Die Gartenlaube (1856)/Heft 42

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[565]
Die Rechte des Herzens.
(Fortsetzung)


IX.

Adolf war, ohne daß er es wußte, bei dem Landhause angekommen. Der Vollmond stand am klaren Himmel, und lichtete die Nacht zum Tage. Die Landschaft war still, kein Lufthauch bewegte die Bäume, kein Spaziergänger störte durch das Geräusch seiner Schritte die vollkommene Ruhe der reizenden Sommernacht. Der bleiche Musiker wollte die Gitterthür in dem Zaune öffnen – sie war verschlossen. Mechanisch sah er durch die Stäbe in den großen Garten: die Fläche des Weihers blitzte wie ein großer Stahlspiegel in dem Mondenlichte, und daneben erhoben sich die weißen Säulen des Pavillons. Durch eine Baumgruppe schimmerte Licht, es kam aus den Fenstern des Landhauses.

Die Ähnlichkeit der Dame mit den, Gegenstände seiner ersten und einzigen Liebe hatte in dem armen Adolf die Erinnerung an die treulose Henriette so lebhaft angefacht, daß die kaum verharrschte Wunde des Herzens von Neuem blutete. Die Ballnacht, in der er von der Geliebten den Schwur der Treue und als Unterpfand die rothe Rose empfangen hatte, stand deutlich vor seiner Seele. Er sah das schöne, blühende Mädchen, hörte die weiche, wohlklingende Stimme, und fühlte noch einmal den Schauer in seiner Brust, den die Versicherungen der Geliebten erregten.

Die zurückgesetzten, die unglücklich oder heimlich Liebenden allein kennen den Zauber, der in der Stimme des angebeteten Weibes liegt; er theilt sich der Seele mit, und verbleibt ihr für die Zeit des Lebens als eine süß schmerzliche Erinnerung. Adolf hatte diese Erinnerung in sich aufgenommen, für ihn besaß Henriette die schmelzende Stimme, deren Silberklang dem Ohre schmeichelt und das Herz durchdringt, bewegt und erschüttert, und es liebkosend zerbricht. Und dennoch hatte diese Stimme gelogen, hatte einen falschen Schwur ausgesprochen!

Männer, die so empfindsam sind, daß sie die erste Liebe zu einer treulosen Geliebten wie ein durch den Tod entrissenes Gut heilig halten, sind glücklicher Weise nur Ausnahmen; aber Adolf gehörte zu diesen Ausnahmen.

Die Glocke einer nicht fernen Dorfkirche schlug neun Uhr.

Adolf raffte sich empor, und ging an dem Zaune hin. Was wollte er denn von der bleichen, fremden Dame, die, wie Melanie erzählt, um ihr theuerstes Gut trauerte? Konnte er hoffen, in ihr einen Ersatz für Henrietten zu finden? Der arme Mann dachte, hoffte nichts; er wollte die lieben Züge bewundern, wie das theure Bild einer abgeschiedenen Person, und eine Stunde verträumen.

Der Spaziergänger kam bei dem Gitterthore an, das den Hof des Landhauses von der Allee trennte. Das schnell näher kommende Geräusch eines Wagens weckte ihn aus seinem Sinnen. Nach einigen Augenblicken hielt ein mit vier Postpferden bespannter Reisewagen vor dem Gitter. Ein Diener sprang von dem Bocke, und zog die Glocke. Der Wagen rasselte in den Hof, und das Gitterthor schloß sich wieder. Adolf lauschte durch die Stäbe. Da sah er, wie ein Mann in Reisekleidern ausstieg, eilig die Stufen des Perrons hinanlief, und in dem Landhause verschwand. Der Wagen wurde in eine Remise gebracht, der Postillon führte seine Pferde fort, und Alles war wieder still, wie zuvor.

Während Adolf langsam den Weg zur Stadt zurückgeht, folgen wir dem Reisenden in das Landhaus. Ein Diener leuchtet ihm die Treppe voran, und öffnet auf dem Corridor eine der Thüren. Der Reisende trat in ein erleuchtetes Vorzimmer, warf Hut und Oberrock ab, und trat mit allen Zeichen froher Hast in einen kleinen Saal. Das elegant und mit Luxus ausgestattete Gemach ward durch eine große Astrallampe hell beleuchtet. Auf einer Ottomane saß die bleiche Dame, die wir in dem Pavillon kennen gelernt haben. Die Blässe ihren Gesichts ward durch ein schwarzes Florkleid gehoben, das die schöne, etwas schmächtige Gestalt einschloß und ihre elegante Form genau abzeichnete.

Bei ihrem Erblicken blieb der Eintretende stehen. Die Dame erhob sich, um ihn zu begrüßen; aber auch sie blieb in der Mitte des Saales stehen, als sie die ernsten, vorwurfsvollen Mienen des Mannes sah.

„Henriette, Sie tragen Trauer! Ich habe nicht auf einen Empfang gerechnet, wie ihn der zurückkehrende Mann von der Gattin fordern kann, wohl aber auf eine Rücksicht für mich, in der Sie sich selbst ehren. Sie vergessen, daß Ihr Mann Rechte besitzt – –“

„Sie drohen mir schon wieder mit diesen Rechten, die ich zwar anerkenne, aber den meinigen unterordne!“

„Von welchen Rechten sprechen Sie, Madame?“

„Von den Rechten des Herzens!“ antwortete Henriette würdevoll.

Das volle Gesicht des Mannes verzog sich zu einem höhnenden Lächeln.

„Ich weiß es,“ fuhr die bleiche Dame bewegt fort, „Sie achten diese Rechte nicht, wie Sie auch mich sie zu verachten lehren wollten; leider bin ich gegen meinen Willen eine ungelehrige Schülerin gewesen. Ich bitte Sie, mir keine größere Last aufzuerlegen, als ich tragen kann.“

[566] „Die Belehrung ist also in meiner Abwesenheit vollständig geworden!“

„Nennen Sie die Veränderung, die mit mir vorgegangen, wie Sie wollen – ich kann nicht länger eine Maske tragen, die ich mir hatte anlegen sollen.“

„Was ist das? Was ist das?“

„Es ist das Bekenntniß einer unglücklichen Frau!“ sagte Henriette mit demselben schmerzlichen Ernste, den sie seit dem Beginne der Scene gezeigt hatte.

Der Gatte bot der Gattin mit kalter Artigkeit die Hand, und führte sie zu der Ottomane zurück. Beide ließen sich zugleich nieder.

„Henriette,“ begann er im kalten Conversationstone, „ich habe die entgegengesetzte Wirkung von dem Briefe gehofft, in dem ich Ihnen den Tod Adolf Mölling’s anzeigte. Sie sind seit zwei Jahren meine Frau, ich zeigte Ihnen das Leben mit allen Freuden, die der Reichthum, dieser allmächtige Hebel, zu erschaffen vermag – Sie danken mir, der ich Sie aus uneigennütziger Liebe heirathete, meine Aufmerksamkeiten durch eine Empfindelei, die durch dieses Trauerkleid einen hohen Grad von Lächerlichkeit annimmt. Bei Gott, man möchte an eine Sinnesverwirrung glauben, wenn Ihre Worte weniger das Gepräge eines ruhigen Nachdenkens trügen.“

„Otto!“ rief Henriette mahnend.

„Unterbrechen Sie mich nicht, Madame, ich bin noch nicht zu Ende. Um Sie zu zerstreuen, führte ich Sie in die schönsten Gegenden Europa’s, erfüllte jeden Ihrer Wünsche, ehe Sie ihn aussprachen – Genf gefiel Ihnen, und ich kaufte dieses Landhaus; Sie waren des Reisens müde, und ich reiste allein nach Amsterdam, wohin mich ein dringendes Geschäft rief. Für alle diese Beweise von Liebe forderte ich nichts von Ihnen, als ein freundliches Gesicht und das Bestreben, eine Neigung zu vergessen, die ich zu den flüchtigen Gefühlen der Kinderjahre rechne.

Auf meiner Rückreise war ich gezwungen, vierzehn Tage in Rotterdam zu verweilen. Die ganze Stadt war in Aufregung, denn man bereitete die Hinrichtung eines Giftmischers vor. Man erzählte mir, daß Adolf Mölling, ein deutscher Musiker, aus niederer Habsucht einen Verwandten vergiftet habe, der ihm zu lange die reiche Erbschaft vorenthielt. Die Person des Mörders war für mich von großem Interesse – ich stand am Fenster, als der traurige Zug vorbei kam – ich sah den Delinquenten auf seinem Karren, und erkannte zu meinem Entsetzen denselben, dem meine verblendete Gattin einen Meineid geschworen zu haben wähnt. Denselben Tag noch zeigten die Zeitungen an, daß das Haupt des Missethäters gefallen sei; ich beeilte mich, Ihnen die Nachricht von diesem Ereignisse zu senden, und fügte den betreffenden Zeitungsartikel als Beleg bei. In dem Glauben, daß dieses Ereigniß Ihre Gewissensscrupel beseitigt habe, daß Sie nun die Vergangenheit mit andern Blicken betrachten und mir eine lebensfrohe Gattin sein würden, fliege ich, als meine Geschäfte beendet waren, nach Genf zurück, und finde meine Gattin in Trauer um – einen Verbrecher! Henriette, Sie kennen die Leidenschaft, die ich zu Ihnen hege, Sie wissen, daß ich stolz auf Ihren Besitz bin – aber treiben Sie mich nicht zum Aeußersten; ich bin es meiner Ehre und Ihrem Glücke schuldig, daß ich von diesem Augenblicke an jede zarte Rücksicht außer Acht lasse, daß ich einen Schmerz nicht ehre, den ich für Koketterie halte. Und deshalb bitte ich Sie, sofort andere Toilette zu machen – ja, ich befehle es Ihnen selbst!“

„Sie befehlen es mir!“ wiederholte Henriette, schmerzlich lächelnd.

„Ich werde Sie leiten wie ein Kind, das nicht weiß, was es thut.“

„Hören Sie mich an, Otto, und urtheilen Sie, ob ich mich in einer Verfassung befinde, die es nöthig erscheinen läßt, daß ich wie ein Kind geleitet werde. Hören Sie mich an, und fordern Sie dann noch, daß ich eine andere Toilette mache, so werden Sie mich gehorsam finden.“

„Ich höre!“ sagte Otto, indem er sich mit sichtlicher Ueberwindung zur Geduld zwang.

„Man sagte mir einst,“ begann Henriette, „daß mich die Natur mit einer besondern Schönheit beschenkt habe. Ich war eitel auf diesen Vorzug, den zu verdienen ich nichts gethan hatte, und nahm die Huldigungen der Männer als einen mir gebührenden Tribut an. Adolf Mölling liebte mich wahr und aufrichtig, und ich verhehle nicht, daß ich mich bewogen fühlte, ihm vor allen andern den Vorzug zu geben. Ich liebte ihn, und versprach ihm durch einen feierlichen Eid, dessen Ernst ich jetzt erst begreife, ihm treu zu bleiben, bis er mir die Hand reichen könne.

Da kamen Sie, Otto, und imponirten meinen Eltern durch Ihr Vermögen. Sie kennen ja die Mittel, die man anwendete, um mich Ihren Bewerbungen geneigt zu machen, Sie wissen, wie man meine Eitelkeit reizte, wie man von den Pflichten der Kindesliebe sprach, und welche Zukunft man mir in Aussicht stellte, wenn ich der thörichten Liebelei – so nannte man meine Neigung zu Adolf – nicht entsagte. Ich war schwach genug, mich verblenden zu lassen, und Ihnen ohne Liebe meine Hand zu reichen. Adolf verschwand, ich hörte nichts wieder von ihm. Anfangs hatte der Reichthum, mit dem Sie mich umgaben, einen Reiz für mich; später aber ward er zur Gewohnheit, und das Herz machte seine Rechte geltend; ich sehnte mich nach dem Gegenstande meiner ersten Liebe und empfand Gewissensbisse über den falschen Eid, den ich geschworen hatte. Die Strafe folgte dem Verbrechen auf dem Fuße. Der Reichthum ward mir gleichgültig, aber auch der Mann, der mich zur Treulosigkeit verleitet hatte.“

„Ah, Madame,“ rief Otto mit Bitterkeit, „Mangel an Offenherzigkeit kann man Ihnen nicht zum Vorwurfe machen! Also nicht nur das Gewissen, sondern auch die Liebe hat Ihnen Kummer bereitet?“

„Ich verhehle es nicht!“

„Und jetzt erst? Jetzt, nachdem Sie zwei Jahre meine Gattin sind?“

„Sie haben mich durch Ihre Sophismen, die Sie geläuterte Lebensansichten nannten, den bessern Regungen in meiner Brust taub machen wollen, und ich bemühete mich, Ihnen in der Erreichung dieser Absicht beizustehen; es war vergebens – die Nachricht von dem furchtbaren Tode Adolf’s hat mich zur völligen Selbsterkenntniß gebracht, und ich klage mich[WS 1] jetzt an, durch meine Treulosigkeit den ersten Grund zu seinem tragischen Geschicke gelegt zu haben. Glauben Sie mir, Otto, ich habe viel gekämpft und viel gelitten, meine Ehe, so glänzend sie von Außen erschien, war eine traurige. Was Sie Empfindelei nennen, war das strafende Gewissen, das sich in mir regte, und Ihr letzter Brief zeigte mir, wie strafbar ich bin.“

„Ja wahrlich, Madame, mir gegenüber sind Sie sehr strafbar!“ rief Otto.

„Klagen Sie mich nicht allein an!“ entgegnete Henriette.

„Und wen noch, wenn es Ihnen beliebt?“

„Klagen Sie sich selbst an, denn Sie verblendeten mich durch den Schimmer Ihres Reichthums und nahmen meine Hand ohne mein Herz, das einem Andern gehörte.“

Otto neigte lächelnd den Kopf.

„Und was denken Sie nun zu beginnen?“ fragte er.

„Ich werde in Geduld die Strafe büßen, die ich verdient habe. Das Herz fordert seine Rechte, und ich muß sie ihm gewähren. Gönnen Sie mir Zeit zur Trauer – hat der Schmerz ausgetobt, kann ich Ihnen vielleicht eine bessere Gattin sein, als ich bisher gewesen bin. Verzeihung, Adolf,“ rief sie, in Thränen ausbrechend, „ich kann nicht anders! Mein Verstand liegt mit dem Herzen im Kampfe – –“

Otto Winter verließ rasch seinen Platz.

„Madame,“ rief er, „Sie sind eine überspannte Närrin! Ich habe Nachsicht mit Ihnen gehabt, so lange es mir die Ehre des Mannes erlaubte, und weil ich hoffte, daß die Zeit Sie eines Bessern belehren werde. Jetzt vermag ich es nicht mehr. Wenn der Verstand und das Ehrgefühl Sie nicht veranlassen können, Ihre Pflicht zu erfüllen, so werde ich von den Rechten Gebrauch machen, die mir zustehen. Ich hoffe, Sie werden mich morgen und nie mehr daran erinnern, daß ein Verbrecher mein Rival gewesen ist.“

Er grüßte kalt, und verließ den Saal.

Henriette trug in einem goldnen Medaillon die längst verwelkte Rose, das letzte Geschenk Adolf’s; weinend küßte sie dieses Medaillon.

„Ich verkenne Dich nicht, armer Freund!“ flüsterte sie. „Du hast nach Reichthum gestrebt, weil ich Dich Deine Armuth schmerzlich empfinden ließ, weil sie Dein Unglück ward. O, ich begreife [567] die Verblendung! Und habe ich nicht ebenfalls ein Verbrechen begangen, um reich zu werden, um in der Welt zu glänzen? Du hast einen reichen Verwandten vergiftet – ich habe Dein Leben vergiftet, ich habe Dich in den Zustand versetzt, der Dich zu dem fähig machte, was Du gethan. Verzeihe mir, verzeihe mir, mein armer Freund! Ich büße ja meine Verirrung durch die fürchterlichsten Qualen. Otto hat mich nicht aus Liebe, er hat mich aus Eitelkeit zu seiner Frau gemacht. Der reiche Mann wollte nicht nur um sein Vermögen, er wollte auch um seine Frau beneidet sein. Wenn er mich liebte, so würde er meinen Schmerz ehren, würde mich beklagen!“

Mitternacht war längst vorüber, als die arme Frau zu Bett ging. Nach einer schlaflos verbrachten Nacht stand sie wieder auf. Ihr Gesicht war bleicher, als sonst, ihre Augen waren trübe vom Wachen und Weinen. Sie rief die Kammerfrau, um Toilette zu machen.

„Bringe mir das einfache schwarze Kleid, Lisa, das ich gestern getragen habe!“

„Verzeihung, Madame!“ stammelte Lisa.

„Was soll ich verzeihen?“

„Der Herr Kommerzienrath hat mir untersagt, Ihnen das schwarze Kleid zu bringen.“

Henriette zuckte zusammen.

„Er compromittirt mich in den Augen meiner Domestiken!“ dachte sie, und ihr Stolz erwachte. Sie sann einige Augenblicke nach, dann sagte sie: „Lisa, ich befehle Dir, das Kleid zu bringen!“ „Das wird unmöglich sein, Madame!“ „Unmöglich, warum?“

„Weil es der Herr Kommerzienrath diesen Morgen verbrannt hat.“

Die bleiche Frau preßte beide Hände auf ihr Herz, als ob sie einen jähen Schmerz fühle, den sie unterdrücken wollte.

„Es ist gut, Lisa! Bringe mir den weißen Batistoberrock!“

„Madame, der Herr Kommerzienrath hat Ihnen nur die Garderobe von farbigen Stoffen gelassen.“

„Auch das noch!“ flüsterte Henriette. „Er will mich zwingen, in schreienden Farben zu erscheinen. Wohlan denn, ich füge mich, weil er mein Mann ist, weil ich nicht anders kann!“

„Was für ein Kleid befiehlt Madame für heute?“

„Wähle nach Gefallen, Lisa; das einfachste ist mir das liebste!“

Lisa erschien wieder mit einem eleganten Kleide von hellgelber Seide, das reich mit weißen brüsseler Spitzen verziert war. Henriette erinnerte sich, daß Otto oft gesagt hatte, diese Farbe stände ihr vorzüglich. Sie konnte nicht zweifeln, daß Lisa nach seinem Befehle handelte. Schweigend ließ sie sich ankleiden. Als die Toilette vollendet war, ging sie in den Saal. Otto erwartete sie zum Frühstück. Bewundernd sah er seine Frau an, denn sie war trotz der Blässe von einer Schönheit, die ihn entzückte. Das marmorbleiche Gesicht drückte nicht mehr den rührenden Schmerz und jene Schwärmerei aus, die gestern den verliebten Gatten verletzten – in den reizenden Zügen lag eine eisige Ruhe, ein Anflug von Trotz, der ihre Schönheit pikant machte. Der Kommerzienrath verfehlte nicht, den artigen Gatten zu spielen, wenn auch mit jener Affektation, die eine natürliche Folge der gestrigen Unterhaltung war. Wie es schien, hatte sich Henriette gefügt, und Otto dachte mit großer Genugthuung:

„Was meine Nachsicht und Zärtlichkeit nicht vermochte, bewirkt dir Strenge; Henriette wird mir später Dank wissen, daß ich sie geheilt habe! Fahren wir fort in dem neuen Systeme!“

Hätte der Kommerzienrath in der Seele seiner Frau lesen können, er würde gefunden haben, daß der eingeschlagene Weg nicht zu dem erwünschten Ziele führte. Der arme Mann wußte nicht, daß in Henrietten eine Leidenschaft schlummerte, die Alles bewältigte, selbst die Autorität eines Ehemannes.



X


Die Worte der Mutter Collin in Betreff Melanie’s hatten Adolf Veranlassung zum ernsten Nachdenken gegeben. Das junge Mädchen war ihm nicht mehr gleichgültig, es erregte Anfangs Interesse, und später die regste Theilnahme. Der junge Mann kannte die Pein unglücklicher Liebe, und er bedauerte Melanie von Herzen, wenn sich bestätigte, daß ihre erste Liebe auf ihn gefallen sei. Melanie hatte keine Ahnung von dem, was die Schwatzhaftigkeit ihrer Mutter angerichtet hatte. Es entstand ein seltsames Verhältniß zwischen den beiden jungen Leuten. Während Melanie den Musiker eifersüchtig auf den Schreiber des Briefs, den er ihr gebracht, wähnte, schloß Adolf aus dem befangenen Benehmen Melanie’s, daß sie ihn wirklich liebte. Adolf war bestürzt über diese Entdeckung, und Melanie zeigte eine jungfräuliche Schüchternheit, die ihre anmuthige Schönheit noch erhöhete.

Eines Tags saß Adolf nachdenkend in seinem Zimmer; seine Geige lag vor ihm auf dem Tische, die Musik gewährte ihm keine Zerstreuung, da die bleiche Dame und Melanie ihn ernstlich beschäftigten.

„Es ist Zeit,“ murmelte er vor sich hin, „daß ich meinem Leben eine Richtung gebe, die mir ersprießlich ist. Ich verlasse dieses Haus und Genf – ein Vorwurf kann mich nicht treffen, denn ich habe der armen Melanie kein Wort von Liebe gesagt, viel weniger noch ein Versprechen gegeben. Um ihr die Ruhe des Herzens wiederzugeben, bringe ich das Opfer, jene bleiche schöne Frau nicht mehr zu sehen. Morgen werde ich dem Fürsten sagen, daß ich ihn nach Moskau begleiten will.“

In diesen, Augenblicke klopfte man leise an seine Thür. Er öffnete und Melanie trat ein. Sie trug einen Karton unter dem Arme.

„Herr Mölling,“ flüsterte sie, „ich möchte Sie um eine Gefälligkeit bitten.“

Der Musiker verneigte sich schweigend. Erst heute erkannte er, daß Melanie anmuthig schön war, wie eine Rose, die sich zu entknospen beginnt. In ihrer Erscheinung lag eine Poesie, die der schwärmerische Virtuos in ihrem ganzen Umfange erfaßte.

„Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich heimlich an einer Stickerei arbeite, deren Ertrag zu einem Geburtstagsgeschenke für meine Mutter bestimmt ist.“

„Ja, Mademoiselle! Sie sprachen von einem Trauerkleide.“

„Ich habe es diese Nacht vollendet. Wollen Sie es sehen?“ fragte sie mit der naiven Freude über die gelungene Arbeit.

Adolf fand wenig Interesse daran; aber er konnte es dem reizenden Kinde nicht abschlagen.

„Erlauben Sie mir, daß ich Ihre Kunst bewundere!“ antwortete er.

Melanie öffnete den Karton und zeigte eine Stickerei, die wirklich bewunderungswürdig war. Blumen und Blätter von schwarzem Schmelz wanden sich durch das schwarze Kleid vom feinsten Seidenflor. Die Blumen stellten aufgeblühte Rosen dar, und die Blätter Immortellen. Adolf lobte die sinnreiche Arbeit.

Hätte er gewußt, daß er das Kleid bewunderte, in dem Henriette seinen Tod betrauern wollte!

„Nun erlaube ich mir, die Bitte auszusprechen,“ begann Melanie, indem sie den Karton wieder schloß. „Ich kann die Arbeit erst morgenfrüh abliefern, und den heutigen Tag muß ich in dem Magazine zubringen. Meine Mutter hat bereits Verdacht geschöpft, und sie wird jedenfalls meine Abwesenheit benutzen, um ihre Neugierde zu befriedigen – würden Sie erlauben, daß dieser Karton in Ihrem Zimmer bleibt?“

Adolf öffnete einen Schrank in der Tapete, setzte den Karton hinein, verschloß die Thür und überreichte Melanie den Schlüssel.

„Dessen bedarf es nicht!“ sagte sie ablehnend.

„Nehmen Sie, Mademoiselle; Sie können dann zu jeder Zeit über Ihre Arbeit verfügen.“

Melanie nahm dankend den Schlüssel und wollte sich entfernen. Adolf hielt sie sanft bei der Hand zurück.

„Mademoiselle,“ sagte er mit bewegter Stimme, „ich werde in einigen Tagen Genf verlassen, um einem ehrenvollen Rufe nach Moskau zu folgen. Uebernehmen Sie es, Ihren guten Eltern meine Abreise mitzutheilen, damit sie über dieses Zimmer weiter verfügen können.“

„Nach Moskau wollen Sie gehen?“ flüsterte Melanie.

„Mit dem Fürsten W., der mich in seiner Kapelle angestellt hat.“

Melanie zitterte am ganzen Körper; sie ward blaß wie eine Lilie.

„Mein Gott, was ist Ihnen?“ fragte Adolf bestürzt.

Sie entwand ihm ihre bebende Hand.

„Ich wünsche Ihnen Glück, Herr Mölling!“ antwortete sie mit gewaltsam angeeigneter Fassung. Dann verneigte sie sich, und verließ rasch das Zimmer.

„Die Mutter hat Recht!“ murmelte er traurig vor sich hin.

„Das arme Mädchen ist zu beklagen. O könnte ich ihm helfen.“

[568] Seine Gedanken beschäftigten sich nicht minder mit Melanie, als mit Henrietten und der bleichen Dame.

„Ich kann nicht in Genf bleiben!“ rief er aus. „Es ist selbst meine Pflicht, daß ich abreise!“

Er machte Toilette, und suchte das Hotel des Fürsten auf. Der Fürst hatte seine Abreise eingetretener Hindernisse wegen um acht Tage verschoben, er befand sich in diesem Augenblick mit einigen Freunden auf dem Lande. Adolf erreichte seinen Zweck nicht; er faßte den Entschluß, die Komposition einer Symphonie zu vollenden, und mit den Menschen so wenig als möglich in Berührung zu kommen, so lange er noch in Genf zu bleiben gezwungen war.



XI.

In dem Landhause am See herrschte eine unheimliche, peinliche Stimmung. Henriette erschien zwar stets in prachtvoller Toilette, sie schien selbst eine besondere Sorgfalt darauf zu verwenden; aber in ihrem Geiste war eine Veränderung vorgegangen, die den Gatten mit Besorgniß erfüllt haben würde, wenn er sie erkannt hätte. Der Kommerzienrath hielt das stille, stolze Benehmen seiner Frau für Trotz, und nach seiner Ansicht mußte dieser Trotz gebrochen werden. Otto fuhr fort, die arme Henriette galant, aber kalt und spöttisch zu behandeln.

Eines Morgens erschien Henriette in einem rosarothen Atlaskleide. Ihr schwarzes Haar schmückte eine weiße Kamelie, und an ihrem schlanken Halse flimmerte der Brillantschmuck, den sie am Trauungstage getragen hatte. Ihr Gesicht war bleich und kalt wie Marmor, und ihr großes Auge glühete in einem unheimlichen Feuer. Als sie in den Salon trat, empfing sie Otto mit der gewöhnlichen Höflichkeit; er reichte ihr an der Thür den Arm, und führte sie zum Frühstückstische.

„Wie schön Sie heute sind!“ begann er, ironisch lächelnd. „So wünsche ich, daß mir meine Gattin erscheine: in den frohen Farben des Lebens, würdig eines Millionairs.“

Er küßte ihr die Hand, die in Fieberhitze brannte. Henriette duldete es, indem sie ihn mit einem fast geistlosen Blicke ansah.

„Was beginnen wir heute?“ fuhr der Kommerzienrath aufgeräumt fort. „Der Tag ist schön und ruhig – ich schlage eine Spazierfahrt auf dem See vor.“

„Verzeihung,“ antwortete Henriette, „ich werde heute das Landhaus nicht verlassen.“

„Warum?“

„Weil ich einen Brief an meinen Vater schreiben will, den ich schon so lange vernachlässigt habe.“

„Fügen Sie dem Briefe den Inhalt dieses Portefeuilles zu; er wird genügen, um für ein halbes Jahr die Ausgaben des alten Mannes zu decken.“

Otto warf ein Portefeuille auf den Tisch.

„Ich nehme es an,“ sagte Henriette mit tonloser Stimme, während die Lippen bebten und alle ihre Gesichtsmuskeln zuckten.

„Sie sind es ihm schuldig, da er es redlich verdient hat.“

Dann verbarg sie das zierliche Portefeuille in der Tasche ihres Kleides. Otto erhob sich, legte beide Hände auf den Rücken, und ging mit raschen Schritten durch den Saal, um den aufsteigenden Groll zu unterdrücken. Henriette schlürfte scheinbar nachlässig, aber im Grunde mit großer Anstrengung, ihre Chocolade.

Der Kommerzienrath warf mehr als einen gehässigen Blick auf seine Frau.

„Also auch Ihren Vater klagen Sie an?“ fragte er nach einer Pause, indem er vor ihr stehen blieb.

Henriette schwieg.

„Madame,“ fuhr der gereizte Otto fort, „man rühmte mir Sie als eine Dame von Verstand und Charakter, die berufen sei, in der Welt zu glänzen und das Glück eines Mannes zu machen, der zu leben weiß. Für dieses Anpreisen habe ich allerdings eine erkleckliche Summe gezahlt, und ich würde nicht bereuen, sie gezahlt zu haben, wenn man mir die Wahrheit gesagt hätte. Jetzt komme ich zu der Erkenntniß, daß ich einen argen Fehlgriff begangen, daß ich mich in Ihnen getäuscht habe. Sie besitzen weder Verstand noch Charakter, Sie sind eine engherzige Frau, die dem niedern Kreise nicht hätte entrissen werden sollen, dem sie angehörte. Als Frau eines Musikers wären Sie an Ihrem Platze gewesen – der Reichthum und das große Leben erdrücken Sie. Man begeht eine große Thorheit, sich von einer hübschen Larve verführen zu lassen, und eine Mesallianz zu schließen. Dieser unüberlegte Schritt, Madame, ist einmal geschehen, und läßt sich nicht rückgängig machen. Meine Verbindung mit Ihnen machte großes Aufsehen, man tadelte, man belachte, man bedauerte und ich verhehle es nicht – man beneidete mich, denn Sie galten für schön. Leider hörte ich weiter keine Stimme, als die der Eitelkeit, leider verschloß ich den verständigen Rathschlägen meiner Freunde das Ohr – soll ich jetzt der Lächerlichkeit anheimfallen? Soll ich jetzt bekennen, daß ich mich durch eine kalte, herzlose Schönheit habe bestechen lassen? Das wird nie, nie geschehen, Madame! Mein Stolz ist zu groß, als daß er sich durch eine fehlgeschlagene Hoffnung beugen ließe. Ich habe mir vorgenommen, Sie mir zur Gattin zu erziehen, wie ich Sie haben will, und glauben Sie mir, es wird mit der ganzen Energie geschehen, die man an mir kennt, und der ich meinen Reichthum verdanke. Alle gütlichen Mittel sind erschöpft – so nehme ich denn von jetzt an meine Zuflucht zu der Strenge, die mir um so leichter wird, da Sie sich nicht bemühen, meine Liebe zu erwerben, und mir Achtung aufzuerlegen. Von morgen an erscheinen wir wieder in der großen Welt, von morgen an ist unser Landhaus glänzenden Gesellschaften geöffnet, und ermangeln Sie Ihrer Pflicht, die Ihnen als meiner Gattin obliegt, so werde ich Sie an einen Ihrer würdigen Ort schaffen, in das – Narrenhaus!“

„In das Narrenhaus!“ flüsterte Henriette, ohne sich zu regen,

„Ich sehe, Sie erschrecken vor der Aussicht, die ich Ihnen eröffne. Es ist ein trauriges, schreckliches Mittel; aber ich schwöre Ihnen, daß ich es anwende. Darum vermeiden Sie es, Henriette, und zeigen Sie sich als die Gattin eines Millionairs. Der Fürst W. reist in einigen Tagen nach Rußland zurück – ich werde ihm ein Abschiedsfest geben, wie es mein Stand und meine kommerziellen Verbindungen mit ihm erfordern. Sie machen die Honneurs als Frau vom Hause, und empfangen die Damen. Sparen Sie keine Kosten, um eine Toilette herzustellen, die Ihrer Schönheit und meinem Range angemessen ist.“

Er grüßte und verließ den Saal, nachdem er einen stechenden Blick auf seine Gattin geworfen. Eine halbe Stunde später sah man ihn in einer glänzenden Equipage nach der Stadt fahren.

Henriette ging in ihr Boudoir, verschloß die Thür, und setzte sich an ihren Schreibtisch. Mechanisch führte sie alle Bewegungen aus. Nachdem sie eine Zeit lang sinnend das Haupt gestützt, ergriff sie die Feder und begann zu schreiben. Thränen flössen aus ihren Augen auf das Papier – es waren die letzten Thränen, die sie weinte. Den Brief und die Banknoten, den Inhalt des Portefeuilles, schloß sie in ein Couvert. Den Brief in der Hand, wollte sie das Boudoir verlassen, als die Kammerfrau ihr entgegentrat.

„Madame, die Stickerin ist angekommen!“ meldete Lisa.

„Man führe sie sogleich in mein Zimmer!“

Mit diesen Worten trat sie zurück und wartete.

„Man beobachtet mich,“ flüsterte sie; „alle Domestiken, und selbst meine Kammerfrau, gehorchen dem Manne, der mich herzlos seiner Eitelkeit opfert. Ich bin seine Gattin nicht mehr – ich bin es ja überhaupt nie gewesen! Das junge Mädchen kann mir nützlich sein!“

Melanie trat ein, einen großen Karton unter dem Arme tragend. Sie grüßte die bleiche Frau mit einem Blicke, der ihre Dankbarkeit, ihre Ergebung verrieth.

„Madame,“ flüsterte sie mit gepreßter Stimme, „ich bringe das fertige Trauerkleid. Es ist in demselben Magazine hergestellt, das mir Ihr Befehl bezeichnet hat.“

„So kann ich es anlegen, wie es ist?“

„Ja, Madame! Man hat Ihr letztes Atlaskleid zum Muster genommen.“

Melanie öffnete den Karton. Henriette sah mit einem seltsamen Lächeln die kostbare schwarze Stickerei an; es sprach sich eine unheimliche Freude in ihren bleichen Zügen aus. Dann öffnete sie einen Sekretair, und verbarg die neue Robe. Den Schlüssel des Sekretairs steckte sie zu sich. Nun forderte sie die Rechnung; Melanie überreichte sie ihr.


(Schluß folgt.)
[569]
W. O. von Horn.


Von den Ufern der Nahe, der Mosel und des Rheins erhebt sich ein Bergrücken (hun hoch, rick Berg, Erhöhung), der den Namen Hunsrück trägt. Er ist von ansehnlicher Ausdehnung. Wer sich aber darunter eine Ebene dächte, würde irren. Es ist ein reiches, fruchtbares, frischgrünes Land, aus Hügeln, Bergen und Thälern bestehend. In den Thälern üppige Wiesen an fischreichen Bächen, gesegnete Fruchtfluren und auf den Höhen dunkler Wald, und überall hübsche, wohlstehende Dörfer und drinnen ein biederer, frommer, kräftiger, frischer Menschenschlag, der alten Sitte, dem alten Rechte, dem alten Glauben treu. So recht im Herzen dieses schönen Hochlandes liegt das Dorf Horn, in dessen freundlichem Pfarrhause W. O. von Horn geboren ist. In alter Liebe zum Geburtsorte legte er sich davon seinen Schriftstellernamen bei, da er es nicht hat über sich gewinnen können, seinen, sonsthin von keinem Makel belasteten Namen zu nennen. Philipp Friedrich Wilhelm Oertel ist sein voller Name, und der 15. August 1798 der Tag seines ersten Schmerzlautes in dieser Welt. Zwei Drittheile eines Jahrhunderts waren nur Oertel’s Verkündiger der Evangeliums in dieser Gemeinde. Der Urältervater war als Weißgerber aus Sachsen nach Simmern eingewandert. Er ließ seinen einzigen Sohn, Johann Paul, Theologie studiren, und dieser wurde Pfarrer in Horn. Sein Sohn, Peter Paul, folgte ihm im Amte. Er war W. O. von Horn’s Vater. Viel Bitteres erlebte die Familie in Horn. Von den Franzosen ausgeplündert bis auf das letzte Hemde, welches jedes Glied derselben auf dem Leibe trug, mußte P. P. Oertel, weil er für einen Schwager mit treuem Herzen gut gesprochen, sein ganzes Vermögen hingeben, und die Viehseuche leerte seine Ställe. Da ist die Sorge mit zu Bette gegangen und mit aufgestanden.

Ein kerngesundes Kind lag W. O. von Horn an der treuen Mutterbrust, als an der Pockenepidemie im Nebenzimmer ein älterer Bruder starb. Der Ruf: „Er ist gestorben!“ trifft der Mutter Ohr. Sie sinkt ohnmächtig in des Gatten Arme und als man das Kind von der Brust nimmt – hat es ein Nervenschlag an der ganzen linken Seite gelähmt! Das war 1799. Was die damals noch so sehr unvollkommene chirurgische Kunst vermochte, geschah; aber nur langsam heilte die kräftige Natur des Kindes den Schaden aus. Die Masern, die es im neunten Jahre befielen, warfen ihren Krankheitsstoff auf den am längsten leidenden Theil, auf das linke Bein und besonders auf die Achillessehne. Das Bein wuchs nur langsam nach, blieb schwach und, wie kräftig auch sich die leibliche Natur entwickelte, W. O. von Horn blieb hinkend und mußte am Stocke gehen. Man hat irrthümlich dies Fußübel in jüngster Zeit irgendwo für eine Wunde aus dem Befreiungskriege gehalten. W.O. von Horn hat, das wissen seine Freunde, manche Thräne vergossen, daß er damals nicht mitfechten konnte; aber er hat das Kriegsschwert nie geführt.

Es war im Jahre 1804, als sein Vater die sehr beschwerliche Pfarrei Horn mit der in Bacharach am Rhein vertauschte. Dort, in den schönen Bergen, am silberglänzenden Strome, im [570] Anschauen der großartigen Ruinen der Vergangenheit wuchs W. O. von Horn heran; dort lebte er eine schöne, frohe Jugend. Kann es Wunder nehmen, daß diese Umgebungen auf seine Seele einen großen Eindruck machten? Kann es Wunder nehmen, daß er dort mit seinem Geiste gerne weilt? Daß er durch und durch eine rheinische Natur ist? Das beurkundet sich in seinen Erzählungen: die Eroberung von Bacharach, der Apostelhof, das Gotteshäuschen und vielen Andern.

Das häusliche Leben war, wenn auch von mancher Sorgenwolke beschattet, dennoch ein stilles, friedliches, gemüthliches Pfarrhausleben. Der Vater, ein gehaltener, ernster, dennoch sehr gemüthlicher Mann, voll Glaubensfrische; die Mutter eine tiefsinnige, fromme, liebreiche, wohlthätige, milde Würtembergerin aus Weinsberg, deren segensreicher Einfluß auf des Knaben offne, freie Seele dem sanften Thaue vom Hermon glich. Er hat im Jahrgange der „Spinnstube“ 1846 eine Scene geschildert, welche ganz dies Bild der trefflichen Frau darstellt und beweist, wie sie es verstand, auf den lebensfrischen Knaben von der sichersten Seite einzuwirken. Die öffentlichen Schulen waren unter der Franzosenwirthschaft am Rheine im ärgsten Zustande. Alles nach der Staatsschablone, ohne daß der geistige Gewinn irgend angeschlagen gewesen wäre. Als darum der Knabe das Alter erreichte, wo der höheren Ausbildung Rechnung getragen werden mußte, nahm der Vater, ein Zögling des Gymnasiums von Meurs und der Universitäten Duisburg und Heidelberg, und ein tüchtiger Philologe; ein älterer Bruder, ein sogenannter Privatgelehrter und ein sehr tüchtiger französischer Geistlicher, der aber zum Receveur des Douanes und später Steuereinnehmer avancirt war, ein eben so wackerer als gelehrter Mann, des Knaben Bildung in ihre Hand, und der Erfolg war ein besserer, als der der école secondaire. Freilich fand sich im Jahre 1814, als er die Universität Heidelberg bezog, noch manche Lücke, die er aber dort mit dem Feuereifer einer nach Erkennen durstigen Seele durch einen selbst die Gesundheit gefahrdrohenden Eifer auszufüllen strebte. Sein ganzes inneres Wesen zog ihn zur Theologie. Daub, Schwarz, Hegel, Fries, Wilken und Andere waren seine Lehrer. Im Hause des edeln Schwarz wurde er mit besonderer Liebe gehegt und dies Haus, diese Familie ist ihm theuer geblieben, wie denn die Verbindung mit Schwarz erst mit seinem Tode endete. Ueberhaupt war sein Leben in Heidelberg ein schönes, der Kreis ausgezeichneter Jünglinge, mit denen er innig verbunden war, anregend und erfrischend, die Theilnahme an mancher folgereichen Erscheinung des akademischen Lebens jener Tage nicht ohne wohlthätige Folgen.

Ostern 1818 war die Grenze des akademischen Lebens. Wohl wäre es sein heißer Wunsch gewesen, noch einmal nach Bonn gehen zu können, aber die Sorgenwolken waren am elterlichen Himmel noch nicht verzogen. Es ging nicht. Und es war gut so, denn der Vater erkrankte und bedurfte seiner im doppelten Amte, als Pfarrer und Superintendent, und ehe das Jahr 1818 hinabsank, schloß sich sein Auge für diese Welt. Seit 1812 hatte er Bacharach verlassen und sich auf die kleine, ruhige Pfarrstelle des lieblich gelegenen Gebirgsdorfes Manubach zurückgezogen. Die Liebe der Gemeinde ging vom Vater auf den Sohn über, und er folgte ihm im Pfarramte in dieser nur fünfhundert Seelen zählenden Dorfgemeinde.

War schon im Knaben die schaffende Thätigkeit erwacht, wie hätte sie später, namentlich im Kreise gleichdenkender Alters- und Geistesgenossen und im stillen, idyllischen Leben in diesem schönen Rheinthale entschlummern können? Damals und auf Jahre hinaus, auch im Nahethale, beschäftigten lokalhistorische Studien den Mann. Zu Tage ist davon nur getreten eine Geschichte der Burg Rheinstein und später ein Bändchen: Bilder aus dem Nahethale. Insbesondere war die Sammlung der Sagen des Nahethales, die so reich und eigenthümlich sind, eine liebe Beschäftigung, und der Umgang mit dem Volke bot dazu die reichste Gelegenheit. Leider ruhen sie noch in der Mappe, ein reicher verborgener Schatz.

Mit dem Jahre 1821 begann W. O. von Horn, damals unter dem Namen: F. W. Lips (Lips war sein Studentenname) mit seinen, größtentheils historischromantischen Erzählungen hervorzutreten, und als man endlich erfuhr, wer dahinter stecke, schwieg er lange, und trat dann mit seinem „Friedel“ (eine Volksgeschichte) als W. O. von Horn hervor, welchen Namen er beibehielt.

Wie trefflich er in diesem Friedel den Volkston anzuschlagen verstand, beweisen wohl am besten die verschiedenen großen Auflagen, die sich in wenigen Jahren nöthig machten. Im Jahre 1846 begann er die „Spinnstube,“ einen Volkskalender, den er ganz allein schreibt. Keiner von all’ den vielen illustrirten und nicht illustrirten Kalendern Deutschlands hat eine so allgemeine und große Verbreitung, namentlich im Süden unseres Vaterlandes gefunden, wie dieses von L. Richter hübsch illustrirte Büchlein. Gleich großen Beifall, wenn auch nicht die enorme Verbreitung der Spinnstube, fand der Separatabdruck der Erzählungen aus der Spinnstube, den er unter dem Titel: „Rheinische Dorfgeschichten“ und „des alten Schmidjacobs Geschichten“ in Frankfurt erscheinen ließ. Eine Auswahl kleinerer Erzählungen und Biographien erscheint seit zwei Jahren in Wiesbaden; auch unsere Gartenlaube hat sich vieler Beiträge zu erfreuen. Die meisten seiner Erzählungen sind in’s Französische, Holländische und Englische übersetzt und außerdem vielfach nachgedruckt.

Man hat Horn öfter vorgeworfen, er schreibe so viel. Vielleicht ist doch dieser Vorwurf falsch. Die Erzählungen (11 Bände) sind nicht neu. Es sind die Wiederabdrücke seit 1820 geschriebener verschiedener Arbeiten. Die Schmiedjakobsgeschichten sind ebenfalls nur Wiederabdrücke aus der Spinnstube, ohne neue Zuthaten. Die Spinnstube ist immer auf zwei bis drei Jahre vorausgeschrieben, weil der kunstreiche Illustrator sie vor sich liegen und Zeit dazu haben will. So können also Jahre kommen, wo O. W. von Horn nicht einmal eine Spinnstube schreibt. Ueberdies hat er, und das wissen seine zahlreichen Freunde, die Gabe leichten und raschen Schaffens. Und dies Schaffen findet nur in den Stunden von acht Uhr Abends bis Mitternacht statt, weil der Tag ganz seinem heiligen Berufe gehört. Sechzehn Jahre lebte er in Manubach, in diesem stillen, verborgenen Rheinthale, in glücklicher Ehe, im Kreise heranblühender Kinder. Im Jahre 1835 wurde er nach Sobernheim als Pfarrer und Superintendent berufen, wo er zur Stunde noch lebt und wirkt.

Die große Kunst Horn’s, die ihm beim Volke so sehr beliebt macht, besteht hauptsächlich darin, – und außer Höfer wüßten wir keinen deutschen Autor, der ihm darin gleich käme –, daß er mit den einfachsten, schmucklosesten Mitteln das Gemüth des Lesers zu packen und zu rühren versteht. Horn ist weder in seinen Erfindungen und Situationen neu und originell, noch weiß er die Nerven à la Sue und Dumas auf die Folterbank der Erwartung zu spannen, aber seine Kenntniß des menschlichen Herzens, die echte Gemüthlichkeit und Treuherzigkeit, die alle seine Erzählungen durchweht, sein tiefes Gefühl für alles Gute und Schöne und die einfache, fast naive Weise seiner Form, die er in seltnem Grade beherrscht, machen ihn zu einem Lieblingsschriftsteller des Volkes, der überall gelesen wird, wo Gemüth und Treuherzigkeit noch Anklang finden. Wollte Horn dann und wann etwas kräftiger und entschiedener auftreten und sich der heiligsten Interessen des Volkes mehr annehmen, er würde bald auch bei denen ein sehr willkommener Gast sein, die ihm jetzt allzugroße Weichheit und Indifferentismus vorwerfen. Das Talent zum echten Volksschriftsteller hat er wie wenige neben ihm.






Schiffstagebuch einer Fahrt von Bremen nach New-York.

Tausende schiffen jährlich aus Deutschland über den großen Ocean nach Amerika hinüber und Abertausende möchten ihnen folgen. Einige stellen sich eine solche Reise als etwas Entsetzliches vor, Andere halten sie für eine Spazierfahrt sobald das Schiff nicht untergeht.

Wir sind im Stande, ein vollständiges treues Tagebuch von einer Fahrt mit einem Auswandererschiffe vorzulegen, das eine richtige Vorstellung von einer solchen Reise geben wird, da es weder in’s Schwarze, noch in’s Schöne malt, sondern einfach die Tagesereignisse und den Küchenzettel angibt: [571] Länge des Schiffen 183 Schritt; Breite 35. Passagiere 267.

8. Aug. 1854. Auf das Schiff, das früh um 7 Uhr bestiegen werden soll, können wir erst Abends, um 8 Uhr. 3 Matrosen sind betrunken; es kommt fast zur Schlägerei; der Steuermann handhabt bereits die Handspeichen. – Abends Thee, Butter und Brot.

9. Aug. Das erste Mal auf dem Schiffe geschlafen; im Hotel gefrühstückt. Unterdessen haben sich wieder 4 Matrosen betrunken, die allerlei Rohheiten begehen, bis der Steuermann sie mit Tauenden blutig behandelt. Abends erscheint ein Polizeibeamter, um nach einem Diebe zu suchen. – Fasttag, da das Schiff noch nicht zum Kochen eingerichtet ist. Abends Thee ohne Brot.

10. Aug. Früh um 2 Uhr erscheint ein Polizeibeamter mit mehreren Gensd’armen, um nochmals nach dem Diebe zu suchen, der gefunden wird und den einige Matrosen frei mit nach Amerika bringen wollten. – Mittags Reis und Fleisch, doch nicht zum Sattwerden; Abends Thee.

11. Aug. Wir liegen noch immer auf der Rhede. Ein Kind erkrankt. – Früh Kaffee; Mittags weiße Bohnen; Abends Thee.

12. Aug. Früh um 2 Uhr kommt der Kapitain an Bord; um 5 Uhr wird der Anker gelichtet. Günstiger Wind. Gegen 10 Uhr auf der Höhe von Wangeroog. Der Lootse verläßt uns. Gegen Abend erscheint Helgoland. Die Passagiere sind meist ausgelassen lustig, aber sehr bald stellen sich die ersten Zeichen der Seekrankheit ein, die zu vielen komischen Auftritten Veranlassung geben. Nur 12 sind nicht seekrank; die übrigen liegen in ihren Kojen und erleichtern den Magen. Entsetzlicher Geruch. Der Wind frisch; das Schiff schaukelt bedeutend. An Essen wird nicht gedacht.

13. Aug. Syrup in den Kaffee, um die Magenerleichterung zu befördern, wird aber allgemein über Bord gegossen. Die Meisten noch seekrank. – Mittag Plumpudding, d. h. Mehl mit Wasser und Fleischbrühe in einem Sack von Segeltuch gekocht. Guten Appetit!

14. Aug. Dichter Nebel; rauhe Luft. Frauen und Mädchen immer noch seekrank; die Männer lustig. Gegen Abend zeigt sich sehr undeutlich England. – Mittags Reis und Rindfleisch. Das schwarze Brot mag Niemand mehr essen. Zum schlechten Wasser Essig.

15. Aug. Windstille; die Zeit fängt an lang zu werden; das Meer fast ganz ruhig. Ein Haifisch unterhält uns, der um das Schiff herum schwimmt. Die Seekrankheit schwindet mehr und mehr. – Weiße Bohnen und Schweinefleisch. – Abends spät zwei Schiffe in Sicht.

16. Aug. Die Schiffe sind verschwunden. Der Hai stellt sich wieder ein. Windstille; das Schiff steht; die Segel hängen schlaff herab. Seemöven zeigen sich und Seegewächse mit gelben Blumen. Gegen Abend England deutlich sichtbar, darum Tanz auf dem Deck. – Sauerkraut und Speck.

17. Aug. In der Nacht Wind; Angesichts des Landes holen wir ein Schiff ein. Nachmittag steht das Schiff fast still, so daß wir das Land mit Muße besehen können. Ich versuche Seegewächse und Weichthiere zu fangen. Abends Tanz. – Große Graupen und Schweinefleisch.

18. Aug. Es regnet was vom Himmel herunter will; das Wasser dringt in das Zwischendeck. Das kranke Kind stirbt und wird in das Meer gesenkt. Nachmittag erscheint ein Boot und fragt nach dem Namen des Schiffes und Kapitains, angeblich für den Fall, daß das Schiff im Kanale verunglücke. – Erbsen wie Flintenkugeln; zu dem schlechten Wasser Zucker.

19. Aug. Feuersgefahr, da durch die Unachtsamkeit des Zwischendeckkochs glühende Kohlen auf das Deck gefallen waren und dies zu brennen anfing. Einfahrt in den irischen Kanal, so daß wir, allerdings bei großer Kälte, rechts und links die Küste mustern können, die sehr unwirthlich aussieht und nur hier und da Häuser oder bebautes Land, dagegen viele Heerden und – Klippen zeigt. Gegen 50 Blackfische, fast so groß und dick wie Esel, ziehen weiter. Mittag Windstille, nach vier Stunden Sturm, daß alle Segel eingezogen werden müssen. Die Seekrankheit stellt sich wieder ein. Eine kleine Revolte. Ein junger Mann machte sich an ein Mädchen, sehr grob, das sich bei dem Kapitain beschwert. Der Zudringliche wird gebunden und in die Kajüte gesteckt; seine Freunde wollen ihn befreien; der Kapitain tritt mit zwei Pistolen hinzu und droht, jeden niederzuschießen, der nicht Ruhe halte. Das hilft. Die Andern bringen dem Kapitain ein Hurrah. Spritzwellen springen herüber und hinüber und geben unverlangt Bäder. – Reis und Rindfleisch.

20. Aug. Heftiger Wind und Regen. Seit dem letzten Abend sind wir im großen Oceane. – Erbsen und Speck.

21. Aug. Niemand hat geschlafen wegen Sturmes; die Kisten schlagen sich los und rollen im Zwischendecke umher, die Leute in den Kojen übereinander, wenn sie sich nicht festbinden. Das Meer donnert; die Wogen steigen haushoch. Die Seekrankheit wird wieder stark. Unterdeß wird eine Frau entbunden. Der Kartoffelvorrath schwimmt in seiner eignen Fäulniß und der Kapitain erlaubt deshalb Jedem so viel Kartoffeln zu nehmen, als er will und sie zu kochen. – Reis und Rindfleisch.

22. Aug. Das Schiff fliegt durch das Wasser, als habe es Flügel. Man erwartet Sturm.. Allgemeine Kartoffelkocherei. Niemand mag mehr Salzfleisch.

23. Aug. Sturm, so daß man sich auf dem Deck nur kriechend fortbewegen kann. Alles rollt und stürzt über einander, auch das Angebundene wird losgerissen. Zu Essen nichts, da nicht gekocht werden kann, denn das Schiff wird so stark herüber und hinüber geworfen, daß nichts in den Kesseln bleibt.

24. Aug. Der Sturm legt sich; es regnet stark; der Wind ist günstig. – Weiße Bohnen und Rindfleisch.

25. Aug. Die Leute essen übermäßig Kartoffeln. Das Wasser (zum Trinken) wird grün und flockig, darum Essig dazu.

26. Aug. Langeweile, da sich Alles gleich bleibt. Die Leute wollen kein Rindfleisch mehr und werfen es über Bord, wie das schwarze Brot.

27. Aug. In Folge des Kartoffelessens Anfälle von Cholera. Eine gewaltige Welle schlägt in’s Zwischendeck. Heftiger Wind. Auf dem Deck steht das Wasser knietief. – Sauerkraut und Rindfleisch.

28. Aug. Noch immer starker Wind. Auf dem Deck bricht ein Mann das Bein, das ein mitfahrender Barbier wohl oder übel zusammenflickt. Der Arme muß nun mit den Schmerzen sich in der Koje herumwerfen lassen. Zank zwischen einem Liebespaare, in den sich Viele mischen. – Reis ohne Fleisch.

29. Aug. Der Wind legt sich etwas. Ein junges Mädchen wird endlich krank aus Angst vor dem Meere. Ein Matrose stürzt von der obersten Raa in’s Meer und wird mit Mühe gerettet, da das Meer hoch geht. – Weiße Bohnen und Rindfleisch, doch nicht für Alle, da ein Kessel beim Schaukeln umgeschlagen ist.

30. Aug. Der Wind noch immer stark; es ist so kalt, daß man Schnee erwartet, weil wir sehr weit nach Norden getrieben sind. Wir können nur mit drei Segeln (statt 30) fahren. Die Wellen bäumen sich vor dem Schiffe auf, daß wir nur langsam weiter kommen. – Das junge Mädchen stirbt und wird gegen Abend in’s Meer gesenkt. Eine blaue Flagge mit weißen Sternen war ihr Leichentuch. – Reis und Rindfleisch.

31. Aug. Langeweile. Ich zeichne den Steuermann. – Erbsen und Schweinefleisch.

1. Sept. Eine stürmische unruhige Nacht. Das Meer sieht aus, als kämen auf ihm unendliche Reihen von Bergen gezogen. Es macht sich ein Gefühl bemerklich, das ich eine Art von Heimweh, d. h. Sehnsucht nach dem festen Lande nennen möchte. – Graupen und Rindfleisch; die erstem angebrannt.

2. Sept. Windstille; das Schiff rührt sich kaum von der Stelle. Ueberall lange, verdrießliche Gesichter. – Sauerkraut.

3. Sept. Große Wäsche. So gelind, daß man es eine Stunde auf dem Deck aushalten kann. – Reis und Speck. – Pflaumen und Speck ausgetheilt.

4. Sept. Günstiger Wind; das Schiff schießt pfeilgeschwind dahin und so ruhig, daß es kaum wankt. Früh Nebel; später viele fliegende Fische. – Weiße Bohnen und Rindfleisch.

5. Sept. Der Wind springt fortwährend um, endlich hört er ganz auf. Ein Nordkaper, etwa 30 Fuß lang, unterhält uns. Das Schiff steht. – Erbsen und Schweinefleisch.

6. Sept. Das Schiff steht noch immer; es regnet stark, ist aber bedeutend wärmer geworden. Mit großem Jubel wird ein Dampfschiff begrüßt, das nach Liverpool segelt. Schon der Gedanke, daß in der Nähe menschliche Wesen sind außer uns, [572] hat etwas Wohlthuendes. – Reis und Rindfleisch, Schwarzbrot, obgleich Niemand es will.

7. Sept. In der Nacht ist das Schiff wie toll vor dem Winde hergejagt. Mittags steht es wieder. Ein Dreimaster zeigt sich, der unsern Curs hat. Das Meer liegt da, wie ein Spiegel; der Himmel ist wolkenleer. Ich freue mich, wie ein Kind auf einen Sonnenaufgang am andern Morgen und Abends auf den Mondenschein. – Erbsen und Rindfleisch, auch Häringe.

8. Sept. Der Sonnenaufgang nicht zu sehen, da Wolken in Osten stehen. Ein Zweimaster in Sicht. Die Matrosen lüften ihren Sonntagsstaat, – kommen wir bald an? – Sauerkraut und Schweinefleisch.

9. Sept. Gute Nacht. Um 1 Uhr Mittags plötzlich, ohne alle Anzeichen heftiger Sturm, daß alle Männer mit zugreifen müssen, um so rasch als möglich die Segel einzuziehen. Uns zur Seite ein Dreimaster, der von dem Sturme entsetzlich herumgeworfen wird; Segel von ihm fliegen fort. Gegen 9 Uhr Abends läßt der Sturm nach, setzt aber in widrigen Wind um. – Reis; Rindfleisch nimmt Niemand, da es entsetzlich salzig ist, bitter schmeckt und grün und gelb aussteht. Essig und Butter wird vertheilt.

10. Sept. Schlechte Nacht, da das Schiff gewaltig schwankt. Wann gibt es wieder einmal einen ruhigen Schlaf? Gegen Morgen wird eine Frau von einem Kinde entbunden, nachdem sie 48 Stunden in Wehen gewimmert. Gegen Abend schauerliche Vorbereitungen, – der Kapitain erwartet nochmals Sturm. – Weiße Bohnen und Speck.

11. Sept. Eine traurige Nacht. Der Sturm brach los. Das Schiff krachte und stöhnte, als wolle es jeden Augenblick aus den Fugen gehen; die Wellen spielen Haschens über das Verdeck; im Zwischendeck steht das Wasser; die Raaen tauchen 4–5 Ellen tief in’s Meer; die Matrosen können die Segel nicht bewältigen; zerrissene Taue schleudern herüber und hinüber und schlagen unter Andern einen Matrosen blutig. Der Mond sieht aus, wie eine steigende und fallende Leuchtkugel, da die haushochgehenden Wogen das Schiff bald heben, bald senken. Gegen Morgen erst legt sich der Sturm und es wird hell. Den ganzen Tag bleibt der Wind stark und das Meer aufgewühlt. Es ist eine Kunst auf dem Deck zu gehen ohne zu fallen. Ein Zweimaster in Sicht. – Spät Graupen; Fleisch mag Niemand.

12. Sept. In der Nacht liegen alle wie im Todtenschlafe, da es ruhig ist und alle ermüdet und von der Aufregung abgespannt sind. Den Tag über guter Wind; nichts Ungewöhnliches. – Erbsen und Rindfleisch.

13. Sept. Wir holen einen Dreimaster ein und sind im Golfstrom, da wieder Seegewächse sichtbar werden. Schönes Wetter, guter Wind. Ich bleibe eine halbe Nacht auf dem Deck, da das Meer wunderbar schön leuchtet; aus der Schiffsspur fliegt es wie Funken auf aus einem Schmiedefeuer. Die Habseligkeiten des Kapitains und der Steuerleute werden gelüftet; sie sagen, wir wären bald am Ziel. Der Wind wird wieder stärker. – Sauerkraut.

14. Sept. Wieder so starker Wind, daß man sich an Seile anhalten muß, wenn man auf dem Deck bleiben will; dazu springen häufig Wellen über’s Deck, daß man rasch zu laufen hat, um ihnen undurchnäßt zu entkommen. Zwei Schiffe, die von Amerika kommen. – Reis und Rindfleisch.

15. Sept. Wieder konnte wegen Schwankens des Schiffes Niemand schlafen. Wir sind nochmals im Golfstrom, denn das Wasser ist ganz warm. – Erbsen, Speck und Häring.

16. Sept. Noch sechs Tage! So heißt es. Klarer Himmel, aber fortwährend Spritzwellen über’s Deck. – Weiße Bohnen und Rindfleisch.

17. Sept. Das Schiff geht schnell und ohne Schwanken; früh schien der Himmel im Feuer zu stehen. Eine Frau fällt von der Zwischendeckstreppe und bricht einen Arm. Unbeschreiblich schönes Abendroth. Dicht neben uns ein Dreimaster. Die Geduld ist so ziemlich zu Ende. – Sauerkraut und Speck.

18. Sept. Guter Wind; warmes schönes Wetter. Schaaren von fliegenden Fischen. – Reis und Rindfleisch.

19. Sept. Fast Windstille; heiß; die Leute suchen die Langeweile zu verschlafen. – Erbsen und Speck.

20. Sept. In der Nacht starb ein Kind, das Vormittags in’s Meer gesenkt wird. Wir sehen vier Schiffe, eins nach Bremen ganz in der Nähe. Den ganzen Tag bis gegen Abend im Golfstrom. – Sauerkraut.

21. Sept. Einzelne Landvögel. kommen auf das Schiff, eine Art Hänflinge, und werden gefangen. Wieder Spritzwellen.

22. Sept. Streitigkeit, fast Schlägerei wegen des Brotes; alle wollen Weißbrot und sollen doch auch etwas Schwarzbrot nehmen. Es kommen mehr und häufiger Landvögel, die gefangen werden. Zwei Kinder starben und wurden miteinander versenkt. – Sauerkraut und Rindfleisch.

23. Sept. Beim klarsten Himmel der wundervollste Sonnenaufgang; das Meer liegt da und glänzt wie ein Spiegel; es ist sehr warm. Ein Seekrebs unterhält uns. Noch 600 englische Meilen! – Reis und Fleisch. Speck und Syrup wird vertheilt.

24. Sept. Wir fahren bald östlich, bald südlich; der Wind setzt fortwährend um; die Matrosen müssen die Segel alle Viertelstunden anders richten; wir drehen uns buchstäblich im Kreise. Früh ein Schiff in Sicht, später zwei. – Linsen und Speck.

25. Sept. Das Land muß nahe sein. Eine Schleiereule kam auf das Schiff und blieb ziemlich lange, obgleich Alle mit Kohlen nach ihr warfen, auch Landschwalben erschienen; Seeschwalben haben uns fast gar nicht verlassen. Ein Schiff ist vor uns; wir holen es ein, es ist die „Carolina“ aus Bremen mit Auswanderern. Abends leuchtet das Meer wieder, ein Anblick, der nicht zu beschreiben ist. – Reis und Rindfleisch.

26. Sept. Ein Baumstamm mit Aesten und Blättern kommt geschwommen. Ich weiß nun, wie es Columbus auf seiner Fahrt bei einem solchen Anblick zu Muthe war. Wenn man es lieset, kann man es nicht so fühlen. Zwei Schiffe. Ein Kind stirbt. – Erbsen wie Kugeln.

27. Sept. Das Kind wird in’s Meer gesenkt. Das Meer leuchtete in voriger Nacht wieder herrlich, aber das Schiff kam kaum von der Stelle. Seit drei Tagen ist es so heiß, daß es in dem Schiffe nicht auszuhalten ist. Viele schlafen auf dem Deck, bis sie der starke Thau doch hinuntertreibt. Beim großen Bär zeigen sich gleichsam drei große Feuersäulen, wie ein unvollkommnes Nordlicht. Windstille. Zahllose Blackfische umschwärmen unser Schiff. – Erbsen und Rindfleisch.

28. Sept. In der Nacht erhebt sich der Wind, früh deshalb großer allgemeiner Jubel, aber wir segeln südlich und es ist so kühl, daß man kaum auf dem Decke bleiben kann. Ein Boot zeigt sich; allgemein glaubt man, es sei der ersehnte Lootse, dann so dichter Nebel, daß man nicht zwanzig Schritte weit sehen kann. Deshalb wird Wache ausgestellt. Abends verzieht sich der Nebel; die Sterne treten hervor und es blitzt. Das Senkblei wird ausgeworfen. – Graupen und Rindfleisch.

29. Sept. In der Nacht wieder eine Frau durch ihren Mann von einem Knaben glücklich entbunden. „Das Schiff streicht durch die Wellen.“ Ein abgebrochener Mast mit Takelage schwimmt vorüber. Es ist kalt. – Sauerkraut und Schweinefleisch.

30. Sept. Der Steuermann schlägt die Vorrathskammer auf, ein gutes Zeichen. Alles wird ausgegeben bis auf Vorrath auf drei Tage. Selbst die Matrosen haben die Fahrt zum Ueberdruß. Es stirbt noch ein Kind. Eine Brigg segelt in Büchsenschußweite vorüber unter entsetzlichem Schwanken. Der Wind legt sich, o weh! Das Kind wird begraben.

1. Okt. Jeder bekommt so viel Wasser, als er haben will. Acht Schiffe in Sicht, darunter mehrere kleine. Eins kommt, heran, es ist ein Lootsenboot – rothe Flagge mit schwarzem Kreuz! Der Lootse steigt an Bord, ein Mann, fein, als wollte er zum Balle gehen. Die Ankerketten werden gehoben und zurechtgelegt – wer beschreibt das Gefühl! Die „Carolina“ ist wieder bei uns. Halb zwei Uhr Nachmittags erblicken wir in Nordnordwest Land, eine Hügelkette, und ein dreimaliges Hurrah ertönt. Gegen sieben Uhr rasseln die Anker nieder und wir können trotz dem Regen das Land, die zahllosen Schiffe und die Lichter betrachten, welche New-York andeuten. – Noch einmal weiße Bohnen und Rindfleisch.

2. Okt. Alle Strohsäcke fliegen über Bord; ein Dampfschiff bringt uns an’s Land, an’s Ziel!



[573]
Die Weltgeschichte in Schuhen und Stiefeln.

Geht man der Geschichte etwas naher auf den Leib, so bemerkt man zu nicht geringer Ueberraschung, daß wir die schlagendsten Kommentare der Weltgeschichte an den Beinen an uns herumtragen, denn die großen Perioden der Weltgeschichte haben ihren sicht- und fühlbaren Ausdruck in der Fußbekleidung gefunden. Man muß hierbei unter Weltgeschichte nicht den Wechsel, der Dynastien, Reiche, Schlachten und dergleichen Zufälligkeiten verstehen, sondern die Umwandelung der Gesinnung, Denk- und Lebensweise der Völker, die sich ihr Recht trotz Aechtungen, Bannflüchen, Scheiterhaufen und Bastillen verschafft. Um dies an einem Beispiele nachzuweisen, verfolgen wir die Geschichte der Fußbekleidung. Siehe da, die drei großen Perioden des weltgeschichtlichen Lebens finden wir in Schuhen und Stiefeln wieder; denn die Völker des Alterthums gingen auf Sandalen, das Mittelalter hat Schuhe, seit dem dreißigjährigen Kriege tauchen Versuche im Stiefeltragen auf, und seit der französischen Revolution trägt man Lederstiefeln.

Soll dies Zufall sein? Gewiß nicht. Burmeister hat in seinem geistreichen Aufsatze „über den menschlichen Fuß“ nachgewiesen, wie der Fuß den Menschen im Gegensatz zum Thiere charakterisirt, wie er aber auch den einzelnen Menschen individualisirt, und der Charakter des Einzelnen angedeutet wird in der Art, wie er für sein Schuhwerk sorgt. Es muß in der Schuhmacherei ein welthistorischer Zug liegen, denn der Schuster Simon in Athen war ein intimer Freund des Sokrates und Perikles, welcher letztere ihn gar zu seinem Privat-Geheimerath zu machen strebte, doch Simon wollte „seine Freiheit nicht verkaufen.“ Ein andrer gelehrter Schuster wurde Bürgermeister zu Rom und der erste Rechtsgelehrte seiner Zeit, der Schuster L. Balduin wurde die Zierde und der Mitgründer der Universität Florenz; unser poetischer Landsmann Hans Sachs ist der erfindungsreichste aller deutschen Dichter und war Streitgenosse Luther’s; Jac. Böhme aus Görlitz gehört zu den tiefsten Denkern unseres Volkes; G. Fox gründete die Religionssekte der Quäker oder Kinder des Lichts, die auch in Danzig durch Schuster Eingang fand, und Ronge hatte die Stützen seiner Gemeinden vorzugsweise unter den Schustern.

Kein anderes Gewerk kann sich solcher welthistorischen Mitglieder rühmen, keines berechtigt uns so sehr zu dem Glauben, daß wir auf welthistorischem Boden stehen, wenn wir Schuhe oder Stiefeln angezogen haben, daß in der veränderten Fußbekleidung wir Errungenschaften an uns tragen, die man nicht wegrevidiren wird. Es ist kein Zufall, daß die Völker des heidnischen Alterthums in Sandalen, ohne Rock und Hosen umherliefen, wogegen die germanischen Völker mit Hosen und Schuhen auf der Schaubühne der Weltgeschichte erscheinen, die Revolution aber lange Hosen, Stiefeln und Rock zur gleichmachenden Kleidung macht. Doch wir wollen uns nicht in Redensarten ergehen, sondern die Sache selbst reden lassen, damit sich Jedermann überzeuge, wie viel Humor in der Situation steckt, wenn Jemand gegen die Revolution eifert, und ihre Errungenschaften und Abzeichen doch am Leibe mit sich herumträgt.

Die Völker des Alterthums standen noch auf der Stufe der Natürlichkeit und Sinnlichkeit, daher ihre sinnliche Naturreligion, ihre gesellschaftliche Ordnung nach Familien und Stämmen. In Folge hiervon nahmen sie am Nackten keinen Anstoß, sondern trugen Arme und Beine mehr oder minder unverdeckt vom Mantel oder hemdartigem Kleid. Sie wollten den Fuß nicht verhüllen, sondern ihn nur schützen und schmücken. Königinnen und Fürstinnen gingen bis auf die Fußsohle barfuß, nicht minder Herzöge, Marschälle, Großhändler, Bürgermeister, Tagelöhner und Kuhhirten. Erforderte es die Jahreszeit, so waren Lappen an der Sandale angebracht, um den Fuß zu umwickeln, aber einen eigentlichen Schuh trug man nicht. Reich und Arm unterschied sich blos durch das Material der Sohle, die aus Binsen, Bast, Holz, Leinewand oder Leder verfertigt wurde, und durch den Schmuck der farbigen Bänder, mit denen man die Sohle am Fuße befestigte. Diese Bänder waren ähnlich wie bei uns die Schlittschuhriemen an der Sohle angebracht; das Hauptband wurde zwischen den beiden ersten Zehen hindurchgezogen, ging durch die Oehre der andern Bandstücken und schnürte sie fest, oder man wand die verschiedenen Bänder am Knöchel bis zur Wade hinauf. Ein Schmuck war es, diese Bänder mit Geschmack um den Fuß zu winden, kostbare Stoffe und prächtige Farben dazu zu wählen oder sie gar mit Perlen und Edelsteinen zu sticken. Solchen Luxus und solche Unterschiede dulden die demokratischen Stiefeln nicht; denn ein blanker Stiefel ist so viel als ein anderer, und Wichse so billig, daß der Proletarier mit dem Millionär hierin konkurirren kann. Dies ist das Egalisirungsprincip der Stiefeln, die nur einen Unterschied netterer Formen und echterer Waare zulassen, was aber wenig in die Augen fällt, da der Verwalter einen eben so netten Stiefel tragen kann, als der Herr Graf; aber mit Perlen und Gold könnte er das Oberleder nicht sticken lassen.

Sehen wir uns die alte Geschichte im Sonntagsstaate an, so zeigt sie uns mit stolzem Behagen die Pyramiden und riesigen Königspaläste Egyptens, die meilengroßen Palaststädte Babylon und Ninive, die säulenreichen Tempel und Statuen Griechenlands, die luxuriösen Landhäuser und Kaiserpaläste Roms; aber überraschen wir sie im Negligée, so sieht sie ziemlich ärmlich aus, denn sie hat nur Sohlen und ein wollenes oder baumwollenes Hemd den Völkern gebracht. Nur auf Reisen oder Feldzügen trug man eine Kopfbedeckung. Wie anders erscheint uns ein Achill, ein Alexander, eine Themistokles ohne Hut, Hosen, Rock und Stiefeln! Welche unserer Damen würde es wagen, diese Ideale anzusehn! Der viel bewunderte Staatsmann Perikles ging oft sogar barfuß auf dem Markte spazieren; Demosthenes wie Cicero deklamirten ihre Reden mit nackten Armen, sprangen mit nackten Beinen auf der Rednerbühne hin und her und aßen statt mit Messer und Gabeln mit der Hand aus dem Bratenteller, daß ihnen das Fett die Finger entlang lief. Welcher Minister, welcher Parlamentsredner wagt es, hierin sein Vorbild nachzuahmen! So haben sich die Zeiten verändert! Nicht einmal die Philologen, die das Alterthum so unübertrefflich klassisch, die nur im Alterthum Geschmack und Schönheitssinn finden, wollen in bloßem Kopfe und barfuß gehen, wie Plato und Sokrates, Herodot und Sophokles, Livius und Cornelius Nepos es thaten. Ja sie sind so sehr von ihrem Princip, am Alterthum Alles zu bewundern, abgefallen, daß sie den Anstand verletzt glauben, wenn bei ihren Schülern etwa durch eine Spalte in den Hosen oder Stiefeln ein Stück Antike, ein Viertelzoll Mensch oder Humanität durchschaut. Freilich mochte auch kein Weiser des Alterthums ahnen, daß das Hosenstraffziehen ein vielvermögendes Erziehungsmittel und das Hosenankleben eine amtliche Bierprobe werden könnten. Bekanntlich wurde im gewissenhaften Nachmittelalter von Rechtswegen das Bier auf die Art erprobt, daß mit ihm eine Bank begossen wurde, auf welche sich die Commission der Rathsherren setzte. Klebten die Hosen an, so war das Bier gut; doch mag das Kleben- und Sitzenbleiben wohl noch einen andern Grund gehabt haben, da es Vielen noch in unseren Zeiten da passirt, wo es schmeckt.

Wir wollen indeß nicht ungerecht gegen das ungestiefelte Alterthum sein, denn es wußte mit seinen Sohlen doch viel Koketterie zu treiben, wußte sie zum Abzeichen der menschlichen Lebensordnung zu machen. Wir haben Sonntags- und Alltagskleider, der Hebräer hatte Sonntags- und Alltagsschuhsohlen; der Modenarr heftete Schellen an dieselben, um sich bemerklich zu machen, der zärtliche Liebhaber heftete das Portrait seiner Angebeteten in Metall gravirt unter die Sohle, um die Erde mit dem Abbilde der Dame feines Herzens zu bedecken, Diener mußten der Herrschaft oder dem vornehmen Gaste die Schuhriemen auflösen, ein Schuh ward als Unterpfand bei Kaufkontrakten abgegeben, gewissermaßen als Stempelbogen, bei Trauer und an heiligen Orten legte man die Sohlen ab und ging barfuß, wie David, als er vor Absolon floh, und wen man für ehrlos erklärte von Rechtswegen, dem verbot man, Sandalen zu tragen. Wer Jemandem die Sohlen nachtrug, stellte sich unter dessen Botmäßigkeit. Im bürgerlichen, im Rechts- und Kirchenleben spielte die Schuhsohle [574] bei den Juden eine bedeutungsvolle Rolle, weshalb der bibelfeste Yankee seine persönliche Unabhängigkeit auf orientalische Weise mit den Worten ausdrückt: in eignen Schuhen stehen, womit er aber jedenfalls geborgte nicht ausschließen will, denn seine kaufmännische Existenz ist ja Kredit.

Der Persische Reiter konnte mit den bequemen Sohlen nicht auskommen, sondern befestigte größere Lederlappen daran, um diese wie eine Art Schnürstiefelchen am Fuße bis zur halben Wade hinauf zu befestigen. Wie in China aber die Geister in die Formen des Althergebrachten eingeschnürt wurden, wie eine altkluge Beamtenherrschaft das ganze Volksleben bis zur Verkümmerung einknebelte, so ward in diesem Lande auch jener pferdehufartige derbe Schuh Sitte, der das Wachsthum des Fußes hemmte und ihn zu einem Klumpfuß umgestaltete. Nichts ist bezeichnender für den chinesischen Beamtenmechanismus als der Klumpfuß, der zum Gehen ohne stützende Diener unfähig macht, der den Körper verstümmelt und das Gesetz der lebendigen Bewegung entstellt.

Was sich dagegen aus einer Sohle machen läßt, haben die Griechen gezeigt, die nur im Kriege und auf der Jagd das untere Bein mit Leder umwickelten und somit Stiefeln improvisirten. Wie die Noth den Menschen erfinderisch macht, so tauchte auch bei schlechtem Wetter und Schmutz in den griechischen Köpfen die Ahnung auf, daß das Fußwerk einer praktischen Verbesserung möglich sei, denn an den Schmutzschuhen brachten sie an der Ferse eine Kappe an, wogegen der übrige Fuß unbeschützt blieb. Wenn der Sklave des menschlichen Anrechtes auf Sandalen Verzicht leisten und barfuß gehen mußte, so hingen Stutzer einen silbernen Halbmond als Zierde an die Sandalen und Frauen trugen gelbe persische Pantoffeln, mit einer aufwärts gerichteten Spitze am runden Vorderende. Andere Damen bekleideten den Fuß mit einem netzartigen Schuh aus Stricken oder schnürten Lederlappen oben bei den Knöcheln zusammen. Auch Versuche zu Absätzen machte das erfindungsreiche Volk. Wenn bei uns Jünglinge zum Soldaten ausgehoben werden, zum Beweis, daß sie für wehrhaft erklärt werden, so erhielten die spartanischen Jünglinge ein paar Sohlen. Auch im Theater, welches bei den Griechen das war, was uns die Kirche ist, spielte die Schuhsohle eine wichtige Rolle. Da man noch keine Theaterzettel hatte, so trugen die Schauspieler Charaktermasken und Charaktersohlen. Sobald Helden und Götter auf den Brettern auftraten, erforderte es die Sitte, daß sie an Körperhöhe die übrigen Theaterpersonen überragten.

Daher trugen die Helden der Tragödie einen handhohen Stelzenschuh aus übereinandergelegten Korksohlen, den sie Kothurn nannten, und da es bei uns einmal Sitte war, triviale Dinge durch unverstandene Namen zu hochpoetischen zu machen, so sangen unsere Dichter vom Einherschreiten auf hohem Kothurn, wenn sie auf pomphaften Phrasen einherstelzten. Die Komiker und Tänzer der griechischen Theater trugen die niedrige Schuhsohle des an bunten Bändern reichen Soccus, die man zierlich um den Fuß schlang.

Die Römer als praktisch verständiges Volk wußten aus der Schuhsohle auch ein brauchbares Ding zu machen, denn die griechische Sohle war trotz der schönen Verzierungen eine ziemlich unbequeme Fußbekleidung bei schlechtem Wetter und auf schlechtem Wege, denn die Straßen der Städte waren ungepflastert.

Die Römer bilden in der Geschichte den Uebergang zu den germanischen Völkern, daher findet man bei ihnen nebenbei mancherlei Einrichtungen und Gewohnheiten, welche bei den Germanen volksthümlicher Gebrauch waren, welche auch umgekehrt Manches von den Römern annahmen und in nationaler Weise weiter entwickelten. Daher dürfen wir uns gar nicht wundern, wenn wir neben der Sohle bei den Römern eine Art Schuh und Halbstiefel in Gebrauch finden, obschon sie von unserem Schuh und Halbstiefel noch sehr verschieden sind, da ihnen die Kappe an der Hacke u. a. fehlt und sie eigentlich nur lederne und eiserne Gamaschen blieben. Der Bauer und Tagelöhner trug hölzerne Pantoffeln, deren er sich bei Kirmeßvergnügen statt der bei uns gebräuchlichen Stuhlbeine und Bierflaschen bediente, der Soldat schnallte, wenn er Lanzenwerfer war, vor den linken vorgesetzten Fuß einen eisernen Schienbeinpanzer, focht er dagegen mit dem Schwert, so schirmte er den rechten Fuß, wie Aehnliches bei einigen griechischen Stämmen Sitte war. Fuhrleute, Bauern und Bergbewohner steckten ihre Füße in ein halbstiefelartiges Futteral von ungegerbtem Leder; dagegen war der Mulleus der Nationalschuh, denn diese schuhartige Fußbekleidung diente als Abzeichen der Stände und Würden und wurde bei großen Feierlichkeiten getragen. Die beiden Präsidenten, Oberrichter und höchste Polizei der Republik schritt zwar ohne Hosen einher, hatte die Füße dagegen mit Pantoffeln von rothem Leder geschmückt, hinter ihnen sah man die Senatoren mit Halbstiefeln, Priester in weißen Schuhen, worauf die Plebejer auf Schuhsohlen oder Holzpantoffeln nachklapperten. Auch durfte nur der Adel mit vier Riemen die Sohle befestigen, der Plebejer mußte mit einem Riemen auszureichen wissen.

Gebräuchlicher als jene Festschuhe waren Sohlen mit zierlich geschlungenen Riemen und eingeschlagenen Nägeln, ja diese Riemen und Bänder gingen oft bis an die Schenkel hinauf, und ersetzten die Hosen. Männer trugen schwarze oder rothe Schuhe und Sohlen, Frauen zogen leichte Sohlen und bunte Bänder vor, stickten diese mit Gold und Edelsteinen, und ließen sie weiß oder bunt färben. Solche Damensohlen waren mitunter der Gegenstand ritterlicher Galanterie, denn Kaiser Vitellius – übrigens ein Schlemmer erster Art – trug die Schuhsohle seiner Frau stets auf der Brust, um sie in jedem müßigen Augenblicke hervorzuholen und zu küssen, wie es Kavaliere des minniglichen Mittelalters mit den Handschuhen der Damen machten.

Die Deutschen, welche nach den Römern die Weltherrschaft übernahmen, waren ein dem Sinnlichen und Natürlichen abgewandtes Volk, deshalb verhüllten sie keusch und züchtig das Nackte, deshalb gelobten Mönchs- und Ritterorden Ehelosigkeit, und da sie nur dem Geistigen sich zuwandten, sich eine gewaltige geistige Welt aus dogmatischen Abstraktionen, ritterlichen Ehrbegriffen und gesellschaftlicher Gliederung aufbauten, so wurde das Mittelalter das Zeitalter der Phantastik, die endlich in platte Nüchternheit umschlug. Zu der enganliegenden Hose, die bis an die Knöchel reichte, fügte man die Sohle und den römischen Schuh, den man richtiger Socke nennen könnte, da er ohne Sohle, Absatz und nicht von Leder war. Auf diese Weise ging Karl der Große gekleidet, der nach fränkischer Art den Fuß vom Knöchel bis zur Wade mit breiten Bändern umwickelte, so daß die Socke wie ein Halbstiefel aussah. Diese Socke wurde mit Perlen, Gold und Silber gestickt, wenn sie die Füße der Kaiser und Fürsten bedecken sollte, doch sehr bald wird sie in eine nationale Fußbekleidung umgewandelt, in den Schlapp- oder Schnabelschuh. Das Streben des Deutschen ging von dem irdischen Jammerthal hinüber zum himmlischen Freudensaal, daher entspricht dieser Richtung der Spitzbogen, die spitzen Kirchenfenster und Kirchenthüren, die hochsteigenden zugespitzten Thürme, die spitze Kriegshaube, der in Spitzen auslaufende Schild. Natürlich konnten sich die Schuhe diesem allgemeinen Drange nach Oben nicht entziehen, sie wurden krallenartig ausgebogene Schnabelschuhe.

Anfangs erschienen diese aufwärts gekrümmten Schuhspitzen in bescheidener Länge, aber nach und nach wuchsen sie gerade aus bis auf einen halben, ja bei vornehmen Herren bis auf zwei Fuß, so daß sie eine wahre Karrikatur auf den Menschenfuß waren. Ein solcher Schnabelbeschuhter konnte nun freilich nicht gehen, wie ein antiker Sohlengänger, es ging ihm vielmehr ähnlich, wie dem klumpfüßigen Chinesen, denn die weichledrigen Fußspitzen schlappten ihm bei jedem Fußaufheben unter die Sohlen; eine Treppe hinauf konnte er gar nicht kommen, und im Volksgedränge lief er Gefahr, daß ihm die kostbaren Schlappspitzen abgetreten [575] wurden. Die unpoetische Phantastik des Mittelalters zeigt sich am schlagendsten in den Schnabelschuhen. Hier konnte man der Natur denn doch nicht widerstreben, eben so wenig Mönche und Nonnen die Ordensregeln zu halten vermochten, und wie die Ehelosigkeit gelobenden Ritter schlimme Krankheiten aus den Kreuzzügen mit heimbrachten. Man heftete an die Thurmspitzen der Schuhe silberne oder goldene Kettchen, und band die umgeklappte Spitze mit ihnen unterm Knie fest. Damit diese Schuhthürme aber nicht ohne Geläut blieben, befestigte man an sie Glöckchen und klingende Schellen, so daß man die Stutzer kommen hörte, ehe man sie sah. Sobald man einmal Geschmack an solcher Geschmacklosigkeit gefunden hatte, legte man sich um den Leib und an die Rockschleppen Schellen und Glöckchen, bedeckte den Schuhschnabel mit angemalten oder eingestickten Figuren, trug an dem einen Bein einen rothen Schuh und dazu ein blaues Hosenbein, am andern Fuß einen blauen Schuh und dazu ein rothes Hosenbein, und verband endlich Schuhe und Hosen zu einem Stück.

Ein feiner Herr des 13. und 14. Jahrhunderts ging wie ein Hanswurst, sein Aeußeres war die bis zur Spitze getriebene Phantastik. Neben der Komik dieses ritterlichen Staates fehlt es auch nicht an tragikomischen Scenen. Denn als Leopold von Oesterreich 1386 zu Fuß gegen die Schweizer bei Sempach kämpfen wollte, hieben sich die Ritter die hemmenden Schuhschnabel ab, Einer aber hieb sich aus Ungeschick in’s Bein, hackte sich einige Fußzehen ab, fing darob an „bitterlich zu greinen, steckte sein Schwert in die Scheide und kehrte heim.“

Der Luxus der Schnabelschuhe rief aber auch eine heftige Reaktion hervor; Reichstage erließen strenge Verbote, Magistrate schritten mit polizeilichen Kleiderordnungen ein und setzten hohe Strafen darauf, wenn Jemand über seinen Stand hinaus sich kleidete, vor Allem aber donnerten die Geistlichen von den Kanzeln, und schleuderten Kirchentage den Bann, denn es stand fest, daß die Schnabelschuhe „vom Teufel stammten, daß sie eine Sünde wider die Natur, eine Beleidigung des Schöpfers, ein Spott Gottes und der Kirche“ wären. Die Vornehmen fügten sich nach und nach, aber die Handwerksburschen rebellirten, als ihnen verboten wurde, einen schwarzen und einen weißen Schuh zu tragen, wie denn die Schustergesellen auch das Recht hatten, im Zweikampf sich zu boxen in Gegenwart von vier Altgesellen und unter Ceremonien, wie sie bei den blutschauenden Paukereien der Studenten noch Sitte geblieben sind, seit selbst „die Schuhknechte“ sich civilisirt haben. Außer diesen Verdrießlichkeiten mit der Polizei und Geistlichkeit, welche sich die Zucht des Volkes in väterlicher Sorglichkeit stets gern zu Herzen nahm, hatten die Schnabelschuhe einen unbarmherzigen Gegner in dem Schmutz der ungepflasterten Straßen. Um diesem zu trotzen, schnallte man hölzerne Sohlen unter die Schuhe, welche dem Holzschuh eines Schlittschuhes ganz ähnlich waren, und konnte nun tapfer durch den Koth waden.

Als die Herrlichkeit des Ritterthums sank, als die ritterlichen Herren zu gemeinen Straßenräubern, ihre Mannen zu einer Räuberbande wurden, da schrumpfte auch der Schnabelschuh zusammen. Kunst, Bildung und Wissenschaft kam in die Hände der Bürger, welche sie mit hausbackner Nüchternheit und nach Nützlichkeitsrücksichten trieben. Da verwandelte sich der ritterliche kühne Schnabelschuh in ein Ochsenmaul oder eine Bärentatze oder einen Entenschnabel, wie man die Schuhe nannte, die vorn mit einem unschönen Wulst, endigten. Dieser Schuh ist das Symbol der Plattheit und Plumpheit des engherzigen Spießbürgers, denn das Ochsenmaul, von Leder, Zeug und Eisen gemacht, mußte hinten ganz eng und spitz, vorn ganz breit sein, wobei man durch Ausstopfen nachhalf, um auf einen, „großen Fuße leben zu können.“ Doch bald ward dieser übermüthig, üppig, luxuriös, brachte die bis zum Knie reichenden Pluderhosen auf, zu denen mitunter 200 Ellen Zeug verwandt wurden, trug einen Wamms mit Puffärmeln



und versah auch die Schuhe mit Schlitzen und Puffen, Stickerei und Zierrath, bis auch hiergegen Polizei und Geistlichkeit sich erhoben, da man auf die Puffschuhe oft noch Hörner setzte. Sogar Frauenpantoffeln mit hoher schlittschuhartiger Sohle durften nicht ohne die beliebten Puffen sein.

In Italien trugen die Frauen bei kurzen Röcken spannhohe gestickte Kothurne oder Stolperschuhe oder auch Pantoffeln, die auf einem drei Fuß hohen breiten Stelzenabsatz ruhten, der unter der Mitte der Sohle stand, so daß mancher junger Ehemann seine hochgewachsene Braut sich in eine kleine Frau verwandeln sah. Griechinnen trugen gar zwei schmale Brettchen als Stelzen unter jedem Schuh.

Das phantastische Mittelalter mit seinen spitzen Thürmen und zierlichen Erkern an den Giebeln fand sein Abbild in den Schnabel- und Puffschuhen, die solidere bürgerliche Periode der Innungen schafft den bequemeren Schuh, verfertigt ihn aus Leder und versucht während des dreißigjährigen Krieges den ersten Stiefel, den wallensteiner oder schwedischen Stiefel. Vom Knöchel ab reichte er trichterförmig bis zur halben Wade, indem er kühn und verwegen um den Fuß sich rundete und gewaltige Sporen trug. Stutzer faßten den obern Rand mit Spitzen und Borden ein. Später artete er zum Stülp-, Kanonen- und Wasserstiefel aus. Nach dem dreißigjährigen Kriege kehrte man zum Lederschuh zurück, den man mit einer Schnalle oder Bandrose zierte. Als aber die Zopfperiode des absoluten Königsthums begann, der Rococco- oder Renaissancestyl, der die Natur zur Karrikatur verzerrte, als bei Männern lange, zottige Perrücken, bei Frauen thurmhohe Frisuren, als Reifröcke, Schönpflästerchen, Brocatwesten, gekräuselte Busenstreifen, Schnürbrüste und dergleichen Marterwerkzeuge Mode wurden, machte man auch aus dem Schuh eine Karrikatur, eine Mißhandlung der Natur.

Es wurde der Steckelschuh getragen, auf dessen schmales Oberleder goldene Figuren gepreßt waren, und unter den schwarzen Schuh setzte man einen zollhohen, rothen, hölzernen oder mit Leder überzogenen Absatz, der nicht unter der Hacke, sondern unter der Höhlung des Fußes stand. Dieser Unform mußten sich sogar die Galloschen fügen, die in einem pferdehufartigen Futteral der Zehen bestanden, und durch einen Riemen hinter der Ferse befestigt wurden. Aber nur der vornehmen Welt war es erlaubt, solche unbequeme Schuhe zu Kniehosen und Frack zu tragen, der seinen Ursprung unzüchtiger Geilheit französischer Maitressen verdankt. Der ehrsame Bürger ging in Schnallenschuhen, langem Rock und Kniehosen.

Die Revolution endlich schaffte der Natur wieder ihr Recht, stellte Sitte und Staat auf naturgemäße Grundlagen, beseitigte Puder und Perrücke, ließ das natürliche Haar wachsen, entfernte sinnlose Privilegien, schnitt die Zöpfe ab, hob die Leibeigenschaft auf, erkannte dem Talent und dem Verdienst das Vorrecht vor Geburtsadel an, und machte den Stiefel zur Fußbekleidung des Mannes, wobei sie ihn der Natur des Fußes anpaßte, und Bequemlichkeit neben [576] Zweckmäßigkeit als Gesetz anerkannte. Die Wichse verlieh ihm eine Eleganz, die sich auch der Aermere verschaffen kann.

Auf langen Umwegen kam die Weltgeschichte von der rohen Thierhautsohle zum zierlichen Stiefel, der in mannigfachen Formen dargestellt wird. Die klassischen Alten kennen nur die Sohle und Lappenschuhe, ein Schuhmacherladen unserer Zeit zeigt, wie erfindungsreicher und schöpferischer unsere Völker sind. Da stehen Wasser-, Stülp-, Tanz-, Gehstiefeln, Morgenstiefelchen, Corduan- und lackirte Stiefeln, Stiefeletten, nicht minder eine Reihe verschiedener Schuhe und Pantoffeln. Da uns aber der Stiefel ein Neuling ist, so heißen unsere Fußbekleidungsfabrikanten Schuhmacher, wogegen der Franzose sie Stiefelmacher nennt. Frauen, viel empfänglicher für mittelalterliche Phantastik und zierlichen Rococco, haben den Schuh beibehalten, wogegen der Mann sein Streben nach Fortschritt dadurch bekundet, daß er Stiefeln trägt.

Hiermit glauben wir unsere Überschrift gerechtfertigt zu haben, da sich an scheinbar Gleichgültigem die Umwandlungen der Weltgeschichte nachweisen lassen; denn Sitte und Gewohnheit haben ihre tieferen Gründe. An einer Schuh- und Stiefelsammlung könnte man die Weltgeschichte und die Sinnesart der Völker demonstriren. Daher sollten Alterthumssammler jenen Resten von Fußbekleidung, die nutzlos auf Düngerhaufen zu verkommen pflegen, ihre Aufmerksamkeit zuwenden, weil solche Dinge später lebenden Gelehrten reichen Stoff zu Unterhaltungen, Streitschriften, und akademischen Preisfragen geben können.

Fried. Körner.




Blätter und Blüthen.


Der Lebensbaum. Wenn man in der gesegneten Kolonie Victoria auf Neuholland weiter nach dem Innern vordringt, stößt man oft mitten im üppigsten Walde auf große, anscheinend ganz unversehrte und kräftige Bäume, die trauernd ihre abgestorbenen Zweige gen Himmel strecken. Untersucht man sie genauer, so entdeckt man auch die Ursache: sie sind durch das Abschälen der Rinde am Fuße absichtlich getödtet worden. Diese Erscheinung hat ihren Grund in einer sehr poetischen Sitte der Eingeborenen jener Gegend.

Wie bei allen Völkern, wo eine überhitzte, materialistische Civilisation und die nie ruhende Sorge um den Erwerb noch nicht alle Aeußerungen des Gemüthslebens erstickt hat, erfolgt auch bei jenen Wilden die Mündigkeitserklärung der jungen Leute und ihre Aufnahme in den Kreis der Männer, – dieser ernste Wendepunkt des Lebens, – unter gewissen bedeutungsvollen Feierlichkeiten. Ist der Tag erschienen, mit dem ein junger Mensch das Knabenalter beschließt und zur Genossenschaft der Männer und Krieger reif ist, so führen ihn die Häuptlinge seines Stammes nach einem entlegenen Theil des Waldes und entfernen sich wieder. Hier verweilt er zwei Tage und eine Nacht in einsamen Betrachtungen und bricht sich mittelst eines Holzes, das er mitbrachte, die zwei oberen Vorderzähne aus. Nach sechsunddreißig Stunden kehrt er in’s Lager zurück, legt die ausgebrochenen Zähne feierlich in die Hände seiner Mutter, ißt und trinkt und begibt sich hierauf wieder in den Wald, um weitere zwei Nächte und einen Tag fastend in Einsamkeit zu verbringen. Während dieser Abwesenheit hat seine Mutter einen jungen Gummibaum von ungefähr dem Alter ihren Sohnes ausgesucht, den sie gleichsam mit ihm vermählt, indem sie die Zähne desselben sorgfältig in die oberste Gabel der Zweige einschlägt. Diesen Baum kennen nur wenige besonders geachtete Leute des Stammes, dem jungen Mann selbst, der nach seiner zweiten Rückkehr unter Schmaus und Tanz und Waffenspiel zum Mann und Krieger erklärt wird, bleibt sein Lebensbaum streng verborgen. Nach seinem Tode aber wird durch die Eingeweihten auch der ihm verbundene Baum getödtet und bildet mit seinen trauernden, abgestorbenen Zweigen ein ebenso einfaches als beredtes Denkmal des Dahingeschiedenen.

Für die Hetzjagd unseres geschäftlichen Treibens, wo über die Sorge um die Mittel der Existenz der Zweck derselben ganz aus den Augen verloren wird, kein Mensch mehr zu sich kommt und Jeder sich selbst das allerfremdeste Wesen ist, für diesen gänzliche Hingegeben sein an das Aeußerliche liegt eine gar beherzigenswerthe Mahnung, in der so weit verbreiteten uralten Sitte, sich durch einsame Betrachtung und Sammlung auf alle wichtigeren Lebensmomente vorzubereiten und namentlich den Eintritt in das Alter der Selbstständigkeit auf solche Weise ernst und würdig zu begehen. Bei den alten Deutschen hielten die Jünglinge bekanntlich zu gleichem Zwecke die nächtliche Waffenwacht, und einige Negerstämme im Westen von Afrika dehnen sehr vernunftgemäß diese weise Einrichtung auch auf die Mädchen aus, die sich beim Eintritt in das Jungfrauenalter unter dem Schutze einiger Matronen in den Wald zurückziehen, wo sie bei Verlust des Lebens von keinem Manne in ihrer mehrwöchentlichen Einsamkeit gestört werden dürfen.





Der Vampyr. Die Naturgeschichte versteht unter Vampyr (vespertilio vampyrus) eine große Fledermaus, die in mehreren tropischen Ländern, besonders in Brasilien vorkommt und welche Menschen und Thieren durch Blutsaugen Gefahr droht, wenn sie dieselben im Schlafe überrascht. Allein nicht diese Art von Geschöpfen, die übrigens in Europa ganz unbekannt ist, soll uns hier beschäftigen. Der Vampyr, von dem wir reden wollen, ist ein Geschöpf der Phantasie, und zwar eines der furchtbarsten, die sie geboren hat: eines, dessen Entstehung nicht zu begreifen wäre, wenn nicht im Menschen der sonderbare Hang zum Wunderbaren und Uebernatürlichen oft alle Vernunft zu Schanden machte, daß sie sich vor dem tollsten Unsinn beugen muß. – Weit und breit scheint die Meinung geherrscht zu haben, und an manchen Orten noch zu herrschen, daß der Todte unter gewissen Umständen nicht todt sei, daß er noch eine Art Leben führe, daß aber dieses Leben auf andere Lebende furchtbare Einwirkungen äußere. In verschiedenen Gegenden hat sich diese Vorstellung verschieden geäußert, ohne in der Hauptsache ihren Ursprung zu verläugnen. Im Oriente herrschte von alter Zeit her die Meinung, daß ein Leichnam aus dem Grabe hervorgehen könne, um die, welche er im Leben geliebt habe, zu quälen, zu verletzen, ihnen eine tödtliche Bißwunde beizubringen. Wenn die so Verletzten todt seien, behauptete der Wahn, so würden sie ebenfalls solche Vampyre, Brancolacha, Bardoulacha, Goul, Broncolacka, wie sie dort in den verschiedenen Gegenden heißen. Tournefort führt in seinen Reisen mehrere Beispiele an, wovon er Zeuge gewesen sein will. In Griechenland herrschte derselbe Glaube seit der Trennung der griechischen von der lateinischen Kirche. Die mit dem Banne belegten und in demselben Verstorbenen sollten Vampyre werden. Von Griechenland verbreitete sich diese Fabel nach Ungarn, Polen, überhaupt nach Westen. Besonders wurde 1732 ganz Europa durch die Nachrichten aufgeregt, welche aus Ungarn darüber in Umlauf kamen. An der Grenze Serbiens, zu Cassovia, war ein Heiduck, Namens Arnold Paul, angeblich von einem Vampyr gebissen. Er starb, und nach wenigen Wochen herrschte in der ganzen Umgegend die Klage, daß er herumwandle, um Freunde und Verwandte zu quälen. Vier waren bereits verstorben. Man grub den Leichnam aus, fand ihn ganz frisch, stieß ihm einen Pfahl durch’s Herz, wobei er heftig schrie, schnitt ihm den Kopf ab, verbrannte den Körper und streute die Asche auf das Grab. Dasselbe geschah mit den Leichnamen der durch seinen Biß angeblich bereits ebenfalls Verstorbenen. Aus dem angewendeten Mittel erhellt, daß man in dieser Gegend schon mit der Idee vertraut war. Auch in Deutschland scheint schon lange vor dieser Zeit eine ähnliche Ansicht verbreitet gewesen zu sein. Namentlich in Sachsen finden sich unleugbare Spuren von diesem Volksglauben: man nahm an, daß der Todte schmatze, daß er an dem Leichentuche, Leichenhemde sauge, und daß dieses Schmatzen und Saugen den Tod seiner nächsten und liebsten Verwandten zur Folge habe. Deshalb traf man häufig Vorkehrungen, dieses Schmatzen und Saugen zu verhüten. Namentlich legte man ein Stück Rasen unter das Kinn, um so jede Berührung der Zunge, der Lippen mit der Brust u. s. w. unmöglich zu machen, oder man band das Unterkinn fest mit einem Tuche zu. Daß die Idee von jenem östlichen Vampyrismus hierbei aber ganz dieselbe gewesen sei, geht besonders klar aus einer Anordnung hervor, welche man bereits im 16. und 17. Jahrhundert zu Freiberg traf, wo die Pest große Verheerungen anrichtete, und wo man, wenn Mehrere hinter einander aus einer Familie schnell starben, dies nicht von der Pest, sondern vom Saugen des Todten ableitete. Wir haben gehört, wie jenem todten Heiducken ein Pfahl durch’s Herz gestoßen und der Kopf abgehauen wurde; gerade so verfuhr man, der Chronik jener Stadt zu Folge, in Freiberg: man stieß dem Todten mit dem Spaten den Kopf ab, schlug ihm einen Pfahl durch’s Herz und verbrannte dasselbe zu Pulver.

In Griechenland herrscht die Furcht vor Vampyren noch jetzt allgemein, und hier lernte Lord Byron diesen Aberglauben genauer kennen. Seine zum Wilden, zum Schauerlichen gestimmte Phantasie faßte ihn begierig auf, und er gründete darauf seine bekannte Erzählung: der Vampyr.




Allen Freunden gemüthlichen Humors!

wird auch für dieses Quartal der allbekannte und überall gern gesehene

Illustrirte Dorfbarbier.
Ein Blatt für gemüthliche Leute von Ferdinand Stolle.

bestens empfohlen. – Während der alte knorrige General von Pulverrauch und der ehrliche Dorfbarbier die Weltgeschichte coram nehmen, verhandeln Nudelmüller und Breetenborn die brennenden Fragen des Tages und erheitert der ewig lustige Bildermann durch seine komischen Illustrationen die große, große Kundschaft. – Jede Woche kommt der Dorfbarbier einen großen Bogen stark mit komischen Illustrationen und Zeitbildern, und läßt sich das ganze Vierteljahr mir 10 Ngr. zahlen. – Alle Postämter und Buchhandlungen nehmen Bestellungen an.

Leipzig, im Oktober 1856.
Ernst Keil.





Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: micht