr zweifeln zu dürfen, daß er noch heute das Ziel seiner Wünsche erreichen würde. Glühend vor Aufregung durchschweifte er die einsamen Gänge, die von den Kurgästen um diese Zeit, wo die Sonne heiß herniederbrannte, gemieden wurden.

Da trat ihm plötzlich Henriette’s Kammermädchen entgegen.

„Ich suche Sie, gnädiger Herr!“

„Zu welchem Zwecke?“ fragte Ludwig, der die ihm bekannte Botin wie eine glückbringende Erscheinung begrüßte.

„Fräulein Henriette trinkt jetzt in der Laube ihre Chocolate.“

„Bist Du beauftragt, mir diese Mittheilung zu machen?“

„Ja, mein Herr!“

„So nimm Deinen Botenlohn! Bemerkst Du, daß der Herr von Heiligenstein den Obersten verläßt, so benachrichtige mich davon.“

Er warf dem Mädchen seine Börse zu und verschwand zwischen zwei blühenden Hecken. Bald stand er vor einer kleinen, dicht beblätterten Lindenlaube. Als er leise die Zweige zurückbog, sah er Henrietten: sie saß in einem kleinen Sessel und las in einem Buche. Unter dem großen runden Strohhute mit den langen blauen Bändern quollen die schweren glänzenden Locken herab. Ein einfaches weißes Kleid schmiegte sich leicht den jugendlichen, eleganten Körperformen an. So reizend das Bild auch war, das sich dem entzückten Lauscher in der dunkelgrünen, duftigen Einfassung der Laube bot, so wenig Ruhe hatte Ludwig, um sich auch nur eine halbe Minute dem Beschauen desselben zu überlassen. Er trat in den stillen, dämmernden Raum und ließ sich schweigend vor seinem Ideale auf ein Knie nieder. Henriette streckte ihm hocherröthend die kleine Hand entgegen.

„Guten Morgen, mein lieber Freund!“ flüsterte sie, indem sie das Buch auf den Tisch warf. „Sie kommen von meinem Vater?“ fügte sie rasch hinzu.

„Ja, und ich glaube mich der Hoffnung hingehen zu dürfen, daß mein Glück von Ihrer Entscheidung allein abhängen wird. Der erste Schritt ist bereits geschehen, um den Einfluß unserer Feinde zu schwächen. Ihr edler Vater, Henriette, hat mir bewiesen, daß er für den verstorbenen Baron von Nienstedt noch eine wahre, innige Freundschaft hegt.“

„Sie kommen mit dem Herrn von Heiligenstein?“ fragte sie, als ob sie das Gespräch von diesem Punkte ablenken wollte.

„Er befindet sich noch jetzt bei dem Herrn Obersten, um das Werk zu vollenden, das ich so glücklich eingeleitet habe. Ach, Henriette, überlassen wir dem Freunde und dem Vater das Arrangement der materiellen Dinge, uns bleiben ja andere Gegenstände zu besprechen –“

„Sie haben Recht.“ flüsterte sie wie beruhigt. „Doch zuvor stehen Sie auf und nehmen Sie neben mir Platz.“

Er küßte ihre Hand, erhob sich und setzte sich auf einen Stuhl.

„Henriette,“ begann er mit schwankender Stimme, „daß in diesem Bade das Loos über mein Lebensglück geworfen werden würde, war mir klar, als ich das Glück der ersten Unterredung mit Ihnen gehabt. In diesem Augenblicke vielleicht fällt der eherne Würfel, und wenn ich mich auch einer frohen Hoffnung hingeben darf, so können dennoch Fälle eintreten, die der Erreichung meines Ziels Hindernisse entgegenstellen. Henriette, verzeihen Sie meiner Liebe den Kleinmuth –“

„Mein Gott, was fürchten Sie?“ fragte sie naiv überrascht. „Ich glaubte Hoffnung von Ihnen zu erhalten, und nun –“

[36] „Noch einmal Verzeihung, Henriette! Wer wie ich liebt, sieht in dem kleinsten Umstande Gefahr, er zittert für sein Heiligstes bei jeder dunkeln Wolke. Die Saison naht sich ihrem Ende, die Ereignisse drängen zu einem Ziele hin, und wenn wir uns trennen müßten, ohne daß eine definitive Entscheidung stattgefunden – Sie haben tausend Rücksichten zu nehmen –“

„Aber keine, mein lieber Freund, die mich bestimmen könnte, mein Herz völlig unbeachtet zu lassen. Ich habe den Muth gehabt, Ihre Betheuerungen anzuhören, ich habe Sie aufgefordert, dem Freiherrn von Erichsheim entgegenzutreten – ich werde auch den Muth haben, meine Neigung offen zu bekennen, jetzt, da ich weiß, daß der Baron von Nienstedt meinem Vater das ist, was er ihm sein soll. Ich verhehle es nicht, daß nur ein blendender, künstlich erzeugter Schimmer uns umgiebt, daß ich ein armes Mädchen bin, wenn die Verhältnisse schwinden, die diesen Schimmer erzeugen.“

„O, mein Gott,“ rief Ludwig hingerissen. „Sie beregen Dinge, die mir so fern liegen –“

„Und dennoch halte ich es für Pflicht, sie zu beregen, denn Sie dürfen über meine Person nicht den leisesten Zweifel hegen. In diesem Augenblicke entscheidet sich unser Loos, und in diesem Augenblicke will ich ganz offen sein. Ludwig, Sie schilderten mir den Eindruck, den mein erstes Erblicken auf Sie ausgeübt – dieselben Empfindungen bemächtigten sich meiner, als ich Sie, den Fremden, zum ersten Male auf dem Schlosse Nienstedt sah. Sie folgten uns in das Bad, und ich entzog mich Ihrer Annäherung nicht, da sie einem Gefühle entsprach, das ich bis dahin nicht gekannt hatte, und ich bekenne es, mich glücklich machte. Mein Vater entdeckte mir nun die Absicht der Erichsheim’s, mit Schaudern gedachte ich des traurigen Schicksals meiner ältern Schwester, und Ludwig, der nicht ohne mich leben zu können schwur, ward mir ein Trost, eine Stütze, denn Alle hatten mich verlassen, man wollte mich rücksichtlos den Verhältnissen opfern. Sie wissen es,“ fügte sie flüsternd hinzu, „ich barg dem Vater das Geheimniß meines Herzens, um gegen ihn und seinen Plan zu conspiriren. Vielleicht war dies ein wenig leichtsinnig, aber ich bauete fest auf den ehrlichen Charakter, der sich so offen in Ihren Zügen ausspricht und glaubte den Versicherungen, daß ein Standesunterschied zwischen uns nicht obwalte. Der Ball bei dem Fürsten gab mir die Gewißheit, daß ich mich nicht getäuscht hatte, und als ich Ihren wahren Namen hörte, ward mir die Vorsicht erklärlich, die Sie anwendeten.“

„Henriette,“ rief Ludwig, „ich wäre sicher ein Fremder geblieben, würde unzweifelhaft mein Incognito bewahrt haben, hätte mich die Liebe nicht zu Ihren Füßen festgebannt! Ich begriff, daß meine Abkunft die einzige Waffe war, mit der ich Sie vertheidigen konnte –“

Sie reichte ihm verschämt lächelnd die Hand und flüsterte:

„Huldigen wir den Vorurtheilen, da das Glück meines armen Vaters davon abhängt. Ich habe Sie geliebt, ehe ich Ihren Stand kannte, und Sie müssen überzeugt sein, daß meine Neigung keine bedingte ist.“

„O, mein Gott, Henriette, ich habe nie daran gezweifelt!“

„Und dennoch erblicke ich eine Wolke auf Ihrer Stirn, die Ihr Glück zu trüben scheint. O, sprechen Sie sich offen aus, diese Stunde darf nicht vergehen, ohne daß der kleinste Zweifel beseitigt wird. Woran denken Sie?“ fragte sie zärtlich, indem sie ihre kleine Hand an seine glühende Stirn legte. „Theilen Sie sich mir mit, vielleiht kann ich Sie beruhigen.“

„Henriette, ich denke an einen Umstand, den der Zufall hätte fügen können.“

„Nennen Sie mir diesen Umstand.“

„Wenn es mir nun nicht vergönnt gewesen wäre, einen Stammbaum aufzuzeigen? O, meine Geliebte, sagen Sie mir, was wäre mein Loos gewesen?“

„Sie gehen zu weit, Ludwig!“ antwortete sie lächelnd und erröthend. „Auch ich habe mir diese Frage in jener Zeit der Ungewißheit vorgelegt –“

„Und was antworteten Sie sich darauf?“

„Ich vertraute dem guten Genius der Liebe, und, wie Sie sehen, hat er mich nicht getäuscht. Warum soll ich jetzt noch an Dinge denken, die mir nur Qual bereiten? Ich liebe Sie, Ludwig, und dieser eine Gedanke füllt mein ganzes Herz aus, daß für andere kein Raum mehr darin ist.“

Hingerissen ergriff Ludwig ihre beiden kleinen Hände und drückte sie an seine Lippen. Henriette legte ihre Wange an seine Schulter, als ob sie ihr glühendes Gesicht verbergen wollte. Ein Geräusch von Schritten schreckte die Liebenden empor. Als sie aufsahen, stand die bleiche Freifrau von Erichsheim am Eingange der Laube; der blonde Ignaz hielt den Arm seiner Mutter in dem seinigen Mutter und Sohn schienen sprachlos vor Erstaunen zu sein. Henriette war nur überrascht, sie erhob sich und grüßte durch eine leichte, anmuthige Verneigung.

„Man sagte uns, daß der Oberst von Eppstein hier bei seiner Tochter sich befände,“ begann die alte Dame mit zitternder Stimme.

„So hat man Ihnen die Unwahrheit gesagt, gnädige Frau,“ antwortete Henriette so ruhig, als ob der Besuch sie durchaus nicht belästige. „Mein Kammermädchen wußte, daß der Herr Baron von Nienstedt mir Gesellschaft leistet, und ich habe durchaus keinen Befehl gegeben, mich zu verleugnen. Mein Vater befindet sich in seinem Zimmer und hat Geschäfte mit dem Herrn von Heiligenstein. Wollen Sie ihn sprechen, so werde ich selbst gehen –“

Die lange bleiche Frau vertrat dem jungen Mädchen den Weg.

„Ich bitte, bleiben Sie mein liebes Fräulein!“ sagte sie spöttisch lächelnd. „Nach dem tête-à-tête, das der tüchtige Zufall uns zu belauschen gestattete, fällt der Grund des Besuches weg, den ich dem Herrn Obersten zugedacht. Der Herr Baron von Nienstedt soll sich nicht darüber beklagen, daß wir dem zärtlichen Ergusse seines Herzens auch nur um eine Minute Abbruch gethan.“

„O, gewiß,“ fügte der blonde, junge Mann höhnend hinzu, „man soll uns nicht der Zudringlichkeit zeihen, und deshalb bitte ich Fräulein von Eppstein annehmen zu wollen, daß wir durchaus keine Ansprüche aus den Beziehungen herleiten, in denen wir zeither gestanden haben.“

Henriette verneigte sich zum zweiten Male. Dann antwortete sie mit kalter Artigkeit:

„Ich habe dies seit dem Augenblicke vorausgesetzt, daß ich das Glück hatte, den Herrn von Erichsheim kennen zu lernen.“

„Wahrhaftig?“ fragten Mutter und Sohn zugleich.

„Sie werden nicht in Abrede stellen, gnädige Frau, daß ich mir das Recht frei zu handeln in jeder Beziehung gewahrt habe.“

„Eben so wenig,“ fügte die Freifrau hinzu, „daß Sie dieses Recht auch geübt haben. Wahrlich, ich kann es mit gutem Gewissen bestätigen!“

„Gnädige Frau,“ sagte Ludwig, dessen Geduld zu Ende ging, „es bedarf Ihrer Bestätigung nicht, denn Fräulein Henriette hat mir den Vorzug eingeräumt, ihrem Vater zu sagen, daß sie der Familie von Nienstedt anzugehören kein Bedenken trägt.“

Die Freifrau zuckte zusammen. Wie krampfhaft drückte sie die Spitzen ihrer schwarzen Mantille in der Hand, und dabei schleuderte sie einen furchtbaren Blick auf die beiden jungen Leute, die mit furchtloser Stirn vor ihr standen.

„Sie trägt kein Bedenken!“ zischte sie, in tiefster Seele verletzt.

„Ich verschmähe es, von Ihnen, mein Herr eine nähere Deutung dieser Worte zu fordern.“

„Aber ich verschmähe es nicht, Mutter!“ rief Ignaz. „Mein Herr,“ wandte er sich zu Ludwig, „Sie werden nicht abreisen, ohne mir Rede gestanden zu haben! Erwarten Sie bis morgen meinen Cartelträger.“

„Seien Sie gewiß mein Herr, daß ich ihn erwarte!“

Mutter und Sohn verließen rasch die Laube und verschwanden in den Gängen des Gartens. Henriette sank an Ludwig’s Brust.

„Die Entscheidung ist rascher gekommen, als ich geglaubt habe!“ flüsterte sie. „An ein Umkehren ist nicht mehr zu denken, darum schreiten Sie vorwärts, und vergessen Sie nicht, daß meine Ehre in Ihre Hand gegeben ist!“

„Ach, Henriette, ich werde sie zu wahren wissen!“ rief der Baron. „Nur mit meinem Leben erlischt die Sorge für Ihre Ehre, für Ihr Glück!“

Nach einigen Minuten erschien das Zimmermädchen. Ihr auf dem Fuße folgend der Oberst und Heiligenstein.

(Fortsetzung folgt.)
[37]
Land und Leute.
Nr. 2. Acht Tage im altenburger Lande.

Altenburger.
Ehemann.      Mädchen.      Braut.      Bursche.      Ehefrau.

In dem Schaufenster eines Kunsthändlers der Passage St. Hubert in Brüssel sah ich einst mehrere Bilder ausgehängt, welche eine dichte Gruppe Neugieriger vor dem Gewölbe versammelt hatten. Es waren bunte und sehr sauber und fein ausgeführte Abbildungen der Nationaltrachten verschiedener Völker, die das Interesse der Vorübergehenden so erregt hatten. Baskische Ziegenhirten, italienische Bauermädchen, donische Kosaken, griechische Klephten und türkische Pascha’s hingen im bunten Durcheinander mit –: [38]Mais de quelle nation ou de quel pays donc ceux-ci?“ fragte in dem Augenblick eine junge Dame ihren Begleiter und deutete dabei auf einige männliche und weibliche Figuren, die ersteren in langen, schwarzen, grün gefütterten Röcken, kurzen, bis an die Knie reichenden, bauschigen, schwarzen Hosen, weißen Strümpfen und Schuhen, und die letzteren in bunter, seltsamer Tracht mit einer Art Küraß vor dem Busen.

Ce sont probablement des turcs ou quelque autre race d’hommes du Levante“ antwortete der Herr und wischte sein Augenglas ab, um die vermeintlichen Türken näher zu betrachten. Ich weiß nicht, was für ein Gesicht der Brüsseler gemacht haben würde, wenn ich ihn plötzlich unterbrochen und gesagt hätte: „Entschuldigen Sie, mein Herr, diese Leute da sind keine Türken, sondern eine Art Landsleute Ihres guten Königs Leopold,“ jedenfalls aber würde er ein sehr ungläubiges Lächeln zu unterdrücken versucht haben.

Wie? Leute mit dieser wunderlichen, seltsamen Tracht, die man wohl hie und da beim Karneval und auf Maskeraden erblickt, Männer mit diesen langen schwarzen und langen weißen Röcken, mit diesen bauschigen, kurzen, ledernen Hosen, mit diesen engen, dicht anliegenden hohen Stiefeln und diesem kleinen, runden Hütchen auf dem kurzgeschnittenen Haupthaar, und Frauen und Mädchen mit diesen bunten, um die Stirn und das Haar gewundenen Tüchern, mit diesem steifen, vielfarbigen Brustlatz, der die Brust wie ein Panzer verhüllt, mit diesen kurzen, faltigen, bis an die Knie reichenden Röcken, mit diesen langen, weißen, feindurchbrochenen Strümpfen und glänzend schwarzen Schuhe von sämischem Leder – noch einmal– Leute in dieser ungewöhnlichen Tracht sollten inmitten Deutschlands leben? – Ungläubig schüttelt der Ausländer, wenn er dies hört, den Kopf und glaubt am Ende gar, man wolle ihn narren und doch hat die Sache ihre Richtigkeit und doch giebt’s im Innern Deutschlands, an den Ufern der Pleiße, zwischen den Grenzen der Königreiche Sachsen, Preußen, des Großherzogthums Weimar und des Fürstenthums Reuß einen Volksstamm von vielleicht einigen sechzigtausend Köpfen, welche nicht nur diese originelle Tracht tragen, sondern auch eben so wunderliche, originelle Sitten und Gebräuche haben, die sie, von den Vorfahren ihnen überliefert, in Mitten einer, alle Ursprünglichkeit verwischenden und alle Eigenthümlichkeiten aufhebenden Civilisation zum großen Theil treu bewahrt haben und sie noch heutigen Tags pflegen und üben. –

Die deutschen Touristen und Reisenden sind sonderbare Leute. Um originelle, nationale Sitten und Trachten zu sehen, flüchten sie sich aus dem Gewühl der großen Städte des platten Landes hinunter nach Italien, in die apulischen Gebirge oder zu den Basken, in die Thäler der Pyrenäen oder gar zu den Beduinen in der Sahara, während in dem Herzen Deutschlands, zwischen dem 50. und 52. Grad nördlicher Breite ein Volksstamm hauset, dessen Sitten und Trachten zum Wenigsten eben so ursprünglicher Natur, als die irgend eines, den wir in weiter Entfernung aufsuchen, wir meinen die altenburgische Bauernschaft, diesen letzten, unvermischten Rest der alten Sorben-Wenden.

Ich war noch ein junger Student, als ich einst eine kurze Zeit unter diesem Völkchen weilte, aber die Bilder, die ich da gesehen, haben sich meiner Erinnerung so tief eingeprägt, daß sie noch heute in bunten, frischen Farben vor dem inneren Auge stehen.

Der rauhe, scharfe Nordwind strich schon über die gelben Stoppelfelder der fruchtbaren, wellenförmigen Ebene, als wir in das Dorf, wo uns der Gastfreund wohnte, hineinfuhren. Der erste Anblick schon zeigte von der Behäbigkeit und Wohlhabenheit dieser Bauern, die in ihren weißen, weiten, gefältelten Hemdärmeln, ihren kurzen, schwarzen, ledernen Pumphosen, das runde, schwarze Filzhütchen auf dem Kopf und die Thonpfeife zwischen den Zähnen, vor ihren Gehöften standen, und sich in ihrer eigenthümlichen Mundart von ihren bäuerlichen Arbeiten unterhielten. – Da sah man keine alten, zerfallenen, mit Stroh oder Schindeln gedeckten Hütten, keine verwilderten, mit Unkraut überwucherten, von zerbrochenen Stacketen oder verfaulten Zäunen umschlossenen Gärtchen, kein mageres, dürftiges Vieh in wüstem Durcheinander auf unreinlichem Hof, keine unsauberen, verkommenen Menschengestalten, wie sie wohl hie und da in manchen ländlichen Bezirken dem Auge entgegentreten. Alle die Bauernhöfe an den beiden Seiten der Dorfgasse waren gar stattliche, steinerne, mit rothen Ziegeln gedeckte Gebäude, mit zierlichen, reinlich gehaltenen Gärtchen daneben, in denen noch bunte Herbstblumen, Astern und Georginen blühten. Frische, muntere Mädchengesichter mit glänzenden Wangen, um die Stirn ein farbiges kattunenes oder seidenes Tuch, mit auf den Nacken herabfallenden Zipfeln, geschlungen, sahen aus den Fenstern oder standen an den Zäunen der Gärtchen und unten, von der Dorfgasse herauf, trieben die Kühjungen braune, glänzende, fette Rinder, die von der Weide auf den Wiesen kamen, in die einzelnen, von dem eigentlichen Bauernhof abgesonderten Viehhöfe.

„Ihr kommt zu rechter Zeit,“ sagte unser Freund uns die Hand zum Willkommen reichend, „denn morgen zum „Durstig“ (Donnerstag) ist große Hochzeit, meines Nachbars Jüngster, der „Malcher“ (Melchior) freit die „schüne Bille“ in -dorf.“ Die „schüne Bille" sollte schöne Sybille heißen. „Wir gehören zur „Freundscht“ (Freundschaft) und Ihr könnt als Trollgast mitgehen.“

Eine altenburgische Bauernhochzeit! Wahrlich, wir konnten dem Zufall danken, der uns zu so glücklicher Stunde herführte. Kaum warf am andern Morgen die Herbstsonne ihr mildes Licht durch die von Weinranken überzogenen, runden Fensterscheiben auf die großblumigten Kattunvorhänge des hohen Himmelbettes, in dem wir im Gastzimmer schliefen, als rauschende Musik von der Dorfgasse herauf ertönte, Pistolenschüsse die Luft erschütterten und rasselnde Wagen mit muthigen, laut wiehernden Pferden bespannt, zur Dorfgasse heraufrollten. Als wir mit dem Gastfreund aus dem Thor des Gehöftes traten, herrschte schon lautes, buntes Durcheinander vor dem Hause des Nachbars, dessen Sohn der Bräutigam war. Da saßen auf hohen, kräftigen, prächtig aufgeschirrten, braunen und schwarzen Hengsten, von deren Köpfen rothe, gelbe, blaue, orangefarbene Bänder niederflatterten und deren lange Schweife in grüne Laubguirlanden und bunte Blumensträußer eingebunden waren, stattliche Bauern in jener schon beschriebenen Tracht, das heißt in langen, kurztaillen, schwarzen, mit grünem Flanell gefütterten Röcken, weiten, schwarzledernen, bis an das Knie reichenden Hosen, und hohen, enganschließenden Stiefeln, kleine Blumenbouquets auf den runden Filzhütchen. Musikanten in grünen Tuchspenzern und denselben Unterkleidern, wie sie die Reiter hatten, standen vor dem Gehöfte und schmetterten aus ihren Trompeten und Posaunen lustige Tänze und Volksmelodien in die frische, herbstliche Morgenluft hinaus, während buntgekleidete Frauen und Mädchen, deren Tracht wir später ausführlicher beschreiben werden, in der großen Wohnstube an breiten, schneeweiß gescheuerten eichenen Tischen bei Kaffee und Kuchen saßen.

Vor dem Thor des Gehöftes aber stand zwischen zwei großen Körben die kleine „Mäd“ (die kleine Magd) und vertheilte ganze Berge voll breiter- und Sternkuchen an die sie umringende, schreiende und jubelnde Dorfjugend. Unterdessen kamen immer mehr Hochzeitsgäste in bebänderten und mit Guirlanden verzierten Wagen unter lustigem, übermüthigem Gejodel die Dorfgasse heraufgefahren – denn der Bräutigam und die Braut hatten ein große „Freundscht“ – und der Zug setzte sich endlich, nachdem sich auch die zuletzt Gekommenen mit kaltem Braten und Geflügel, Bier, Schnaps, Kaffee und Kuchen gestärkt, in Bewegung. Voran auf einem mit Laubwerk, bunten, seidenen Bändern, Herbstblumen und Flaggen geschmückten Wagen saßen die Musikanten und spielten lustige Weisen auf. Dann hoch zu Roß: der Festordner und Leiter des Ganzen, der Hochzeitbitter. Von der Spitze seines hohen Hutes, an dessen hinterer Krempe zwei große, grüne, mit Blumen durchflochtene Kränze befestigt waren, flatterten seidene weiße, rothe und grüne Bänder, unter welche sich auch ein einziges schwarzes gemischt hatte; ein Zeichen, daß eins von den Aeltern des Brautpaars – es war die Mutter des Bräutigams – gestorben sei. In der Linken hielt er einen kurzen, braunen Stab, während aus der Brusttasche der langen, feintuchenen, schwarzen Kappe der Zipfel eines zierlich zusammengelegten, buntseidenen Taschentuchs stutzerhaft heraushing.

In früheren Zeiten war das Amt eines Hochzeitbitters ein sehr gesuchtes und noch einträglicher als jetzt. Hinter dieser wichtigen Person unseres Festzuges ritt zwischen seinen zwei Brüdern, ein Blumenbouquet im Knopfloch und einen Rautenkranz mit einem Sträußchen auf dem Hütchen, der glückliche, rothwangige Bräutigam, dem die übrigen Bauern gleichfalls zu Pferde folgten.

Den Männern folgten die, welche himmlische Rosen in’s irdische Leben flechten: die Frauen und die Mädchen, oder vielmehr [39] die Hormtjungfern in ihrem strahlenden, phantastischen Schmuck. „Hormtjungfern?“ – Wer sind diese räthselhaften Jungfrauen, was bedeutet dieses seltsame Wort? Nun, die Hormtjungfern sind eben frische, blühende, rosige Mädchengestalten, welche die Braut zum Altare geleiten und die ihren Namen von dem blitzenden, funkelnden Kopfputz, den sie auf dem Haupt tragen, von dem „Hormt“ – ein altes wendisches Wort – haben. Dieses Hormt, welches von den altenburgischen Bauernmädchen, aber nur von den Mädchen, nicht von den Frauen, bei Kindtaufen und Hochzeiten getragen wird, ist eine Art runder Schachtel – möchten wir fast sagen – mit purpurrothem Sammet überzogen, an welchem eine Menge kleiner silbernen Tafeln mit silbernen Knöpfchen, an denen wieder kirschblätter-ähnliche, vergoldete Schildchen hängen, befestigt sind. Am Hintertheil dieses seltsamen Kopfputzes gehen zwei aus den Haaren des Mädchens geflochtene und mit farbigem Sammetband umwundene Zöpfe, zwischen denen ein Kränzchen aus Silberlahn sitzt, bogenförmig empor und farbige Glaskorallen erhöhen den Glanz dieses funkelnden und bei der leisesten Bewegung des Hauptes klingenden und tönenden phantastischen Kopfputzes. Ein buntfarbiges Mieder von Seidenzeug, mit jenem überzogenen, seltsamen, pappenen Küraß, der als Vorstecklatz dient, ein engärmliches Jäckchen von gleichem Stoff, wie der des Mieders, ein kurzer, bis zur Wade reichender, buntcarrirter, sehr faltiger Rock, unter welchem coquett die gestickten, mit Goldfäden durchwirkten Strumpfbänder, und die weißen, durchbrochenen Strümpfe hervorschimmern und kleine, zierliche Saffianpantoffeln, die einen netten, wohlgeformten Fuß bedecken, vollendeten den Anzug dieser Mädchen, der zugleich, mit Ausnahme des Hormt ihre gewöhnliche Sonntagstracht ist. Denn die während der Werkeltage besteht, wenn auch Form und Schnitt gleich sind, doch aus geringeren Stoffen.

Die Arrieregarde des Zugs endlich bildeten wieder Bauern auf ihren mit rothem, gelbem, grünem Riemenzeug geschirrten Pferden. So geordnet, brach die Karavane auf und brauste unter Sang und Klang und Gejodel durch mehrere Dörfer, die man passiren mußte, ehe man in das Heimathsdorf der Braut kam.

In jedem Dorf kamen die Einwohner aus ihren Häusern, brachten Bier, Branntwein und kalte Speisen, mit denen sie gastfreundlich die durchziehenden Hochzeitsgäste bewirtheten. Vor noch gar nicht langer Zeit gab es dabei noch mehr Formen und Ceremonien. – Drei bis vier Reiter sprengten dem Zuge voraus, hielten auf dem freien Platz in dem Dorf, welches der Hochzeitszug passiren mußte, an, erhoben sich in dem Sattel und frugen mit lauter, weit hinschallender Stimme: ob es ehrlichen Leuten erlaubt sei, hier einzusprechen, ihre Geschäfte zu verrichten und sich mit Speise und Trank zu erquicken und dann ungehindert ihres Wegs zu ziehen, auf welche ernsthafte und förmliche Anrede eine ebenso ernsthafte Antwort nach hergebrachter Form gegeben wurde. – Vom Morgenwind herübergetragene Glockenklänge, die verkünden sollten, daß heute eine Trauung stattfinde, sagten uns, daß wir uns dem Heimathsdorf der Braut näherten. – Noch eine Biegung der Straße, und die rothen Giebel der Häuser glänzten dem Blick entgegen. Frischen Athem holten die Musikanten, lauter erscholl ihre Fanfare und unter brausendem Jubel und Jodeln stürmte der Zug der Gäste zu Roß und Wagen in’s Dorf. Am Hause der Braut standen die Aeltern und Verwandten zum Gruß und zur Bewillkommnung bereit, und nach einem rasch verzehrten Frühstück ging es zur Kirche.

Voran wieder die Musikanten, einen lustigen Hochzeitsmarsch blasend, dann der Brautführer und die Braut mit dem Hormt, ihr zur Linken der Küster mit einem Rosmarinstengel und einem buntseidenen Tuch in der Hand, und dicht hinter ihr der glänzende Schwarm der Hormtjungfern und die übrigen weiblichen Hochzeitsgäste. – In ähnlicher Ordnung, ebenfalls mit Musikanten an der Spitze, zog der Zug des Bräutigams einher, nur daß dieser von einem sogenannten Brautdiener geleitet wurde. Nach Beendigung der kirchlichen Ceremonie, bei welcher unter Anderem die Brautleute einen Mahlschatz unter sich wechselten, der aus einer Reihe an einer grünseidenen Schnur befestigter alter Henkel-Speciesthaler bestand) ging es in derselben Weise zurück in's Hochzeitshaus. –

(Schluß folgt.)


Theuerungs-Regeln.
Winke für Unbemittelte.

Den Boden, auf welchem Nahrungspflanzen, besonders Getreidearten wachsen, hat man in neuerer Zeit mit Hülfe der Wissenschaft (Agrikulturchemie) dadurch fruchtbarer und für jene Pflanzen gedeihlicher zu machen gewußt, als er vordem war, daß man ihn naturgemäßer bearbeitete und alle die Stoffe zuführte, welche jene Pflanzen durchaus zu ihrer guten Ernährung brauchen, d. s. aber solche Stoffe, aus welchen jene Pflanzen zusammengesetzt sind und die man durch die chemische Untersuchung der Pflanzen kennen gelernt hat. Eine ähnliche Verbesserung bedarf nun aber sicherlich zur Jetztzeit, wo die Zahl schlecht-ernährter Menschen immer mehr wächst und die Nahrungsmittel fortwährend im Preise steigen, der Boden, von welchem aus der menschliche Körper wächst und ernährt wird. Vorzugsweise ist für die ärmere Menschenklasse, welche durch körperliche Anstrengungen ihr tägliches Brot verdienen muß, eine bessere Bodenkultur wünschenswerth. – Der Boden, auf welchem der menschliche Körper hervorwächst, ist nun aber sein Blut und wir wollen einmal versuchen, mit Hülfe der heutigen Wissenschaft (die man vielleicht Sanguikulturchemie nennen könnte), einige Winke zur naturgemäßen Bebauung dieses Bodens zu geben.

Das Blut (s. Gartenlaube 1853. Nr. 45.) ist insofern die Quelle des Lebens (des Wachsthums und der Ernährung) unseres Körpers, als dasselbe, fortwährend im Kreise durch unsern Körper herumfließend, allen Geweben und Organen desselben das Material zu ihrem Aufbaue (von den Haargefäßen aus) liefert. Um nun aber diese Lieferung (den Stoffwechsel; s. Gartenlaube 1854 Nr. 39. u. 1855. Nr. 9.) in ununterbrochenem und richtigem Gange erhalten zu können, müssen dem Blute auch von außen immerfort diejenigen Stoffe zugeführt werden, welche dasselbe zur Erzeugung jenes Ernährungsmaterials bedarf. Die zu diesem Zwecke dem Blute zuzuführenden Stoffe sind, außer dem Sauerstoffe der atmosphärischen Luft, hauptsächlich: Wasser, Eiweißstoffe (Faserstoff, Eiweiß, Käsestoff, Gallerte, Kleber, Hülsenstoff), Fett (Butter, Eidotter, Fleischfett, fette Oele) und fettähnliche Substanzen (Stärke, Zucker, Gummi, Pflanzenschleim und Pflanzengallerte, Spiritus, Milchzucker und Milchsäure, Honig und Wachs), Kochsalz, Kalk, Kali und Natron, Eisen (s. Gartenlaube 1854, Nr. 32. u. 39.). Es finden sich diese Nahrungsstoffe in den verschiedenen Nahrungsmitteln in größerer oder geringerer Anzahl und Menge vor und diese werden danach als mehr oder weniger nahrhaft bezeichnet. Es ist deshalb aber auch von der größten Wichtigkeit für uns, wenn wir die Ernährung unseres Blutes und durch dieses die unseres ganzen Körpers richtig leiten wollen, die Zusammensetzung und Nahrhaftigkeit der Nahrungsmittel, so wie auch deren richtige Bereitungsweise und Verdaulichkeit genau zu kennen. Wir hätten sonach folgende Fragen in Bezug auf die richtige Ernährung unseres Körpers zu stellen und zu beantworten: Wie verhalten sich die gebräuchlichen Nahrungsmittel hinsichtlich ihrer Nahrhaftigkeit und Verdaulichkeit zu einander? Wie sind Nahrungsmittel, zumal die billigeren der Armen, nahrhafter und verdaulicher zu machen? Wie kann sich überhaupt der Arme billig und doch naturgemäß ernähren? Eine erschöpfende Antwort dieser Fragen läßt sich allerdings nur durch wissenschaftliche Versuche im Großen geben; bis diese aber gemacht sind, und sie werden sicherlich über Lang oder Kurz von Seiten der Staaten angestellt werden, mögen die folgenden diätetischen Bemerkungen zum Nutzen der Ernährung armer Leute einige Beachtung finden.

Vorerst vergesse man niemals, daß „den Hunger stillen und sich sättigen“ noch durchaus nicht gleichbedeutend ist mit „sich ordentlich nähren.“ Zu einer richtigen, den Körper gesund und kräftig erhaltenden Ernährung gehören durchaus Nahrungsstoffe, welche den unsern Körper zusammensetzenden [40] Stoffen ähnlich sind, also außer Wasser solche Nahrungsmittel, die ebensowohl die gehörige Menge von Eiweiß- wie auch von Fettsubstanzen, Salzen, Kalk und Eisen enthalten. Eine Nahrung, welche den einen oder den andern der genannten Stoffe gar nicht oder in zu geringer Menge besitzt, wie dies bei den Speisen armer Leute gewöhnlich der Fall ist, stört die richtige Ernährung des Körpers und macht denselben elend und krank. Daher das häufige Siechthum und Kranksein Armer. Es drückt sich der Armuths-Habitus aber um so deutlicher aus, je mehr der Arme durch körperliche Anstrengungen, also auf Kosten seiner (aus einer Eiweißsubstanz gebildeten) Muskeln oder des Fleisches, seinen Lebensunterhalt verdienen muß und diese bei der Arbeit sich aufreibenden Muskeln doch nicht ordentlich durch gehörig eiweißhaltige Kost zu ernähren im Stande ist. Man vergleiche nur einmal die von Kartoffeln, Brot und Kaffee lebenden deutschen Arbeitsleute mit den fleischessenden englischen. Es ist deshalb auch ein großes Unrecht, von schlecht und falsch ernährten Personen dieselben Leistungen zu verlangen, wie von Solchen, die eine gute Kost genießen. Dies bezieht sich übrigens auch auf die Schulkinder, bei denen die Aeltern und Lehrer sehr oft nicht die gehörige Rücksicht auf das Verhältniß zwischen Nahrung und Arbeit nehmen. Es ist geradezu ein Verbrechen, ja sogar subtiler Mord, wenn Dienstleuten, die tüchtig arbeiten müssen, nicht genug und wirklich nahrhaftes Essen von der Herrschaft verabreicht wird. Und traurig muß es Jeden stimmen, wenn er sieht, wie man Armen den Hunger durch das allerschlechteste und unzureichendste Nahrungsmittel, durch die fast nur aus Stärke bestehende Kartoffel, zu stillen sucht und dann gar noch verlangt, daß solche falsch und schlecht genährte Subjekte schwere Arbeit (an Eisenbahnen) verrichten sollen. – Man merke doch nur einmal, daß der Mensch blos bei gemischter (d. h. thierischer und pflanzlicher) Kost gut gedeihen kann und daß, wenn er thierische Nahrungsmittel (wie Milch, Fleisch, Ei) entbehren muß, dann wenigstens solche pflanzliche Stoffe zur Nahrung zu wählen hat, die den thierischen am ähnlichsten sind, wie die Getreidearten (Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Hirse, Reis und Mais) und Hülsenfrüchte (Erbsen, Bohnen, Linsen und Wicken). In den Pflanzennahrungsmitteln finden sich nämlich die Eiweißsubstanzen (hier Kleber und Hülsenstoff genannt), welche in den thierischen Nahrungsmitteln am reichlichsten vorhanden sind, und mit ihnen noch mehrere andere Stoffe (besonders Eisen und Kochsalz) in zu geringer Menge vor, während von den fettähnlichen Stoffen (Stärke, Zucker), an welcher die thierischen Nahrungsmittel zu wenig besitzen (zumal wenn man die Sahne von der Milch und das Fett von der Fleischbrühe abschöpft), im Verhältnisse zu große Mengen in der Pflanzennahrung vorhanden sind. Will man also die pflanzliche Nahrung gehörig nahrhaft machen, so sind derselben durchaus noch Eiweißsubstanzen (Eiweiß, Milch, Käse, Fleischbrühe, Blut), Kochsalz und Eisen zuzusetzen. So würde z. B. zum Brote Käse besser als Butter passen, Kartoffelbrei in Milch oder Fleischbrühe gekocht nahrhafter als mit Butter sein, den Reis der Käse nahrhafter machen, zu ganzen Kartoffeln lieber Wurst oder Käse als Butter zu essen sein u. s. f. Da der Zusatz von Eisen aber den Speisen einen unangenehmen (tintenartigen) Geschmack geben würde, sein Vorhandensein im Blute aber von der allergrößten Wichtigkeit bei der Ernährung des Körpers und bei der Wärmebildung ist, so ließe sich dasselbe vielleicht als eisenhaltiges Schnäpschen zum Essen trinken und mit den andern Nahrungsstoffen dem Blute zuführen. Ein solcher Armuths-Eisenschnaps könnte dadurch billig hergestellt werden, daß man zu einem Gläschen schwachen Liqueurs mehrere Tropfen einer leichtverdaulichen Eisentinktur (der essig-, milch- oder äpfelsauren) zusetzte.

Sowie nun bei der Wahl der Nahrungsmittel zuerst nach der Nahrhaftigkeit derselben zu forschen ist, so muß sodann auch die Verdaulichkeit und Verdauung der Speisen gehörig in Betracht gezogen und soviel als möglich unterstützt werden. Denn es kommt gar sehr häufig vor, daß eine große Menge von Nahrungsstoff ganz unbenutzt mit dem Stuhle wieder aus dem Körper ausgeführt wird, sobald die Verdauung der Nahrungsmittel schwer, und unvollkommen vor sich geht. Am deutlichsten zeigt sich dies bei dem Genusse von Fleisch, wenn dieses in schwer löslicher Form und in größeren unzerkauten Stücken verschluckt wird; ebenso, aber auch bei Milch, Käse. hartem Ei, Hülsenfrüchten und Mehlspeisen. Deshalb hängt von der Zubereitung der Speisen, so wie von der richtigen Beobachtung der Verdauungsregeln sehr viel ab und manche Menschen brauchten vielleicht nur die Hälfte von Dem zu essen, was sie essen, um ihren Körper hinreichend zu ernähren, wenn sie es richtig genössen. Bei der Speisung Armer sind diese Thatsachen natürlich weit beachtungswerther, als bei den Mahlzeiten Wohlhabender, welche einen Theil der Nahrungsstoffe blos des Genusses wegen genießen können, während der Arme nur der Erhaltung seines Körpers halber essen und trinken muß und zwar billig.

Was nun die zur Förderung der Verdauung dienenden Regeln betrifft, so würden die folgenden vorzugsweise der Beachtung werth sein. 1) Man bereite die Nahrungsmittel so zu, daß sie so verdaulich als möglich werden, damit nicht Parthien derselben unverdaut mit dem Stuhle wieder fortgehen. Vorzüglich ist das Fleisch, welches um so nahrhafter ist, je blutreicher dasselbe und je löslicher seine Fasern sind, durch Braten oder richtiges Kochen (wobei große Stücken sofort in kochendes Wasser zu bringen und einem starken Feuer auszusetzen sind), sowie durch Behandlung mit Essig- oder Milchsäure (saure Sahne) leicht verdaulich (d. h. im Magen- und Darmsafte leicht löslich) zu machen (s. Gartenlaube 1854. Nr. 21.). Sodann sind auch unlösliche Stoffe so viel als möglich aus den Nahrungsmitteln vor deren Genuß zu entfernen, weil jene Stoffe den Zutritt der Verdauungssäfte zu den verdaulichen Stoffen und so deren Verdauung hindern. Deshalb sind die von ihren Schalen befreiten (durchgeschlagenen) Hülsenfrüchte und Getreidesamen nicht nur verdaulicher, sondern auch nahrhafter. Es sind überhaupt alle festeren Nahrungsstoffe (besonders auch die stärkereichen Pflanzennahrungsmittel) durch eine richtige Zubereitung so weich als nur möglich zu machen, damit die Verdauungssäfte dieselben gehörig durchdringen können. – 2) Man bringe alle festen Nahrungsmittel (zumal das Fleisch) tüchtig gekaut in den Magen, weil sonst die größeren und unzerkauten Stücken unverdaut bleiben. Man esse deshalb langsam und kaue ordentlich. – 3) Das Trinken beim Essen unterstützt insofern die Verdauung, als dadurch die Verdauungssäfte vermehrt werden und das Feste besser durchdringend erweichen. Ein leichtes Bier, in welchem doch auch, wenn auch nur wenige Nahrungsstoffe aus dem Getreide vorhanden sind, ist natürlich dem Wasser vorzuziehen. Ebenso trägt auch das gehörige Würzen der Speisen, sowie der mäßige Genuß schwach-spirituöser Getränke zur Beförderung der Verdauung mit bei und zwar theils durch Vermehrung der Absonderung von Verdauungssäften, theils durch Anregung der Bewegungen in den Verdauungsorganen. Wir möchten zu diesem Zwecke abermals den oben erwähnten eisenhaltigen Liqueur empfehlen, der übrigens auch Bleichsüchtigen (Blutarmen) insofern gute Dienste thut, natürlich nur neben einer nahrhaften Kost, als er durch seinen Eisengehalt den Uebergang der Lebensluft (des Sauerstoffs) aus der eingeathmeten atmosphärischen Luft in das Blut (innerhalb der Lunge; s. Gartenlaube 1853. Nr. 17.) befördert.

Zur Kultur des Blutes ist nämlich Sauerstoff deshalb ganz unentbehrlich, weil dieser nicht blos durch Verbrennung gewisser Stoffe zur Entwickelung der Wärme beiträgt (s. Gartenlaube 1854 Nr. 33), ohne welche der Stoffwechsel (die Ernährung, Zellen- und Gewebsbildung) unmöglich ist, sondern weil er auch zur Verwandelung ebenso der zu Gewebe zu verarbeitenden, neuaufgenommenen Nahrungsstoffe, so wie der alten abgestorbenen Gewebsbestandtheile zu Auswurfsstoffen die Veranlassung giebt. Die Aufnahme dieser zum Leben unentbehrlichen Luftart findet in den Lungen statt und wird hauptsächlich durch das Eisen des Blutes (der Blutkörperchen) vermittelt, welches gewissermaßen den Sauerstoff an sich und so in das Blut hineinzieht. Sonach ist auch das Eisen im Blute ein sehr wichtiger Bestandtheil, und da dasselbe in den pflanzlichen Nahrungsmitteln, an welche Arme vorzugsweise gewiesen sind, in weit geringerer Menge als in den thierischen vorhanden ist, so dürfte die Empfehlung jenes Eisenliqueurs zum Ersatze des Eisens gerechtfertigt sein, immer aber mit der Voraussezuung, daß auch die andern nöthigen Nahrungsstoffe ebenfalls gleichzeitig in’s Blut geschafft werden. – Die Stoffe, welche der Sauerstoff im Blute zum Theile nur zu dem Zwecke verbrennt, um die Eigenwärme unseres Körpers zu erzeugen, und welche man deshalb auch Heizungsmaterial nennen könnte, sind Fette und die dem Fette ähnlich zusammengesetzen (stickstofflosen, kohlenwasserstoffigen), also außer Fett und fettige Oele, Honig und Wachs, Stärke, Zucker, Gummi, Pflanzengallerte und Pflanzenschleim, Alkohol, Milchzucker und Milchsäure, Essigsäure. Natürlich wird ein Theil [41] dieser Stoffe auch zur Fett- und Gewebsbildung benutzt, immer aber, wie es scheint, nur erst dann, wenn vorher die gehörige Temperatur hergestellt ist. – Es sei nun schließlich nochmals eine kurze Uebersicht von den Nahrungsstoffen gegeben, welche der menschliche Körper zu seiner naturgemäßen Ernährung durchaus braucht. Diese Stoffe, welche man Düngungsmittel des Blutes nennen könnte, scheidet man, mit Ausnahme des Wassers, in drei Klassen: in Eiweißsubstanzen, Fettstoffe und Kohlenwasserstoff-Substanzen. In diesen organischen, ebenso aus dem Pflanzen- wie Thierreiche stammenden Nahrungsstoffen finden sich die unorganischen (Salze, Kalk und Eisen) in solcher Menge vor, daß bei einer richtigen Wahl der ersteren auch die nöthige Zufuhr der letzteren vor sich geht. Nur die Milch enthält alle die genannten Nahrungsstoffe so vollständig in sich, daß sie das vollkommenste aller Nahrungsmittel ist und für sich allein zur richtigen Ernährung des menschlichen Körpers hinreicht. Immer hängt aber die Beschaffenheit der Milch zum Theil noch von der Nahrung ab, welche genossen wird.

I. Eiweißsubstanzen (stickstoffhaltig). Sie enthalten stets noch Schwefel, bisweilen auch Phosphor und eine Reihe anorganischer Substanzen, unter denen der phosphorsaure Kalk die erste Stelle einnimmt.

a.) Thierische Eiweißsubstanzen:
1) Eiweiß (Albumin) findet sich: im Blute, im Safte des Fleisches und aller Eingeweide, im Weißen der Eier und in sehr geringer Menge im Eidotter (als Vitellin).
2) Faserstoff (Fibrin) findet sich: im Blute (das Gerinnende) und im Fleische (das Faserige).
3) Käsestoff (Casein) findet sich: in der Milch (als Käse) und im Blute.
4) Leim oder Gallerte: in den Knochen, Knorpeln, sehnigen und häutigen Theilen.
b) Pflanzliche Eiweißsubstanzen:
5) Kleber: im Samen der Getreidearten (Weizen, Roggen, Hafer, Gerste, Mais, Reis und Buchweizen), dicht unter der Hülse.
6) Hülsenstoff (Legumin): in den Hülsenfrüchten (Erbsen, Linsen, Bohnen, Wicken).
7) Pflanzen-Eiweiß: in den Säften der meisten, besonders der Gemüsepflanzen, jedoch in geringer Menge.

II. Fettstoffe (stickstofflos); sie scheinen den Umsatz der Kohlenwasserstoff-Substanzen zu Fett zu befördern.

a) Thierische Fettstoffe:
1) Fleischfett: Schmalz, Talg, Thran; Gänse-Fettleber.
2) Butter: aus der Milch.
3) Eidotter: das Gelbe der Eier.
b) Pflanzliche Fettstoffe:
4) Fette Oele: aus den Früchten des Olivenbaumes und des Mohnsamens als Baum- und Mohnöl; aus dem Rübsen, Raps, Hanf, Mandel- und Buchenkern etc.

III. Kohlenwasserstoff-Substanzen (fettähnlich, stickstofflos). Sie scheinen zum Theil und allmälig in Fett umgewandelt zu werden.

a) Thierische Kohlenstoff-Hydrate:
1) Milchzucker: in der Milch.
2) Milchsäure: in der sauer gewordenen Milch und im Fleische.
3) Honig: von der Honigbiene durch Verarbeitung des Blüthenstaubes gebildet.
b) Pflanzliche Kohlenstoff-Hydrate:
4) Stärke: in der Kartoffel, den Samen der Getreidearten, den Hülsenfrüchten, Moosen (isländischen), im Sago, Arrowroot, Tapioka. Sie scheint innerhalb unseres Körpers die Verwandlungen in Traubenzucker, Milchsäure, Buttersäure und Fett durchlaufen zu können.
5) Zucker: als Rohr-, Trauben- oder Krümelzucker und Schwammzucker.
6) Pflanzengallerte (Pectin): in dem Safte der meisten fleischigen Früchte und Wurzeln.
7) Pflanzenschleim (Bassorin): in der Salepwurzel, dem Leinsamen, Quittenkernen, der Eibischwurzel, Caraghenflechte, im Tragant- und Kirschgummi.
8) Gummi (im arabischen Gummi) und Dextrin: verwandelte Stärke.
9) Alkohol, Spiritus: aus dem Krümel- oder Traubenzucker mit Hülfe der Hefe durch weinige oder geistige Gährung entstanden. Findet sich: im Weine, Branntweine, Rum (aus Zuckerrohrsaft), Arac (aus Reis), Cognac (aus Wein), Bier etc.
10) Essigsäure: im Wein-, Frucht- und Branntweinessig.
11) Milchsäure: im Sauerkraute und den sauren Gurken.

Zu einer guten Nahrung gehören also alle drei der genannten Klassen von Nahrungsstoffen, die Fette nicht weniger als die Eiweiß- und Kohlenwasserstoff-Substanzen, nur scheinen die verschiedenen Stoffe derselben Klasse sich gegenseitig vertreten zu können. Ebenso kann der Körper aber auch ohne die anorganischen Stoffe (Kochsalz, phosphor- und kohlensaure Alkalien, phosphorsauren Kalk, Eisen) durchaus nicht bestehen. – Von allen diesen Stoffen braucht der erwachsene menschliche Körper, um gut ernährt zu werden, im Mittel täglich etwa 1 Unze Eiweißsubstanzen, noch etwas mehr an Fett, gegen 4 Unzen Kohlenwasserstoff-Substanzen und 2 bis 4 Loth anorganische Stoffe. Auf 100 feste organische Bestandtheile der gemischten Nahrung sind sonach etwa 16 Th. Eiweißsubstanzen, 20 Th. Fette und 64 Th, Kohlenwasserstoff-Substanzen wünschenswerth. Natürlich muß sich übrigens die Quantität der täglichen Nahrung nach dem Stoffverbrauche im Körper richten und deshalb bei verschieden großen und

verschieden thätigen Menschen verschieden sein.
Bock.


Kriegsbilder aus der Krim.

Aus dem Tagebuche eines französischen Kavallerie-Kapitains, mitgetheilt von Julius von Wickede.
(Schluß.)

Bald darauf kamen denn auch unsere Kompagnien wieder zurückmarschirt. Man sah es den Soldaten wohl an, daß sie soeben aus einem ernsthaften Handgemenge zurückkehrten. Manchem derselben lief das Blut aus kleinen Wunden, die so unbedeutend waren, daß sie dadurch noch nicht zum Verlassen der Glieder gezwungen waren; Andere hatten mehr abbekommen, und mußten von ihren Kameraden zurückgeführt, ja selbst getragen werden, da sie nicht mehr ohne Hülfe gehen konnten. Unter Letzteren war ein noch sehr junger Zuave, ein Bürschlein von kaum zwanzig Jahren, so ein echtes pariser Kind, wie man deren so viele in diesem Kriege findet. Ihm war ein Fuß von einer russischen Kugel zerschmettert. Trotz dieser bedeutenden Verwundung verlor das Bürschlein, welches von zwei Kameraden auf ihren Gewehrläufen herbeigetragen wurde, doch keinen Augenblick seine gute Laune.

Zu dem Kommandanten des Bataillons, der mitleidsvoll an ihn herantrat, um sich nach seiner Wunde zu erkundigen, meinte er lachend: „Verzeihen Sie, mein Herr Kommandeur, daß ich liegen bleibe, wenn ich mit Ihnen spreche, aber diese Russen haben schon dafür gesorgt, daß ich mein Lebtag nicht wieder auf zwei Füße zu stehen komme,“ und so scherzte und witzelte er fort, bis er nach der Ambulance gebracht wurde.

Unter den Verwundeten befand sich auch Bim-Bim, der Kompagniehund, dem ein Russe mit dem Bayonnett das eine Ohr aufgeschlitzt hatte. Es schien wirklich, als fühle der Hund, daß er auch in diesem Gefecht sich eine Auszeichnung erworben habe, so gesetzt marschirte er einher, und ließ sich später seine Wunde von einem Zuaven ruhig verbinden, ohne nur den mindesten Schmerz dabei zu äußern. Einige sechzig bis siebzig russische Soldaten hatten unsere Truppen bei dieser Gelegenheit gefangen genommen, und da ich damals noch nicht so viele Russen gesehen hatte, wie jetzt der Fall, so interessirte es mich, dieselben näher zu betrachten. Es waren meist mittelgroße, nicht sehr kräftig aussehende Menschen mit breiten, häßlichen Gesichtern, die sich fast bei Allen so sehr glichen, daß man kaum einen Unterschied wahrnehmen konnte. [42] Ihre Uniformirung bestand in einem langen grauen Mantel, der bis an die Knöchel ging, und einem plumpen Lederhelm mit gelber Spitze und dem russischen Doppeladler vorne als Schild. Alles Lederzeug war sehr gut, die übrige Bekleidung und Ausrüstung aber schlecht gemacht. Die gefangenen Russen schienen gar nicht mißvergnügt über ihr Schicksal zu sein, und besonders, als ihnen Weißbrot und Branntwein in ziemlich beträchtlicher Menge gereicht wurde, zogen sie ihre breiten Gesichter in sehr vergnügliche Mienen und wollten Allen die Hände küssen, was den Zuaven viel Spaß machte.

Unter den Gefangenen war auch ein russischer Kapitain vom Generalstabe, ein sehr hübscher, stattlicher junger Mann, der sich mit der größten Tapferkeit vertheidigt und sich erst dann zum Gefangenen ergeben haben sollte, als ihm ein sehr gewandter Zuave mit seinem Gewehr den Degen aus der Hand geschlagen. Dieser russische Kapitain, der eine ersichtlich niedergedrückte Stimmung hatte, sprach so gut französisch, wie ein geborner Pariser, und zeigte sich überhaupt als ein Mann von vieler Bildung und Erziehung, Wir Offiziere waren ungemein artig gegen ihn, und der General Bosquet lud ihn sogleich ein, sein Diner in seiner Lagerhütte einzunehmen. Ueberhaupt wurden alle Gefangene von uns Offizieren wie auch von unseren Soldaten auf das Beste behandelt, und ich glaube kaum, daß jemals nur irgend ein unwürdiges Betragen gegen dieselben vorgekommen ist. Nur die afrikanischen Tirailleure, die wir bei uns haben, sollen hie und da eine Ausnahme machen, und ihre wilde, bestialische Natur auch hier nicht verleugnen, können aber der strengsten Strafe ganz sicher sein, wenn sie bei irgend einer Rohheit oder Grausamkeit gegen Gefangene ertappt werden.

Einige Tage später, als dies Gefecht der Zuaven, dem ich als Zuschauer beiwohnte, war das bekannte Reitergefecht, welches die Engländer bei Balaklava gegen die Russen hatten. Bei Gott, wie haute die englische Reiterei dabei drein, es war nicht möglich, sich muthiger zu schlagen, wie diese braven Leute es hier thaten. Die ganze Anordnung des Gefechtes war eine völlig unüberlegte, und Hunderte von braven Kavalleristen wurden nutzlos dem Tode geopfert, aber der Muth und die Kraft der Einzelnen konnte gar nicht größer sein, wie sie sich hier bei dieser Gelegenheit in so recht glänzendem Lichte zeigte. Es sah wirklich von dem Standpunkte aus, von wo wir, die wir die Eskorte des Generals Raglan bildeten, dem Gefechte zuschauten, als ob das kleine Häuflein der englischen Reiterei, was sich in vollem Galopp mitten in die große dunkle Masse der russischen Kavallerie hineinstürzte, völlig von derselben verschlungen würde. Mit meinem Handfernglas konnte ich das Ganze sehr deutlich erkennen, und gewiß an fünf Russen kamen stets auf einen Engländer, so groß war die Uebermacht der Ersteren. Wir glaubten sicher, auch kein Mann der englischen Brigade würde davon kommen, aber siehe da, schon nach einigen Minuten hatte sich dieselbe durch die sich ihr entgegenstellenden feindlichen Regimenter durchgearbeitet und die russische Aufstellung durchbrochen. Der lebhafteste Enthusiasmus herrschte über diese heldenmüthige That unserer edlen Bundesgenossen bei allen unsern Leuten, und unwillkürlich brachen wir Zuschauer alle in den lautesten Jubel aus, und „vivent, vivent les braves Anglais“ ertönte fort und fort aus den Reihen unserer Leute. Hätte der strenge Befehl uns nur nicht an dem Platze festgebannt, wie unendlich gerne wären wir mit den Engländern zusammen geritten, und hätten den Ruhm und die Ehre des Tages mit denselben getheilt. Furchtbar war aber der Verlust, welchen die tapfere englische Reiterei in diesem Gefechte hatte, und kaum die Hälfte der Leute, die am Morgen aufsaßen, war am Abend noch in den Gliedern. Die schönen, hohen Blutpferde, mit denen die gesammte englische Kavallerie beritten ist, waren über und über mit Schaum bedeckt, ihre Flanken bluteten von den heftigen Sporenstößen ihrer Reiter, mit denen diese sie in das heftige Batteriefeuer der Russen hineingetrieben hatten, und viele zeigten die Spuren von Streifhieben und anderen Verwundungen, welche sie im Kampfe bekommen.

Nicht minder erschöpft und hart mitgenommen, wie ihre Pferde, sahen die Reiter selbst aus. Die Helmbüsche und Kämme hingen halb zerhauen herab, von den Epaulettes fehlte die Hälfte, die Uniformen hatten Schlitze und Löcher in Menge aufzuweisen und gar mancher tapfere Sohn Altenglands blutete aus noch nicht verbundenen Wunden. Welche Lücken zeigten sich aber in den Gliedern, wie arg waren die Schwadronen zusammengeschmolzen! Und doch sah diese so arg mitgenommene englische Reiterei in dem Augenblick ungemein stolz und schön aus, und ihr Anblick mußte jeden wahren Krieger mit der lebhaftesten Begeisterung erfüllen. Das Gefühl des Sieges, der Zufriedenheit mit der vollbrachten That, prägte sich deutlich in dem Gesicht jedes einzelnen Reiters aus, und gab der ganzen Schaar ein unbeschreiblich stolzes Ansehen. Unsere französischen Soldaten, bei der großen Lebhaftigkeit, mit der sie Alles erfassen, konnten ihrer stürmischen Begeisterung für diese englische Reiterei gar keine Grenzen setzen, und wohl niemals ist fremden Waffenthaten eine unbefangenere und aufrichtigere Anerkennung gezollt worden, wie es von uns an diesem denkwürdigen Schlachttage geschah, Das „vivent les braves Anglais, vivent nos braves camerades–“Gerufe wollte an dem Tage gar nicht aufhören, und wo meine Chasseurs nur einen englischen Reiter erblickten, da verfehlten sie nicht, Alles anzuwenden, um ihre unbedingte Freude über das muthige Benehmen dieser zwei englischen Kavallerie-Brigaden auszudrücken. Von allen Seiten erboten sich Freiwillige aus unseren Korps, in das englische Lager zu gehen, um dort zu kochen, Holz herbeizuschleppen, kurz, alle möglichen derartigen Dienste zu verrichten, damit es die Soldaten daselbst an diesem Abend ja recht bequem hätten, und sich von den Strapazen des heutigen Gefechtes vollkommen wieder erholen könnten. Noch spät in der Nacht brachte eine Patrouille von meiner Eskadron einige versprengte englische Dragoner mit, die alle leicht verwundet waren, und auf eine sehr kühne Weise mit sammt ihren Rossen sich wieder aus der russischen Gefangenschaft befreit hatten, zu uns, und dieselben blieben die Nacht in unserm Lager. Was meine Chasseurs diesen Engländern nur an den Augen absehen konnten, thaten sie denselben zu Gefallen, und Jeder brachte gewiß das Beste, was er an Speise und Trank nur irgendwie besaß, für diese geehrten Gäste herbeigeschleppt, so daß diese beinahe des Guten zu viel genossen hätten. So ein englischer Soldat hat aber in der Regel einen guten Magen und kann Quantitäten an Speisen und noch mehr an starken geistigen Getränken zu sich nehmen, die Einem mit Recht in Erstaunen zu setzen vermögen. Auch die englischen Offiziere huldigen den Tafelfreuden gern und viel, und wir Franzosen sind in der Regel ungleich mäßiger wie diese.

Hier müssen aber diese wohlgenährten Engländer gar große Entbehrungen leiden, und obgleich sie mit Geld ungleich besser versehen sind wie wir, und ihrer Regierung wohl fünf Mal mehr Kosten verursachen, wie bei uns der Fall, so leben wir doch ungleich besser. So tapfer diese Engländer aber auch in der Schlacht sind, so gewaltig unbeholfen und ungeschickt zeigen sie sich in allen sonstigen militairischen Verrichtungen, die ein Soldat im Felde verstehen muß, und es ist darin gar kein Vergleich zwischen ihnen und unseren Soldaten. So war ich kürzlich einige Stunden auf einer englischen Feldwache, die von Dragonern und Grenadieren der Garde, lauter hohen, kräftigen Gestalten, besetzt war. Die Soldaten hatten alle eine starke Ration von Reis, getrocknetem Rindfleisch, Gewürzen und Rum bei sich, und meine Chasseurs wären in Algerien überglücklich gewesen, wenn sie nur alle Sonntage so viele und gute Lebensmittel geliefert bekommen hätten. Diese englischen Soldaten stellten sich aber so unglaublich ungeschickt im Kochen an, daß sie keine einzige ordentliche Speise zu Stande brachten, und Viele nur ihr Fleisch, was sie einigermaßen geröstet hatten, ohne Weiteres zu ihrem Brote verzehrten, den guten Reis aber fortwarfen. Natürlich war die Mannschaft sehr hungrig, deshalb in steter schlechter Laune, und statt zu singen und Witze zu machen, wie es unsere Soldaten beständig auf den Feldwachen thun, brummten und fluchten sie fortwährend, oder suchten Hunger und Langeweile durch möglichst langes Schlafen zu vertreiben. Dabei war die ganze Feldwache an einem so ungünstigen Platze wie nur irgend möglich aufgeschlagen, obgleich man ungefähr fünfzig Schritte davon einen ungleich besseren Ort dazu hätte finden können. Auch die beiden englischen Offiziere, welche hier befehligten, verstanden von allen militairischen Sachen so wenig, daß jeder Korporal meiner Eskadron sie unbedingt darin weit übertroffen hätte. Es waren Beides sehr vornehme junge Männer von dem größten Muthe und vielen sonst gewiß trefflichen Eigenschaften, aber Offiziere in dem Sinne, wie wir Franzosen es verstehen, waren es nicht, und sie machten auch gar kein Hehl daraus. Komisch war auch ihre Verzweiflung über das in der That fast ungenießbare Essen, was ihre Bedienten ihnen trotz des silbernen Besteckes gekocht hatten. Ein Huhn, welches sie für [43] theures Geld erkauft, war total verbrannt, der Reis steinhart gekocht, und die Fleischklöße in der Suppe glichen eher Kartätschenkugeln wie menschlichen Nahrungsmitteln, und es hätte in der That ein Straußenmagen dazu gehört, um dieselben zu verdauen. Brot und trefflicher Madeira, an dem die ungeschickten Bedienten glücklicher Weise nichts verderben konnten, mußten den Hauptbestandtheil des ganzen Mahles bilden.

Da die Engländer am anderen Tage noch auf der Feldwache blieben, so machte ich mir den Spaß, und schickte drei oder vier gewandte Chasseurs meiner Escadron zu ihnen hinaus, damit diese bei der Bereitung der Speisen helfen sollten, Nun nahm die Sache denn gleich eine ganz andere Wendung, und mit denselben Rationen bekamen die Engländer eine Mahlzeit, wie sie solche ihrer Versicherung nach noch nicht wieder gehabt hatten, seitdem sie Portsmouth verlassen. Meine Chasseurs hatten zuerst das gesalzene Fleisch, wie es sich gehört, recht tüchtig ausgewässert und dann eine Bouillon daraus gekocht, die zusammen mit dem Reis eine so kräftige Suppe, wie man sie nur wünschen konnte, abgab, das Fleisch dann in kleine Quarree’s geschnitten und mit Brot, Gewürz und Rum zusammen recht geschmort, so daß es eine ganz wohlschmeckende Speise abgab. Den beiden englischen Offizieren hatten sie eine Wildente am Spieße gebraten, und dann aus Reis, Zucker und Madeira eine sehr wohlschmeckende Mehlspeise bereitet. Die ganz davon entzückten englischen Offiziere hatten meinen Chasseurs einen Napoleonsd’or als Trinkgeld geben wollen, diese hatten aber – was mich ungemein freute – zu viel militärischen Stolz besessen und gesagt, man möge das Geld nur in das Lazareth für die Verwundeten senden, sie seien französische Soldaten und bedürften desselben nicht. –

Eine sehr blutige Schlacht war die bei Inkerman, und die unerschütterliche Tapferkeit der englischen Soldaten hat sich dabei so recht im glänzendsten Lichte gezeigt. Die Russen hatten anfänglich mit einer mehr wie dreifachen Uebermacht die englischen Bataillone angegriffen, und doch wichen und wankten dieselben nicht und hielten wie die Mauern die so heftigen feindlichen Angriffe aus. Die große Körperkraft, welche viele englische Soldaten besitzen, ist ihnen hier bei Inkerman vortrefflich zu Statten gekommen, denn es ist großentheils ein Kämpfen Mann gegen Mann gewesen. Von dieser Körperkraft einzelner englischer Grenadiere wurden uns aus glaubwürdigem Munde manche ganz erstaunliche Beispiele erzählt. So hat z. B. ein englischer Korporal, der sein Gewehr schon verloren hatte, einen wüthenden Sprung auf einen russischen Offizier gemacht, und bevor dieser mit seinem Säbel einen Hieb führen konnte, denselben wie ein Wickelkind auf beiden Armen hoch in der Luft gehalten und ihn dann auf die Bayonnette seiner eigenen vorwärts stürmenden Soldaten geschleudert. Diese sind vor einem solchen eigenthümlichen Wurfgeschoß zurückgeschreckt und in’s Stutzen gekommen, so daß die übrigen englischen Grenadiere dadurch Zeit gewannen, sich zu sammeln und eine kräftige Bayonnettattaque auf die Russen zu machen. Ein anderer Engländer, den ich später selbst sah, wirklich auch ein Mann von wahrhaft riesenhaftem Körperbau, hat mit den Händen mehrere Kanonenkugeln, die auf dem Boden lagen, ergriffen und auf die gegen ihn anstürmenden Feinde geworfen, bis es ihm gelungen, sich wieder eines anderen Bayonnetts zu bemächtigen. Seine Kameraden sagen aus, daß sie Augenzeugen gewesen, wie dieser eine Grenadier allein über zehn Russen getödtet oder schwer verwundet habe. Ueberhaupt war an mehreren Stellen des Schlachtfeldes ein förmliches Morden gewesen, und die Leichen, und zwar durchschnittlich in dem Verhältniß von einer englischen zu drei russischen, lagen in ganzen Haufen über einander. Kolben und Bayonnette hatten hier am Mörderischsten gehaust, und die meisten Leichen ihre Todeswunden von diesen Waffen erhalten. Viele russische Leichen fand ich, denen der Schädel durch einen Kolbenschlag zerschmettert oder die Brust mit dem Bayonnette durchbohrt war, während die der Engländer großentheils mehrere Wunden zeigten. Vorzüglich wirksam hatten sich übrigens bei diesem Handgemenge die Revolvers, welche fast alle englischen Offiziere bei sich führten, gezeigt.

So hat ein englischer Kapitain durch drei hinter einander folgende Schüsse mit seinem Revolver drei russische Soldaten niedergestreckt. Zwei andere Kameraden derselben, die gar nicht haben begreifen können, daß man mit der kleinen Pistole hinter einander mehrere so sicher treffende Schüsse thun könne, ohne sie vorher wieder zu laden, haben darauf ganz bestürzt ihre Gewehre fortgeworfen und sich dem Engländer als Gefangene ergeben. Trotz dieses ungemein heldenmüthigen Widerstandes hätten die Engländer am Ende dennoch der russischen Uebermacht unterliegen müssen, wenn unsere französischen Truppen denselben nicht mit so großer Schnelligkeit zur Hülfe gekommen wären. Noch niemals habe ich gesehen, daß Truppen so schnell unter den Waffen standen, wie in dem Augenblick, als unser Lager durch die Nachricht alarmirt wurde, daß die Russen mit großer Uebermacht unsern englischen Bundesgenossen angegriffen hätten. Es war eine Schnelligkeit, ein Eifer unter den Soldaten, daß die Offiziere wahrlich nicht nöthig hatten, dieselben noch mehr anzuspornen. So wie die Bataillone nur in etwas geordnet waren, und es bedurfte kaum einiger Minuten hierzu, ging es im Laufschritt dem Kampfplatze zu, der uns durch den lauten Kanonendonner und den Schlachtenlärm so deutlich bezeichnet war, daß man ihn nicht verfehlen konnte. Voran, wie immer bei solchen Gelegenheiten, wieder die Zuaven, die mit ihrer großen körperlichen Ausdauer und Gewandtheit nicht marschirten, sondern förmlich liefen. „Vivent les braves Anglais, en avant vite – vite – vite en avant Zouaves!“ ertönte es unablässig aus den Reihen derselben. So wie sie so weit in die Nähe der Russen gekommen waren, daß ihre Salve von Wirkung sein konnte, gaben sie dieselbe, und nun ging es ohne Weiteres, ohne sich Zeit zum Wiederladen der Gewehre zu lassen, mit dem Bayonnette auf die Feinde los. Wenn unsere Zuaven und Chasseurs auch lange nicht die Körperkräfte der Engländer besitzen, so sind sie dafür doch ungleich behender und im Bayonnettiren geübter, und daher nicht minder gefährliche Gegner wie diese. So haben sie denn furchtbar zwischen den Russen aufgeräumt und wesentlich mit zum Gewinnen dieser blutigen Schlacht beigetragen.

Wir Chasseurs d’Afrique waren leider nur in viel zu geringer Anzahl gegenwärtig, um die vielen Tausende der russischen Reiterei, die in zweiter Linie aufmarschirt stand, angreifen zu können, wie denn auch das Terrain theilweise sehr ungünstig für die Kavallerie sich zeigte. Einzelne Dienste geleistet haben wir übrigens dennoch, und manche meiner Reiter fanden Gelegenheit, sich auszuzeichnen. So besonders auch ein alter Korporal, der schon von 1830 her beständig in Algerien diente, und den früher die Reiter des Abd-el-Kader einmal so zusammengehauen hatten, daß sein Gesicht von den vielen Kreuz- und Quernarben ganz wie zerhackt aussah. Auf seinem Rappenhengst, einem wüthenden Thier, mit dem Keiner in der ganzen Escadron fertig werden konnte, stürzte sich dieser Korporal mitten in eine russische Infanterieabtheilung hinein, gleich als wolle er freiwillig den Tod da suchen, obgleich dies gar nicht in seiner Absicht lag. Einige andere Chasseurs kamen ihm zur Hülfe, und ihre Säbel wußten so tüchtig um sich zu schlagen, und die Hengste, die hochauf sich bäumten und mit den Vorder- und Hinterfüßen um sich hieben, leisteten bei diesem Kampfe so treffliche Dienste, daß die ganze russische Infanterieabtheilung theils zersprengt, theils aber auch niedergehauen oder gefangen genommen wurde.

So glückte es unsern vereinten Bemühungen, denn es war auch kein einziges Truppenkorps, was nicht mit der äußersten Kraftanstrengung kämpfte, nach blutiger Gegenwehr die Russen endlich vollständig von dem Schlachtfelde zu vertreiben, obschon ihre Uebermacht eine so ungemein bedeutende war. Leider war nur unsere Kavallerie an Zahl zu schwach, um eine nachdrückliche Verfolgung der geschlagenen Feinde damit unternehmen zu können, sonst hätte sich der geordnete Rückzug derselben entschieden in die wildeste Flucht verwandeln müssen. Einzelne Gefangene machten wir übrigens noch eine ganze Menge und erbeuteten auch viele Munition, Waffen u. s. w. Unbeschreiblich war übrigens die stürmische Freundschaft, mit der am Abend dieses Schlachttages von Inkerman die Engländer und Franzosen bei allen Begegnungen sich begrüßten. Selbst die oft sehr steifen und hölzernen englischen Offiziere hatten ihre sonstige Förmlichkeit ganz verloren, waren so herzlich und entgegenkommend wie nur möglich und übertrafen uns Franzosen hierin. Habe ich doch selbst gesehen, daß ein englischer Stabsoffizier dem Kommandanten eines Zuavenbataillons um den Hals fiel und ihn küßte und herzte als wenn es sein bester Freund wäre, obschon er ihn früher niemals gesehen hatte. Andere englische Offiziere verschenkten ihre Uhren, Ringe, Pfeifen, kurz Alles, was sie nur an derartigen Dingen bei sich führten, an französische Soldaten, die sich besonders ausgezeichnet hatten. [44] So machte ein Chasseur d’Afrique an diesem Tage ein besonderes Glück. Er sieht einen schon verwundeten englischen Offizier, der sich nur mit äußerster Anstrengung noch gegen drei russische Soldaten, die mit ihren Bayonnetten auf ihn einstürmen, vertheidigen konnte; der Chasseur wirft sich mit seinem Hengste sogleich dazwischen, und es gelingt ihm, einen Russen niederzuhauen, die anderen Beiden aber in die Flucht zu schlagen, wobei er übrigens selbst einen zwar tiefen aber sonst nicht weiter gefährlichen Bayonnettstich in den Schenkel erhält. Da der englische Offizier von seinen Wunden zu ermattet war, um gehen zu können, so läßt ihn der Chasseur von zwei anderen französischen Soldaten zu sich auf das Pferd heben, hält ihn dort sorgsam mit beiden Armen vor sich auf dem Sattel und bringt ihn so in das englische Hospital, worauf er dann erst an sich selbst denkt und sich seine Wunde von einem französischen Militärarzt verbinden läßt. Der englische Offizier, der Sohn eines sehr reichen Lords, zeigte sich gegen seinen Retter aber ungemein dankbar. Er hat denselben nach seiner Wiederherstellung aufgesucht und ihm nicht allein eine sehr schöne goldene Uhr geschenkt, sondern ihm auch gerichtlich durch den Auditeur des Regiments für seine ganze übrige Lebenszeit eine Jahresrente von 30 Pfund Sterling vermacht.

Einen Tag nach dieser Schlacht bei Inkerman war ich als Parlamentair bei den russischen Vorposten, von dem Korps, was außerhalb von Sebastopol stand. Es sollte nämlich ein gegenseitiger Waffenstillstand zur Aufsuchung und Fortschaffung aller Verwundeten und Todten, die vielleicht noch einzeln zerstreut in den mit Buschwerken bewachsenen Schluchten umherlagen, abgeschlossen werden, worauf die Russen, die eigentlich den meisten Vortheil davon hatten, auch gern eingingen. Der russische Oberst der Uhlanen, bei dem ich mich an zwei Stunden aufhielt, bis ein höherer General, dem man von meinem Dasein unterrichtet hatte, selbst ankam, war ein sehr artiger, feingebildeter Mann, der auch ganz geläufig Französisch sprach. Er bewirthete mich mit trefflichem Thee, Zwieback und Wurst, und entschuldigte sich lachend, daß er mir keine Butter dazu vorsetzen könne. Wir plauderten die zwei Stunden sehr gemüthlich mit einander, und es war unserer Unterhaltung gewiß nicht anzumerken, daß wir Feinde waren, die vielleicht schon am nächsten Morgen mit der äußersten Erbitterung gegen einander kämpfen würden. Besonders mußte ich dem Russen viel von unserem eigenthümlichen Dienst in Algerien und der Organisation unserer leichten Kavallerie daselbst erzählen, wogegen er mir manche ganz interessante Details aus dem Kaukasus, wo er mehrere Jahre gefochten hatte, mittheilte. Bei diesem Gespräche meinte er, ob es mir in Algerien nicht besser gefallen habe wie hier in der Krim, wo doch wahrhaftig keine große Freude sei, und wo wir besonders auch der vielen hübschen Mädchen, die in Algerien sein sollten, entbehren müßten. In eben dem scherzenden Tone erwiederte ich: „Es sei freilich sonst in vieler Hinsicht in Algerien weit angenehmer wie hier vor Sebastopol, doch würde dies dadurch reichlich wieder ausgeglichen, daß es für uns französischen Soldaten ja eine weit größere Ehre sein müsse, uns mit der tapfern und wohldisciplinirten Armee eines so mächtigen Monarchen, wie der Kaiser von Rußland sei. herumzuschlagen wie mit den Hajuten und Kabylen.“ Der russische Oberst lachte hierzu und meinte: „Dies ist freilich wohl wahr, wir fechten auch viel lieber gegen Euch Franzosen wie gegen die Tscherkessen.“

Während wir uns noch so ganz gemüthlich mit einander unterhielten, kam der russische Generallieutenant, der hier befehligte, angeritten. Derselbe sprach in etwas hochfahrendem Tone gegen mich, und da mich dies verdroß, so antwortete ich demselben ebenso kurz und bestimmt, ohne jedoch die Regeln der militärischen Artigkeit zu verletzen. Dies Mittel war von Wirkung, denn der russische General ward allmälig artiger gegen mich, so daß ich meine Absicht vollkommen erreichte, und wir zuletzt in äußerlich sehr höflicher Weise von einander schieden. Auffallend war mir als französischem Offizier nur die übergroße Unterthänigkeit, welche alle übrigen russischen Offiziere gegen diesen General bewiesen. Es ist bei uns Franzosen gewiß eine sehr strenge Disciplin, aber solche äußerliche Unterwürfigkeit wird der letzte Rekrut nicht seinem Obersten an den Tag legen.




Blätter und Blüthen.

Aesthetik der Eleganz. Die Eleganz hat ihren Sitz in den Manieren, in der Art und Weise, auf welche ein Eingeborner von Buenos Ayres sein Cigarita raucht oder auf welche eine Dame der ersten Arrondissements von Paris ihren Fächer handhabt. Die Grundbedingung der Eleganz liegt im Charakter; denn bei der Abwesenheit von unterscheidenden Zügen oder eines bestimmten Styls giebt es keine Eleganz. Deswegen ist ein Kind nie elegant, sondern blos graziös, weil es keinen eigenen Styl hat. Diejenigen, welche Geschmack ohne Eleganz haben, sind Personen ohne Individualität; sie können Andern einen guten Rath bei der Auswahl einer Sache geben, aber sie können ihre Kenntniß nicht auf sich anwenden. Die Art, auf welche Jemand sich kleidet, giebt uns deshalb den besten Begriff von seinem Charakter. Eleganz im Kostüm liegt blos in dem harmonischen Einklang zwischen dem Individuum und seinem Styl in der Tracht. Ich war einst mit einer Modistin in Paris bekannt, welche ihre Kunst gehörig studirt und gefunden hatte, daß Eleganz die Zwillingsschwester des Charakters sei. Um zu erfahren, ob eine gewisse Farbe oder ein besonderer Zuschnitt für diese und jene Person passend sei, ließ sie dieselbe nie ihre Mode versuchen, sondern richtete blos Fragen an sie und je nach den Antworten oder vielmehr Andeutungen, welche sie erhielt, wurde sie in den Stand gesetzt, zu Resultaten zu gelangen, deren Richtigkeit nicht in Abrede zu stellen war. Eines Tages besuchte ich sie mit einem Freunde, welcher eine Haube für seine Mutter und einen Hut für seine Schwester, welche Beide sich in Baden-Baden aufhielten, kaufen wollte. – „Wollen Sie die Güte haben, mein Herr, mir das Alter Ihrer Mutter zu sagen?“ sagte sie mit der größten Höflichkeit. – „Gerade fünfzig,“ war die Antwort. – „Geht sie viel in Gesellschaft?“ – „Im Gegentheil, sie führt ein sehr zurückgezogenes Leben.“ – „Widmet sie viel Zeit ihren religiösen Betrachtungen?“ – „Einige Stunden des Tags.“ – „Wie ist ihr Gesicht gebildet?“ – „Oval.“ – „Und die Farbe ihrer Augen?“ – „Grau.“ – „Ihre Nase?“ – „Länglich.“ – „Ich danke Ihnen. Das genügt.“ – Die Modistin klingelte hierauf, und eine ältliche Frau kam, zu der sie sagte: „Bringen Sie mir die Haube mit der Marke: X. R. C. Nr. 21.“ – Die Frau wollte gehen, aber die Modistin hielt sie zurück und rief: „Wie einfältig ich bin, ich vergaß Sie zu fragen, ob Ihr Vater noch lebe?“ – „Nein, Madame.“ – „In diesem Falle ist diese Farbe zu dunkel; bringen Sie mir etwas helleres, X. R. D. Nr. 17,“ sagte sie zu der Dienerin. – „Nun,“ fuhr sie fort, „zu Ihrer Schwester! Sie sagten mir, glaube ich, daß sie 18 Jahre alt sei?“ – „Nicht ganz.“ –Die Modistin zog einen zweiten Glockenzug, und ein hübsches Mädchen erschien. „Erlauben Sie mir, mein Herr,“ fuhr sie fort, „eine wichtige Frage an Sie zu richten. Ist Ihre Schwester schön?“ – „Man hält sie dafür.“ – „Ist sie musikalisch?“ – „Ja.“ – „Wie ist die Farbe ihrer Haare?“ – „Schwarz.“ – „Tanzt sie?“ – „Sie liebt den Tanz.“ – „Ich danke Ihnen; das genügt vollständig.“ – Hierauf machte sie dem Mädchen ein Zeichen, und dasselbe erschien mit einem reizenden Hut. – „Morgen früh,“ sagte sie zuletzt, „wird Beides bereit sein.“ – Sie hielt ihr Wort, und nie gab es eine elegantere Haube oder einen Hut, der eine Dame besser gekleidet hätte.




Literarisches. Die Verlagshandlung des hannöverschen Couriers, C. Rümpler, hatte einen Preis von 40 Dukaten ausgeschrieben für die beste ihr eingesandte Novelle. Zu Preisrichtern waren ernannt: Hr. Marggraf, Otto Müller, Th. Colschera. Sie haben einstimmig den ersten Preis dem Verfasser der „stillen Mühle“ zuerkannt, der versiegelte Zettel nannte „Elfried von Taura“. Den zweiten Preis erhielt „Anton und Cordelia“ von A. Schlönbach. Wir freuen uns um so mehr über dies Resultat, als beide Schriftsteller Mitarbeiter unserer Gartenlaube sind. Wir werden nächstens eine Novelle von Elfried von Taura bringen. Derselbe ist ein Landsmann von uns Sachsen, und nächstens wird bei Wolf in Freiberg von ihm erscheinen: „Friedrich der Freudige“, ein Heldenbild in freien Liedern, dessen Ertrag den Nothleidenden im Erzgebirge bestimmt ist. Der Held der Dichtung, bekannter unter dem Namen “Friedrich mit der gebissenen Wange“, ist der eigentliche Gründer des sächsischen Königshauses Wettin und sein reiches Leben ganz zum poetischen Stoff geeignet. Die erste Abtheilung ist Wartburg, die zweite Freiberg überschrieben. Sobald das Werk erschienen, werden wir ausführlicher darauf zurückkommen.



Wiederholt machen wir darauf aufmerksam, daß der Abonnementspreis von 13/4 Thlr. für den letzten Jahrgang (1855) der Gartenlaube nur noch bis Ende dieses Monats gilt, von da ab tritt der Ladenpreis von 2 Thlr. ein.


Aus der Fremde" Nr. 3 enthält:

Ein König aus dem Morgenlande. - Wanderungen in Süd-Australien, Von Fr. Gerstäcker. Zweiter Artikel. - Briefe aus der Mormonenstadt. II. - Franklin und die Reisen zur Ermittelung seines Schicksals. - Aus allen Reichen: Eine uralte Stadt. Smithsonia Institution in Washington. Lebendige Juwelen, Auch ein Paradies.

Die erste Nummer von „Aus der Fremde“ ist durch alle Buchhandlungen und Postämter gratis als Probe zu erhalten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: verfchmähen