Die Gartenlaube (1857)/Heft 20

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 20. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.   Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Fern der Welt.
Von Bernd von Guseck.
Fortsetzung.

Auf diese Nachrichten hin hatte es Graf Hallstein unternommen, seinen Freund, ohne sich anzumelden, in seiner Abgeschiedenheit zu überfallen und sich mit eigenen Augen zu überzeugen, ob die Frau, deren geheime Schuld er zu kennen glaubte, wirklich dem Bilde gleiche, das man ihm von ihr entworfen hatte, das aber zugleich ganz unbegreiflich machte, wie Frau von Aßberg einst das Herz seines Bruders mit so dämonischer Gewalt habe fesseln können. Er hatte sie nun gesehen und Alles, was er soeben über jene verhängnißvolle Zeit vernommen hatte, beschäftigte seinen Geist, während er allein vor der Thüre unter den drei jungen Linden saß, mit unablässigen Gedanken, wie sich das Schicksal der ihm Nahegestandenen anders gefügt haben würde, wenn Oberst Aßberg früher gestorben und seine Wittwe dem Zuge ihres Herzens gefolgt wäre, dann lebte sein Bruder gewiß noch und Günther hätte sich, wie er den edlen Waldemar gekannt, nicht über den Stiefvater zu beklagen gehabt, der seine Mutter glücklich gemacht hätte. Jetzt aber – noch hatte Gebhard nicht zu ergründen vermocht, wie weit sich die Herrschaft der Frau von Aßberg über ihren Sohn, von welcher ihm eine wahrhaft beängstigende Schilderung gemacht worden war, erstreckte, doch glaubte er daran; ihr ganzes Wesen, selbst gegen ihn, den Mann von dreißig Jahren und einer Stellung in der Welt, hatte ihn überzeugt, daß es nicht leicht sei, einen Widerspruch gegen ihre Wünsche durchzusetzen. Und diese Macht, wie er auch bekennen mußte, bestand nicht in einer nur entfernt an die ihm entworfene falsche Schilderung streifenden, äußern Entschiedenheit des Auftretens, sondern mehr in einer feinen Unnahbarkeit, in der sieghaften Gewalt ihres schönen Auges. –

Es ruhte in diesem Moment auf ihm, er mußte aufblicken und sah in diesem Moment Frau von Aßberg, welche, ein Körbchen am Arm, wiederum den Gang aus dem Garten daher geschritten kam, wo er sie kurz zuvor, als er mit seinem Freunde nach seiner Ankunft kaum einige Worte gewechselt, zum ersten Male gesehen hatte. Damals hatte sein Auge mit Vorurtheil mehr kritisch, als wohlwollend ihr entgegen geschaut, er hatte sie, befangen von den Mittheilungen, die er früher und jetzt über sie erhalten hatte, gemustert, halb entschlossen, ihr als Feind entgegenzutreten – wenn auch nicht, der Diplomat hielt es für gerechtfertigt, mit offenem Visir; er hatte gemeint, es sei keine schlechte Vergeltung, wenn er ihr auch den Sohn raube, den er zu seinem eigenen Heil einem freiern und würdigern Loose zuführen wolle, als im Mannesalter unter entnervender Botmäßigkeit einer Frau zu stehen. Aber dieser Gedanke war nicht aufgekommen und sein Vorurtheil schon erschüttert worden durch ihren äußern Anblick, welcher gleich die boshafte Schilderung desselben Lügen strafte. Jetzt aber konnte er sie nicht einmal mehr mit der weltmännischen Ruhe kommen sehen, die ihn doch sonst über alle „Emotionen“ zu stellen pflegte.

Frau von Aßberg hatte aus der Kirschallee in einen Nebenpfad biegen wollen, zu einer weitern Partie des Gartens, wo die Fenster eines Gewächshauses blitzten, als sie aber den Gast allein vor der Thüre sitzend erblickte, gab sie ihr Vorhaben auf und kam zu ihm her: er stand rasch auf und ging ihr entgegen. Auch jetzt musterte er sie und waffnete sich absichtlich mit scharfem Blick für die Mängel, die er an ihrer Erscheinung suchte. O, sie war nur von Weitem noch jugendlich, weil sie eine elegante Haltung, einen schnellen und leichten Gang hatte, wie konnte er die Spuren der Jahre auf ihrem wenn noch so gut conservirten Gesicht übersehen!

„Sind Sie allein, Graf Hallstein? Was müssen Sie von uns denken?“

„Daß Sie mich als einen Freund des Hauses betrachten, gnädige Frau, und darum keine Störung durch mich eintreten lassen. Günther – ich darf ihn doch auch gegen Sie so nennen? – wurde durch einen kleinen, starken Herrn abgerufen, und ich rüstete mich eben zu einer Promenade, die nähern Umgebungen des Schlosses kennen zu lernen.“

„Des Schlosses!“ wiederholte Frau von Aßberg lächelnd, indem sie mit einer anmuthigen Handbewegung auf das Wohnhaus deutete. Es war nur einstöckig, mit einem unschönen, giebelartigen Mittelbau, der ein paar Oberstuben enthielt, gelb angestrichen, und machte dem Geschmacke des früheren Erbauers wenig Ehre. „Mein Sohn hat aber wirklich die Absicht,“ fuhr die Dame fort, „noch in diesem Sommer den Bau eines Schlosses zu beginnen, an einer andern Stelle natürlich, da wir sonst obdachlos wären. Er hat sehr schöne Risse dazu gezeichnet, denn Sie wissen wohl, daß er mit Vorliebe architektonische Zeichnungen entwirft. Vielleicht rathen Sie ihm, damit er unter seinen verschiedenen Plänen den besten wählt.“

„Ich habe darin wenig Urtheil, und würde vielleicht sehr unpraktisch rathen. Gewiß hat auch wohl Günther schon Ihre Entscheidung gesucht.“ Er sagte das leicht hin, aber mit voller Absicht, es war der erste Schritt, den er auf das unsichere Terrain, das er untersuchen wollte, that, und er fühlte Kopf und Herz in diesem Momente ganz kalt. Sein Auge ruhte sogar prüfend auf ihren Zügen und forschte nach den schärfern Linien, welche die Zeit doch unbestritten um Kinn und Mund gezogen haben mußte.

„Meine Entscheidung, Graf Gebhard?“ erwiderte Frau von [274] Aßberg harmlos. „O ja, wenn es die Anlage des Gartens betrifft, welcher noch darauf wartet, wie Sie sehen, oder die Einrichtung des Hauses für Blattpflanzen und Blumen dort“ – sie zeigte nach den blitzenden Fenstern desselben – „da sucht mein Sohn meine Entscheidung, wie Sie sagen. Denn ich liebe die Blumen und bilde mir ein, von ihrer Pflege etwas zu verstehen. Aber für Bauwerke, ich meine deren praktische Seite, habe ich kein Verständniß; ich kann wohl sagen, ob es mir gefällt, kann auch, wenn ich mich recht anstrenge, den Baustyl unterscheiden, den mir einige schöne Gebäude aus alter und neuer Zeit, die ich gesehen habe, anschaulich gemacht, und –“ setzte sie lächelnd hinzu – „ich kann auch ein wenig tadeln, aber rathen, wo Günther gewiß zehn verschiedene und wenigstens nach meinem Geschmack ganz hübsche Entwürfe gezeichnet hat, das geht über meine Kräfte. Ich wünsche nur, daß es behaglich zum Wohnen sein möge, und das kann ich dem Plane nicht ansehen.“

„Wir wollen eine gemeinschaftliche Sitzung als Baucommission darüber halten,“ sagte der Graf. „Sie haben also fest beschlossen, hier immer zu wohnen? Ich hoffte, Günther werde sich in unserer Nähe ankaufen und nicht ganz mit der Gesellschaft brechen, die er sonst, ich weiß es, nicht ungern suchte. Aber er hat mir gesagt, daß er vollkommen zufrieden sei, und so kann ich nichts einwenden.“

Sein Auge hatte bei der gleichmülhig gesprochenen Rede auf Frau von Aßberg ganz in der unabweisbaren Manier geruht, die er sich zu eigen gemacht hatte. Auf einmal erröthete Frau von Aßberg, eine leichte Purpurfarbe wallte in ihrem Gesichte auf und dunkelte schnell zur tiefen Gluth: die Vierzigjährige erröthete, wie ein junges Mädchen vor dem Blicke des Weltmannes; wenigstens legte er sich die überraschende Erscheinung so aus. Sie aber begegnete jetzt mit ihrem dunkeln, frei aufgeschlagenen Auge dem seinigen, und ein seltsames Gefühl der Befangenheit überkam ihn bei diesem leuchtenden Strahl.

„Wollen Sie wahr gegen mich sein, Graf Hallstein?“ fragte Frau von Aßberg.

„Gnädige Frau!“

„Kommen Sie hierher in Frieden? –“

„Welche Absichten legen Sie meinem Hiersein unter, wenn Sie mir doch ein Recht auf Günther’s Freundschaft zuerkennen?“

„Es ist besser, wir sprechen uns aus,“ sagte Frau von Aßberg, mit dem leisen Beben ihrer Stimme kämpfend. „Sie sind hierher gekommen aus Freundschaft für meinen Günther, ich erkenne das an und weiß, daß Sie ihm theuer sind – aber Sie haben auch mich sehen wollen, der Sie nicht freundlich sein können. Ich meide gern jede Heimlichkeit, alles versteckte und verblümte Wesen – ja, Graf Gebhard, Sie haben Ursache, mir, obgleich ich die Mutter Ihres Freundes bin, mit Abneigung zu nahen, doch, wie ich keine Schuld trage –“ hier legte sie ihre schöne weiße Hand betheuernd auf die hochemporwallende Brust – „so nehme ich auch keinen Anstand, den Namen Ihres Bruders Waldemar vor Ihnen auszusprechen. Gott hat ihm Frieden geschenkt – lassen Sie uns denn auch Frieden schließen!“

Sie reichte ihm die Hand, der Strahl ihres Auges erlosch in den aufquellenden Thränen, welche ihre Wimper netzten. Gebhard nahm die Hand, die ihm nun heut zum zweiten Male geboten wurde, und sagte mit einer Bewegung, die seiner Stimme einen ihm selbst fremden Klang gab:

„Frieden mit uns Allen!“

Nach kurzem Schweigen hatte sich Frau von Aßberg gefaßt.

„Und lassen Sie mir auch meinen Günther!“ begann sie mit einem halb ernsten, halb scherzhaften Tone. „Ich täusche mich selten, leugnen Sie es mir also nicht, daß Sie Günther gern wieder entführen möchten.“

Sie sah ihn dabei so prüfend an, daß er nicht umhin konnte, zu gestehen, wie er bei der Reise durch die von aller Verbindung abgeschnittene Gegend und besonders durch den Gürtel von Wald und Bruchland, in welchem Berga gelegen sei, die Möglichkeit für Günther, hier zufrieden zu sein, bezweifelt habe, und daß es ihm, nun er die Ehre gehabt, Frau von Aßberg kennen zu lernen, auch für diese unbegreiflich scheine.

„Was mich betrifft,“ erwiderte sie lächelnd, „so sind Ihre Zweifel ganz unbegründet. Ich habe hier Alles, was ich mir wünsche, mir fehlt nichts –“

„Als Menschen!“ warf Hallstein rasch ein.

„Im Sinne der großen Welt, meinen Sie natürlich – diese fehlen hier allerdings: die sogenannte Nachbarschaft ist dürftig. Im Umkreise von sechs bis acht Meilen, und das ist bei hiesiger Landesart schon das Unerreichbare, finden sich überhaupt nicht viele Dörfer, weil Alles Wald und, wie Sie ganz richtig bemerkt haben, Bruchland ist; von diesen Dörfern sind nur wenige einst Herrensitze gewesen und jetzt, bis auf zwei, nicht mehr in adeligen Händen. Ich gebe Ihnen noch mehr zu. Die andern Besitzer der Rittergüter in unserer Gegend und ihre Familien, die wir alle kennen gelernt haben, sind ihrer Bildung und ihren Interessen nach für uns nicht zum Umgange geeignet, auch wir nicht für sie, wir würden ihnen nur herzlich störend sein. Die beiden adeligen Häuser, von denen ich sprach – ich sage es mit Bedauern – kämpfen nur noch mit letzter Kraft gegen die Ungunst der Zeit, und scheuen darum allen Umgang mit Andern, der ihnen ihre Lage nur noch drückender machen könnte. So haben Sie Recht: uns fehlen in Ihrem Sinne Menschen. Ich will Sie auch nicht mit philanthropischen Ideen über unsern Verkehr mit einer andern Classe von Gottesgeschöpfen, die Sie doch am Ende auch als Menschen ansehen müssen, langweilen. Ich sage Ihnen einfach: ich bedarf des sogenannten geselligen Umganges nicht, wenn ich meinen Sohn, meine Blumen und Bücher habe. Und damit Sie mich nicht egoistisch nennen und mir, wie ich Ihnen ansehe, den Vorwurf machen, daß ich Günther, um ihn ganz mein eigen zu haben, aus allen Verbindungen mit der Welt gerissen und hier in einer Art Gefangenschaft, gefesselt durch seine kindliche Liebe, halte, so muß ich Ihnen sagen, daß der Vorschlag, uns fern von den großen Städten niederzulassen, von ihm ausgegangen ist, daß er diese Gegend, die ich gar nicht gekannt habe, gewählt, Berga gekauft hat, ohne daß ich es zuvor je gesehen.“

„Dann muß er einen Grund haben, das Leben in Einsamkeit zu suchen!“ rief Hallstein.

Frau von Aßberg sah ihn einen Moment erwägend an und sagte dann ruhig: „Ja.“

„Wahrhaftig!“ rief Gebhard und des Freundes ernstes Gesicht, mit den scharf eingeschnittenen Zügen, deren Linien, seit er ihn nicht gesehen hatte, viel tiefer geworden waren, trat ihm lebendig vor die Seele, während er erwartungsvoll auf die Mutter blickte, welche Erklärung sie ihrem kurzen Worte geben werde.

Aber diese blieb aus. Frau von Aßberg fuhr fort:

„Ich bitte Sie darum herzlich, wenn Sie Günther lieb haben, so stören Sie den Frieden, den er gefunden hat, nicht, verleiden Sie ihm die Freistatt, die er schon lieb gewonnen hat, nicht durch eine Kritik derselben. Ich halte Sie bei dem Wahlspruch fest, den Sie selbst gegeben haben: Frieden mit uns Allen!“




III.

Nach einer Stunde kam Günther mit dem kleinen, dicken Herrn zurück: es war der Verweser des Gerichtsamts aus der benachbarten kleinen Stadt, welcher zugleich Patrimonialrichter von Berga war und in Sachen der Justiz mit dem Gutsherrn eine Rücksprache genommen hatte. Er blieb zur Tafel und gab dem Grafen, dessen Lebenskreis ihn nie mit den Mittelclassen, am wenigsten kleiner Städte, in nähere Berührung gebracht hatte, Gelegenheit zu merkwürdigen Betrachtungen. Der Mann, mit dem er hier an einem Tische saß, erschien ihm zwar im Ganzen sehr lächerlich, weil er gegen die sociale Rangordnung, die ihm doch nicht im Entferntesten fühlbar gemacht wurde, durch ein seltsam gespreiztes, anmaßendes Wesen Protest einlegte, auch kam die ängstlich überwachte Form bei Tisch, die Handhabung von Messer und Gabel, Glas und Serviette, die mit jenem Indiebrustwerfen einen wunderlichen Contrast machte, dem Grafen wie eine komische Studie aus „Knigge“ oder „Alberti“ vor, aber er mußte doch bei mancher Aeußerung des Mannes scharfen und hellen Verstand und sein gesundes Urtheil anerkennen, und fand gegen Ende der Tafel sogar Geschmack an seiner Unterhaltung, als sie auf einen Boden kam, wo er auf festen Füßen stand, nämlich auf die zunehmende Demoralisation und die Mittel, ihr Einhalt zu thun. Hier zeigte der kleine Herr auch so viel Takt, gewisse Rücksichten gegen die vornehmem Schichten der Gesellschaft, die er vorher wenig geachtet hatte, nicht zu verletzen, und sprach sich nicht als bloßer Jünger der Themis, der nur mit dem Richtschwert bessern will, aus, sondern vielmehr mit solcher Humanität, daß ihm der Graf seine Achtung nicht versagen konnte.

[275] Aber es ist nun einmal der Fluch äußerer Lächerlichkeit, daß sie gute Eindrücke nur zu leicht wieder verwischt: hätte der gute Gerichtsverweser nur nicht gemeint, als Reiter imponiren zu können, so würde er das beste Andenken bei seinem neuen Bekannten, wie er den Grafen schon nannte, hinterlassen haben. Als er sich aber nach genossenem Kaffee empfahl, ein schweifklemmender, dicker Falber mit einer bunten Phantasie-Chabraque vorgeführt wurde, der kleine, starke Herr schulgerechten Tempos aufsaß, und nochmals die Mütze, an welcher jetzt ein Sturmriemen hing, im Halbkreise gegen die Zurückbleibenden schwenkend, im Galopp – leider über Kreuz angesprungen – vom Hofe ritt, da war bei der Frivolität einer Diplomatenlaune Alles vergessen, was diese Groteske vorher Würdiges und Achtungswerthes zu Tage gefördert, und selbst die wohlwollende Frau von Aßberg hatte sich des Lächelns nicht enthalten können. Der Gerichtsverweser lebte aber der festen Ueberzeugung, daß er seiner guten Bekanntschaft durch das Reiterstücklein die Krone aufgesetzt habe, und wußte des Abends in der Apotheke, wo die Honoratioren des kleinen Städtchens sich zu einer stehenden Partie Casco oder Deutsch-L’Hombre zusammenfanden, viel von „Hallstein,“ wie er nach Sitte seines Kreises den Grafen kurzweg und familiär nannte, zu erzählen und pries ihn als einen „charmanten Kerl.“

In Berga gedachte man seiner übrigens auch nicht mehr im Spott, sobald nur erst sein Hufschlag verhallt war. Günther rühmte ihn als einen rechtschaffenen[WS 1] und gegen die niederen Classen menschenfreundlichen Mann, was man, wie er behauptete, den Rechtspflegern nicht immer nachrühmen könne; Frau von Aßberg erzählte dazu einige Thatsachen und entschuldigte seine Schwäche, sich für einen guten Reiter zu halten, mit dem Mangel an Vorbildern in hiesiger Gegend, die ihn zur Selbsterkenntniß führen könnten. Der Graf richtete einen fragenden Blick auf seinen Freund. Dieser war einst der kühnste Sportsman gewesen; schon als Student hatte er Wagestücke zu Pferd gemacht, welche die ganze Stadt, besonders die weibliche Bevölkerung, in schaudernde Bewunderung gesetzt hatten. Sollte er auch dieser Neigung entsagt haben?

Günther ließ mit der Antwort nicht lange warten.

„Ich habe gar kein Reitpferd – mir geht es, wenn auch ohne Gelöbniß, wie Götz von Berlichingen, der kein Roß mehr besteigen und keine Nacht mehr außerhalb seiner Burg zubringen durfte.“

„Bravo!“ sagte Gebhard und forderte keine Erklärung mehr. Er fühlte sich in diesem Momente dem Freunde plötzlich so gänzlich fremd geworden, daß es ihm lächerlich vorkam, alte Beziehungen, an die nur er noch glaubte, wieder beleben zu wollen. Auch klang das Wort der Mutter, mit welchem sie ihr heutiges Gespräch beendigt hatte, von Neuem in seiner Seele und er kam sich wie ein Mephistopheles vor, der den kaum gewonnenen Frieden zu stören trachtete. Günther hatte Grund gehabt, das Leben in der Einsamkeit zu suchen und das: „Ja!“ seiner Mutter war nur zu bezeichnend, daß es ein gar schmerzlicher Grund gewesen sei. Sein „Bravo!“ dagegen – es klang so ironisch! Frau von Aßberg richtete ihr Auge auf ihn und er mußte diesem Blicke begegnen: welch’ eine Innigkeit rührender Bitte lag in ihm! Er verstand sie und rasch ihren Wunsch erfüllend, suchte er den Eindruck, den sein Ton offenbar auf den Freund gemacht hatte, zu entkräften.

„Was man will im Leben, muß man auch ganz durchführen!“ sagte er. „Du hast Deinen freien Entschluß gefaßt, willst hier im Sinne unserer Vorfahren, welche dem Lande erst deutsche Cultur gebracht, weiter wirken und nichts hierher verpflanzen, was Deinem jetzigen Schaffen fremd ist. Blutpferde, wie sie eigentlich nur Freude am Reiten gewähren – was sollten sie Dir hier? Und zu einem ehrlichen Landklepper hast Du Dich noch nicht entschließen können. Es wird aber kommen. Freund Günther, und ich sehe Dich schon auf einem cousin germain jenes Falben neben dem Herrn Gerichtsverweser dahin sprengen, der dann rapide Fortschritte in der Equitation machen wird. Du wolltest mir aber Deine Marken zeigen, so fahren wir wohl?“

Aßberg hatte bereits Befehl gegeben und ein leichter Wagen mit einer Gabel, in welcher nur ein Pferd, aber von edler Race ging, fuhr vor.

„Sieh, das verspricht schon etwas!“ sagte der Graf, indem er das tadellose, schön gebaute Thier musterte. „Du wirst hier die alten Heroenzeiten wieder heraufbeschwören. Homer’s Helden ritten auch nicht, sie fuhren. Wohlan, ich vertraue mich Dir an.“

Beide verabschiedeten sich von Frau von Aßberg und der Wagen rollte mit ihnen vom Hofe; kein Diener begleitete sie.

Im raschen Trabe fuhr Günther, nachdem er die beiden Steinpfeiler, welche den Eingang des nie verschlossen Thorweges bezeichneten, hinter sich hatte, längs der Hecke des Dorfes dahin, dessen ärmliche, mit Rohr gedeckte Hütten vereinzelt zwischen Bäumen und dichten Sträuchern liegen. Es war kein erfreuliches Bild, aber für einen starken Willen bot sich gewiß hier die reichste Gelegenheit, bessere Zustände zu schaffen. Denn auf der andern Seite, wo in strömender Ueppigkeit sich Weizenfelder mit dichten Halmen und schweren Fruchtähren ausstreckten, lag die Gewißheit, daß der Boden des Landes nicht schuld sei, wenn die Menschen in Armuth verkümmerten. Ein schmaler Weg, welchen Günther dann einschlug, führte die Freunde in vielen Krümmungen durch diese gesegneten Fluren zu einer sanft ansteigenden Lehne, wo die Fruchtbarkeit allmählich aufhörte; oben breitete sich sandiges Land weithin und ein dunkler Kiefernwald begrenzte die Aussicht.

Hier ließ Günther das edle Gestütpferd, das er zum Einspänner degradirt hatte, Schritt gehen und Gebhard erwartete, daß der Freund sich nun gegen ihn aussprechen werde. Er sah sich aber bald darin getäuscht, denn kein Wort, als nur über die Oertlichkeit und die Pläne, welche er für Verbesserungen und neue Anlagen hatte, kam über Günther’s Lippe. Zum ersten Male fand er ihn langweilig – wie hatte er sonst in seiner Geist und Witz sprühenden Unterhaltung die köstlichsten Stunden verlebt! Was war ihm denn geschehen, das ihn so ganz gebrochen, fast konnte man sagen, zerschmettert hatte? Auf der Seele brannte es Gebhard, ihn offen zu fragen, aber er hatte Frau von Aßberg gelobt, seinen wohl schwer errungenen Frieden zu ehren – und so ergab er sich und achtete kaum auf seine Worte, verlor sich vielmehr mit seinen eigenen Gedanken, welche von Neuem in immer engern Kreisen den Flug nahmen, von welchem er sie heute schon gewaltsam zurückgerufen hatte.

Sie waren unterdessen an den Wald gelangt.

„Noch immer Dein?“ fragte Hallstein zerstreut.

„Ich will Dir noch meine Pracht zeigen, nachdem wir lange durch trostlose Wüstenei gefahren sind.“

„Schöne Bauplätze, nicht wahr? Unschätzbar zu verwerthen, wenn nur Communicationen, Eisenbahnen, Canäle – wie?“

„Du schnellst einen Pfeil mit vergifteter Spitze, Gebhard – warum?“

Das klang wieder, wie ein Verständniß suchen, und Gebhard hätte es gern benutzt, aber er bezwang sich und gab nur seine beschämende Ignoranz in land- oder forstwirthschaftlichen Dingen als Grund der spottenden Neckerei an.

„Ich hoffe, Dich zu aufrichtiger Bewunderung zu bekehren,“ erwiderte Günther und das feurige Roß brauste nun, seiner Freiheit mehr überlassen, in schneller Gangart mit ihnen durch den Wald dahin. Dieser veränderte allmählich seinen Charakter. Zwischen die braunen, mächtigen Kiefern, welche allerdings Bauholz von unschätzbarem Werthe geliefert hätten, drängten sich einzelne junge Eichen ein, deren wurden mehr und immer ältere; die Kiefern verschwanden endlich ganz und ein Eichenwald nahm jetzt die Freunde auf, dessen ernste Pracht und Majestät den Grafen wirklich ganz übermannte. Er erinnerte sich nicht, je etwas Aehnliches gesehen zu haben, und gab seinem Staunen, seiner Bewunderung laute Worte.

Mitten im Forste gelangten sie zuletzt an einen Weiher von beträchtlichem Umfange. Die Riesenbäume, die ihre Wurzeln in seine Ufer geschlagen hatten, spiegelten sich in seiner unbewegten Fluth; ein goldner Glanz von der untergehenden Sonne füllte das niedere Gebüsch, das sich hier drängte mit zauberischen Lichtern. Es war eine Stätte von ganz eigenthümlicher und wunderbarer Schönheit, welche auf Jeden, der sie zum ersten Male sah, einen tiefen Eindruck machte; Hallstein war verstummt und ließ, während Günther am Rande des stillen Gewässers das Pferd anhielt, seine Blicke über dies geheimnißvoll abgeschlossene Waldgefild schweifen. Hier begriff er, wie dem Einsiedler die Abgeschiedenheit von der Welt ein wahres Genügen im Herzen geben kann, hier konnte er sich einen heiligen Hain altgermanischen Götterdienstes denken, ja die Naturverehrung der Urzeit, ehe sie hellenische Gestaltung in sinnlich schönen Formen gewonnen hatte. Sein Auge bemerkte endlich am jenseitigen Rande, zwischen den tiefhängenden Zweigen halb versteckt, den weißen Streif eines angefangenen Gemäuers, das sich jedoch bis jetzt nur wenig über den Grundstein erhoben zu haben schien. Günther ließ eben den Wagen wieder leise angehen – [276] auf Gebhard’s Lippen schwebte eine Frage nach dem begonnenen Gebäude, aber er sprach sie nicht aus. Ihm war so seltsam feierlich zu Muthe, wie er sich dessen kaum mehr aus langvergangenen Knabentagen erinnerte und bald genug – wieder schämte. Eine nüchterne Frage, was dort gebaut werde, ein Fischerhaus, ein Jagdschlößchen oder gar nur ein Eiskeller, erschien in diesem Momente gehobener Stimmung allzu elend: er schwieg und Beide fuhren wohl eine halbe Stunde stumm neben einander sitzend durch den Wald, in welchem die Dämmerung allmählich den unscheinbaren Weg fast unerkennbar machte.

„Wir haben uns wohl verirrt?“ fragte der Graf endlich, als er bemerkte, daß Aßberg mit gespannter Aufmerksamkett nach Wahrzeichen suchte, die er verloren zu haben schien.

„Auf meinem eigenen Grund und Boden – es wäre eine Schande,“ erwiderte Günther, mit einer gewaltsamen Rückkehr aus dem fremden Reich der Träume in die Wirklichkeit. „Aber ich stehe nicht dafür, denn ich kann den Grenzstein nicht finden, der nach meiner Meinung hier unter den beiden verwachsenen Eichen stehen müßte.“

„Ein habgieriger Nachbar hat ihn vielleicht in aller Stille verrückt,“ scherzte Gebhard.

Günther erwiderte nichts, sondern ließ das Pferd, das ohnehin unruhig geworden war und sich im Zwielicht vor jedem fremdartig blickenden Strauche scheute, im starken Trabe den immer breiter werdenden Weg verfolgen. Der Eichenwald hatte aufgehört, und die knorrigen Stämme der Kiefern gaben dem edeln Blute des Renners, wie sich Hallstein ausdrückte, noch mehr „Ombrage“ – da glaubte er auf einmal ferne Glockenklänge zu hören und ehe er noch Günther darauf aufmerksam machen konnte, sagte dieser lebhaft: „Das sind die Glocken von Allweide! Wie sind wir dahin gekommen?“

Nach kurzer Fahrt gelangten sie in das Freie. Aßberg hatte dem Freunde erklärt, daß Allweide eine Meile von Berga entfernt sei und einem Herrn von Nidau gehöre, der mit keinem Menschen Umgang hege und auch ihn, als er mit seiner Mutter einen nachbarlichen Besuch beabsichtigt, nicht angenommen habe; ein Gegenbesuch sei eben so wenig erfolgt, nur der Schäfer von Allweide habe einmal von seinem Herrn eine Art von Entschuldigung gebracht. Während dieser Erzählung fuhren sie am Rande des Waldes dahin, wo sich Günther nun leicht zurecht fand. Im Freien war es noch hell genug, wenn auch im Westen das Abendroth bereits im Erlöschen war. Drüben, wo die hohen spitzen Pappeln sich erkennen ließen, ging der Weg von Nidau nach Berga, es kam nur darauf an, dorthin zu gelangen. Quer durch das Korn zu fahren, wäre doch selbst dem rücksichtslosesten jungen Menschen bedenklich gewesen, es blieb daher nichts übrig, als sich dem Dorfe mehr und mehr zu nähern, wo die Glocke unter ihrem hölzernen freistehenden Thürmlein fort und fort gezogen wurde.

„Das kann doch kein Abendläuten mehr sein,“ bemerkte Günther. „Die Sonne ist ja längst untergegangen.“

„Mir klingt es eher wie ein Armsünderglöcklein,“ sagte der Graf. „Wahrhaft nervenangreifendes Bimmeln!“

„Dort steht ein Mensch am Baume,“ rief Günther. „Der wird uns Bescheid geben über den Weg und das Läuten.“

Im Zwielichte zeigte sich wirklich ein hagerer Mann, der auf einen langen Stab gelehnt unter einem Baume stand und beim Nahen des Wagens den Hut zog. Günther hielt vor ihm an.

„Guten Abend! Kann ich nicht von hier auf den Weg nach Berga kommen oder muß ich in das Dorf fahren?“

„Ich werde Sie einen Rain weisen, gnädiger Herr,“ antwortete der Mann, und auf Günther’s Frage, ob er ihn kenne, bejahte er dies und gab sich als den Schäfer zu erkennen. Kurz vorher war von ihm die Rede gewesen.

„Was bedeutet denn das Läuten?“ fragte Günther – eben verhallten die letzten Klänge.

„Ach, Du lieber Gott!“ erwiderte der Schäfer, und man hörte seiner Stimme an, daß er mit dem Weinen rang. „Unser armer gnädiger Herr ist zu Abende gestorben.“

„Wie?“ rief Aßberg betroffen. „So plötzlich? Oder war er länger krank?“

„Ich habe ihn nicht krank gesehen und kein Mensch nicht. Gefehlt muß ihm schon was haben und wenn er auf mich gehört hätte – aber er hörte auf keine Seele! Nun, gnädiger Herr, hier geht der Rain, Sie können nicht mehr fehlen; ich muß nach der Stadt zum Herrn Amtmann, der Herr Pastor meint, es muß sein.“

Günther hatte nur noch eine Frage.

„Wer ist bei der armen Tochter?“

„Der Herr Pastor – gute Nacht, gnädiger Herr.“

Damit blieb er stehen; Günther lenkte sein etwas widerstrebendes Pferd in den Feldrain, welcher sie nun gerade nach dem Bergaer Wege führte.

„So haben wir noch ein trauriges Erlebniß gehabt,“ sagte der Graf. „Wenn ich nicht irre, sprach Deine Mutter davon, daß die beiden adeligen Familien der Nachbarschaft keineswegs in glänzenden Umständen lebten – hinterläßt dieser Herr von Nidau nur die Tochter, von welcher Du sprachst?“

„Nur sie, und so viel ich weiß, ist sie noch sehr jung. Wer wird ihr mit Rath und That beistehen?“

„Gewiß hat sie Verwandte,“ erwiderte der Graf. „Vor der Hand steht ihr der Geistliche tröstend zur Seite und die Geschäfte wird unser Freund von heute Mittag ordnen, den Du ja einen rechtschaffenen und intelligenten Mann genannt hast. Er ist doch der Amtmann, zu welchem der Schäfer geschickt wird?“

„Sie nennen den Gerichtsverweser Hassel in der Gegend noch immer mit dem Titel, der unter der frühern Landeshoheit üblich war. Was er thun kann, wird er gewiß für das arme Mädchen thun, aber ich fürchte, daß nun der längst vermorschte Bau zusammenstürzen und die Unglückliche bitterer Noth Preis geben wird.“

Auf dem Heimwege, der nun in einer kleinen Stunde zurückgelegt wurde, sprachen sie noch viel über diese Angelegenheit, nur war Günther von den Verhältnissen zu wenig unterrichtet, um ein bestimmtes Urtheil zu haben. Frau von Aßberg erwartete sie unterdessen mit wachsender Sorge; sie war von ihrem Sohne kein unbestimmt verlängertes Ausbleiben gewohnt, er kehrte stets eher zurück, als er ihr vorher gesagt hatte, sie mußte daher, wenn heute nichts Besonderes vorgefallen war, die Schuld auf Hallstein schieben und seine Zusage, Günther’s Frieden nicht stören zu wollen, tröstete sie wenig, besonders, weil sie mit Bestimmtheit glaubte und auch hoffte, daß Günther endlich sein Herz gegen ihn erleichtern werde. Denn, wenn Günther sich aussprach, was war natürlicher, als daß der Freund von seinem Standpunkte aus ihn von Neuem verwirrte und zweifelhaft machte, ob er auch das bessere Theil erwählt habe? Aber, abgesehen von Allem, konnte Beiden auch ein Unfall begegnet sein! Sie war eine klare, ruhige Frau, die sich nicht so leicht unbestimmten Befürchtungen hingab, doch schien, seit Gebhard’s Eintritt in dies Haus, ein fremdartiger Tropfen in ihr Blut gefallen zu sein, der es erregter pulsiren ließ, als sonst. Durfte das Wunder nehmen, da er Waldemar’s Bruder war und ihm in Manchem so ähnlich? Sie fühlte sich erleichtert, als sie endlich, nachdem es schon ganz finster geworden, den Wagen auf den Hof rollen hörte, und eilte selbst vor die Thüre, wo sie des Sohnes Namen fragend den Ankommenden entgegen rief. Wie klang ihre Stimme so liebevoll und auch so jugendlich! Graf Hallstein hätte sie eher für die einer besorgten Braut, als der Mutter gehalten!

„Wir sind es, Mama!“ gab Günther zur Antwort und erklärte zugleich ihr längeres Ausbleiben.

Im Zimmer, wo bereits die Lampe brannte, war Gebhard überrascht, wie verändert Frau von Aßberg erschien, so daß er ihr im ersten Moment schuld gab, sie habe während ihrer Abwesenheit alle Geheimmittel aufgeboten, um die letzten Spuren der Jahre von ihrem Gesicht zu vertilgen. Er hatte in den Regionen der Höfe, welchen er angehört hatte, schon manches glänzende Beispiel von der Macht künstlicher Beleuchtung, verbunden mit großer Toilette, kennen gelernt, aber ohne die Hülfe der letzteren in dem Maße wie hier noch niemals. Er glaubte jetzt wirklich an die Möglichkeit ewiger Jugend, und die Gedanken, die schon heute früh in ihm lebendig geworden waren, erwachten von Neuem und hielten ihn fest, während Günther seiner Mutter die Nachricht von dem plötzlichen Tode des Herrn von Nidau erzählte, welche er durch den Zufall erfahren hatte. Frau von Aßberg hörte sie mit großem Antheil.

„Das arme Kind!“ rief sie. „Wenn ich etwas helfen kann, thue ich es mit Freuden. Fremder Zuspruch ist nur in so trüben Stunden zu lästig – leider bin ich auch ganz unbekannt mit den Verhältnissen der Familie, weiß nicht, ob und welche Verwandten sie hat, und wie sie es aufnehmen würde, wenn ich ihr nahen wollte. Herr Hassel ist zum Glück auch dort Sachwalter und [277] wird Alles ordnen, wie es nur möglich ist; er kann mir auch wohl sagen, ob von meiner Seite ein Beweis der Theilnahme dem armen Kinde lieb sein würde.“

Günther versprach, am andern Tage in der Stadt bei dem Gerichtsverweser Erkundigungen einzuziehen, und das traurige Ereigniß wurde noch im Laufe des Abends vielfach besprochen. Graf Hallstein suchte dann die Unterhaltung auf andere Dinge zu ziehen und lobte, was er bei der Rundschau von der Besitzung gesehen hatte, besonders die herrlichen Waldpartien um den Weiher. Dabei fiel ihm der angefangene Bau wieder ein und er fragte jetzt nach dessen Bestimmung. Frau von Aßberg blickte auf ihren Sohn und sagte dann ruhig: „Es soll eine Kapelle werden.“

„Eine Kapelle?“ fragte Hallstein etwas verwundert. „Wohnen viele Katholiken in hiesiger Gegend?“

„Sollen nur die Katholiken das schöne Vorrecht haben, außerhalb ihrer Wohnplätze geweihte Stätten zu besitzen, wo sie ihre Andacht verrichten und ihre Herzen erleichtern können?“

Dem echten Weltmanne ist nichts so peinlich, als ein Gespräch über religiöse Dinge, wenn es ernst geführt wird – frivol weiß er allerdings darüber zu reden, er witzelt dabei nicht gerade über das Heilige selbst, wohl aber richtet sich sein Humor gern gegen die Diener der Kirche. Graf Hallstein machte darin keine Ausnahme und gab sich mit der erhaltenen Erklärung zufrieden, da irgend eine Einwendung von konfessionellen Standpunkte ihm nicht am Herzen lag.

Als er sich später auf das ihm angewiesene Zimmer zurückgezogen hatte und Günther, der ihn begleitet, wieder zu seiner Mutter kam, fragte diese sanft: „Hast Du Dich ausgesprochen, mein Sohn?“

„Nein, Mama,“ erwiderte Günther ruhig, „was könnte es mir helfen?“

Sie schüttelte leise den Kopf und sah ihn mit einem unendlich liebevollen Blicke an.

„Gefällt Dir Gebhard?“ fragte er.

„Er ist ein angenehmer und gebildeter Mann und scheint Dein wahrer Freund zu sein.“

„Das ist er auch!“ sagte Günther lebhaft. „Er könnte mir jedes Opfer bringen.“

„Dann – hat er doch ein Recht auf Dein Vertrauen, mein Sohn.“

„Warum wünschest Du, daß ich noch einem Dritten erzähle, was am besten in einer Brust verwahrt geblieben wäre?“

„Weil es dieser Brust Heilung bringen würde!“

Er küßte die Mutter und sagte:

„Ich bin mir aller Verhältnisse vollkommen klar bewußt. – Gute Nacht, Mama.“

Sie trennten sich und Frau von Aßberg konnte heute noch lange den Schlummer nicht finden.




IV.

Hallstein begleitete am andern Morgen seinen Freund nach der Stadt, wo dieser einige landwirthschaftliche Angelegenheiten zu besorgen hatte, und zugleich bei dem Gerichtsverweser Hassel Erkundigung über die Lage der Dinge in Allweide einziehen wollte. Diesmal war es nicht das gestrige Gespann, sondern ein geräumiger, mit zwei stattlichen Kutschpferden bespannter Wagen, der die Freunde nach der Stadt brachte, allerdings auch keine Carosse, die bei den schlechten Wegen der Gegend kaum zu benutzen gewesen wäre, sondern ein offener Holsteiner, welcher dem Grafen nach allen Seiten freien Umblick gestattete. Das Städtchen lag in einer Niederung, deren Anbau in alter Zeit wohl nur durch unermüdlichen Fleiß deutscher Colonisten dem Sumpfboden abgerungen worden war; bei nasser Jahreszeit mußte der Zugang noch immer schwierig sein, das bewiesen die vielen Stellen, auf denen sich Knüppeldämme fanden, die jetzt trocken lagen und die Fahrt unbequem machten. Um die Stadt her sah es wohlthuend frisch und grün aus, ihr langer Häuserstreif lag in Bäumen halb versteckt, und der einzige Thurm mit seinem niedrigen Kegel ragte kaum über die Wipfel hinweg.

Graf Hallstein, der wohl seit Jahren keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, ein kleines Provinzialstädtchen in der Nähe zu sehen, da die Eisenbahnen dieselben nur streifen, war erstaunt, als sie in die offene Gasse einfuhren, welche, in mehreren Krümmungen sich dahin streckend, den ganzen Ort bildete. So elende Häuschen, einen solchen Mangel an jeglichem Comfort des Wohnens, hatte er heut zu Tage nicht mehr für möglich gehalten; ein holpriger Steindamm mit tief ausgefahrenen Löchern nahm die Mitte der schmalen Gasse ein, an den Häusern gab es kein Pflaster, wohl aber lag hier und da ein Düngerhaufen, der auf gelegentliches Abfahren harrte, und zwischen ihnen standen verwitterte, grüne Bänke, auf denen die Bewohner ihre Feierabendstunden zu verbringen pflegten. An den Häusern selbst rankten sich zuweilen nie verschnittene Weinreben mit undurchdringlicher Blatterfülle empor, deren Trauben selten reif werden konnten; meist aber zeigten sich hohe Rosenstöcke, welche gerade in voller Blüthe standen und trotz der unerquicklichen Umgebung einen reizenden Anblick gewährten. Noch mehr als diese Schönheit fiel dem Grafen die Schönheit der jungen Mädchen auf, die sich hier und da blicken ließen, theils neugierig beim Rollen des herrschaftlichen Wagens aus den Hausthüren schauend, theils auf der Gasse – es war, als gäbe es hier kein häßliches Mädchengesicht; auch die Männer, denen man hier begegnete, hatten ein kräftiges, wohlgebildetes Ansehen.

„Ursprünglichkeit in unverdorbener Reine!“ sagte Gebhard. „Wenn ich mir gegen diese wandelnden Rosen unsere Aschpflanzen im Carneval denke!“

Auf dem Markt – so hieß eine geringe Ausweitung der Gasse, wo der Hauptbrunnen und das Spritzenhaus stand – zeigte sich nun der einzige Gasthof, „zum blauen Löwen,“ wo die Nachbarschaft an Markttagen einkehrte: Reisende verirrten sich wohl niemals hierher. Dicht daneben, im Schatten zweier geköpfter Pappeln, lag die schon gerühmte Apotheke, welche, um zu zeigen, daß man auch hier nicht hinter der Zeit und ihren weltbewegenden Interessen zurückgeblieben sei, „die Börse“ genannt wurde: sie war, wie Abends, so auch gegen eilf Uhr Vormittags, der Sammelplatz der Honoratioren, welche dann die neuesten Zeitungsnachrichten bei einem Glase Doppelbier oder an Festtagen bei gutem Rheinwein, den der Apotheker von der Quelle kommen ließ, besprachen und, wie nicht zu leugnen, oft mit sehr gesundem Urtheil, wenn es innerhalb der Tragweite ihrer Anschauungen lag. Auch heut waren sie bereits versammelt und Aßberg erkannte unter ihnen den Gerichtsverweser. Dieser stand auf, als der „Bergaer“ vor dem blauen Löwen anhielt, und begrüßte die absteigenden Herren. Günther fragte sogleich nach den Verhältnissen in Allweide.

„Ach, das ist ein Elend, Herr von Aßberg. Wenn nur der Alte erst unter der Erde wäre, daß man die Tochter fortnehmen könnte! Es geht Einem an’s Herz, wenn man ihren Jammer mit ansieht, und das Schlimmste kommt erst nach, wovon sie noch keine Ahnung hat. Sie behält nichts, auch gar nichts. Der liebe Nachbar, der die Geschichte, so lange der Alte lebte, durch Darlehne noch gehalten hat, legt nun die Hand d’rauf; die pure Menschenliebe, aus der er’s gethan, macht sich bezahlt – so ’n Capitalist kann rechnen! Wir Einheimischen witterten den Fuchs, als er sich hier bei uns ankaufte – verzeihen Sie, Herr von Aßberg, auf Sie geht das nicht, Sie sind ein Cavalier, der bei uns leben will, der aber will bei uns nur noch reicher werden, und wenn er den andern Herrn, dem das Wasser auch schon an den Hals geht, ausgekauft hat, dann spielt er auf dem Kreistage die erste Violine und unsere ehrlichen Gutsbesitzer müssen danach tanzen.“

Aßberg unterbrach diesen Ausbruch des Unwillens durch eine neue Frage.

„Ja, das Lenchen, was soll aus ihr werden? Dort kann sie nicht bleiben, wo Alles versiegelt ist, und ich ihr auf meine Verantwortung nur ein bischen mehr, als sie eben braucht, herausgelassen habe. Eine Mutter hat sie nicht mehr – nahe Verwandte auch nicht. Wenn sie nicht das Unglück mit ihrem Bräutigam gehabt hätte, wäre sie versorgt, nun weiß ich vor der Hand keinen andern Rath, als daß ich sie zu mir nehme, im Stich lassen kann ich das arme Ding doch nicht.“

(Fortsetzung folgt.)



 

[278]
Das Wasserglas.
Eine geschichtliche, technisch-chemische und volkswirthschaftliche Skizze.

von Dr. Franz Doebereiner.

(Schluß.)
Die verschiedenen Eigenschaften des Wasserglases. – Wozu dasselbe benutzt werden kann. – Das Ueberziehen des Holzes mit Wasserglas. – Das Wasserglas als Kitt. – Seine Benutzung als Bindemittel bei Anstrichfarben. – Seine Verwendung bei Erhaltung von Ruinen und Monumenten. – Das Wasserglas als Seife. – Die größere Dauerhaftigkeit des Holzes durch Anwendung des Wasserglases. – Sein großer Einfluß auf die Landwirtschaft. – Deutsche Erfindungen und deutsche Trägheit. – Nachschrift. – Wasserglas als Mittel gegen faule Eier.

Die Eigenschaften, worauf die Anwendung des Wasserglases in den Künsten und Gewerben, so wie in der Hauswirthschast beruht, sind folgende:

1. Das geschmolzene Wasserglas bildet eine vollkommen glasartige Masse, welche bei reinem Kaliglas durchaus farblos erscheint, bei natronhaltigem Wasserglas aber in Masse schwach bläulich ist; aber auch letztere zeigt sich bei dünnen Lagen vollkommen farblos. Es ist wie gewöhnliches Glas spröde und zu einem schneeweißen Pulver zerreibbar.

2. Im geschmolzenen Zustand hat das Wasserglas keinen Geschmack, weil es im Wasser und in der Speichelflüssigkeit unlöslich ist; fein gepulvert zeigt es auf der Zunge nach längerer Zeit einen ganz schwachen, laugenhaften Geschmack. Als Pulver ist es beim langdauernden Kochen im Wasser löslich; dieses kann je nach der Menge des im Wasserglas enthaltenen Natrons oder Kalis 1/6 bis 1/3, selbst die Hälfte von der ganzen Glasmasse lösen.

3. Die Lösung des geschmolzenen Wasserglases oder die durch Kochen der Kieselerde mit Lauge erhaltene Flüssigkeit ist bei reinen Materialien vollkommen farblos, verursacht, zwischen Finger gerieben, wie eine schwache Lauge ein fettiges Gefühl, und hat einen laugenartigen Geschmack, dessen Intensität von der Menge des ungebundenen Kalis oder Natrons abhängig ist.

4. Die Lösung irgend eines Wasserglases, in dünnen Lagen auf Gegenstände von Holz, Glas, Metall oder feste Körper, die nicht zur Kategorie der unten bei 6. und 7. angedeuteten gehören, gestrichen, trocknet sehr bald zu einem farblosen, glasglänzenden Ueberzug ein, welcher in gewöhnlichem Wasser und Seifenwasser unauflöslich, für Luftarten und Dämpfe undurchdringlich und bei einer hohen Temperatur zwar schmelzbar ist, aber doch in einer vollkommen dichten, dünnen Schicht auf den erhitzten Gegenständen haften bleibt.

5. Die Wasserglaslösung läßt sich mit Farbenmaterialien, die nicht zu der Kategorie der unter 6. und 7. angedeuteten Körper gehören, wie Oel, Firniß oder Lack zu homogenen breiigen Massen anreiben, welche sich mit dem Pinsel ausstreichen lassen und auf den damit überzogenen Gegenständen zu einer festen, nicht abreib- oder abwaschbaren Decke eintrocknen, die den besonderen Ton des Farbmateriales und etwas Glanz besitzt. Letzterer läßt sich durch Ueberstreichen von einer Wasserglaslösung wesentlich erhöhen und in manchen Fällen bis zum Glasglanz steigern. Eine derartige farbige Decke ist wie die des reinen Wasserglases für Luftarten, Dämpfe und Feuchtigkeit undurchdringlich, erleidet aber bei hoher Temperatur in den meisten Fällen eine Veränderung der Farbe, indem ein Bestandtheil oder das ganze Farbmaterial mit dem Wasserglas zu einem mehrfach zusammengesetzten Salz zusammentritt. Farbmaterialien aus rein organischen Stoffen oder mit solchen sind meist für die Verarbeitung mit Wasserglas nicht geeignet, indem ihre organische Grundlage durch das Kali oder Natron wesentlich verändert und gewöhnlich eine Braunfärbung veranlaßt wird.

6. Die Wasserglaslösung wird durch alle Salze mit alkalisch erdiger, rein erdiger oder metallischer Grundlage zersetzt und zwar augenblicklich, wenn diese in Wasser löslich sind, hingegen langsam, wenn jene Salze sich nicht in Wasser lösen können. Es tritt hierbei die Säure des Salzes mit dem Kali oder Natron des Wasserglases zu dem entsprechenden Salz zusammen, während sich die Kieselerde mit der basischen Grundlage des in Zersetzung übergegangenen Salzes zu einem unlöslichen kieselsauren Salz verbindet. In manchen Fällen und besonders bei einem Ueberschuß von Wasserglas wird das neu gebildete kieselsaure Salz von einem Theil unzersetzten Wasserglases zu einem unlöslichen Doppelsalz gebunden.

In diesem Verhalten zeigt das Wasserglas vollkommene Analogie mit der Seife; diese zersetzt genau dieselben Salze, indem ein lösliches Kali- oder Natronsalz entsteht und die Fettsäure oder Oelsäure mit der basischen Grundlage des zugesetzten Salzes eine unlösliche salzartige Verbindung bildet. Wir sehen derartige unlösliche Verbindungen sehr häufig in den käsigen Absonderungen sich bilden, wenn Seife in sog. hartem Wasser aufgelöst wird. Dieses enthält Kalk- und Magnesiasalze, welche eben durch ihre Zersetzung die angedeutete Erscheinung veranlassen. In derartigem Wasser veranlassen einige Tropfen Wasserglaslösung ebenfalls eine Absonderung, und es kann daher diese Lösung dazu benutzt werden, um schnell zu erfahren, ob ein Wasser als hartes Wasser zu betrachten ist. Es ist aber auch selbstverständlich, daß man ein derartiges Wasser nicht zum Auflösen oder Verdünnen des Wasserglases benutzen darf, wenn es darum zu thun ist, durch Eintrocknen des Wasserglases einen rein durchsichtigen Ueberzug zu erzielen.

7. Die Wasserglaslösung wird auch durch einige ungebundene Basen zersetzt, indem diese die Kieselerde anziehen und das Kali oder Natron in Freiheit gesetzt wird. An der Luft zieht dann das Kali oder Natron nach und nach Kohlensäure an.

8. Die Wasserglaslösung wirkt auf fettige Stoffe und Schweiß lösend und auf den mit diesen gemischten Schmutz so lockernd, daß er dann leicht durch Spülen mit Wasser von pflanzlichen und thierischen Fasern oder daraus verfertigten Zeugen weggespült werden kann. Sie verhält sich also wie eine Seifenlösung und kann wie diese benutzt werden, weshalb ich auch in dieser Beziehung das Wasserglas als Glasseife bezeichnen möchte.

9. Das geschmolzene oder eingetrocknete Wasserglas erleidet keine Veränderung durch den Zutritt der Luft, während seine Lösung an freier atmosphärischer Luft nach und nach Kohlensaure anzieht und Kieselerde fallen läßt. Es ist deshalb nothwendig, die Wasserglaslösung in wohl verschlossenen Flaschen aufzubewahren.

Die Eigenschaft der Wasserglaslösung, für sich in dünnen Lagen auf Gegenstände gestrichen, zu einer festen, farblosen Decke einzutrocknen, läßt sich auf mannichfaltige Weise benutzen. Damit überzogene Metalle werben dadurch gegen den Einfluß der atmosphärischen Feuchtigkeit und Kohlensäure geschützt, können also nicht rosten, beschlagen oder anlaufen, behalten demnach ihren Glanz und ihre Farbe und lassen sich selbst sehr stark erhitzen, ohne eine Veränderung zu erleiden, indem die wenn auch schmelzende Glasdecke den Zutritt des atmosphärischen Sauerstoffgases vollständig verhindert, und deshalb auch keine Verbrennung oder Oxydation der Metalle statt finden kann. Mit Wasserglas überzogenes Holz ist ebenfalls gegen den Einfluß der Atmosphärilien geschützt und gegen den Schwamm, selbst auch gegen Insectenfraß gesichert. Der wichtigste, von dem Entdecker Fuchs bereits besonders hervorgehobene Zweck des Ueberziehens des Holzes mit Wasserglas ist aber der, dasselbe relativ unverbrennlich zu machen. Nicht Holz allein, sondern auch jede andere brennbare Substanz von pflanzlicher und thierischer Abstammung, mit Wasserglas hinreichend überzogen oder damit getränkt, ist nämlich bei hoher Gluth und bei Zutritt atmosphärischer Luft nicht fähig, in Flamme auszubrechen, weil der Wasserglasüberzug auch bei der durch starke Erhitzung bedingten Schmelzung auf der ganzen Oberfläche des brennbaren Körpern eine den Durchgang der atmosphärischen Luft vollkommen verhindernde Decke bildet. Erleidet auch die brennbare Substanz in Folge der hohen Temperatur eine Verkohlung, so wird sie doch durch die Glasdecke wegen Mangels an Sauerstoffs gegen die Entzündung selbst geschützt und kann also auch nicht die Flamme weiter tragen; der Verkohlung kann natürlich nicht vorgebeugt werden.

Eine andere Anwendung von der Eigenschaft der Wasserglaslösung, zu einem farblosen, festhaftenden Ueberzug einzutrocknen, ist die zum Kitten zerbrochener Gefäße von Glas, Porzellan, Irdenzeug [279] und selbst von Metall oder Stein. Sorgsame Hausfrauen haben in dem Wasserglas ein ausgezeichnetes Mittel, zersprungene oder zerborstene Gefäße und Geräthschaften dieser Art, besonders wenn die Bruchflächen noch frisch sind, nicht allein ungemein dauerhaft, sondern auch so zu kitten, daß die Bruchstelle kaum wahrnehmbar ist. In manchen Fällen findet die Kittung durch Wasserglas nicht allein in Folge der durch Kitt bedingten Adhäsionsverhältnisse, sondern auch in Folge einer chemischen Durchdringung zwischen dem Wasserglas und der Masse des zerborstenen Gegenstandes statt, und in solchen Fällen ist dann der Zusammenhang so innig, daß beim absichtlichen oder zufälligen Bruch nicht die alte Stelle davon getroffen wird.

Ganz besonders wichtig ist auch die Verwendung der Wasserglaslösung als Bindemittel für viele Anstrichfarben. Die verschiedenartigsten Gegenstände von Holz, Metall, Glas, Porzellan, Stein u. s. w., Mauerwerk, Tapeten, Coulissen, Holzgetäfel und andere Bekleidungen lassen sich mit dauerhaften, nicht abstäubenden und abfärbenden, durch reines oder Seifenwasser leicht zu reinigenden Farbenanstrichen unter Zuziehung des Wasserglases überziehen. Wenn die Farbematerialien auf die Zusammensetzung des Wasserglases keine Veränderung ausüben, so erhält man den bestimmten Farbenton, ohne befürchten zu müssen, daß derselbe sich wie beim Oelanstrich mit der Zeit ändere. Ganz unberechenbar sind die Vortheile, welche das Wasserglas dem Oel gegenüber darbietet. Ich will nur hier anführen: die Billigkeit des Materials, die Leichtigkeit, mit welcher schadhafte Stellen genau restaurirt werden können, die größere Reinlichkeit, die völlige Geruchlosigkeit und Beständigkeit des Wasserglases, endlich aber und ganz besonders die Sicherheit, welche mit Wasserglasfarben überzogene Gegenstände von Holz, Leinwand, Stroh und dergl. gegen Feuersgefahr, Schwamm und Wurmfraß gewähren. Diese Vortheile fehlen dem Oelanstrich, während durch ihn die Feuergefährlichkeit ungemein erhöht wird, da er die Entflammung brennbarer Körper sehr begünstigt und leicht die Flamme weiter trägt.

Glasgegenstände mit farbigem Wasserglasüberzug sind durchscheinend, und können in manchen Fällen und Formen die aus wirklich farbigem Glase verfertigten ersetzen, wie z. B. so überzogene Glastafeln bei der Anfertigung von farbigen Fenstern. Aber auch zum Einbrennen von Farben auf Glas, Porzellan und Irdenwaare eignet sich das Wasserglas sehr gut, indem es mit den Farbenmaterialien eine leicht verglasende Masse bildet. Man hat jedoch für letztere Anwendung genau zu berücksichtigen, welchen Farbenton das Farbematerial bei der Verglasung annimmt.

Von hohem Interesse für die Baukunst und Erhaltung von Monumenten und Ruinen ist die Eigenschaft des Wasserglases, mit der Masse salzartig zusammengesetzter und leicht verwitternder Bau- und Monumentalsteine, so wie auch mit dem Talkmörtel selbst, sehr feste chemische Verbindungen einzugehen und dieselben gleichsam zu verkieseln. Mit Wasserglas überzogene oder getränkte Bausteine und Mörtelarten widerstehen dem Einfluß der Atmosphärilien, d. h. der Einwirkung von Kohlensäure, Feuchtigkeit und wechselnden Witterungsverhältnissen in einem Grade, wie man diesen durch kein bekanntes Mittel bis jetzt erzielen konnte, und es erhalten Rohbauten aus leicht verwitternden Steinen und der Mörtelabputz durch das Ueberziehen mit Wasserglas eine bis jetzt noch gar nicht bestimmbare Dauerhaftigkeit. Selbst die begonnene und mehr oder weniger weit vorgeschrittene Verwitterung an Baudenkmälern aus Stein wird durch die geeignete Behandlung mit Wasserglas unterbrochen und der Erhaltung werthe Ruinen können durch Anwendung desselben noch für lange Zeit den Alterthumsfreund erfreuen. Pulveriges Wasserglas mit Kalk und Wasser giebt einen ausgezeichneten hydraulischen Mörtel und die Technik wird sich gewiß noch weiter bestreben, unter Mithülfe von Wasserglas künstliche Steine der verschiedenartigsten Form und Farbe herzustellen.

Endlich will ich noch die Hausfrauen auf die reinigende Kraft des Wasserglases besonders aufmerksam machen und dieselben darauf hinweisen, daß das Wasserglas, wenn auch nicht in allen, doch in vielen Fällen zum Waschen statt der Seife verwendet werden kann. Gewebe aus Linnen und Baumwolle, aus Schafwolle und Seide, Leder lassen sich sehr leicht durch Einlegen in verdünnte Wasserglaslösung und nachheriges Spülen mit Wasser vollständig reinigen, wobei die etwaigen Farben nicht mehr als durch Seife leiden. Große Wäschen dürften sich aber bei Anwendung von Wasserglas nur unter Anwendung von Waschmaschinen ausführen lassen, da das feste Wasserglas nicht wie Seife zum Einreiben brauchbar und seine Lösung für die gewöhnliche Handarbeit so wenig praktisch wie Seifenwasser ist. Es ist fast mit Sicherheit anzunehmen, daß in den großen Wollwäschen und Tuchfabriken ebenfalls das Wasserglas mit Vortheil anwendbar sein wird, da bei einem gehörigen Verhältniß von Kieselerde das Kali oder Natron in demselben genau eben so seine zerstörenden Wirkungen auf thierische Stoffe verloren hat, wie dieses bei den verschiedenen Seifenarten der Fall ist.

Ich muß hier nochmals darauf hinweisen, daß das für späteren Gebrauch bestimmte Wasserglas in seiner Lösung stets in gut verschlossenen Gläsern oder Flaschen aufbewahrt werden muß, weil diese Lösung an der Luft nach und nach Kohlensäure anzieht, in Folge dieser die Kieselerde fallen läßt und sich endlich in eine Lösung von kohlensaurem Kali oder Natron – Pottasche oder Soda – verwandelt. Eben so muß man die Lösung und Verdünnung des Wasserglases, wenn damit reine und durchsichtige glasige Ueberzüge erzielt werden sollen, mit reinem Wasser, also mit Regen- oder Schneewasser oder doch mit weichem Flußwasser vornehmen, weil die sogen. harten Wässer wegen ihres Gehaltes an Kalk- und Magnesiasalzen die Wasserglaslösung zum Theil zersetzen und feste Absonderungen von kieselsaurer Magnesia und Kalkerde geben, die beim Eintrocknen der Lösung den glasigen Ueberzug trübe machen.

Bei der Mannichfaltigkeit der Verwendungen, welche das Wasserglas bereits gefunden hat und deren es noch weiter fähig ist, würde es für diese Blätter zu umfangreich sein, jene alle im Besondern näher anzuführen. Die obigen Andeutungen sollen nur ein Bild davon geben, und ich hoffe, in einem demnächst erscheinenden besonderen Schriftchen über das Wasserglas die Art der Verwendung desselben so ausführlich und umfassend niederlegen zu können, daß sie für Jedermann belehrend und ausführbar sein wird. Hier will ich schließlich nur noch einige Betrachtungen aufstellen, die sich auf den volkswirthschaftlichen Standpunkt, welchen das Wasserglas einnehmen wird, beziehen.

Eine der wichtigsten Folgen, welche wir von einer allgemeineren Benutzung des Wasserglases haben werden, ist die einer größeren Dauerhaftigkeit des Holzes und hiermit also eine Ersparniß dieses von Tag zu Tag im Preise steigenden Materiales. Werden auch bei denjenigen Bauten und bei der Verfertigung solcher häuslichen und gewerklichen Geräthschasten, die in Holz auszuführen sind, die Kosten augenblicklich durch die Zuziehung des Wasserglases erhöht, so gleicht sich diese Preiserhöhung nicht allein durch die Dauerhaftigkeit, sondern auch und ganz besonders durch bedeutend erhöhte Sicherung gegen die Verbreitung von Feuersbrünsten aus. Es wird also das Nutzholz unserer Forsten mehr geschont und der Beitrag für Feuerschäden vermindert. Die Feuerversicherungsgesellschaften würden gewiß zum Besten ihrer Interessenten handeln, wenn sie die Anwendung des Wasserglases als Feuerschutzmittel dadurch möglichst zu verbreiten suchten, daß sie die Beiträge für solche Gebäulichkeiten, deren Holzwerk und sonstiger Inhalt von Holz durch Wasserglas geschützt ist, niedriger stellen. Durch die Anwendung des Wasserglases werden gewiß die Gefahren paralysirt, die wir in Folge einiger Unglücksfälle von der Anwendung der Photogens und ähnlicher Leuchtmaterialien befürchten. Die Holzgefäße, in welchen derartige Leuchtstoffe und andere leichtbrennbare Flüssigkeiten, wie Weingeist, Terpentinöl, Theer u. s. w., aufbewahrt werden, lassen sich durch Tränken oder Ueberziehen mit Wasserglas für das Durchgehen der Dämpfe undurchdringlich machen und gewähren demnach neben der größeren Sicherheit gegen Entzündung zugleich vollkommen dichten Verschluß.

Endlich kann man nicht umhin, dem Wasserglas einen gewissen Einfluß auf die Landwirthschaft einzuräumen. Kommt es allgemein als Bindemittel für Anstrichfarben statt des Oeles in Gebrauch und findet seine Verwendung als Reinigungsmittel statt der Seife Anklang, so muß auch die Cultur gewisser Oelfrüchte in den Hintergrund treten und es kann ein großer Theil der jetzt davon in Anspruch genommenen Ackerflächen zum Anbau anderer Feldfrüchte verwendet werden. Aber auch als Düngematerial dürfte vielleicht das Wasserglas eine Rolle spielen und besonders von günstigem Erfolg auf die Wiesengräser und eigentlichen Getreidarten sein. Wir wissen von diesen Pflanzen, daß sie zu einer gehörigen Entwickelung außer anderen mineralischen Stoffen auch Kali oder Natron und Kieselerde bedürfen; diese letztere findet sich im Wasserglas neben Kali oder Natron in der gelösten Form und deshalb am leichtesten zur Aufsaugung in die Pflanzen geeignet. Es ist mir [280] nicht bekannt, daß bis jetzt das Wasserglas als Düngematerial benutzt worden wäre. Da wir aber wissen, daß das kieselsaure Kali, welches sich in der ausgelaugten Holzasche vorfindet, von wesentlicher Wirkung bei der Düngung mit dieser ist, so können wir eine solche wohl auch vom Wasserglas erwarten. Die betreffenden Versuche werde ich im Laufe dieses Jahres anstellen, wünsche aber auch, daß sie von rationellen Landwirthen in größerem Maßstabe, als es mir möglich ist, ausgeführt werden.

Ich kann diese Skizze über das Wasserglas nicht schließen, ohne in Bezug auf deren geschichtlichen Theil eine Nebenbemerkung zu machen. Fuchs konnte seiner Entdeckung in Deutschland nicht die Würdigung verschaffen, die ihr gebührt; sie wurde in Deutschland nicht eher anerkannt und in Anwendung gebracht, bis uns die Franzosen gezeigt hatten, was mit ihr zu leisten ist. Im Jahre 1831 wurde von einem anderen deutschen Chemiker, von Reichenbach, neben vielen anderen Stoffen das Paraffin als Bestandtheil der Theerarten erkannt und wegen seiner Schönheit und Leuchtkraft als ein prachtvolles Leuchtmaterial vorgeschlagen; die deutsche Industrie übersah diesen Körper so lange, bis endlich zwanzig Jahre später die Engländer die schönen Paraffinkerzen in den Handel brachten, wo nun endlich in Deutschland der Werth des Paraffins aufgefaßt wurde und die neueste Zeit eine große Zahl von Fabriken zur Gewinnung dieses und anderer Leuchtstoffe entstehen sieht. Diese Fälle stehen leider nicht vereinzelt und es ist wirklich wenig aufmunternd für die Männer der deutschen Wissenschaft, daß ihre schönen Entdeckungen erst im Auslande ausgebeutet werden müssen, bevor sie im Vaterlande Anerkennung und Würdigung finden. Die Industriellen Frankreichs und Englands wissen sich stets mit den Bestrebungen der Physiker und Chemiker ihrer Heimath in Verbindung zu erhalten und unterstützen dieselben oft durch bedeutende pecuniäre Opfer, gewähren aber auch dann denselben bei der Ausführung ihrer Erfindungen und Entdeckungen große und dauernde Entschädigungen, wodurch selbst wiederum die Bestrebungen nach neuen Erfindungen und Entdeckungen gefördert werden.

Nachschrift.

Während des Druckes dieses Aufsatzes, welcher der Redaction, wie diese bezeugen wird,[1] im Anfang Februars eingeschickt wurde, ist von Sänger in Erfurt ein Schriftchen über das Wasserglas erschienen, das mir Mitte März zu Händen kam. Einige Sätze darin, namentlich der Vergleich des Wasserglases mit der Seife, sind den von mir oben ausgesprochenen Ansichten so frappant ähnlich, daß der Leser des Sänger’schen Werkchens und dieses Aufsatzes unwillkürlich zu der Ansicht verleitet werden muß, es habe von der einen oder der anderen Seite ein Plagiat stattgefunden. Um allen Mißdeutungen vorzubeugen, erkläre ich hiermit, daß mir das Sänger’sche Werkchen bei der Bearbeitung dieses Aufsatzes unbekannt war und daß Herr Sänger diesen Aufsatz vor der Ausgabe der bezüglichen Nummern nicht gesehen hat.

Inzwischen sind auch zwei neue Verwendungsweisen des Wasserglases ermittelt worden, nämlich die zur Conservirung der Eier und die statt des Boraxes als Flußmittel beim Löthen des Kupfers.

Die erstere Verwendungsweise hat Marquard in Bonn bekannt gemacht; sie ist namentlich für die Hausfrauen bemerkenswerth und diesen zu empfehlen. Welche Köchin ist nicht in ihren Beschäftigungen durch ein faules Ei gestört worden und wer hat nicht bereits den Ekel beim Genuß eines faulen Eies empfunden? Das Wasserglas verspricht gegen diese Unannehmlichkeiten eine sichere Hülfe und somit ist Jedermann Herrn Dr. Marquard zu Dank verpflichtet. Um den Eiern die Eigenschaft zu ertheilen, sie unbeschadet ihres Inhaltes für lange Zeit zum Aufbewahren geeignet zu machen, ist eine einfache, leicht auszuführende Manipulation erforderlich; man bestreicht dieselben entweder mit einer dünnen Wasserglaslösung oder, zweckmäßiger, legt sie einige Zeit in eine solche und läßt sie dann an der Luft trocknen. Hierbei wird die Schalensubstanz, die wie die Kreide beinahe gänzlich aus kohlensaurem Kalk besteht, verkieselt und ihre Porosität beseitigt, so daß die atmosphärische Luft nicht zu dem Eierinhalte treten kann, womit die Bedingniß zur Fäulniß abgehalten wird.

Die zweite neue Verwendungsweise ist dieser Tage von mir ermittelt worden und eigentlich nur für Kupferarbeiter von Interesse, aber für diese wegen der bedeutenden Billigkeit des Wasserglases im Verhältniß zum Borax um so wichtiger. Es kann hier nur bemerkt werden, daß man sich beim Löthen des Kupfers mit Schlagloth des mit Wasser befeuchteten Wasserglaspulvers zu bedienen und sonst wie beim Borax zu verfahren hat und daß sich besonders hierzu das leicht schmelzbare Doebereiner’sche Krystallglas eignet.




Werther-Erinnerungen aus Wetzlar.
(Mit Abbildung.)

Dreiundachtzig Jahre sind vergangen, seit in Leipzig bei dem Buchhändler Weygand in einem dünnen Bändchen eine Erzählung erschien, kaum umfangreicher als die „Auf der Eisenbahn,“ welche kürzlich die Gartenlaube mittheilte. Die Leiden des jungen Werther’s stand auf dem Titelblatte, sonst nichts, auch nicht der Name des Verfassers. Doch war man über diesen gar nicht lange in Zweifel, denn alsbald nannte man einstimmig den Verfasser des „Götz von Berlichingen,“ den „Dr. Goethe, einen jungen Advocaten in Frankfurt.“

Das kleine Buch, ein Hoheslied auf die Liebe, war eine poetische große That. Wie geblendet stand das deutsche Volk anfangs vor der ganz ungewöhnlichen glänzenden Erscheinung, dann drängte es sich herzu, las und las und begeisterte sich und weinte Ströme von Thränen. In vielen Tausenden von Exemplaren verbreitete sich das Buch über alle Theile des Vaterlandes; in Berlin, in Carlsruhe, in Reutlingen, in Freistatt und an andern Orten erschienen Nachdrucke davon; mehr als zwanzig Nachahmungen, eine schlechter als die andere, drängten sich dem erregten Publicum auf; man malte die Geschichte und Bänkelsänger sangen sie auf Messen und Jahrmärkten nach einem noch heute bekannten Liede unter allgemeiner Rührung ab; die Kleidung Werther’s wurde auf mehrere Jahre durch ganz Deutschland Modetracht:

Gelb war des Todten Weste
Und blau sein Rock von Tuch,

wie es in dem ebenerwähnten Bänkelsängerliede heißt; in allen Häusern sang man:

„Ausgelitten hast Du, ausgerungen etc.“

und heute noch singt man hier und da dies Lied, wenn auch die Allerwenigsten wissen, daß „Werther“ damit gemeint ist. In alle Sprachen Europa’s, selbst zu wiederholten Malen, wurden „Werther’s Leiden“ übersetzt; die einfache traurige Geschichte, die darin erzählt ist, drang bis nach China und dort malte man Werthern und Lotten auf Tassen und Vasen von Porzellan; ja Napoleon selbst, der personificirte Verstand, führte das Büchlein auf allen seinen Feldzügen mit sich umher und er hatte es so oft und so aufmerksam, „wie ein Criminalrichter,“ gelesen, daß er noch 1809 den Verfasser auf eine schwache Seite desselben aufmerksam machen konnte. Und besitzt nicht heute noch der den Jahren nach alte Roman jugendfrisch alle Reize der Poesie, die Jeden, der ihr naht, erquickend und verklärend überstrahlt?

Ja – große Dichter sind Schöpfer. Sie vervollständigen gleichsam die Welt und rufen Wesen in das Dasein, die, wenn ich mich so ausdrücken darf, der liebe Gott ihnen zu schaffen überlassen hat und die vor den gewöhnlichen Menschen sogar den Vorzug voraushaben, daß sie nie sterben. Man denke, um nur einige solche von Dichtern Erschaffene zu erwähnen, an Shakespeare’s Fallstaff, Hamlet, Richard III. u. s. w., an Molière’s Tartüffe,

[281] an den Don Quixote des Cervantes. Zu ihnen gehört auch Goethe’s Werther. Darum scheut sich das Volk noch heute wie vom Anfange an, diesen blos für eine Romanfigur zu halten, es fühlt ahnend, daß es in ihm weit mehr vor sich hat. Es steht ja immer mit Staunen vor der Schöpfermacht und den Geschöpfen des Genies, weil es dieselben so wenig begreift als die Weltschöpfung selbst.

Kein Wunder also, daß man auch nach Spuren Werther’s suchte und sucht, wie nach denen eines seltenen Menschen, der wirklich einmal unter den Lebendigen gewesen. Bei uns ist das altehrwürdige Wetzlar wohlbekannt als ehemaliger Sitz des Kammergerichtes im heiligen römischen Reiche, aber weit über die Grenzen Deutschlands hinaus ist es berühmt als Schauplatz der Liebe und der Leiden Werther’s. Jahr aus Jahr ein erscheinen in seinen steilen Gassen deutsche und fremde Verehrer des Goethe-Werther, die das deutsche Haus aufsuchen, in dem die liebliche Lotte waltete, wie das Haus, in dem Jerusalem-Werther sich erschoß. Dieses letztere zeigt, wie es noch jetzt, wohlbehalten und vielbetrachtet aussieht, unser Bild.

Das Wertherhaus in Wetzlar.

Dann wandern sie in der Gegend umher, die im Werther so anschaulich geschildert ist: zu dem Wildbacher Brunnen, der in einer gemauerten Grotte entspringt, von einer majestätischen Linde überwölbt, und bekanntlich im Anfange des Romans beschrieben ist, wie nach dem Dörfchen Garbenheim, das unter dem Namen Walheim eine Rolle spielt, und in dem die alte Linde noch steht, die wie die Brunnenlinde den Reisenden Blätter und Zweige als Andenken spenden muß. Ein Hauptziel der Wanderungen aber ist das Werthergrab. Nun weiß man zwar, daß der junge Jerusalem, dessen Leben und Tod bekanntlich das Vorbild zu der zweiten Hälfte Werther’s war, an einer abgelegenen Stelle des Kirchhofs zu Wetzlar bestattet wurde, wo sich keine Spur mehr von dem Grabe findet; aber dieses wirkliche Grab sucht man auch gar nicht. Man wollte durchaus ein Werthergrab haben, und so gibt’s denn eines in dem Garten des Wirthshauses zu Garbenheim, einen grünen Erdhügel unter schönen Linden. Ein Mann nämlich, dem früher die Besitzung gehörte, ließ in dem Garten einen Hügel aufwerfen und darauf eine Urne setzen zum Andenken Werther’s. Im Jahre 1813 wurde diese ursprüngliche Urne von einem russischen General als höchst merkwürdige Werther-Reliquie entführt. Vor einigen Jahren erschien in Garbenheim ein anderer Russe, der das angebliche Werthergrab und dessen Umgebung maß und genau abzeichnete, um in seiner Heimath eine ähnliche, dem Andenken Werther’s gewidmete Anlage einrichten zu lassen. Studenten halten Commers an dem Grabe; schwärmerische Engländerinnen weinen noch heute dabei über die Liebe und das traurige Geschick Werther’s u. s. w.; wir aber sehen in Allem nur Zeugnisse von der unzerstörbaren Zaubermacht der Schöpfung eines wahrhaft großen Dichtergeistes.




Ein Besuch in Canton.

Zeitungsleser haben das Wort Canton neuerdings öfter sehen müssen, als ihnen auf die Letzt lieb war. Doch hört’s lange noch nicht auf. Die englische Flotte ist aus verschiedenen Gegenden der Erde nach Canton unterwegs, um den angefangenen Krieg fortzusetzen und sich auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege einen besseren Frenndschafts- und Handelsvertrag zu erwerben. „Höhere“ Politiker sagen: das machen sie ganz Recht! China muß der Cultur aufgeschlossen und aufgeschossen werden. Was kümmert’s uns, ob die englischen Behörden in China und zu Hause gelogen haben, um eine Kriegsursache anzugeben und gegen alle Wahrheit, gegen alle Thatsachen zu behaupten? Civilisation! Civilisation! Keine östliche Barbarei! – Wir wollen hier nicht untersuchen, ob man um der „Civilisation“ willen Nothlügen machen müsse. Es ist genug, wenn wir und andere ehrliche Leute behaupten und aus persönlicher wie historischer Erfahrung wissen, daß man sich niemals mit Lügen wirkliche Vortheile erwirbt. Was die Engländer mit ihrer auswärtigen Politik betrifft, so ist allerdings Lüge und Gewalt (gegen Schwache) Geschäftsordnung, aber die „Nation“ büßt dafür und wird immer ärmer, je mehr sich die Einzelnen bereichern. Sie haben keinen reellen, dauernden Vortheil davon. Mit der besten Politik, nämlich der Ehrlichkeit, haben sie’s noch gar nicht versucht.

Ein Besuch in dem noch unzerstörten Canton, den wir mit dem Leser machen wollen, wird schon allein zeigen, daß die Engländer trotz der Beschränkungen, denen sie sich nach ihrem eigenen Vertrage von 1843 unterworfen hatten, Berührungspunkte genug hatten, um Handel zu treiben und sich durch dessen unwiderstehliche Macht civilisirenden und cultivirenden Einfluß zu verschaffen. Aber dieser ehrliche, solide Weg ist ihnen nicht rasch genug. Sie wollen schnell, also durch Betrug und mit Gewalt auf Kosten ihrer Kunden reich werden.

Canton, die blühendste Seehandelsstadt und Residenz eines ziemlich selbstständigen Vicekönigs, breitet sich, wie London an der Themse, erst mehrere Meilen von der Mündung des Flusses, dem Tschukiang, in einer Ebene an den Flußufern aus. Vom Meere aus fährt man durch die Anson-Bay zwischen felsigen Vorgebirgen in den weiten Fluß hinein, auf welchem die riesige Stadt sich bald durch Vorboten ankündigt. An den Ufern winken Dörfer und Städte, auf dem Flusse werden die sonderbaren chinesischen Schiffe und Boote immer dichter. Diese beinahe rechtwinkeligen Kasten mit drei Balken statt der Masten in der Mitte, mit Etagen, die just wie Kartenhäuser in größerem Maßstabe aussehen, angemalten, grünen Drachen mit blutrothem Rachen, blutrothen Flaggen und Segeln und ein paar großen, vorn angemalten Augen, machen einen unwillkürlich lächerlichen Eindruck, wie Schifffahrt in der ersten Kindheit. Und doch fahren die Chinesen länger zur See, als irgend eine alte oder spätere Nation! Sie sind aber so wenig Kinder in dieser Kunst, daß die chinesischen Schiffsbauer sehr oft bessere amerikanische und englische Clippers und Schooners und Barken bauen, als die berühmtesten nautischen Architekten in New-York oder London – aber blos für Ausländer auf Bestellung. Die viereckigen Kasten für die Chinesen sind eine alte Gerechtigkeit, wovon [282] sie nicht abgehen. Es liegt in ihrem fabelhaft conservativen Blute. Die Boote der Mandarinen, die mit englischen und amerikanischen Flaggen immerwährend auf dem Flusse umherschießen, zischen mit ihren je vierzig Rudern durch das Wasser hin, daß sie oft mit dem besten Dampfschiffe fortkommen. Diese sind selbst in den Augen der clipperstolzen Amerikaner ein Wunder. Es ist also nicht Ungeschick, sondern Tradition, Sitte, Gewohnheit, welche diese lächerlichen Kasten für Handel und Wandel heiligt und so unentbehrlich macht.

Weiter den Fluß hinauf treten ungeheuere Festungswerke auf Höhen und Felsen (zur Deckung verschiedener Canäle und Nebenflüsse) sehr bedeutend in den Vordergrund der seltsamen landschaftlichen Scenerie. Grüne Hügel mit lachenden Baumgruppen und jeden Zoll breit hoch cultivirte Thäler, die sich unten hindurchwinden, ungeheuere Reisfelder, unmittelbar auf dem angeschwemmten Boden der Ufer, umgeben von Alleen der stolzesten aller Palmen, der Bananen, auf das Wasser hineingebaute Vorsprünge zum Wohnen und für verschiedene industrielle Zwecke, ganze Reihen und Doppelreihen kleiner Kähne an die Ufer angesäumt und ein immer dichteres Gewimmel von Schiffen, Booten, Kähnen, Leichtern, Junken, Lorcha’s und wie sie sonst heißen, in allen möglichen Größen, Gestalten, Takelagen, Wimpeln, Segeln und Flaggen und drüben ein unabsehbares Labyrinth von Bauten und Menschen dazwischen – das zusammen ist Canton noch lange nicht, sondern erst Wampoa, die Rhede Cantons, wo viele Hunderte jährlich ankommender und mit Profit absegelnder ausländischer Schiffe den Engländern, Amerikanern, Holländern, Portugiesen u. s. w. beweisen, daß die Chinesen gern handeln und ihre kostbaren überflüssigen Güter, uns Labung und schöner Luxus (Thee und Seide!), mit Freuden gegen abendländischen Ueberfluß austauschen. Hätten sich dabei die Herren Ausländer mit ehrlichem kaufmännischem Profite begnügt, statt zu schmuggeln und zu betrügen, und endlich wieder zu bombardiren, so hätte sich China ganz auf natur- und culturgesetzlichem Wege von selbst vollends aufgemacht. –

Wir können uns in dem buntesten Gewimmel aller möglichen Nationen mit den Chinesen Wampoa’s nicht aufhalten, sondern fahren direct mit dem Dampfschiff-Omnibus nach Canton hinauf zwischen Ufern, die von Natur- und Civilisations-Ueppigkeit strotzen. Unmittelbar vom Flusse klettern dichte, schwere, wie Seide säuselnde Reisfelder an den Hügeln hinauf. Dazwischen gucken freundliche, weiße und zierliche Dörfer aus Bambushecken hervor. Prächtige Pagoden und Tempel wetteifern vergebens in Höhe mit den Kronen gigantischer Bananenbäume. Vor uns in der Ferne klärt sich der verschwommene Horizont immer deutlicher zu ganzen Trauben von vieldächerigen Thürmen und Galerien und Labyrinthen unabsehbarer Häuser auf. Das ist Canton. Die rothmastigen Mandarinenboote, die auf dem Wasser schwimmenden Vorstädte mit ganzen Geschwadern von Junken und flatternden Bannern, ein immer dichteres Ameisengewimmel von Fahrzeugen aller Art, die zuweilen den Fluß so dicht bedecken, daß man kaum Wasser dazwischen hindurchleuchten sieht, das dumpfe Surren und Sumsen, das die Luft wie ein elementarer Bestandtheil derselben füllt und tränkt – das sind die Beweise, daß wir eben in einer Stadt mit mehr als einer Million geschäftiger Einwohner landen. Freilich, die eigentliche innere Tatarenstadt bleibt uns hinter ihren hohen Mauern noch ein Geheimniß (unser Besuch fällt ja vor dem Bombardement). Wir legen in dem Venedig des himmlischen Reiches an, dem gemeinschaftlichen Tummelplatze aller Nationen mit den Chinesen, dem kosmopolitischen Theile des verschlossenen chinesischen Himmelreichs.

Den Hintergrund dieser kosmopolitischen Vorstadt am Wasser bilden palastartige Gebäude, die „Factoreien“ und Consulresidenzen Amerika’s, Englands, Dänemarks u. s. w. mit den flatternden National-Bannern. Um den Landungsplatz herum schwimmt die Stadt. Dahinter ganze Reihen und Fernsichten von chinesischen Palästen mit vergoldeten Façaden und zierlichem Schnitzwerk, lange Straßen von Häusern, Hütten und Villen mit hölzernen Wänden und Bambusdächern, mit Kneipen, Spiel- und Wetthäusern und Vergnügungsorten in großen Gärten, des Nachts erleuchtet von vielfarbigen Papierlaternen und großen seidenen Kugeln, dazwischen ein stets reges Gewimmel der ameisengeschäftigen, dichten Bevölkerung, amphibienartig zu Wasser und zu Lande mit Gesellschafts- und Einzelnkähnen und seltsamen getragenen Droschken, die sich erbarmungslos durch die sich quetschende Menge hindurchstoßen – welch’ eine malerische Scenerie, schillernd und blendend in allen Farben, Schwindel und Verwirrung erregend mit unabsehbarer Bewegung, phantastischer in der Wirklichkeit, als die luxuriöseste Prachtscene in einem Ballet oder in Tausend und eine Nacht! –

Das Dampfschiff legte mitten in einem Gewimmel von Tanka’s (kleinen Kähnen) vor einem großen, von Bäumen beschatteten Platze an, in dessen Mitte das amerikanische Sternenbanner wehte. Der eigentliche kosmopolitische Grund und Boden, auf welchem die Europäer sich tummeln, umfaßt etwa 500 Morgen. Die innere Tatarenstadt hinter den Mauern und alles Land über den eingeräumten Platz war verboten. Diese kosmopolitische Stadt zerfällt durch schneidende Straßen in dreizehn rechtwinkelige Gruppen. Zwei derselben, Alt- und Neu-Chinastraße, bestehen fast durchweg aus chinesischen Läden und Bazars, in denen die fabelhaftesten Massen von Schätzen chinesischer Industrie und Kunst zum Verkaufe aufgehäuft liegen, seidene Waaren von Kiangnan mit den üppigsten, feinsten Stickereien, Ebenholzkästchen mit Gold und Elfenbein ausgelegt zu Bildern, die man durch’s Vergrößerungsglas betrachten muß, um deren Zierlichkeit und Schönheit zu erkennen, Bilder mit Wasserfarben so zart und brillant, wie die Flügel der schönsten Schmetterlinge oder die Farbenhauche in Blumenkelchen, größtentheils Götter und deren Donnerkeile oder Krieger mit Pfeil und Bogen oder Verbrecher sich windend in der Buddhistischen Hölle oder liebliche Mädchengestallen, wie Schmetterlinge oder Paradiesvögel ohne Grund und Boden in himmlischer Luft schwebend, oder gravitätische Mandarinen auf dem Richterstuhle, umgeben von Polizei und Dolchen und Schwertern und Verbrechern, darstellend.

In den chinesischen Läden stechen ferner brillant hervor: lackirte Theebüchsen mit Malerei, Fächer, Theebretter, Porzellan von der feinsten, delicatesten Form und Masse, Bronzen, die wunderbarsten Elfenbeinschnitzwerke, deren Entstehung sich der geschickteste Mechaniker nicht erklären kann, und tausenderlei andere Erzeugnisse einer erstaunlichen Industrie, Ausdauer, Geschicklichkeit und Kunst. Mit der sanftesten Rede, ohne eine Spur von „r“, und einem wohlklingend verdorbenen englisch-portugiesischen Gemisch von Worten und dem unwiderstehlichsten Lächeln, das selbst im ältesten Gesichte noch etwas Naiv-Kindliches hat, überredet Dich der chinesische Kaufmann, zehn Dinge zu kaufen, von denen Du nicht eins brauchen kannst, und Preise dafür zu bezahlen, die Dich ein Vierteljahr hinterher in Verlegenheit halten.

Die Alt- und Neu-Chinastraße sind breit und gerade und durchaus mit Granitplatten gepflastert, gerade und kahl in ihrer größtentheils europäischen Scenerie im Vergleich zu dem malerischen Gedränge und Getöse der engen Windungen chinesischer Gassen, besonders der „Physic-street,“ welche aus den europäischen Theilen vom Osten nach Westen und zurück unaufhörliche Ströme von Waaren, Menschen und Sänften hin- und herschiebt und mit der innern Stadt vermittelt. Hier ist chinesisches Leben und Genießen: Haufen weicher, rother Mandarin-Apfelsinen, Wassermelonen von Amoy, Pfirsiche von Schantong, rother Brustbeeren von Petsche-li, lebendige Fische aus dem Tschukiang, wilde Hunde in Körben für die Lucullus-Tafeln der Reichen, geräucherte und plattgedrückte Enten, ganze Reihen und Schnüre getrockneter Ratten und Mäuse mit Kränzen von Katzenkeulen neben Rind- und Hammel- und grausam fettem Schweinefleisch. Welch’ ein Stoßen, Drängen und Schreien, aber niemals Zank und Gebalge! Ruhe, Geduld und Nachsicht, der größte Heroismus in passiver Ausdauer sind die hervortretendsten Vorzüge der Chinesen. Wie müssen die Engländer gewirthschaftet haben, um diese lächelnden, geduldigen Massen so in Wuth zu bringen! Aber auch jetzt tödten sie sich wieder häufig selbst und ihre Familien, um nichts mit Engländern zu thun zu haben, wie sie es im Opiumkriege tausendweise gethan. Von den Folgen des jetzigen Bombardements wissen wir nur erst einige Züge, z. B. daß in einem Dorfe bei Canton, wo die Engländer die brutalste Nothzucht getrieben, sich fast das ganze weibliche Geschlecht theils vorher, theils, von den Bestien erst verhindert, nachher selbst entleibte. –

Weibliche und höhere Personen sieht man nie in Physic-Street; sie lassen sich in Palanquinen, welche dort Droschken und Omnibus vertreten, von „Coolie’s“ tragen mit Vorläufern, die mit unbarmherzigen Knitteln hohen obrigkeitlichen Personen Platz machen. Ueberhaupt scheint Jeder, der Lasten trägt, eine Respectsperson. Schwerfällige Träger von Fruchtkörben treten und stoßen ungestraft Alles bei Seite, ohne daß sich Jemand muckt.

Hinter der ummauerten Mandschu-Stadt (die 1650, zuletzt unter allen chinesischen Städten, der Mandschu-Dynastie erlag und [283] auch seitdem eine besondere Unabhängigkeit unter Vicekönigen bewahrte) wohnen die hohen Behörden und die reichen Kaufleute, die Abends ihre Geschäfte verlassen, wie dies in London Mode ist, um in ihren Palästen zu schlafen, nur daß London in die Umgegenden eilt, Canton in’s Innere.

Einige haben mit Lebensgefahr das Innere besucht, aber größtentheils sehr enge Straßen und nur einige prächtige Plätze mit Palästen gefunden. Das Leben fällt in die Vorstädte, deren eine mit 300,000 Bewohnern ganz auf dem Wasser liegt. Die Gärten, die Kneipen, die Spielhäuser liegen alle in den Vorstädten. Spielen und Wetten ist eine Hauptleidenschaft, besonders mit Wachteln. Wachteln vertreten dort die englischen Rennpferde. Mitten auf der Straße, besonders an den Bollwerken, fordern sich ein Paar Wachtelbesitzer heraus, nehmen die Herausforderung an, lagern sich im Kreise von Zuschauern, die sofort auf eine oder die andere Wachtel wetten, und holen ihre mit künstlichen Stahlkrallen bewaffneten, abgerichteten Kämpfer heraus. Nachdem alle Wetten arrangirt sind, läßt man sie los und verfolgt deren grimmiges Duell mit der todtenstillsten Spannung, bis die eine flieht oder todt liegen bleibt. Dann jubelt’s und schreit’s und die Wetten werden sofort durch klingende Münze oder sonstige Tausche ausgeglichen. Manchmal bietet ein Enthusiast verwegene Preise auf die Siegerin, die aber selten für irgend einen Preis zu haben ist, wenigstens nicht unmittelbar nach dem Siege. Das Abrichten und Verkaufen von, und das Wetten auf Wachteln ist eine Hauptpassion aller Classen. Unter den Mandarinen liebt man auch Hahnenkämpfe. Auch Kartenspiele, Schach, Domino, Würfel u. s. w. müssen die allgemeine Spiellust befriedigen. Das Wachtelwettspiel, Tsoi-moi, wird am leidenschaftlichsten unter Fischern und Schiffern getrieben. Man findet sie allenthalben barfuß und halb nackt mit kurzen Pfeifen im Munde am Flusse, im Schmutze, in der Sonne um solche kämpfende Wachteln gelagert.

Aber was rasselt und ächzt hier durch die Menge? Ein „Tscha-“ oder „Cangue-Wanderer“ mit einem Holzpfosten von 60 bis 200 Pfund um den Hals und an einer Kette einher geschleppt. Auch sind in der Regel die Hände oben mit eingeklemmt. An diesem furchtbaren Halsbande, das der Verbrecher oft Wochen und Monate lang alle Tage auf der Straße herumtragen muß, wenn er nicht in brennender Sonne zusammensinkt und von dem Führer an der Kette aufgepeitscht wird, ist das richterliche Erkenntniß und eine Erzählung seines Verbrechens angeklebt. Ueberhaupt sind die Strafen in China durchweg scheußlich und grausam. Wenn wir jemals von einer sittlichen Entrüstung der „westlichen Civilisation“ gegen diese Barbareien gehört und die Ueberzeugung gewonnen hätten, daß man die Barbarei wirklich niederbombardiren wolle, um den Chinesen Humanität und Erlösung zu bieten, könnten wir uns mit Englands Politik versöhnen. Sie beruht aber auf Opium, Lüge und Heuchelei. Und damit kann sich kein anständiger Mensch einverstanden erklären. –




Eine gefallene Größe.
Von Ludwig Storch.[2]

Aeltere Leute, die in den Jahren 1826–28 sich als schon Erwachsene in Leipzig aufhielten, werden sich eines Mannes erinnern, wenn sie ihn anders ihrer Aufmerksamkeit für würdig hielten, welcher im erstgenannten Jahre seine Wohnung in dem alten und durch Eleganz und Comfort eben nicht ausgezeichneten Gasthof „zur Säge“ in der Dresdener Straße nahm und über zwei Jahre dort verweilte. Er nannte sich Oberst Gustavson, zeigte in seinem Aeußern aber nichts weniger als Habitus und Ajustement eines Obersten, vielmehr deuteten seine unansehnliche Kleidung, seine zwar nicht kleine aber doch verkümmerte Gestalt und sein scheues unbeholfenes Wesen auf einen beschränkten Kleinbürger aus einer kleinen Stadt; ich würde ihn z. B. für einen Schuhmacher aus Grimma gehalten haben, nach Leipzig gekommen, um sich für wenige Thaler Leder einzukaufen. In der That sah man an diesem „Obersten“ keine weiße Wäsche. Ein abgetragener runder schwarzer Filzhut, ein dunkelbrauner, auch nicht mehr neuer Rock bis unter das Kinn zugeknöpft, ein einfaches schwarzseidenes Halstuch, dunkelgraue lange Beinkleider und Stiefeln machten die Bekleidung desselben aus. Ein schlichter Stock war in seinen von Handschuhen nie bedeckten Händen. So ging er langsamen Schrittes, in gedrückter Haltung, scheu und in sich versunken, gewöhnlich in den spätern Vormittagsstunden in den Anlagen um die Stadt, stets allein, mit Niemand verkehrend. Seine Wohnung in der „Säge“, die ein Gasthof untergeordneten Ranges war, diente auch nicht dazu, die Begriffe von der Vornehmheit dieses Herrn zu steigern. Um so mehr werden die Leser überrascht sein, wenn ich ihnen sage, daß dieser einfache und bescheidene Fremde der ehemalige König von Schweden Gustav IV. Adolf war. Mein Erstaunen war nicht minder groß, als ich ihn in dem beschriebenen Anzuge zum ersten Male sah, und es hat sich nicht verringert, als ich ihn später noch mehrmals gesehen und auch gesprochen habe.

Oberst Gustavson, wie er sich seit ungefähr zehn Jahren nannte, stand damals im achtundvierzigsten Lebensjahre, aber er sah um mehrere Jahre älter aus. Schon seit siebzehn Jahren vom schwedischen Königsthrone entfernt und von seiner Gemahlin und Kindern getrennt, lebte er bald hier bald dort, am längsten in der Schweiz, ohne Plan und Zweck, ohne nützliche Beschäftigung, ein freudloses armseliges Leben. Zwei Jahre vorher hatten die schwedischen Reichsstände der vertriebenen Königsfamilie statt der früheren Rente von fast siebzigtausend Thalern ein Capital von siebenmalhundert tausend Thaler ausgezahlt, aber Herr Gustavson nahm davon für seine Person nicht das Geringste an, wie er auch früher nichts von der Rente bezogen hatte. Er bestritt seine Existenz von den Zinsen eines sehr kleinen Capitals, welches er als sein alleiniges Eigenthum betrachtete. Seine fast ängstlich einfache Lebensweise erforderte allerdings keinen Aufwand, nichtsdestoweniger erging es ihm knapp, wie ich mich einige Jahre später überzeugte. Die eiserne Unbeugsamkeit seines Charakters hatte mehr als einen schönen und ehrenwerthen Zug in seiner kurzen Königsgeschichte geliefert, aber sie hatte, zur trotzigen Hartnäckigkeit und Starrsinnigkeit ausgeartet, ihn auch um Thron, Familienglück und Lebensbequemlichkeit gebracht. Man sah ihm diesen steinernen Trotz an; überhaupt verriethen seine Züge dem aufmerksamen Beobachter einen ungewöhnlichen Menschen. Er glich wirklich einem Steinbild an Farbe und Unbeweglichkeit und die großen verschwommenen Augen mit dem unbestimmten Blick hatten einen seltsam träumerischen, schier unheimlichen Ausdruck. Es war das Auge und der Blick eines religiösen Schwärmers und in die Beschattung seiner innern Welt versunkenen Mystikers. In der That waren Aberglaube und Mysticismus auf ungewöhnliche Weise in ihm mit Starrköpfigkeit und Rauhheit vereinigt. Daß er keiner milden schönen Gefühle fähig war, sondern nur die Treibhaushitze mystischer Schwärmerei seinen Geist bewegte, konnte man schon aus seinem von düster finsterer Braue überschatteten Auge und aus seinem knappen wunderlich gekräuselten Munde herauslesen. Und in der That darf man der Wahrheit gemäß behaupten, daß fast eben so sehr sein geistiges Versenken in die Offenbarung Johannis und in Swedenborgs und Jung-Stillings mystische Schriften den Verlust seines Thrones verschuldet hat, als sein auch nicht zur kleinsten Nachgiebigkeit zu bewegender Starrsinn. Obgleich dieser unglückliche Mann von seinem romantisch ritterlichen Vater nach Jean Jacques Rousseau’s „Emil“ erzogen worden war, so fehlte ihm doch die Klarheit des Verstandes, die ruhige nüchterne Beurtheilungskraft, die wahre moderne Geistesbildung. Wie auch können sich ritterliche Romantik und die Erziehungs- und Lebensgrundsätze des einfachen „Bürgers von Genf“ mit einander vertragen? Die gewaltsame Zusammenmischung eines veralteten im Absterben begriffenen Zeitgeistes mit den Regungen des jungen Genius, der sich zum Weltherrscher zu bilden im Begriff ist, muß durchaus schwache Köpfe verwirren, und Individuen wie Völker sind daran schmählich untergegangen. Gewöhnlich schlägt in kleinen Geistern dieses widernatürliche Mixtum compositum in Mystik, Geisterseherei, Quietismus, Herrnhuterei und Quäkerei aus. Wer keinen Halt in sich findet, greift wankend nach solchen Dingen, um sich daran festzuhalten. Dann hat er aber den allein sichern und festen Haltpunkt in sich aufgegeben und für immer verloren. Welch’ unsägliches Unheil hat nicht dieser Swedenborg

  1. Geschieht hiermit.
    D. Redact.
  2. „Medaillon“ aus dessen Denkwürdigkeiten.  Die Redaction.

[284] durch die von ihm verursachte Verwirrung menschlicher Köpfe angerichtet! Viel mit seiner neuen mystischen Auffassung des Christenthums, das in seiner Darstellung gleichsam zu einer ganz andern Religion wurde, mehr noch mit seiner angeblichen Geisterseherei oder vielmehr vertrautem Umgange mit den Geistern verstorbener Menschen. So oft ich diese seltsamen und befremdlichen Geschichten gelesen, hat sich mir der Gedanke aufgedrängt: der Mann war allerdings kein Betrüger, sondern ein allein nach dieser Richtung hin mit fixen Ideen Behafteter, ein still Wahnsinniger, etwa wie Justinns Kerner’s berühmte Seherin von Prevorst. Und wie viel mögen im frommen Eifer, im Bestreben ihren Meister glänzen zu lassen, seine Jünger und Verehrer ausgeschmückt, nachgeholfen, poetisch ergänzt haben, bis die Wundergeschichte so fertig war, wie sie uns vorliegt! Man lese doch nur Jung-Stilling’s Schriften, besonders seine Theorie der Geisterkunde, und wenn man nicht selbst befangen ist und die Augen absichtlich verschließt, so wird man zur Ueberzeugung kommen müssen, daß dieser sonst so berühmte Mann trotz allem, was Goethe über ihn sagt, ein beschränkter und kindisch leichtgläubiger Kopf war.

Ich weiß nicht, welcher Narr herausgebracht hatte, daß im Namen Napoleon Bonaparte die Zahl 666 stecke; wie sie darin steckt, weiß ich freilich auch nicht. Da dies nun die Zahl des apokalyptischen Thieres ist, so galt der unternehmende und vom Glück begünstigte Corse dem jungen geistesschwachen Könige von Schweden für das siebenköpfige Thier der Offenbarung des Apostels Johannes. Sich selbst aber hielt er für den Helden, der das Thier zu stürzen berufen sei. Von nun an gab er sich dem Studium mystischer und theosophischer Schriften hin, die natürlich seinen ohnedies nicht hellen Geist nur noch mehr umnebelten und verdüsterten. Alle seine unsinnigen Handlungen lassen sich aus seinen chiliastischen Träumereien und der gewonnenen Ueberzeugung erklären, daß er ausersehen sei, im neuen Gottesreiche eine der wichtigsten Rollen zu spielen. Der natürliche Ausgang ist bekannt. Es ist hier auch nicht der Ort, die Geschichte des Königs zu schreiben.

Seine Niederlassung in Leipzig erregte nur kurze Zeit einiges Aufsehen. Man wußte nicht, was er in der aufgeklärten Stadt wollte; Aufklärung gewiß nicht, darüber war man einig. Er wußte es wahrscheinlich selbst nicht. Da er keine Besuche machte und Niemand bei sich sah, so war das flüchtige Interesse an ihm bald erloschen. Nicht so in mir; ich ging ihm oft nach und suchte ihm zu begegnen, um ihn mir recht genau zu betrachten. Ein vom Throne gestoßener König war mir eine sehr merkwürdige Person, und meine Theilnahme an ihm wurde durch seine freiwillige Armuth und einsiedlerische Lebensweise noch bedeutend gesteigert. Mich mit ihm zu unterhalten, oder ihn wenigstens sprechen zu hören, war mein warmer Wunsch. Dazu fand ich denn auch bald eine Gelegenheit.

Einer meiner Umgangsfreunde, welcher zwar Jura studirt, aber doch eine verfehlte Carriére gemacht hatte, geborener Leipziger, talentvoll, aber lasciv und gewissenlos, hatte gehört, der Exkönig von Schweden suche einen Privatsecretair, welcher des Französischen kundig sei. Er machte sich so gut, wie ich, von der ehemaligen Majestät und ihren Mitteln eine falsche Vorstellung. Er entdeckte mir, daß er sich zu der Stelle melden wolle, und er gefiel sich in dem Gedanken, mit dem expatriirten Manne herumzuabenteurern. Von der theosophisch-mystischen Verbissenheit des Obersten wußten wir Beide nichts. Wir faßten also einen Brief an den Exkönig ab, worin sich mein Freund um die Secretairstelle bewarb, und beförderten ihn in die Säge. Nach ungefähr acht Tagen, als wir schon die Hoffnung auf Antwort aufgegeben hatten, erhielt der Bittsteller eine mündliche Einladung, sich den nächsten Vormittag in der Säge einzustellen. Wir gingen Beide. Der fast dürftig gekleidete, in Jahren schon ziemlich vorgeschrittene Kammerdiener machte gar keine Umstände, mich auch zu melden. (Ich gab vor, wenn der eigentliche Bewerber dem Herrn Obersten etwa nicht zusagen sollte, so wollte ich als zweiter Candidat auftreten.) Der Herr Oberst liebe die Studenten, war die Antwort, und er werde uns Beide gern bei sich sehen.

Wir waren doch ziemlich bestürzt, als wir eintraten. Zimmer, Meublement, Hauskleid des Bewohners, Alles war mehr als bescheiden, es war für einen ehemaligen König geradezu dürftig, und stimmte unsere Erwartungen auf Null herab. Unheimlich aber wurde mir, als der Oberst meinen Gefährten mit einer metalllosen, trocknen Stimme mit gemeiner Betonung und unbehülflicher Ausdrucksweise über seinen christlichen Glauben zu examiniren begann. Das hatten wir nicht erwartet. Ich musterte unterdessen die Titel auf den Rückenschildern einiger Bücher, die auf einem Tische aufgestellt waren, vor dem ich stand. Das waren denn die christlich weisen Schriften des Herrn Abt Bengel, der aus der Offenbarung Johannis herausgerechnet hatte, daß das Jahr 1836 der Anfang des tausendjährigen Reichs sei, wo alle frommen und gläubigen Christen in Sammet und Seide einherstolziren, Milch und Honig schlürfen, lobsingen und überhaupt alle Freuden des Lebens, auf den Kubus erhoben, ohne je satt davon zu werden, genießen würden; da waren ferner die Werke des Hofraths Jung-Stilling, der, erst ein talentvoller Schneider, nachher ein schwachköpfiger Professor, im Ernst glaubte, die geistige Welt sei gerade so, wie er sie sich construirt hatte. Die übrigen Bücher waren höchst wahrscheinlich ähnlichen Inhaltes. Wie viel Unsinn stand da wohl beisammen!

Der Herr Oberst erklärte uns endlich, daß er keinen Secretair brauche, und wir waren froh, wieder in frischer Luft auf der Straße zu sein.

Später saß ich mit dem Exkönig einige Mal bei Tafel. Zu dieser Ehre konnte Jeder gelangen, der für sechs gute Groschen in der Säge zu Mittag aß; denn Herr Gustavson verschmähete es nicht, an diesem ordinären Tische zu präsidiren. Er unterhielt sich mit Jedem, der ihn anredete, obgleich nicht eben gesprächig und mittheilsam, doch vermied er es keineswegs, von seinen Königsschicksalen zu sprechen. Auffallend war, daß er die Speiseordnung umkehrte und den Braten zuerst, die Suppe zuletzt aß. Wenn man einige Male mit ihm gesprochen hatte, verlor man alles Interesse an ihm. Er war doch unverkennbar schwach von Begriffen. –

Sieben oder acht Jahre später ging ich an einem Frühlingstage Vormittags zur Post in Gotha, meinem damaligen Wohnorte, um Briefe abzugeben. Zu meinem Erstaunen sah ich an der Thüre des Postgebäudes den Obersten Gustavson ganz allein stehen, und seine äußere Erscheinung noch armseliger als früher. Ich fragte den Postsecretair am Schalter, ob der Fremde an der Thüre auf der Post gewesen sei.

„So eben,“ war die Antwort. „Er hat sich Oberst Gustavson genannt, aber Gott weiß, was für ein Lump und Vagabund er ist; er wollte durchaus eine Extrapost mit einem Pferde nach Erfurt und nicht abstehen, als ich ihm erklärte, die Post gäbe keine Einspänner. Er verlangte so zudringlich und ungestüm die Erfüllung seines Begehrens, daß ich ihn nur mit Grobheit los werden konnte.“

Der junge Postbeamte machte seltsame Augen, als ich ihm versicherte, der Fremde sei der ehemalige König von Schweden.

Als ich heraus trat, stand er noch da, verdrießlich, wie der Ausdruck seiner Züge verrieth, und in Gedanken versunken. Er war sehr gealtert, obgleich damals erst fünf- oder sechsundfünfzig Jahre alt. Ich redete ihn an:

„Herr Oberst, ich habe soeben erfahren, daß Sie einen Einspänner nach Erfurt wünschen. Da nun die Post einen solchen nicht gibt, so erlauben Sie mir, daß ich Sie zu einem Lohnkutscher führe, der Ihrem Wunsche entsprechen wird.“

„Kennen Sie mich?“ fragte er mürrisch.

„Ich habe die Ehre gehabt, Sie in Leipzig, als Sie dort in der Säge wohnten, zu sehen und zu sprechen.“

„Gut, ich nehme Ihr Anerbieten an. Führen Sie mich zu einem Fiacre, der mich einspännig nach Erfurt fährt.“

Da ging er neben mir, immer noch in dem alten braunen Rocke, der nun erschrecklich abgetragen und fadenscheinig aussah, der in seiner Jugend so ritterliche König des Schwedenreichs. Er, der über Tausende der prächtigsten Rosse und Karossen geboten hatte, wollte in einem armseligen Einspänner weiter fahren. Das war ein starkes Memento an den irdischen Wechsel. Er mochte meine Gedanken errathen haben, denn er sagte mit einem trüben Lächeln:

„Es kann schon kommen, daß ein ehemaliger König so wenig Geld hat, daß er nicht mehr zweispännig fahren kann. Doch ist’s nicht so schlimm mit mir. Ich könnte schon die Post nehmen, aber ich will durchaus im Einspänner fahren, und kein grober Mensch soll mich davon abbringen.“

Aus diesen Worten erkannte ich den alten Starrkopf, der lieber die Krone eingebüßt, als in Kleinigkeiten nachgegeben hatte.

Der Einspänner wurde gemiethet und sein kleiner und unscheinbarer Koffer aus einem Gasthofe dritter Classe abgeholt. Er nahm kurz von mir Abschied und fuhr ab. Mich jammerte der Mann in tiefer Seele. Einem gefühlvollen Herzen ist jede gefallene Größe heilig.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: rechschaffenen