Die Gartenlaube (1857)/Heft 36

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[485]

No. 36. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Die Auferstehung.
Novelle von Max Ring.

Die reiche Commerzienräthin Bärmann hatte nur einen einzigen Sohn, den sie über Alles liebte. Theodor verdiente auch im vollsten Maße die Zärtlichkeit seiner Mutter; er war in jeder Beziehung ein trefflicher Mann, und sowohl körperlich wie geistig mit den schönsten Gaben und Anlagen ausgestattet. Um das Glück vollständig zu machen, hatte er vor einiger Zeit seine Mutter mit einem freudigen Geständniß überrascht. Die reifende Tochter des Regierungspräsidenten von Wilden, um deren Liebe er sich schon längst beworben hatte, willigte endlich ein, die Seinige zu werden.

Clementine war die gefeierte Schönheit der Residenz, eine ausgezeichnete Partie, um die der Assessor Bärmann von aller Welt beneidet wurde. Sie besaß eine Fülle glänzender Eigenschaften, welche durch ihr blendendes Licht so manche kleinern Schwächen und Fehler übersehen ließen, die ihrem Charakter anhafteten. Das scharfe Mutterauge der Commerzienräthin wurde dadurch nicht getäuscht, aber die würdige Frau kannte selbst aus eigener Erfahrung den günstigen Einfluß der Ehe auf derartige unbedeutendere Gebrechen, von denen Niemand gänzlich frei zu sprechen sein dürfte. Sie billigte daher von ganzem Herzen die Wahl ihres Sohnes und empfing die zukünftige Schwiegertochter aus seinen Händen mit der aufrichtigsten Liebe und Zärtlichkeit.

Für die Verlobten begann jetzt eine Zeit der rauschendsten Zerstreuungen, denen sich besonders Clementine mit verzeihlicher Lebenslust hingab. Sie liebte die Aufregung der Gesellschaft, den Tanz, das Vergnügen und sah sich gern bewundert und gefeiert. Theodor mißgönnte ihr nicht diese Lust, obgleich sein ernsterer Sinn sich mehr nach einem ruhigern Glücke, einem stilleren Genusse sehnte. Er freute sich sogar an den Triumphen seiner Braut, und seine uneigennützige Liebe fand in der Anerkennung, welche ihr von allen Seiten gezollt wurde, selbst die höchste Befriedigung. Ein Fest drängte das andere, da sowohl der Präsident wie die Commerzienräthin eine überaus zahlreiche Bekanntschaft und viele Verwandte besaßen, die sich beeilten, dem Brautpaare Bälle, Diners und Soupers zu geben. Außerdem bot die Residenz in diesem Winter die verführerischsten Genüsse; man lebte gerade im Carneval und auf der Höhe der diesmaligen überaus glänzenden Wintersaison. Die Krone sämmtlicher Vergnügungen, gleichsam die Quintessenz aller Lust, bildeten die prächtigen Opernbälle, welche selbst von dem Hofe und dem Fürsten regelmäßig besucht wurden. Clementine hatte den Wunsch geäußert, denselben beizuwohnen. Theodor selbst liebte nicht den Tanz, dennoch beeilte er sich, ihrem Wunsche zu entsprechen. Es war dies keine ganz kleine Aufgabe, denn der Andrang zu den Bällen war so groß, die Auswahl von Seiten der Intendanz so streng, daß es ganz besonderer Protection bedurfte, um sich den Zutritt zu verschaffen. Die Billete wurden im eigentlichen Werthsinne mit Gold aufgewogen; aber unbeachtet aller dieser Hindernisse war es dem Assessor gelungen, die genügende Anzahl zu erhalten, allerdings nicht ohne einen großen Aufwand von Beharrlichkeit und Geldkosten, die eines besseren Zweckes würdig waren.

Clementine dankte ihm mit dem bezauberndsten Lächeln und mit einem Kuß, welcher ihn seine ausgestandene Mühe vollkommen vergessen ließ, und wodurch er sich hinlänglich belohnt hielt. Die ganze Woche über befand sie sich in einem Zustande der freudigsten Aufregung und erwartungsvoller Ungeduld.

Endlich schlug die ersehnte Stunde; sie hatte die ausgesuchteste Toilette gemacht, und Theodor wurde von ihrer strahlenden Schönheit, die ihm nie zuvor in so reizendem Lichte erschienen war, unwillkürlich hingerissen. Er empfand mit einer Art von Wonneschauer jene bezaubernde Macht, welche das vollendete Weib über den liebenden Mann ausübt, selbst dann, wenn derselbe auf andere Gaben, als den bloßen sinnlichen Reiz vorzugsweise sieht. Mit einem nie gekannten Stolz hob er das schöne Mädchen in den Wagen, wo bereits seine Mutter saß. Die Berührung ihrer schlanken Taille, der sanfte Druck ihrer Hand, der Duft ihrer ganzen jugendlichen Erscheinung, versetzten ihn in eine Art von freudigem Rausch. Er fühlte sich überglücklich in dem gesicherten Besitze eines so herrlichen Wesens, das er voll Bescheidenheit nicht zu verdienen glaubte.

Unterdeß rollte die elegante Equipage der Commerzienräthin durch die breiten Straßen der Residenz dem hell erleuchteten Opernhause zu. Der Kutscher trieb die feurig dampfenden Pferde zur Eile an, aber immer noch nicht schnell genug für Clementinens steigende Ungeduld, welche sich in jeder ihrer Bewegungen verrieth. Zuweilen erhob sie sich leise von dem elastischen Sitz, und versuchte durch die von Frost angelaufenen Scheiben des Wagens zu blicken, dann sank sie wieder träumerisch in die weichen Seidenpolster zurück, und schloß ihre funkelnden Augen, als wollte sie das in ihrer leicht bewegten Phantasie entstandene Bild der ihrer harrenden Freuden durch diese körperliche Bewegung festhalten. Dazu lächelte sie überselig in sich hinein, bereits schwelgend im Vorgenusse des ihr bevorstehenden Triumphes. Die kleinen Füße tanzten im Gedanken auf dem Boden des Wagens verschiedene Walzer und Galloppaden, deren Melodieen durch das liebliche Köpfchen summten. Sie sprach auch dazwischen bald mit ihrem Verlobten, bald mit seiner Mutter, doch zerstreut und abgebrochen, weil die Aufgeregtheit ihres ganzen Wesens keine längere und zusammenhängende Unterredung zuließ. Theodor war auffallend still und in sich gekehrt, [486] da er sich schon am Morgen nicht wohl gefühlt hatte. Auf Clementinens wiederholte Fragen über sein Schweigen antwortete er ausweichend, um ihr Vergnügen nicht durch unzeitige Besorgnisse zu stören und seine Mutter nicht erst unnöthiger Weise zu beunruhigen. Seine Rücksicht in dieser Beziehung ging sogar so weit, daß er eine unnatürliche Heiterkeit heuchelte, und Clementinen das Versprechen gab, heute ausnahmsweise recht viel zu tanzen, worüber sie laut ihre unverstellte Freude zu erkennen gab.

Endlich hielt die Equipage vor dem geöffneten Portale des Opernhauses. Ehe der reich gallonirte Bediente herbeigeeilt war, hatte der Assessor die Thüre des Wagens geöffnet, und den Schlag herabgelassen. Auf seinen Arm gestützt, stieg die Commerzienräthin aus, gefolgt von Clementinen, die mit ihren flüchtigen Füßen kaum den Boden zu berühren schien. In der Garderobe wurden die schützenden Mäntel, Hüllen und Tücher abgelegt, und der reizendste Schmetterling schlüpfte aus seiner Verpuppung hervor. Natürliche Camelien schlangen sich durch ihr blondes, wellenförmiges Haar, das in üppiger Fülle wie ein goldener Kranz auf der weißen Stirn ruhte, und in wogenden Locken bis zu dem antik geformten Nacken herabflog. Rauschende Seide umgab die schlanke, anmuthige Gestalt, die ihre vollendeten Formen in jeder Bewegung voll Grazie verrieth. Auf dem Hals und um die fein gebildeten Arme, welche mit dem blendenden Schnee wetteifern konnten, glänzte ein kostbarer Brillantschmuck, ein Geschenk der Commerzienräthin für die Braut ihres Sohnes. Sie war in dieser Toilette bezaubernd schön, und selbst die kluge Mutter schien stolz auf eine solche Schwiegertochter und glücklich mit dem Glücke ihres Sohnes.

Um einige Kleinigkeiten zu ordnen, welche sich an ihrer Toilette während des Fahrens verschoben hatten, trat Clementine vor den Spiegel der Garderobe, wobei sie ihrem Verlobten den vergoldeten Fächer und das duftende Ballbouquet zum Halten gab. Ein selbstgefälliges Lächeln schwebte um ihre Lippen, als ihr aus dem Glase ihr Bild entgegenleuchtete, und ihr Auge blickte mit stolzer Siegesgewißheit. Vielleicht hatte Theodor diesen Blick mißfällig bemerkt; eine Wolke zeigte sich auf seiner männlichen Stirn und trübte seine ohnehin nur erkünstelte Heiterkeit. Eine Stimme in seinem Innern schien ihm plötzlich zuzurufen: Sie hat kein Herz! Er suchte diesen von Zeit zu Zeit in ihm auftauchenden Gedanken auch jetzt wieder zu bekämpfen, obgleich dies ihm nicht so leicht, wie sonst, gelingen wollte. Das körperliche Mißbehagen, welches er seit heute früh empfand, hatte sich wahrscheinlich seinem Geiste mitgetheilt, und eine gewisse Reizbarkeit hervorgerufen. Er liebte seine Braut in so hohem Maße, daß er ihr gegenüber anspruchsvoller sich zeigte, als anderen Menschen gegenüber, die ihm weniger nahe standen.

Der Brautstand bringt, wie jede Uebergangszeit, eine Reihe von Uebelständen mit sich. Das fortwährende Zusammenleben, die innigere Vertrautheit gestatten so manchen tieferen Blick in den gegenseitigen Charakter, und lassen hier und da selbst die unbedeutendsten Schwächen stärker hervortreten. Man hält sich schon berechtigt zu tadeln, und doch wird auch der behutsamste Tadel um so empfindlicher, je zärtlicher man liebt. Dazu nährt der ewige Zwang, den man sich besonders in Gegenwart von Fremden aufzulegen hat, einen hohen Grad von Empfindlichkeit, so daß der leichteste Umstand in dieser gespannten Atmosphäre das Gewitter zum Ausbruch bringt. Gewöhnlich folgt darauf die Versöhnung, welche zwischen wahrhaft Liebenden meist so köstlich zu sein pflegt, daß diese bloß um ihretwillen den Streit zu suchen scheinen. Erst die Ehe gleicht diese Gegensätze zum Theil aus, und verwandelt die schwüle Liebesgluth in eine wohlthuende, mehr gleichmäßige Wärme. –

In ähnlicher Lage befand sich gegenwärtig Theodor, wozu noch jene bereits angedeutete körperliche Verstimmung kam. Er besaß jedoch eine hinlängliche Selbstbeherrschung, um schließlich seiner aufsteigenden Besorgnisse Herr zu werden. Bald verschwand auch die letzte Spur dieses augenblicklichen Unmuths, als er an der Seite seiner Braut und Mutter den strahlenden Ballraum betrat, der in seiner mährchenhaften Pracht überraschen und zerstreuen mußte.

Der große Saal hatte sich in einen bezaubernden Blumengarten verwandelt, Gruppen von exotischen Gewächsen, schlanke Palmen und grüner Lorbeer zauberten den Frühling mitten im Winter herbei. Laubgewinde und Schlinggewächse rankten sich von einer Säule zu der andern, und bildeten die zierlichsten Guirlanden und schwebende Festons. Die Wände waren durch die Kunst des Malers und Decorateurs in entzückend schöne Landschaften und in die herrlichsten Gegenden der Welt verwandelt; hier lächelte der Comersee in seiner ewigen Bläue, dort spiegelte sich Venedig bei träumerischer Mondbeleuchtung in den Wellen des Canale grande, während an jener Wand das herrliche Neapel zu den Füßen des rauchenden Vesuv lag, oder Constantinopel sich an den Ufern des goldenen Hornes lagerte. Von der gewölbten Decke herab hing der hundertarmige Kronleuchter, ein Meer von Glanz und Licht verbreitend. Das beste Orchester der Residenz ließ seine lustigen, zum Tanze einladenden Klänge ertönen, und setzte die junge Welt in die freudigste Stimmung. Es war ein Schauspiel wunderbarer Art, ein wahrhaft feenartiger Anblick. Alles, was die Hauptstadt an hervorragenden Erscheinungen besaß, hatte sich eingefunden, die schönsten Frauen in eleganter Toilette, Officiere und Hofchargen aller Art in ihren glänzenden, mit Gold gestickten Uniformen. Das Ganze glich einem wogenden Blumenbeete, wobei die unzähligen funkelnden Brillanten die Stelle der Thautropfen vertreten mußten. Das wogte und drängte sich in dieser Atmosphäre, welche nur Luxus, Pracht und Ueberfluß athmete. Sämmtliche Logen waren mit einer doppelten Reihe von Damen besetzt, die erschienen waren, nicht nur um zu sehen, sondern selbst gesehen und bewundert zu werden. Clementine befand sich hier in ihrem eigensten Elemente, sie schwamm darin, wie ein Fisch im Wasser. Bald grüßte sie eine befreundete Dame, bald wurde sie von einem Herrn ihrer Bekanntschaft angeredet. Wohin sie kam, erregte sie Aufsehen durch ihre Schönheit und jeder Mann, selbst die kritischeren Frauen beeilten sich, ihr etwas Angenehmes über ihr Aussehen oder ihre geschmackvolle Toilette zu sagen. Verschiedene Tänzer näherten sich ihr, um sie zum Tanze aufzufordern, und schienen glücklich, wenn sie von der Vielbestürmten und Begehrten eine Zusage für die sechste oder siebente Quadrille noch erhielten.

Eine laute Fanfare der Musik verkündigte jetzt den Eintritt der hohen Herrschaften; am Arme seiner erlauchten Gemahlin erschien der Fürst unter dem Vortritte des Intendanten, der mit seinem weißen Stabe durch die Menge sich Bahn brach. Zu beiden Seiten bildeten die Zuschauer eine Gasse, durch welche der Monarch mit freundlichem Gruße schritt. Hier und da blieb er auch wohl stehen, und redete eine oder die andere ihm bekannte oder vortheilhaft auffallende Person an. Diese Auszeichnung wurde auch Clementinen zu Theil, und der Fürst sagte ihr mit lauter Stimme einige überaus schmeichelhafte Worte, welche sie mit freudigem Erröthen anhörte. Auch Theodor, der in der Nähe seiner Verlobten stand, wurde einer verbindlichen Anrede gewürdigt.

„Ein schönes, glückliches Paar!“ sprach der Fürst im Weitergehen zu seiner Gemahlin, und zwar so laut, daß ihn seine ganze Umgebung hören konnte.

Von diesem Augenblick war Clementine gleichsam die erklärte Königin des Balles, und während die übrigen anwesenden Damen sie beneideten, drängten sich die Herren und stritten um die Gunst, mit ihr, wenn auch nur eine Extratour, zu tanzen. Der erste Kammerherr des Fürsten, Baron von Rummelskirch, erinnerte sich plötzlich seiner entfernten Verwandtschaft mit der Familie des Regierungspräsidenten von Wilden und suchte dieselbe geltend zu machen, obgleich er früher nie daran gedacht hatte. Jetzt belagerte er förmlich seine schöne Cousine und überhäufte sie mit Aufmerksamkeiten und Schmeicheleien aller Art. Clementine ließ sich seine Huldigungen gefallen, ohne sich etwas Schlimmes dabei zu denken. Sie war nicht mehr kokett, als die meisten Mädchen in ihrem Alter und in ihrer Stellung sind, die sich gewiß ohne Ausnahme durch die Auszeichnung des hochgestellten und einflußreichen Mannes geehrt gefunden hätten. Eine besondere Bedeutung legte sie seinen Worten nicht bei; dazu war sie viel zu weltklug und erfahren; abgesehen davon, daß sie ihrem Verlobten innig zugethan erschien. Nichtsdestoweniger fand sie an der Unterhaltung des feinen und gewandten Kammerherrn ein großes Wohlgefallen, da er wirklich Geist besaß und mit einer scharfen Beurtheilungskraft einen ihr zusagenden, leichten Spott verband. Seine Bemerkungen über verschiedene Persönlichkeiten waren meist treffend und erregten ihr beistimmendes Lächeln. Kein Mann neigte weniger zur Eifersucht als Theodor, und deswegen fand er auch nichts Auffälliges in dem Betragen seiner Braut, der er gern jedes Vergnügen gönnte; um so mehr, da sein eigenes Unwohlsein ihn verhinderte, für ihre Unterhaltung und Zerstreuung hinlänglich zu sorgen.

Clementine war sein verändertes Befinden durchaus nicht aufgefallen; [487] sie war viel zu viel mit sich und ihren Erfolgen beschäftigt, um die zunehmende Blässe seiner Wangen und eine gewisse Zerstörtheit in seinen Gesichtszügen zu bemerken. Auch gab er sich alle erdenkliche Mühe, sein gesteigertes Uebelbefinden vor ihr zu verbergen, um sie nicht zu beunruhigen. Wenn sie mit ihm sprach, suchte er oft mit der größten Anstrengung heiter zu scheinen und sie durch ein Lächeln zu täuschen. Dies gelang ihm auch um so leichter, da sie durch den Glanz des Festes und die Fülle der ihr gebotenen Zerstreuungen von jedem betrübenden Gedanken gänzlich abgezogen wurde. Dagegen konnten dem schärferen Auge der Mutter die Veränderungen nicht entgehen, welche dieser in Theodors ganzem Wesen und Benehmen auffielen. Theilnehmend erkundigte sie sich nach der Ursache, doch auch ihre Besorgnisse suchte der gute Sohn aus ähnlichen Gründen zu beschwichtigen, indem er die Schuld der allerdings unerträglichen Hitze und dem lästigen Gedränge beimaß. Aber von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde vermehrte sich sein Unwohlsein, fliegende Frostschauer wechselten mit einer plötzlichen, fieberhaften Hitze, sein Kopf brannte und der ganze Saal schien sich mit ihm im Kreise herumzudrehen. Er sah die Personen und Gegenstände wie durch einen Flor und vermochte sich kaum mehr aufrecht zu erhalten. Gerade stimmte die Musik die ersten Töne des Cotillons an, auf den sich Clementine so sehr gefreut hatte; Theodor war zu diesem Tanze mit ihr engagirt, aber er vermochte nur mit der größten Anstrengung einige Touren im Saale zu tanzen. Erschöpft sank er auf einen Stuhl neben ihr nieder, aber auch jetzt suchte er sich noch so viel als möglich zu bezwingen, länger konnte ihr indeß sein Zustand nicht verborgen bleiben; sie erschrak, als sie ihn leiden sah, eben so sehr über sein krankes Aussehen, wie über die plötzliche Zerstörung ihrer Lust.

„Mein Gott!“ rief sie ängstlich. „Du bist doch nicht im Ernste unwohl?“

„Es ist nichts,“ antwortete er mit dem höchsten Aufwande seiner Selbstbeherrschung. „Ein leichter Anfall, der hoffentlich bald vorübergehen wird. Beunruhige dich nicht weiter.“

„Wir wollen lieber aufhören zu tanzen und uns in ein Cabinet zurückziehen, wo es kühler ist. Im Saale ist die Hitze wahrhaft erstickend,“ sagte sie.

„Das macht erst unnöthiges Aufsehen. Bleiben wir hier; ich fühle mich schon bei Weitem besser.“

„Wir können ja pausiren, wenn Dich das Tanzen angreift,“ entgegnete sie, indem sie bereitwillig auf seinen Vorschlag einging.

Clementine hätte nicht gern den Cotillon versäumt, der gleichsam einer Art von Preisvertheilung, einem Wettrennen der Schönheit ähnlich sieht. Wie viele Auszeichnungen, Bouquets und Geschenke waren noch zu erwarten, wie viele Nebenbuhlerinnen zu besiegen, wie viele öffentliche Huldigungen in Gestalt von Blumen, Schleifen und Sternen einzuernten; und das Alles sollte sie nun um eine kleine Unpäßlichkeit ihres Verlobten aufgeben. Dazu konnte sie trotz aller Liebe sich nicht so leicht entschließen. Das Opfer war zu groß, das ihr zugemuthet wurde, und ein so hoher Grad von Opfermuth lag einmal nicht in ihrer Natur. Sie war nicht zum Entsagen geschaffen, eine jener Blüthen, welche sich am liebenswürdigsten in der warmen Atmosphäre des Glückes und des ungestörten Genusses zu entfalten pflegen. Das kleinste Mißgeschick konnte sie schon verstimmen und aus der Fassung bringen. Zum Dulden und Entbehren war sie weder geboren, noch erzogen. – Theodor war schwach genug, auch jetzt noch ihre deutlich ausgesprochene Vergnügungssucht zu schonen; seine Nachsicht ging so weit, daß er noch einmal seine Leiden zu bewältigen sich bemühte und den Cotillon über, zum Schaden seiner Gesundheit, ausharrte. Zwar tanzte er nicht mehr, denn dazu reichte seine Kraft nicht aus, desto mehr Clementine, welche kaum allen Aufforderungen der von ihr entzückten Herren genügen konnte. Ihre Brust war mit Schleifen und Orden bedeckt, zu ihren Füßen lagen die schönsten Blumenbouquete aufgehäuft; sie blieb auch im Cotillon die Königin des Abends, die unbestrittene Herrin des Balles; ihr Sieg war so vollkommen, daß ihr nichts zu wünschen übrig blieb. Dafür warf sie auch jedes Mal, wenn sie an dem Arme eines Tänzers vorüberflog, einen zärtlichen Blick, ein grüßendes Lächeln ihrem Verlobten zu, der ihr von ganzem Herzen zugethan ihre Lust gönnte. Mit diesen Beweisen ihrer aufmerksamen Zärtlichkeit glaubte sie Alles gethan zu haben, was er nur billiger Weise von ihr fordern durfte.

Endlich war der Tanz vorüber und die große Pause kam. Der Hof entfernte sich, mit ihm der feinere und vornehmere Theil der Gesellschaft. Jetzt wäre auch Clementine keinen Augenblick länger geblieben; sie selbst mahnte zur Rückkehr, wogegen Theodor nichts einzuwenden hatte. Der Wagen fuhr vor und Clementine durchlebte noch einmal in Gedanken den heutigen Abend, zurückgelehnt in den Polstersitzen, mit halb geschlossenen Augen all’ die schmeichelnden Bilder vorüberziehen lassend.

„Gute Nacht, lieber Theodor und gute Besserung!“ rief das Mädchen sorglos, an ihrer Hausthür angelangt. „Morgen seh’ ich Dich bei mir, denn Deine Krankheit scheint bereits gehoben.“

„Ich fühle mich in der That wohler,“ entgegnete er, von der frischen, kühlen Nachtluft erquickt.

„Also auf baldiges Wiedersehen!“

Sie küßte der Commerzienräthin noch zum Abschiede die Hand und gestattete dem Verlobten eine zwar flüchtige, aber innige Umarmung, dann verschwand sie, um betäubt von all’ ihren Triumphen, ermüdet von den Anstrengungen des Tanzes auf ihr Lager hinzusinken. So schlaftrunken sie aber auch war, sie konnte sich dennoch nicht enthalten, beim Auskleiden einen Blick in ihren Spiegel zu werfen. Halb schon träumend flüsterte sie noch: „ich war wieder die Schönste auf dem Ball.“ Auch an Theodor dachte sie wohl noch einmal. „Wie gut er ist,“ sagte sie bereits mit geschlossenen Augen, „ich werde jedenfalls sehr glücklich mit ihm sein.“ Bald gähnte sie und träumte nur noch von Festen, von dem Fürsten und all’ den Dingen, welche sich ein Mädchen von achtzehn Jahren auch wachend zu wünschen und zu denken pflegt.

Von seiner Mutter nahm Theodor einen schnellen Abschied, da er das Bedürfniß nach Ruhe im hohen Maße empfand. Er fühlte sich wenigstens für den Augenblick wohler, als er die Thür zu seiner Wohnung öffnete, welche auf dem anderen Flügel des Hauses lag. Die Begleitung des Bedienten, den die besorgte Mutter ihm nachschickte, hatte er abgelehnt, da es schon spät war und er den Ermüdeten nicht noch länger aufhalten und ihm die Ruhe rauben wollte.

„Gehen Sie nur, Friedrich,“ sagte er gutmüthig, „ich werde mich schon allein auskleiden.“

Durch ein kleines, geschmackvoll eingerichtetes Vorzimmer gelangte er in seine eigentliche Wohnstube, welche die mütterliche Sorgfalt mit dem größten Comfort ausgestattet hatte. Da fehlte es nicht an dem schwellenden Divan und an bequemen Lehnstühlen. Eine Wand wurde gänzlich von seiner Bibliothek eingenommen, welche die besten wissenschaftlichen und poetischen Werke enthielt. Auf zierlichen Postamenten standen die Büsten berühmter Staatsmänner und Dichter. Außerdem fehlte es nicht an Jagdgewehren, gestickten Papierkörben, Zeitungsmappen und ähnlichen Andenken von zarter, weiblicher Hand, die größtentheils Clementine ihrem Verlobten geschenkt hatte. An dem Fenster stand ein Blumentisch mit seltenen Blattpflanzen und exotischen Gewächsen bestellt. Das Ganze verrieth eine Sorgsamkeit und Sauberkeit, wie man sie nur selten oder gar nicht in einer Junggesellenwirthschaft zu finden pflegt, in der ganzen Atmosphäre spürte man das Walten einer liebevollen Frau. Theodor fühlte sich auch von Jugend auf nirgends so wohl, als in seiner eigenen Häuslichkeit, und so oft er die freundlichen Räume betrat, überkam ihn auch ein eigenes, behagliches Gefühl. Auf dem Tische brannte die traute Lampe, an der er zu studiren pflegte; sie war so tief herabgeschraubt, daß sie nur ein schwaches dämmerndes Licht verbreitete. Dies jedoch und der Silberschein des Mondes, der durch das Spiegelfenster seine milden Strahlen hereinsandte, genügten, um ein eigenthümlich überraschendes Schauspiel zu beleuchten, vor welchem jetzt unser Freund unwillkürlich gefesselt stand.

Auf einem der Lehnstühle lag ein junges Mädchen in malerischer Stellung; sie schlief so fest, daß sie sein Kommen nicht bemerkt hatte. Ein unendlicher Frieden war über ihre kindlichen Züge ausgegossen; leise hob und senkte sich der jungfräuliche Busen in rhythmischen Wellenschlägen. Seine Bewegungen hatten das kleine, bunte Halstuch verschoben, daß ein Theil des schön geformten, rosig angehauchten Nackens sichtbar wurde. Um die feinen Lippen schwebte ein stilles Lächeln; die dunkelblauen Augen waren geschlossen, bedeckt von den zarten Augenlidern und den langen Wimpern, welche einem seidenen Vorhange glichen. Die glühende Wange ruhte auf dem schön geformten Arme, während der andere mit nachlässiger, absichtsloser Grazie niederhing. Ein zierliches Häubchen bedeckte die üppige Lockenfülle eines kastanienbraunen Haares, das von allen [488] Seiten schwellend hervorquoll. Der rührende Ausdruck keuscher Unschuld lagerte über die ganze Gestalt der Schlummernden, welche in einfach häuslicher Kleidung jetzt dem Beschauer in einem früher nie gekannten Reiz erschien. Sie war augenscheinlich im Lesen vom plötzlichen Schlummer überrascht worden. Zu ihren Füßen lag ein herabgefallenes Buch, das Theodor aufhob. Es waren „Uhland’s Gedichte“ in welchen sie gelesen hatte. Mit einem eigenen Gefühle von Verwunderung und Verlegenheit betrachtete er den schlafenden Gast, von dem er nicht wußte, wie er in sein Zimmer gekommen war. Es wollte sie nicht wecken, weil er sie durch seine plötzliche Erscheinung zu erschrecken fürchtete; auch hätte er ihr gern die natürliche Beschämung erspart. Aber eben so wenig durfte er zögern, wenn er nicht sich und das Mädchen, welches in dem Hause seiner Mutter die untergeordnete Stellung einer Wirthschaflerin oder Gesellschafterin einnahm, der üblen Nachrede aussetzen und in einen zweideutigen Ruf bringen wollte. Sie war seit wenig Wochen erst in die Dienste der Commerzienräthin getreten und Theodor, dessen Sittlichkeit keinem Zweifel unterlag, hatte sie kaum beachtet und höchstens einmal flüchtig angesehen. Nur selten war sie ihm begegnet, da sie den größten Theil des Tages in der weitläufigen, großen Wirthschaft beschäftigt war, so daß sie nur bei ganz besonderen Gelegenheiten zum Vorschein kam. Auch war ihm am Tage keineswegs die Schönheit ihres Gesichtes ausgefallen, da er sie bisher wenig oder gar nicht beachtet hatte. Dazu kam, daß sie durchaus nicht jene siegreichen Reize besaß, welche er an Clementinen bewunderte, die ihn für jede andere weibliche Erscheinung vollkommen blind machten. Ihre Züge waren nicht regelmäßig, nicht eigentlich schön zu nennen; nur eine gewisse Lieblichkeit und treuherzige Unschuld verlieh ihnen erst den besonderen Reiz. Der Schlaf, welcher oft unser innerstes Wesen Preis gibt und darum auch die unschuldigen Kinder so rührend schön erscheinen läßt, verklärte auch das kindliche Wesen des jungen Mädchens mit seinem ruhig süßen Zauber.

Trotz seiner Liebe zu Clementinen konnte er sich des holden Eindruckes nicht erwehren und nur ungern riß er sich von dem ihm gebotenen Schauspiel los; aber er mußte einen Entschluß fassen und unter jeder Bedingung der peinlichen Lage, in der er sich befand, ein Ende machen. Zu diesem Zwecke näherte er sich der Schlummernden mit Geräusch, ohne daß sie davon erwachte. Er war ihr so nahe gekommen, daß ihn der warme Hauch ihres duftenden Athems streifte; sie schlief so fest, daß sie keine Ahnung von seiner Nähe zu haben schien. Es blieb ihm nichts übrig, als sie laut bei ihrem Namen zu rufen, der ihm nach einigem Besinnen beifiel.

„Gertrud!“ rief er laut, um sie zu erwecken.

Noch regte sie sich nicht, da sie überaus fest schlief, von der Arbeit des Tages ermattet.

Befangen ergriff er ihre Hand und rüttelte sie leise. Jetzt erst schlug sie schlaftrunken, in lieblicher Verwirrung ihre Augen auf. Das Licht schien sie zu blenden, so daß sie gar nicht wußte, wo sie sich befand; sie mußte sich erst besinnen, bis sie ihn erkannte. Ein Schrei der Ueberraschung entschlüpfte ihrem Munde.

„Mein Gott!“ rief sie erschrocken, „wo bin ich denn?“

„Auf meinem Zimmer,“ entgegnete Theodor verlegen. „Wie sind Sie denn hierher gekommen?“

Sie erröthete und eine flammende Gluth überzog das Gesicht bis zu dem weißen, durchsichtigen Nacken. Schamhaft hielt sie beide Hände vor, um den entblößten Nacken zu bedecken. Bangigkeit und Beängstigung kämpften in ihren Zügen; die Sprache versagte ihr, so daß sie kaum ein Wort hervorzubringen vermochte. Theodor empfand das innigste Mitleid mit ihrer peinlichen Lage und bemühte sich, die Trostlose aus der Verlegenheit zu reißen.

„Beruhigen Sie sich nur,“ sagte er freundlich. „Die Sache hat ja nichts zu bedeuten.“

„Nein!“ antwortete sie betrübt. „Was werden Sie von mir denken, was wird die gnädige Frau dazu sagen, wenn sie es erfährt? Ich bin nur in Ihr Zimmer gekommen, um nachzusehen, ob auch Alles in der gehörigen Ordnung sei und ob das Feuer auch im Ofen brenne. Der Bediente hat schon mehrere Male vergessen, einzuheizen, wenn Sie aus waren. Ich fürchtete, daß Sie vom Balle erhitzt nach Hause kommen und sich erkälten könnten. Deshalb wollte ich mich selbst überzeugen. Ich konnte dabei nicht der Versuchung widerstehen, eines der schönen Bücher in die Hand zu nehmen. Entschuldigen Sie nur meine Dreistigkeit; aber die Müdigkeit überkam mich mit einem Male; ich hatte den ganzen Tag so viel zu thun und ehe ich mich versah, war ich in Ihrer Stube eingeschlafen. Verzeihen Sie mir, aber es soll gewiß nicht wieder vorkommen.“ Dabei richtete sie die dunkelblauen, frommen Taubenaugen so kindlich bittend zu ihm empor, daß er ihr nicht zürnen konnte, selbst wenn er gewollt hätte.

(Fortsetzung folgt.)




Der Holzsturz im bayerischen Hochgebirg.

Nichts ist imposanter, als die Gebirgskette der baierischen Alpen, welche sich als eine gigantische blaue Krystallisation vor dem smaragdgrünen Bande der Niederung in unabsehbarer Ausdehnung vom „Zugspitz“ bis zum „wilden Kaiser“ und noch weiter hinlagert.

In der Nähe betrachtet, erwecken die Hochgebirge wohl die Sehnsucht des Beschauers, sie mit Adlerflügeln umschweben zu können und sich auf ihre höchsten Zinnen, vor grauenvollen Abgründen nieder zu lassen, dann in die endlose Ferne zu spähen, dann die zahllosen Seen zu entdecken, und den Silberbändern der Flüsse zu folgen, wie sie sich schlängelnd in den Horizont verlieren. Aber die Firnen und Gipfel der Berge zu erklimmen, über ihre Kämme zu kriechen – rechts und links tiefe Schluchten – an ihren Felswänden auf und nieder zu klettern, jeden Schritt und Tritt mit Lebensgefahr, wie wir es in unsern Illustrationen von den Gemsjägern in Nr. 1 ersahen, dazu gehört mehr als das dreifache Erz, das nach Vater Homer die Brust jenes Mannes, der zuerst sich auf die unermeßliche See in schwacher Barke hinauswagte, umpanzerte. –

Doch für sie, welche daran gewöhnt sind, ist ein solches Leben voll Gefahr, wenn auch nicht immer eine Lust, doch selten eine Calamität, und es möchten nicht viele Gemsjäger und Holzfäller im Hochgebirge, deren Väter, Groß- und Urgroßväter sich in den Rissen „derstürzten“, d. h. verunglückten, zu finden sein, die nicht die bekannte Antwort jenes Seemannes geben würden, welcher der Verwunderung, daß man, wenn alle seine Vorfahren auf der See verunglückt wären, sich noch auf dies gefährliche Element wagen könnte, seinerseits die Verwunderung entgegensetzte, wie man noch ein Bett besteigen könnte, wenn fast alle Leute vom Festlande darin stürben.

Doch wie auf der See meist mit periodischen Lustfahrten, so verhält es sich auch im Hochgebirge mit dem Bergsteigen der Touristen, die unter den Fittigen eines tüchtigen Bergführers, wohl versehen mit Allem, was den Gaumen und Magen labt und wieder frische Kräfte gibt, mit Zeit und Muße eine Bergspitze ersteigen, meistens ohne alle Gefahr. Eine solche Bergfahrt gibt kein Bild von den Gefahren des Gebirgslebens. Von ihnen können nur die berechtigten Jäger und Wildschützen erzählen, nur jene, welche nach Enzianwurzel, nach heilsamen Bergkräutern, Alpenröschen und Edelweiß suchen; am besten wissen die Holzfäller des Gebirges davon zu erzählen.

Es ist wunderbar, welche Triebkraft die Gebirgs-Vegetation, namentlich der Gebirgs-Nadelhölzer, besitzt. Mächtige Tannen schwingen sich aus Felsenritzen auf, als hätten sie mit studirtem Eigensinne sich das sterilste Plätzchen für ihr Dasein aufgesucht. Alle diese Baumindividuen, ist irgend eine Möglichkeit, sie zu erreichen, sind vor der tödtlichen Axt nicht sicher, selbst wenn die Aussicht, Gewinn daran zu haben, d. h. sie transportabel zu machen, mit der Mühe und Gefahr nicht im Einklange steht.

Aber nirgends häufiger, als im Hochgebirg, schrieb die Natur ihr gebieterisches „Bis hierher und nicht weiter.“ Tausend und aber tausend mächtige Stämme, im Laufe der Zeiten vom Blitzstrahle getroffen, vom Orkan entwurzelt, vom Waldbache untergraben, vermodern am Platze, wo sie niederstürzten. Zahlreicher noch als diese sind die Leichen jener Baumriesen, welchen das Alter den

[489]

Ein Holzsturz am Königssee.

Lebensfaden abschnitt. Obwohl sie gut zu erreichen, und obwohl sie leicht zu fällen gewesen, ehe sie am marasmus senilis dahinstarben, blieben sie von der Axt verschont, weil es sich der Kosten, sie vom Platze zu schaffen, dorthin, wo sie noch von Nutzen sein konnten, nicht verlohnte. Wie sie daliegen, sind sie zu nichts nutze, als ihren jungen Nachsprößlingen zum Dünger zu dienen.

Doch nein, dies ist nicht ihr einziger Nutzen. Es gibt Maler, besonders unter den Landschaftsmalern, die fast der Meinung sind, die Rudera ehemaliger mächtiger Baumgeschlechter seien prädestinativ niedergeworfen, um ihnen zu malerischen Studien zu dienen, und wenn ein ganzer Gebirgswald voll himmelanstrebender schlanker Stämme kaum ihre Augen auf sich zieht, siedeln sie sich sofort bei jedem Baumskelett oder Cadaver mit Dreifuß, Sonnen- und Regenschirm in einer Person, mit Mappe und Malkasten und allem übrigen Mal- und Zeichnungsapparat an, sobald dieselben nur mit malerischem Anstande starben und hinsanken, um sie in ihrem Studien-Album aufzunehmen. –

Anders denkt und spricht von ihnen der Forstmann und Holzfäller, die sie mit souverainer Verachtung betrachten. Es scheint fast Hyperbel, wenn die Leute im Gebirge behaupten, daß mehr Holz, das den Transport nicht lohnt, verfault, als geschlagen wird. Andererseits aber, wenn man das Verzwickte der Gebirgsformationen, dieses unendliche Gewirr, Auf und Nieder von Zacken, Kämmen, von Wänden, Schluchten, Rissen in solcher Raumausdehnung in’s Auge faßt, wohin du nur mit Lebensgefahr gelangen kannst, gibt’s da nichts zu verwundern.

Im Gebirge geräth nicht leicht einer auf „Holzwege“, weil die Stellen, wo sie mit Nutzen angelegt werden können, sehr rar sind. Es ist leicht zu erachten, daß im Laufe der Zeiten, vor Allem aber in den letzten Jahren, wo sich Holzmangel bereits überall fühlbar macht, sich der Erfindungsgeist auch darauf verlegte, Mittel und Wege zu erschaffen, vermöge welcher sich das Gebirgsholz am nutzbarsten transportiren ließe, allein in diesem Punkte sind wir noch nicht viel klüger geworden, als unsere Väter. Mit der Dampfkraft ist da nichts zu machen, und sonstige Fahrstraßen sind meistens unmöglich, oder wenn möglich, rentiren sie sich nicht. Es ist daher [490] im Gebirge mit dem Fortschaffen des Holzes beim alten Schlendrian geblieben, und wird wohl noch lange – es sei ohne Vorwurf gesagt – dabei bleiben. Es gibt nämlich zwei Hauptwege dazu, der sogenannte „trockene“ und der sogenannte „nasse Holzsturz.“ Der „trockne Holzsturz“ bedingt eine Rinne, welche von der Spitze sich in gerader verticaler Linie bis an den Fuß irgend einer Bergseite hinabzieht. Die Rinne ist von oben bis unten mit zwei parallelen Gleisen von an einander gelegten runden Baumstämmen belegt. Auf ihnen läßt man das gefällte Holz hinabrutschen, so weit das Gefälle reicht. Diese sogenannten Rutschen erkennt der Wanderer leicht an den Bergabhängen; sie bilden zahlreiche Risse oder Streifen in den Bergen von oben bis unten. Mit Baumstämmen bleiben sie belegt, so lange sie noch Zweck haben, nämlich, so lange es noch Holz in ihrer Nähe gibt. Ist der Schlag schon zu weit oder schon abgelegt, so werden neue Bergrutschen angelegt. Diese Art des Holzstürzens von den Bergen wird meistentheils nur von Privateigenthümern angewandt. Es versteht sich, daß das Hinschaffen des gefällten Holzes nach diesen Rutschen sehr mühsam und oft gefährlich ist, besonders, wenn sie mit großen Nutzhölzern befahren werden. Brennholz, das in Scheite gespalten, kann auf den Schultern hingetragen werden, das geht aber mit Baumstämmen nicht, diese müssen mit Hebeln hingeschafft werden.

Die „trockenen Holzstürze“ oder Rutschen wechseln nach dem Vorhergehenden ihren Platz. Mehr stationair sind die „nassen Holzstürze.“ Diese bedingen die Anlage von sogenannten „Klausen.“ Bei diesen wird, an den passendsten Stellen, sowohl für das Holzfällen als dessen Transport dahin und für den nassen Sturz, das Gebirgswasser von Quellen oder Sturzbächen, auch von geschmolzenem Schnee oder Gewitterregenwasser, in einem großen Becken gesammelt. Dieses Becken gewinnt man an solchen passenden Thalschüssen, wenn man letztere durch einen Damm bis zu einer für die benöthigte Wassermenge, welche sich dahin sammelt, hinlänglichen Höhe abschließt. Zu diesem improvisirten kleinen See wird nun alles gefällte Holz zusammengeschleppt und hineingeworfen. Sodann werden die Schleußen des Dammes geöffnet. Und nun beginnt ein Schauspiel, für dessen Schilderung die Feder zu schwach, die Sprache zu arm ist. Womit soll man diesen riesigen Wasserstrahl vergleichen, der mit wüthendem Ungestüm hervorbricht und mit donnerndem Getöse und Geschmetter in die Tiefe schießt? Sollte man aus einiger Entfernung nicht wähnen, die Fabelwelt der Alten, für deren Phantasie nichts zu kolossal war, werde hier Wirklichkeit, als öffne sich urplötzlich die starre Bergwand, durchbrochen von einem schlangenartigen Gigas; das Ungethüm führe mit rasender Schnelligkeit an den Klippen hinab, Schaum und Dampf mit donnerartigem Gebrülle ausstoßend? Wähnt man nicht, bald hier bald dort bäume sich der stachelige Rücken, und an den Felsenkanten sich streifend, flögen Schuppen und Hautstücke davon? dermaßen werden die Holzscheite und Stämme hin- und hergeschleudert. Man geriethe schier in Versuchung, das arme Holz zu bedauern, wenn man eben nicht wüßte, was es mit der sprichwörtlichen Gefühllosigkeit eines Stück Holzes für eine Bewandtniß hat.

Das Getöse eines nassen Holzsturzes ist so groß, daß es meilenweit in den Bergen wiederhallt und alle Raubvogel aus weiter Ferne aufstöbert. Nebelgeier mit ihren schrillenden Klagetönen und Steinadler mit ihrem durchdringenden Gekrächze umschwirren in hohen und weiten Kreisen diese Scene. Sie, die Zeugen so vieler schrecklichen Gebirgsgewitter, scheinen mit Angst das Ende dieses ungewöhnlichen Schauspieles zu erwarten. Man erzählt, daß der herrlichste Bewohner des Gebirges, der stolze Edelhirsch, bei dem Donnergekrache eines nassen Holzsturzes wie rasend entfliehe, schneller als sei ihm ein Rudel Wölfe auf dem Nacken.

Die „Klausen“ im Gebirge sind immer nur da angelegt, wo sie für den Weitertransport am zweckmäßigsten sind; sie münden in Gebirgsbäche oder Flüsse, oder in Gebirgsseen, auf welchen das gewonnene Holz weiter geflößt werden kann. Baumstämme werden dann zu schiffbaren Flößen zusammengebunden, sie dienen auch außer zu ihrem eigenen Zwecke noch zum Transporte von allen möglichen Erzeugnisses des Gebirges, von Brennholz, Talk, Gyps u. s. w. Sie nehmen auch Personen und Güter mit und fahren mit ihnen bis Wien, ja nach Ungarn, die Donau hinab. Erfahrene Personen sind noch im Zweifel, ob diesen Flößen die neuen Eisenbahnen zwischen München, Wien und Regensburg in Hinsicht des Gütertransportes vielen Schaden bringen werden, wenn bei der Beförderung die Zeit nicht in Anschlag kommt.

Das Flößen des geklafterten Brennholzes in Einzelscheiten auf den Gebirgsflüssen ist nur für das Schlagholz aus den Staatsforsten gestattet. Anfangs Frühlings, sobald die ersten Schneewässer die Rinnsale der Flüsse und Bäche, die im Winter ausgetrocknet, wieder schwellen, sieht man häufig stellenweise die Oberfläche der Flüsse mit schwimmenden Scheiten bedeckt, die am Ende ihrer nassen Laufbahn ihren Weg durch Canäle in die königlichen Holzgärten nehmen müssen, wo sie zu viel tausend Klaftern aufgestellt werden. Die unterwegs gestrandeten Scheite, deren Zahl jener der schwimmenden meistens gleichkommt, werden von den Flößern von ihren Kieslagern mit eisernen Haken an langen Stangen herbeigezogen, in’s Wasser und so auf den rechten Weg geführt. Manchmal brechen aber die Hochwässer, namentlich der Isar, des Lechs, der Salzach und des Inns so urplötzlich herein, daß keine Rettung des Floßholzes mehr möglich ist, das in Scheiten und den größten Werkhölzern von den Fluthen dahingerissen wird.

Es ist zu verwundern, daß bei den so häufig wiederkehrenden Verlusten durch Fortschwemmen des Schlagholzes und anderer Dinge bei plötzlichen Ueberschwemmungen man noch nicht daran gedacht hat, Vorkehrungen zu treffen, die so fortgeführten Hölzer wieder zu gewinnen. Eine solche Vorkehrung wäre leicht zu veranstalten, wenn man dazu Stellen an Flußufern auswählte, wo der Strom selbst bei der größten Höhe seine Ufer nicht überschreiten könnte, ohne jedoch einerseits zu enge und deswegen zu reißend, andererseits zu breit zu sein. An solchen Stellen hätte man an beiden Ufern Einschnitte zu Fanggruben zu machen, um das aufgefangene Holz u. s. w. einzusammeln. Das Einfangen müßte aber folgender Art geschehen. In der Mitte des Flusses wird ein dreifüßiges Gestell von hinlänglicher Höhe und verhältnißmäßig starkem Gußeisen aufgestellt. Der eine fast senkrecht stehende Fuß würde dem Strome in der Mitte entgegengestellt, die beiden anderen auf der geraden Durchschnittslinie des Flußbettes. An dem ersten Fuße ist vermittelst einer beweglichen Klammer, welche mit dem Steigen des Flusses daran auf- und niederginge, eine große sogenannte Holzkette verbunden, welche aus Bohlen, unter sich mit eisernen Ringen vereinigt, bestände. Diese Holzkette, im spitzen Winkel mit der Winkelspitze an dem eisernen Dreifuße in der Mitte des Flusses auf- und niedergehend, erstreckte die Enden ihrer Schenkel in die obenerwähnten Einschnitte oder Fanggruben im Ufer; an ihnen muß das angeschwemmte Holz in seinem Laufe sich brechen und zu beiden Seiten zu den Einschnitten im Ufer hingeleitet und eingefangen werden. Je spitzer der Winkel ist, den die Holzkette mit den Einschnitten oder Fanggruben des Ufers bildet, desto weniger heftig wäre das Anprallen des Schwemmholzes. Auch muß die Holzkette hinlänglich breit sein, d. h. unter das Wasser hinein- und über demselben hervorragen, daß die anschwimmenden Hölzer beim Anprallen nicht darunter oder darüber hinschießen können. Eine solche Vorkehrung wie die oben geschilderte ließe sich selbstredend nur bei Flüssen mittlerer Breite anwenden. Uebrigens salvo meliori. –

Um noch einmal auf die nassen Holzstürze zurückzukommen, so befindet sich ein solcher besonders interessanter an dem berühmten Königssee bei Berchtesgaden. Darin wird das Wasser des Königsbaches in einer Höhe von mehr als 1000 Fuß über dem Spiegel des Königssee’s behufs des nassen Holzsturzes gesammelt, und dann stürzt dieses Gebräu von Holz und Wasser nach eröffneter Schleuße in die Tiefe des Königssee’s mit solcher Gewalt, daß der Wellenschlag des empörten See’s sich an den äußersten Ufern bricht. Das Schauspiel des „nassen Holzsturzes“ am Königssee wiederholt sich alle Jahre, wird aber mit besonderem Glanze aufgeführt, wenn hohe Herrschaften dabei anwesend sind. Dieses Jahr fand es statt am 15. Juli vor Sr. Majestät König Ludwig von Baiern und dessen erhabenen Töchtern, der Großherzogin von Hessen-Darmstadt, der Erzherzogin Hildegard von Oesterreich und der Herzogin Adelgunde von Modena. Der See war mit Gondeln bedeckt, die auf dem bewegten Wasser luftig auf- und niedertanzten. Die glänzendste Julisonne strahlte dabei am Himmel, und alle Anwesenden betrachteten mit „frommem Schauder“, aber auf „Nummer sicher“ das imposante Schauspiel des nassen Holzsturzes, der sich dieses Mal in außergewöhnlicher Großartigkeit entwickelte.



[491]
Streifereien in Nord- und Südamerika.
Aus den Tagebüchern eines früheren schleswig-holsteinischen Hauptmanns.
Mitgetheilt von Julius v. Wickede.
IV.
Der Verkehr mit Indianern. – Wie man in Californien arbeiten muß. – Lebensweise auf der Reise. – Ueberfall eines Bären. – Guter Verdienst. – Abreise nach Chili. –

Es ist bei den Yankees Mode, den größten Theil der in Californien begangenen Raubanfälle und Mordthaten den Indianern aufzubürden, meiner Ansicht nach aber mit großem Unrecht. Ich bin sehr häufig auf meinen Reisen größeren und kleineren Indianer-Trupps begegnet, habe wiederholt allein, als auch mit meinen Leuten in der Nähe derselben geschlafen und niemals ist mir die mindeste Unannehmlichkeit von ihnen geschehen. Im Gegentheil, ich fand größtentheils ehrliche, offene Burschen, die große Gefälligkeit und Uneigennützigkeit zeigten – in Californien sonst leider nur zu seltene Eigenschaften – unter diesen Indianern, und dieselben sind mir stets ungleich lieber gewesen, wie diese Yankees oder gar Mexicaner. Schade nur, daß man die Indianer niemals an langanhaltende regelmäßige Arbeiten gewöhnen kann und dieselben daher als Gehülfen bei meinem Geschäft unbrauchbar sind. Wiederholt habe ich es versucht, Indianer als Mauleseltreiber in meine Dienste zu nehmen, aber es ging nicht, ich mußte stets zu den Mexicanern zurückkehren. Hatte sich dagegen ein Maulesel oder Pferd verlaufen, so waren sie vortrefflich zum Wiedereinfangen desselben zu gebrauchen und liefen für einen Dollar Belohnung den ganzen Tag umher, um den Flüchtling zu suchen. Auch zum Treiben der Rinderheerden sind dieselben gut zu gebrauchen. So hatte ich einst in Sacramento 150 Stück halbwilde Rinder gekauft, um dieselben nach Danielville treiben zu lassen, und zu diesem Geschäft zehn Indianer angenommen, die für jedes Rind, was glücklich in Danielville ankam, einen Dollar Belohnung erhielten. In neun Tagen trieben sie die Thiere dahin und kein einziges derselben ging verloren, obgleich der Weg durch die Felsenschluchten theilweise sehr gefährlich war. Ich verdiente bei diesem Handel an 3000 Dollars, verlor aber bei der nächsten Trift über 2000 Dollars wieder, da die Thiere von einem Schneesturme überrascht wurden und fast sämmtlich dabei zu Grunde gingen. Auch Maulesel verunglückten oft, indem sie in den stillen Schluchten Fehltritte machten und in den Abgrund stürzten oder auf andere Weise verloren gingen. Wären alle dergleichen Unglücksfälle, die häufig vorkamen, nicht gewesen, hätte ich bei meinem Transportgeschäft oft in einem Monate mehrere tausend Dollars reinen Gewinn haben können. So ging freilich ein guter Theil des Verdienstes wieder fort, doch hatte ich noch immer ansehnlichen Gewinn und konnte in rein pekuniärer Hinsicht schon zufrieden sein. Manchen verarmten Goldgräbern, die sich in ihren Erwartungen getäuscht sahen, habe ich übrigens nach besten Kräften geholfen und häufig einen Beutel mit 25 Pfund Mehl, oder Pökelfleisch, oder eine Flasche Branntwein gegeben, wenn ich auch wußte, daß ich nie eine Bezahlung dafür erhielt. Doch hatte ich es mir zum festen Grundsatz gemacht, nur Deutsche zu unterstützen und mich um Fremde, und besonders um Yankees, niemals zu bekümmern. Allen Armen konnte ich doch mit dem besten Willen nicht helfen, und so war ich der Ansicht, daß die Deutschen, und besonders die Schleswig-Holsteiner, wohl mehr Anrecht auf meine Hülfe hätten, wie diese Yankees, die bei jeder Gelegenheit nur die Deutschen verhöhnen und zu betrügen suchen. Den persönlichen Verkehr mit allen Deutschen vermied ich aber, so viel ich konnte, und ließ meine Unterstützungen stets durch Hansen vertheilen. Zum geselligen Umgang suchte ich mir womöglich die Franzosen und die Spanier auf, denn Erstere waren die lustigsten, Letztere aber die äußerlich anständigsten, und man ward auch am wenigsten durch rohe Sitten von ihnen beleidigt. Uebrigens hatte ich wenig Zeit, geselligen Umgang zu pflegen, denn mein Geschäft nahm mich sehr in Anspruch und ließ mir Tag und Nacht keine Ruhe.

Ich habe in Californien wirklich viel gearbeitet und alle meine Kräfte auf das Aeußerste angestrengt, dies Zeugniß muß ich mir selbst geben. Fünf Tage in der Woche war ich durchschnittlich fast auf der Reise und dann vom frühen Morgen bis Abends spät im Sattel, während ich die Nächte abwechselnd mit meinen beiden deutschen Gehülfen, die Büchse im Arm, den Revolver im Gürtel, Wache hielt, da ich weder vor meinen eigenen mexikanischen Treibern, noch vor den fremden Wegelagerern sicher war. Die Tage, die ich nicht mit dem Transport auf dem Wege verbrachte, mußte ich mich mit dem Einkaufen der Lebensmittel und sonstigen Waaren und der Aufsicht beim Auf- und Abladen der Packthiere, wobei ich selbst häufig mit Hand anlegte, herumplagen. Diese Tage in den Städten, bisweilen in Sacramento, häufiger aber, besonders in der letzten Zeit, in Marysville, wo ich die Waaren einkaufte, waren mir stets die unangenehmsten. Dies stete Handeln und Feilschen, dies ewige Aufpassen, um nicht betrogen zu werden, ekelte mich an und doch war es dringend nothwendig, wenn ich bei meinem Geschäfte Gewinn und keinen Verlust haben wollte. Am wohlsten war mir stets, wenn ich meine Einkäufe gemacht, meine Maulesel sämmtlich beladen hatte und mich auf meinem muthigen Hengste an der Spitze meines Zuges, auf der freien Prairie, welche vor den Gebirgen liegt, befand – sobald das Wetter nicht zu schlecht war. Hatte man aber in den Ebenen unaufhörliches Regenwetter, was dann im Gebirge sich schon mitunter in Schneegestöber verwandelte, dann war so eine fünftägige unausgesetzte Reise, bei der man nie unter Dach und Fach kam und stets im Freien bivouakiren mußte, wirklich ungemein anstrengend, besonders wenn sich dies Vergnügen Woche für Woche immer und immer wiederholte. In einem ordentlichen Bette habe ich während der sechzehn Monate, die ich in Californien war, nur die letzten fünf Nächte vor meiner Abreise geschlafen, außerdem sonst regelmäßig unter Gottes freiem Himmel auf dem bloßen Erdboden, oder in einem Stalle mit den Maulthieren und Pferden, oder in einem Zelte oder einer kleinen Erdhütte, wie es nun eben kam, zugebracht. Ich war dies Schlafen auf dem Erdboden, den Sattel als Kopfkissen, und dann, je nachdem es regnete oder kalt war, eine oder zwei große dicke Wollendecken zum Einwickeln, schon so gewöhnt, daß ich die ersten zwei Nächte gar nicht wieder in einem Bette schlafen konnte, so beengt kam es mir in demselben vor. Dank sei es der harten Jugenderziehung, die mir mein seliger Vater, dieser alte Soldat Friedrich des Großen, gegeben hat; ich bin, seitdem ich mich in Europa einschiffte, noch nicht einen Tag innerlich krank gewesen und habe mich bei allen Strapatzen und Entbehrungen körperlich wohl befunden. Uebrigens aß und trank ich stets gut und viel, und wenn ich auch jede Unmäßigkeit vermied, so ließ ich mir doch sonst nichts abgehen.

Die Lebensweise, wenn wir uns auf der Reise befanden, war folgende. Mit dem Frühmorgen wurde aufgestanden und die Maulesel, die mit gefesselten Beinen, damit sie sich nicht verlaufen konnten, in der Nähe weideten, eingefangen und beladen, was stets eine langwierige Arbeit war, da auf ein gutes Laden und Verpackung sehr viel ankommt. Während wir uns nun hiermit beschäftigten, bereitete einer meiner deutschen Gehülfen, gewöhnlich der frühere preußische Soldat, der die meiste Kochgeschicklichkeit besaß, an den Kohlen unseres Bivouakfeuers unser erstes Frühstück. Dies bestand aus sehr starkem Kaffee, der immer in reichlicher Quantität, aber auch ohne Milch und Zucker getrunken wurde, warmem Maiskuchen und frisch in der Pfanne gebratenem Speck. Gegen sechs Uhr Morgens setzte sich dann der Zug in Bewegung und es wurde bis gegen elf Uhr ohne Unterbrechung die Reise fortgesetzt. Voran ich auf meinem Rosse, ein anderes Pferd, was bei der Rückreise mit Goldstaub oder Goldkörnern, bei der Zureise in die Minen mit anderen, besonders werthvollen Waaren, namentlich auch feinen Weinen, Liqueuren u. s. w. beladen war, an der Hand führend. Meinem Rosse folgte der Zug der Maulesel, gewöhnlich zwischen zwölf bis zwanzig an der Zahl; bei je vier Thieren immer ein mexikanischer Treiber und zuletzt meine beiden deutschen Gehülfen, die auch noch einen bis zwei Maulesel, welche mit unserem Proviant, den Kochgeräthschaften, Decken u. s. w. beladen und auch [492] abwechselnd von Einem oder dem Anderen zum Reiten benutzt wurden. Um elf wurde im Sommer gewöhnlich im Schatten einiger Bäume Halt gemacht, die Maulesel erhielten Futter, wurden aber nicht abgeladen, wir Menschen verzehrten etwas kaltes Fleisch, Brod und ein Glas Rum, worauf wir uns dann abwechselnd zur Ruhe legten. Um drei Uhr, wenn die ärgste Hitze vorbei war, ward wieder aufgebrochen und bis zur anbrechenden Dunkelheit marschirt. An unserem nächtlichen Rastplatze angekommen, wurden die Maulesel und Pferde abgeladen, ihre Rücken sorgfältig untersucht, ob auch Verletzungen durch Druck oder Reibung der Packsättel entstanden waren, und dann entweder mit Mais gefüttert oder, wenn Weide vorhanden war, mit gefesselten Vorderfüßen auf dieselbe getrieben. Alle diese Geschäfte wurden unter meiner Aufsicht stets von den Mexicanern besorgt, die mit den oft sehr störrischen und bösartigen Mauleseln auch am besten umzugehen wissen. Die beiden deutschen Gehülfen besorgten unterdeß Holz für das Wachtfeuer, schlugen auch, wenn das Wetter gar so schlecht war, ein Regendach auf, indem ein großes getheertes Laken von Segelleinwand über vier in die Erde eingeschlagene Pfähle gespannt wurde, und bereiteten unser Abendessen vor. Wenn irgend möglich, bestand dasselbe aus frischem Fleisch, denn ich schoß unterwegs häufig Hasen, Rebhühner und anderes Geflügel, hin und wieder auch ein Stück Hochwild, obgleich letzteres seltener vorkam, kaufte auch, wenn ich es bekommen konnte, in den Ansiedelungen oder von den Indianern frisches Fleisch, da ich dasselbe für gesünder hielt, als den Speck und das Pökelfleisch. Das frische Fleisch wurde stets am Spieße gebraten und dann in großen Quantitäten verzehrt, wobei ein Deutscher drei Mal so viel wie ein Mexicaner aß, dazu wurden Maiskuchen oder eine Art Pfannkuchen, aus Grütze und Mehl bestehend, gebacken und auch in gehörigen Quantitäten verzehrt. Als Getränk diente Thee ohne Zucker und Milch, aber zum dritten Theil dafür mit Rum vermischt, wovon Jeder so viel trinken konnte, wie er nur mochte, wenn er sich nur nicht betrank. Bis nach zehn Uhr saßen wir so an dem stets in hohen Flammen unterhaltenen Wachtfeuer essend, trinkend, rauchend, plaudernd oder dem eintönigen Geklimper auf der Mandoline, die von einem oder dem anderen der mexicanischcn Treiber gespielt wurde, lauschend. Alsdann hüllte sich Jeder in seine Decken, schob den Sattel unter den Kopf und streckte sich, die Füße gegen das Feuer gerichtet, nieder, um durch den Schlaf Stärkung für die müden Glieder zu suchen. Einer von uns Deutschen mußte stets wach bleiben, um auf die Sicherheit der Waaren zu achten und das Feuer zu unterhalten, während einer der Treiber die in der Nähe weidenden Thiere beaufsichtigte. Führte ich Gold bei mir, so schob ich dasselbe unter den Sattel, der als Kopfkissen diente, und kann somit in Wahrheit behaupten, daß ich mich oft im wahren Sinne des Wortes auf Gold gewälzt habe.

Gewöhnlich legten wir auf diese Weise zwanzig englische Meilen in einem Tage zurück, in der Ebene oft etwas mehr, im Gebirge weniger. Bei Schneestürmen im Gebirge von Nigger-Jent nach Goodyear-Bar habe ich auf dieser Strecke von fünfzehn englischen Meilen oft zwei bis drei Tage zugebracht und wir Alle schwebten dabei in beständiger Gefahr, das Leben zu verlieren. Ueberhaupt ist dieser Transport von Lebensmitteln in der schlechten Jahreszeit nach den im entfernten Gebirge am Jubaflusse gelegenen Goldminen ein ebenso gefährliches wie anstrengendes Geschäft, zu dem die eisernste Ausdauer, große moralische Willenskraft und eine unerschütterliche Gesundheit gehören. Man kann mitunter bei einer einzigen Reise sehr viel verdienen, und an den eingekauften Waaren weit über hundert Procent Gewinn haben, bei der nächsten Reise aber wieder ohne Verschulden gleich großen Verlust erleiden. Einige Maulthiere brauchen nur auf den theilweise ganz schmalen Felsenpfaden auszugleiten, um mit ihrer Ladung in den Abgrund zu stürzen, und der ganze Gewinn ist verloren. Auch kann man bei anhaltendem Regenwetter gar nicht genug aufpassen, daß die Ladung bei dem Lagern im Freien und dem täglichen Auf- und Abladen auf die Saumthiere nicht durchnäßt und somit ziemlich werthlos wird.

Auf diese Weise habe ich als Händler mit Lebensmitteln und Besitzer einer Heerde Maulesel zum Lasttragen elf volle Monate fast alle Districte von Californien, in denen Gold gegraben und gewaschen wurde, durchzogen und mehr wie für 100,000 Dollars an Gold ist von mir aus den Minen in die Städte St. Francisco und Sacramento befördert worden. Am meisten machte ich den Weg von Marysville nach den nördlich am Jubafluß gelegenen Districten bis nach Danielville oder auch noch weiter herauf bis in die nördlichsten Districte. Diese Reisen waren zwar die beschwerlichsten und gefährlichsten, aber auch die lohnendsten, und ich habe daher dieselben immer vorzugsweise gern unternommen.

Bei einer dieser letzten Reisen, die im Winter bei scheußlichem Wetter stattfand, wäre ich beinahe unweit Danielville das Opfer eines großen grauen Bären geworden, unbedingt das stärkste und gefährlichste Raubthier, welches Amerika besitzt, denn der Puma oder sogenannte mexicanische Löwe ist lange nicht so gefährlich.

In der Nacht, als ich eben im besten Schlafe lag, weckte mich der bei den Mauleseln wachende Treiber mit furchtbarem Geschrei, indem er mir zurief, daß ein großer grauer Bär im Begriffe sei, sich auf einen der Maulesel, die ungefähr dreißig bis vierzig Schritte von uns im Schutze einiger Bäume angebunden standen, zu stürzen. Sogleich sprang ich auf, griff nach meiner Büchsflinte, die neben mir unter der Decke lag, und eilte der bezeichneten Stelle zu. Beim Scheine des eben zwischen den Wolken hervortretenden Mondes sahe ich, daß ein großer grauer Bär, wirklich ein riesiges Ungethüm, wie ich einen solchen noch niemals gesehen hatte, sich daran machte, einen Maulesel umzuwerfen und fortzuschleppen. In einer Entfernung von ungefähr funfzehn Schritten schoß ich nun den mit einer Spitzkugel geladenen Lauf meiner Büchsflinte auf den Bären ab, und verwundete denselben in der Schulter. Das ergrimmte Thier stieß ein furchtbares Wuth- und Schmerzensgeheul aus, ließ seine Beute fahren, und stürzte auf mich zu. So schnell wie möglich riß ich meinen sechsläufigen Revolver aus dem Gürtel, und feuerte den einen Schuß in größter Nähe auf meinen Feind ab, ohne ihn jedoch damit auf der Stelle zu tödten. Schon hatte derselbe mich erreicht, und eine seiner Tatzen bereits in den flatternden Zipfel des großen mexikanischen Poncho, den ich trug, eingeschlagen, als ich ihm den Revolver vor das eine Auge setzte und losdrückte. Die Kugel ging durch das Gehirn und der Bär stürzte augenblicklich todt zusammen, wobei er mir im Fallen noch den sehr dicken Poncho und eine Jacke von Büffelleder, die ich darunter trug, zerriß, und meinen Schenkel leicht aufkrallte. Hätte dieser letzte Schuß nicht den Bären auf der Stelle getödtet, so wäre ich ein Opfer desselben geworden, da meine beiden deutschen Begleiter liederlicher Weise ihre Flinten nur mit Schrot geladen hatten. Es war ein ungeheures Thier, und sein Fleisch verschaffte uns auf mehrere Tage reichliche Nahrung, nachdem ich noch mehr als die Hälfte davon an deutsche Minenarbeiter, die in der Nähe lebten, verschenkt hatte.

Das abgezogene Fell des Bären ließ ich gerben, und gebrauche es noch jetzt hier in Mendoza als Satteldecke. Das Maulthier war aber am Halse von dem Bären so verwundet worden, daß ich es auf der Stelle tödten mußte, um seine Qualen nicht länger nutzlos zu vermehren. Diese großen, grauen Bären kommen übrigens in den Golddistricten von Californien nur noch äußerst selten vor, da der zahlreiche Menschenverkehr in denselben sie verscheucht.

Obgleich ich von meinem Geschäfte einen guten Gewinn hatte, so ward mir das ganze Leben und Treiben auf die Länge doch unangenehm. Dieser stete Verkehr mit rohen Menschen, die nur von dem Streben, sich Geld zu verdienen, beseelt waren, ekelte mich an, und es langweilte mich, beständig mit den geladenen Revolvers im Gürtel umhergehen zu müssen, um mein Eigenthum zu vertheidigen. Dabei war das Reisen während der Regenzeit auf die Dauer wirklich angreifend, und man verwilderte förmlich. Mich aber mit Grund und Boden in Californien ansässig zu machen, wie ursprünglich meine Absicht war, gefiel mir auch nicht mehr, nachdem ich alle inneren Verhältnisse des Landes genau kennen gelernt hatte.

Es ist nicht angenehm, in einem Lande zu wohnen, welches eine solche Anziehungskraft für alle rohen Gesellen nicht allein von ganz Amerika, sondern auch noch dazu von Europa und Australien besitzt, und wie dies in diesem Goldlande noch auf eine lange Reihe von Jahren der Fall sein wird. Wo Gold gesucht wird, kann eine ruhige, stätige Thätigkeit nie gedeihen, ein rastloses Streben nach schnellem Gewinn, eine unruhige Speculationswuth wird sich stets der Gemüther Aller bemächtigen.

Was hilft es aber, wenn man den besten Boden auch noch so wohlfeil kaufen kann, sobald die Arbeiter zur Bebauung desselben fehlen, und wenn man solche mit Mühe sich verschafft hat, diese wieder davon laufen, sobald sich das gewöhnlich sehr übertriebene [493] Gerücht verbreitet hat, dort oder da seien wieder neue Goldgruben von noch weit größerem Reichthum entdeckt worden? Als wandernder Handelsmann, als welcher man mit seinen Maulthieren diesem Zuge, der sich bald da, bald dorthin wendet, nachfolgen kann, vermag man in einem solchen Lande wohl Reichthümer zu sammeln, als stetiger Landbauer aber nicht. Ich sehnte mich aber darnach, jetzt endlich einmal ein festes Eigenthum zu besitzen, und so beschloß ich denn, Californien nach sechzehnmonatlichem Aufenthalt wieder zu verlassen.

Das Glück wollte, daß ich Pferde, Maulesel, Geschirr und meine Waarenvorräthe Mitte December 1854 in Sacramento zu recht annehmbaren Preisen an einen Mexicaner verkaufen konnte. Nun zog ich mein Vermögen zusammen, rechnete mit einigen Kaufleuten, mit denen ich in laufender Rechnung gestanden hatte, ab und fand, daß ich während meines Aufenthaltes in Californien nahe an 10,000 Dollars reinen Ueberschuß verdient hatte, und überhaupt jetzt ein Vermögen von über 20,000 preußische Thaler besaß. Mein Hansen, dem ich bestimmte Procente an dem Gewinn zugesichert hatte, besaß jetzt schon ein Vermögen von 2000 Thalern, und auch die beiden anderen deutschen Gehülfen hatten in der Zeit, während welcher sie bei mir beschäftigt waren, Jeder einige Hundert Dollars erspart. Der frühere preußische Soldat, ein gelernter Bäcker, wollte einen Brodhandel in Marysville anfangen, der Schleswig-Holsteiner kaufte sich zwei Pferde, und ward Lohnkutscher in Francisco; Hansen aber beschloß, sich nicht von mir zu trennen und vorerst die Reise nach Chili mitzumachen.

Ich hatte nämlich in Sacramento einen sehr gebildeten jungen Chilenen, der wieder in sein Vaterland zurückkehren wollte, kennen gelernt. Dieser konnte mir die Vorzüge desselben, und wie das Land sich besonders sehr zur Niederlassung für mich eignen würde, gar nicht genug rühmen, und so beschloß ich denn, ihn vorerst nach Valparaiso zu begleiten, und mir die Verhältnisse in Chili etwas genauer anzusehen.

Am 24. December 1854 schiffte ich mich in San Francisco am Bord eines prachtvollen nordamerikanischen Dampfers ein, von froher Hoffnung auf eine glückliche Zukunft erfüllt. Vier Jahre früher war ich an demselben Tage aus Rendsburg abgereist. Was hatte ich in dieser Zeit nicht Alles erlebt und durchgemacht!




Aufruf zur Bildung von Vorschußvereinen.
Von Schultze-Delitzsch.

Geld und Credit im Ueberfluß für die Handwerker und kleinen Gewerbtreibenden! Kann denn Niemand von ihnen Geld brauchen? –

Fast klingt es, wie ein schlechter Spaß, wie die Anpreisung eines Marktschreiers, wenn man in diesen Tagen eine solche Frage an die Leute richtet und sie ordentlich bittet, daß sie die Gefälligkeit haben möchten, zuzugreifen; und noch dazu diejenige Classe, welche Beides am meisten bedarf und am seltensten erlangt. Und doch ist es so, von den obigen Worten geht kein Buchstabe ab. Wie viele sonst wackere Männer übersehen noch das nächste dargebotene Mittel zur Rettung aus unleugbarem Nothstande, die Aufhülfe durch eigene Kraft, und erwarten von irgend einer unerfindbaren Gewerbeorganisation den Schutz vor der ihre kleinen Geschäfte erdrückenden Großindustrie. Und doch müßte, nach den vielen vergeblichen Versuchen, eigentlich ein Blinder es begreifen, daß ihnen nichts weiter übrig bleibt, als auch ihrerseits mit der Zeit fortzugehen, sich der neuen Erfindungen, der Vortheile der neuern Betriebsweise zu bedienen, wenn sie auf die Länge bestehen wollen. Dazu aber ist vor allen Dingen Geld und Credit nöthig, und zwar mehr, als ihnen unter den bisherigen Umständen zu Gebote stand. Und wäre es nur, um die Rohstoffe im Großen besser und billiger zu beziehen, die in fast allen Branchen so ungeheuer im Preise gestiegen sind, daß, wer dieselben in kleinen Quantitäten vom Zwischenhändler zu entnehmen genöthigt ist, schon deshalb allein nicht Concurrenz halten kann. Beides aber, Geld und Credit, ist da, sobald die Handwerker nur wollen, das ist keine Chimäre, sondern eine durch unsere Vorschußvereine seit mehreren Jahren vor den Augen aller Welt erprobte Thatsache.[1] Während die großen Banken ihr Disconto in der letzten Zeit erhöhen mußten, ist die ohne viel Geräusch neben ihnen vorgeschrittene Bewegung ihrer bescheidenen Schwestern, der Vorschußvereine, binnen Kurzem dahin gelangt, ihren Mitgliedern den Credit von Jahr zu Jahr billiger gewähren zu können, da ihnen an Baarschaft soviel zufloß, daß sie nicht immer von allen Offerten Gebrauch machen konnten. Und dabei gehen diese Vereine lediglich von den Handwerkern und Arbeitern selbst aus, als reiner Ausdruck der Selbhülfe, ohne daß es etwaiger Wohlthäter unter den wohlhabenden Classen, fremder Hülfe, des guten Willens Dritter bedürfte. Die Organisation, die Wirksamkeit der schon seit mehreren Jahren bewährten Institute liegt offen vor aller Augen da, so daß man die Einrichtung der Mustervereine mit wenigen Modificationen fast immer auf die neu zu gründenden Institute übertragen kann, was in vielen gelungenen Fällen von Handwerkern ganz allein, ohne Zuziehung von eigentlichen Geschäftsleuten, in das Werk gesetzt worden ist. Die erforderlichen Capitalien finden sich dann, sobald nur Leute, welche als solid und rechtlich im Publicum bekannt sind, die Sache in die Hand nehmen, von selbst. Da sind Manche unter den kleinen Leuten, die Geld in den Sparcassen haben, was sie weit lieber den Instituten ihrer Genossen zuwenden, wo sie besseren Zins erhalten; da gehen von den Mitgliedern selbst in der Form geringer Monatsbeiträge Summen ein, welche allmählich schon in das Gewicht fallen. Die Sicherheit für die Gläubiger aber wird auf das Vollständigste durch die solidarische Haft sämmtlicher Mitglieder gewährt, worin wir den eigentlichen Hebel erblicken, welcher der ganzen Organisation ihre Macht verleiht. Denn wir haben es meist mit unbemittelten Gewerbtreibenden zu thun, deren wirthschaftliche Bedeutung zum großen Theil nicht in einem gesicherten Besitz, sondern in ihrer Arbeitskraft liegt; eine Eigenschaft, welche im Verkehr nicht als Sicherheit für Capitalanlage gilt, weil sie bei dem Einzelnen zu vielen Zufälligkeiten unterworfen ist, die derselbe nicht in der Gewalt hat. Dieser Mangel wird aber sofort gehoben, sobald eine größere Menge von Arbeitern zusammentritt und gegenseitig für einander einsteht, Zufälle und Unglück, die den Einzelnen betreffen können, überträgt, wie dies eben bei der solidarischen Verhaftung dem Gläubiger gegenüber geschieht, der sich alsdann wegen seiner ganzen Forderung an jedes Vereinsglied zu halten berechtigt ist.

Daß die aus der Vereinscasse den Mitgliedern vorgestreckten Summen verzinst werden müssen, daß man dabei auf Bildung eines Reservefond, wegen möglicher Verluste und Deckung der Verwaltungskosten Rücksicht zu nehmen hat, versteht sich von selbst. Deshalb können die Zinsen, wie bei einem Banquier, wenn man dessen Provision hinzurechnet, nicht unter 8–10 Procent auf das Jahr bemessen werden, wobei jedoch der Ueberschuß, welchen die Zinseinnahme nach Abzug sämmtlicher Geschäftsunkosten gewährt, den Mitgliedern in der Form einer Dividende wiederum zu Gute kommt. Sie zahlen also in jenen höhern Zinsen nur das, was das Bestehen des Institutes durchaus erfordert, und wie gering dieser Zinsabsatz überhaupt ist, einmal gegen den Vortheil, den sie sich mit dem so erhaltenen Capitale schaffen können, sodann gegen diejenigen Zinsen, welche sie außerhalb des Vereins bei unsern Geldleuten in der Regel zahlen mußten, weiß Jeder, der praktische Erfahrungen hierin gemacht hat, nur zu gut. Welcher Segen ist es für die Handwerker, in jedem Augenblicke 50–100 Thlr. und mehr erhalten zu können, und wie können hiergegen die 12½–25 Neugroschen in Anschlag kommen, die er dafür auf einen Monat zahlen muß! Schon sind die meisten Vereine selbst in unsern kleinen Städten dahin gelangt, daß sie die 300, ja 500 Thaler auf eine Post geben, sobald die Verhältnisse des Vorschußempfängers die nöthige Garantie bieten, und noch niemals – dies ist [494] wörtlich wahr – ist wegen mangelnden Cassenbestandes bei uns ein Gesuch abgewiesen worden, weil der Credit unserer Vereine es möglich machte, den Betriebsfonds jeden Augenblick beliebig zu verstärken.

Außerdem gewähren aber die Vorschußvereine auf der von uns empfohlenen Grundlage noch ein Resultat, auf welches wir besonderen Werth legen und welches kein anderes ähnliches Institut in dieser Weise bietet; daß sie nämlich den Mitgliedern die Anfänge einer eigenen Capitalbildung ermöglichen. Der große Anreiz hierzu liegt nämlich in der Dividende, die den Einzelnen nach Höhe ihres Guthabens in der Vereinscasse gewährt wird, welches sie sich durch das Einsteuern fortlaufender kleiner Monatsbeiträge gebildet haben, und dem die jedesmalige Dividende selbst wiederum zugeschrieben wird. Die Wirkung der ersten den Mitgliedern gewährten Dividenden überstieg alle Erwartungen, indem, trotz der einfallenden für die Handwerker unserer kleinen Städte so drückenden Nothjahre, sich die Monatssteuern auf das Doppelte, ja Dreifache des früheren Betrages erhoben, weil auch die Aermsten jeden Groschen, den sie sich abdarben konnten, in die Casse trugen, um ihre Berechtigung an der Dividende zu erhöhen. So erhielt man das außerordentliche Resultat: daß schon nach wenigen Jahren ein sehr bedeutender Theil des Betriebsfonds (in Delitzsch z. B. nach vier Jahren die Hälfte) den Mitgliedern eigenthümlich gehörte, und die sichere Aussicht vorhanden ist, daß die Vereine in 8–10 Jahren ungestörter Wirksamkeit ihren Geldbedarf lediglich unter ihren eigenen Mitgliedern aufbringen. Und um die volle Bedeutung dieses Resultates zu ermessen, erwäge man wohl: daß die Mehrzahl der Mitglieder, gegenwärtig Inhaber eines für ihre Verhältnisse immerhin bedeutenden Bankgeschäfts, in ihrer früheren Isolirung es selten oder nie zum Erwerb eines eigenen Capitals brachte und, wenn sie den ihr unentbehrlichen Credit ansprach, mit großer Mühe oft nur wenige Thaler aufbrachte und dabei dem schmählichsten Wucher anheim fiel.

Nach alledem ist die Möglichkeit thatsächlich nachgewiesen, daß die unbemittelten Gewerbtreibenden sich durch eigene Kraft Baarschaft und Credit ermitteln können, sobald sie nur ernstlich Hand anlegen. Ebenso steht fest, daß nur auf die vorbeschriebene Weise dem Credit-Bedürfniß derselben sein volles Genüge auf die Dauer verschafft werden kann, indem die eigene Capitalbildung mit ihm Hand in Hand vorschreitet und ein wohlthätiges Gegengewicht bildet. Wie viel wir auch von Darlehnscassen u. a. hören und lesen, welche von wohldenkenden Personen und Vereinen gegründet, und durch Subventionen, sei es auch nur durch die zinsfreie Vorstreckung des Betriebscapitals erhalten werden: immer ist ihr Umsatz ein kümmerlicher, der mit dem vorwaltenden Bedürfniß nicht in Verhältniß steht, während wir nur bedauern, daß in unsern kleinen Landstädten der Verkehr sich in so engen Grenzen bewegt, da wir doppelten und dreifachen Ansprüchen zu begegnen im Stande sein würden. Und außer dem offenbar Ungenügenden muß man bei dergleichen Almoseninstituten – denn dies sind alle nicht auf die eigene Kraft der Betheiligten gegründeten – auch noch die offenbar verderbliche Wirkung in Anschlag bringen, die sie in sittlicher wie in wirthschaftlicher Hinsicht ausüben. Jemanden daran gewöhnen, auf den guten Willen, die Gnade eines Dritten sich bei seinen geschäftlichen Operationen zu stützen, ja ganze große Volksclassen geflissentlich zu der Vorstellung heranerziehen: daß sie sich ohne die Hülfe ihrer wohlhabenden Mitbürger nicht im Nahrungsstande erhalten können – wozu soll dies am letzten Ende führen? Dagegen predigen wir mit Wort und That unaufhörlich den Satz: „daß Jeder durch den richtigen Gebrauch seiner Kräfte recht wohl sich selbst zu helfen die Macht wie die Pflicht habe, und nur ein Bettler aus fremdem Beutel um Unterstützung anspricht;“ und Vernunft und Erfahrung mögen zwischen beiden Systemen richten. Dabei können wir nicht umhin, des glänzenden Beispiels zu erwähnen, welches ganz neuerlich durch das rasche Gedeihen des erst im vorigen Jahre gestifteten Vorschuß-Vereins zu Leipzig, nach unsern Principien, als Gegenstück zu der dasigen Darlehnanstalt für Gewerbtreibende geliefert ist. Obschon nämlich die letztern durch angesehene Kaufleute und Capitalisten in wohlmeinender Fürsorge für die unbemittelten Handwerker gegründet, mit bedeutenden meist unzinsbaren Capitalien ausgestattet und mit großer Aufopferung geleitet wird; obschon sie ihre Darlehne an Alle um geringere Zinsen gewährt: so blühte doch neben ihr unser Vorschußverein unter der tüchtigen Leitung der Herren Winter, Kreutzer, G. Meyer, Wieck u. A. so überraschend auf, daß seine Resultate schon nach einem Jahre darauf schließen lassen, daß er jene Darlehnsanstalt trotz ihres anfänglichen großen Vorsprungs, durch die Ueberlegenheit seines Princips binnen wenigen Jahren überholen wird.

So fassen wir denn die durch unsere Vereine erreichten wichtigen Vortheile kurz dahin zusammen, daß:

a) der kleine Gewerbstand dadurch in den Stand gesetzt wird, jeden Augenblick eine seinem Bedürfniß angemessene baare Geldsumme zu erhalten;
b) daß ihm die hohen wucherischen Zinsen erspart werden, welche er sonst dafür opfern mußte;
c) daß der Gewinn des Vorschußgeschäfts, bisher das Monopol der Capitalisten, in seine eigenen Taschen fließt und, nebst den kleinen ihn nicht belästigenden monatlichen Beisteuern, die Anfänge einer eigenen Capitalbildung zu seinen Gunsten bewirkt.

Gewiß wesentliche Bedingungen zum Gedeihen, an deren Mangel schon manches wackere Streben gescheitert ist.

Schließlich geben wir zur Bewahrheitung des Gesagten eine kurze Zusammenstellung der bei einigen unserer Vereine erzielten Geschäftsresultate nach den uns vorliegenden authentischen Rechnungsabschlüssen.

I. Beim Vorschußverein zu Delitzsch
(Stadt von 5000 Einwohnern), der Ende 1852 mit 52 Mitgliedern seine Wirksamkeit begann:


  1. 2. 3. 4. 5. Guthaben der
   neu gegebene oder prolongirte 
 Vorschüsse als Summe des 
 zinstragenden Verkehrs. 
 davon vereinnahmte Zinsen.   Reingewinn des 
 Vorschußgeschäfts. 
 davon den Mitgliedern 
 gewährte Dividende. 
 Mitglieder an eingesteuerten 
 Monatsbeitr. u. gutgeschr. 
 Dividende am Jahresschluß.
1853  8,440 Thlr. 5 Sgr. Pf. 196 Thlr. 2 Sgr. 11 Pf. 31 Thlr. 26 Sgr. 5 Pf. 8 Thlr. 10 Sgr. Pf. 195 Thlr. 17 Sgr. Pf.
1854  15,012 334 1 11 91 25 86 27 6 558 15
1855  19,818 464 29 7 150 22 3 147 23 1548 7
1856  24,532 20 576 24 229 10 10 229 10 10 2729 3 3


  6. 7. 8. 9.
   Bestand der aufgenommenen 
 Darlehne am Jahresschluß. 
 Reserve  ganzer Betriebsfonds 
 (Summe von Nr. 5–7.) 
 Mitgliederzahl 
 am Jahresschluß. 
1853  1818 Thlr. Sgr. Pf. 188 Thlr. 5 Sgr. 1 Pf. 2201 Thlr. 22 Sgr. 2 Pf. 100
1854  2595 14 235 18 3 3391 17 3 175
1855  3293 255 10 6 5096 17 6 210
1856  3006 15 303 24 7 6039 12 10 301


II. Beim Vorschußverein zu Zörbig (4000 Einw.), im Herbst 1853 mit 14 Mitgliedern eröffnet:


  1. 2. 3. 4. 5. Guthaben der
   neu gegebene oder prolongirte 
 Vorschüsse als Summe des 
 zinstragenden Verkehrs. 
 davon vereinnahmte Zinsen.   Reingewinn des 
 Vorschußgeschäfts. 
 davon den Mitgliedern 
 gewährte Dividende. 
 Mitglieder an eingesteuerten 
 Monatsbeitr. u. gutgeschr. 
 Dividende am Jahresschluß.
1854  4,449 Thlr. Sgr. Pf. 100 Thlr. 16 Sgr. 4 Pf. 38 Thlr. Sgr. Pf. Thlr. Sgr. Pf. 275 Thlr. 18 Sgr. Pf.
1855  10,187 285 27 2 148 25 8 146 7 6 653 7 6
1856  22,822 419 22 2 211 15 4 193 24 1292 5 6


[495]

  6. 7. 8. 9.
   Bestand der aufgenommenen 
 Darlehne am Jahresschluß. 
 Reserve  ganzer Betriebsfonds 
 (Summe von Nr. 5–7.) 
 Mitgliederzahl 
 am Jahresschluß. 
1854  944 Thlr. 20 Sgr. Pf. 38 Thlr. Sgr. Pf. 1258 Thlr. 8 Sgr. Pf. 45
1855  1605 52 29 6 2311 7 80
1856  3810 12 6 58 28 9 5161 134


III. Beim Vorschußverein, seit September v. J. Disconto-Gesellschaft in Eisleben (über 12,000 Einwohner), Mitte 1854 gestiftet:


  1. 2. 3. 4. 5. Guthaben der
   neu gegebene oder prolongirte 
 Vorschüsse als Summe des 
 zinstragenden Verkehrs. 
 davon vereinnahmte Zinsen.   Reingewinn des 
 Vorschußgeschäfts. 
 davon den Mitgliedern 
 gewährte Dividende. 
 Mitglieder an eingesteuerten 
 Monatsbeitr. u. gutgeschr. 
 Dividende am Jahresschluß.
1854  734 Thlr. Sgr. Pf. 136 Thlr. 4 Sgr. 11 Pf. 81 Thlr. 23 Sgr. 6 Pf. 9 Thlr. Sgr. Pf. 180 Thlr. 23 Sgr. 6 Pf.
1855  6,416
1856  30,929 558 23 3 304 19 2 ? ? ? 3814 12


  6. 7. 8. 9.
   Bestand der aufgenommenen 
 Darlehne am Jahresschluß. 
 Reserve  ganzer Betriebsfonds 
 (Summe von Nr. 5–7.) 
 Mitgliederzahl 
 am Jahresschluß. 
1854  2,060 Thlr. Sgr. Pf. 118 Thlr. 8 Sgr. 6 Pf. 3,592 Thlr. 2 Sgr. Pf. 101
1855 
1856  10,710 343 28 6 14,868 10 8 255


IV. Der Vorschußverein zu Leipzig,
am 1. Juli 1856 von circa 70 Mitgliedern gestiftet, eröffnete sein Vorschußgeschäft am 1. August 1856, und hat sich dasselbe im ersten Jahre, vom 1. August 1856 bis 31. Juli 1857, in folgender Weise gesteigert:


  1. 2. 3. 4.
 1856.  ausgegebene Vorschüsse.   Prolongation.   Zinstragender 
 Gesammtumsatz. 
 Mitgliederzahl am 
 Jahresschlusse. 
im August 90 Thlr. Ngr. Pf. Thlr. Ngr. Pf. 90 Thlr. Ngr. Pf. 306
  September  325 325  
  October  455 455  
  November  400 40 440  
  December  277 114 391 10  
         
 1857.        
im Januar 748 58 10 806 10  
  Februar 875 121 20 996 20  
  März  883 8 10 891 10  
  April  1,452 150 1,602  
  Mai  1,088 199 10 1,287 10  
  Junius  2,405 116 20 2,521 20  
  Julius  5,183 122 5,305  
  14,181 Thlr. Ngr. Pf. 930 Thlr. 20 Ngr. Pf. 15,111 Thlr. 20 Ngr. Pf.  


Das Guthaben der Mitglieder erhob sich am Jahresschlusse durch ihre Steuern auf 931 Thlr. 24 Ngr. 2 Pf., die Reserve auf 59 Thlr. 15 Sgr., und der Bestand der auf aufgenommenen Darlehen betrug 6789 Thlr. 20 Ngr., was zusammen ein Betriebscapital von 7789 Thlr. 29 Ngr. 2 Pf. ergab, der beste Beweis, welchen Credit sich dieses so junge Institut bereits erworben hat.

Und nach alledem: haben wir oben zu viel gesagt mit unserm Aufrufe?




Indien und dessen neueste Revolution.
Materialien und Motive der Revolution.

Die eingeborne Bevölkerung Indiens beträgt etwa 150 Millionen Seelen. Diese wurden, mit nur einigen unbedeutenden Ausnahmen, in denen sich noch etwas indische Regierung durch Indier erhalten hat, von etwa 10,000 Engländern „civilisirt und christianisirt.“ Letztere lebten, bis auf 317 Personen, alle in den großen Städten und ließen die Steuereinnehmer mit Militair und Torturinstrumenten aus den Städten durch das verfallene, wüste Land ziehen, um von dem Schweiße und der bittersten Armuth der Bewohner für die regierende kaufmännische Compagnie und deren Beamte mehr Geld zu erpressen, als die ganze Staatseinnahme Großbritanniens beträgt (insofern man dabei den Unterschied des Geldwerthes in England und Indien mit berechnet). Diese ungeheueren Einnahmen wurden stets für die Taschen der Compagnie, für militairische Vertheidigung der eroberten oder erschlichenen indischen Reiche, für Ausdehnung und weitere Eroberung, in Besoldungen übermüthiger Beamten, die außerdem noch gern Privaterpressung treiben, bis sie nach je 10–15 Jahren mit Jahresrenten bis zu 5 und 10,000 Pfund zurückkehren, also auf die ruinirendste Weise für Indien und England zugleich, verwendet. Eingeborne werden nur zu den niedrigsten Arbeits-Aemtern zugelassen. Von allen höheren und lohnenden Stellungen sind sie ausgeschlossen. Die Engländer waren besonders stolz und vertrauensvoll auf ihre 300,000 Mann Sepoys oder ihre Armee von eingebornen Indiern, die, aus Hindu’s und Muhamedanern bestehend, gegen einander in Feindschaft gehalten wurden, um den einen Theil durch den andern zu beherrschen und sie nur gegen die civile Bevölkerung vereint zu gebrauchen. Man hielt diese Politik für praktisch; doch zeigte sie sich, wie die in Empörung vereinten Hindu’s und Muhamedaner beweisen, auch so stark, um den künstlich genährten Gegensatz in gemeinsamem Hasse gegen die Engländer aufzuheben. Es revoltirte die ganze Armee der größten englisch-indischen Provinz, Bengalen. Selbst die wegen vermeintlicher Treue gegen die Empörer geführten Sepoys fielen ab, ermordeten ihre Officiere und schlossen sich den Rebellen in Delhi an.

In Delhi ist die meiste Bevölkerung muhamedanisch. Auch sie und muhamedanische Regimenter, und zwar diese am ersten und wüthendsten, rebellirten mit. Der Grund des furchtbaren Ausbruches kann also nicht allein in den religiösen Bedenken der Brahma- und Buddhagläubigen gegen die ihnen aufgedrungenen mit Schweinefett geschmierten Patronen liegen, obgleich diese Verletzung ihrer religiösen Reinlichkeitsgebote den Haß gegen das von Engländern repräsentirte Christenthum und ihren Argwohn, daß man sie „bekehren“ wolle, erhöhte [496] und zu hartnäckigen Demonstrationen und Weigerungen Anlaß gab.

Der jetzige Ober-Gouverneur von Indien, Lord Canning, soll allerdings viel und hauptsächlich für Christianisirung der Indier gearbeitet haben, während er nichts that, um die Liebe für die Engländer und den Namen des menschenerlösenden Heilandes unter den Hindu’s zu verbreiten. Er selbst soll ein sehr guter Mann, aber keineswegs ein Genie sein. Hauptgrund der Revolution war ein neues Niederlassungs- und Entlassungsgesetz für die Sepoys, die in ihrem buddhistischen und muhamedanischen Glauben die Mißhandlung unter englischen Officieren nur für einen unvermeidlichen Weg in eine eigene Hütte unter den Ihrigen halten. Gegen dieses Gesetz waren 40,000 Petitionen eingegangen, diese aber wegen Mangel an Stempelpapier, das sich die Bittsteller nicht hatten kaufen können, von den englischen Behörden unbeachtet weggeworfen worden. Sie mochten denken: wir haben ja Sepoys genug, um Sepoys damit zu bedienen. – Wir kennen das neue Gesetz nicht, wissen aber, daß es bisherige Niederlassungsbedingungen noch erschwerte und der Willkür englischer Beamten überließ, so daß die indischen Soldaten alle Bürgschaft für eine Zukunft verloren. Bisherige Niederlassung und Landbesitz unter englischem Gesetz war schon der Art, daß Niemand so leicht Landbau treiben konnte, ohne sich von den Engländern Geld für 30 bis 70 Procent Zinsen vorschießen zu lassen. Die englischen Herren behandeln nämlich allen indischen Boden als ihr Eigenthum und verpachten blos davon, wie sie’s mit dem englischen, dem australischen und allem anderen kolonialen Boden machen. Dies ist eine natürliche Entwerthung des Bodens mit der gewaltsamsten, künstlichen Vertheurung, so daß unter englischer Herrschaft fruchtbarste, üppigste Landesstrecken von hundert und mehr Quadratmeilen entvölkert und zu todten Wüsten wurden. Berge, Thäler, Abgründe mit majestätischen Strömen, aber ohne Brücken und Straßen und mit verfallenen Canälen und mit Bewässerungsmitteln, welche die früheren indischen Herrscher gebaut und unterhalten hatten.

Diese Bewässerungen unter einer brennenden Sonne und seltenem Regen waren die geheimen Quellen des alten, fabelhaften Reichthums Indiens, deren Verfall und Verwahrlosung unter englischer, blos Geld auspressender Herrschaft das Geheimniß des Elends und der bittersten Massenarmuth über das reichste Land hin. In Indien wächst die prachtvollste Baumwolle in Massen. Deren Mangel und Unzuverlässigkeit von Amerika, wo sie von der entsetzlichsten Barbarei des Sclavenwesens abhängt, ist die Noth und Verlegenheit der Hälfte aller englischen Arbeiter. Indien könnte ohne Sclaverei Baumwolle für alle englischen Spindeln liefern. Aber der nächste Hafen ist von der Baumwollengegend Indiens 400 englische Meilen entfernt, und diese werden durch den Mangel an Weg zu 4000 Meilen. Die Baumwolle wird jetzt auf Ochsenrücken über Berge, Abgründe und Wüsten nach dem nächsten Hafen getrieben, wozu zwei bis drei Monate und das Opfer vieler Thiere und Menschen gehören. Eine Chaussee, eine Eisenbahn würde aus den 4000 Meilen 40 Meilen, eine Reichthumsquelle für Indien und England gemacht haben. Aber dazu hatten sie kein Geld.

In den angegebenen Thatsachen finden wir die allgemeineren Hauptmotive indischen Hasses gegen die Herrschaft der Engländer. Sie erklären aber noch nicht die entsetzlichen Wuthausbrüche und Gräuelthaten der Empörer, die von Natur und aus ihrer Religion und Sitte heraus sehr friedlich, sehr human und zuweilen edelherzig sein sollen. Sowohl die brahmanische, als besonders die buddhistische Religion und Moral haben dem Hindu Unterdrückung seiner Leidenschaften und aufopfernde Menschlichkeit, Aufopferung seiner selbst bis zur Vernichtung gelehrt. Und die Hindu’s sind durchweg sehr religiös. Ihre ganze Revolution stützte sich, wie viele übersetzte Proclamationen der Empörer beweisen, wesentlich auf Religion, auf Vertheidigung indischen Glaubens und Lebens gegen versuchte und geargwohnte Bekehrung zum „englischen“ Glauben, den die Indier nach den englischen Früchten in ihrer Heimath beurtheilen, und deshalb auf das Unüberwindlichste hassen und verachten. Ein Engländer sprang einmal über eine Erdvertiefung, in welcher Hindu’s sich Essen kochten. So hungrig sie waren, berührten sie nun doch keinen Bissen ihres Mahles, sondern machten sich an einer andern Stelle von andern Substanzen ein neues Mahl zurecht.

Die Religion und deren Moral ist dem Hindu noch eine absolute Macht, für die sich Jeder vorkommenden Falls eben so freudig und unbeugsam aufopfert, wie die indische Wittwe, die mit Lobgesängen auf den Scheiterhaufen steigt, und ihn mit einem zwischen den Zehen des linken Fußes gehaltenen Lichte selbst anzündet, so oft sich auch wohlmeinende Engländer mit aller Beredsamkeit anstrengten, zarte junge Wittwen von 15 bis 16 Jahren von ihrem feierlichen Gange in den Scheiterhaufen abzubringen. Die glänzendsten Versprechungen für ein lachendes Leben wurden von solchen zarten Geschöpfen mit der Heiterkeit geistiger Ueberlegenheit, mit der Kraft eines Riesen und der Willenskraft des männlichen Helden abgewiesen, freilich auch mit viel Kampher. (Nach der Mittheilung eines muhamedanischen Indiers, Lutfullah, der eine in englischer Sprache erschienene, interessante Selbstbiographie geschrieben, werden die Wittwen durch äußerliche und innerliche Anwendung von Kampher so nervenabgestumpft, daß sie die Schrecken und Qualen des Feuers wenig fühlen sollen. Engländer redeten einmal einer Wittwe, ehe sie den Scheiterhaufen bestieg, zu, das Verbrennen an ihrem kleinen Finger zu versuchen. Sie riß lächelnd ein Stück von ihrem Taschentuche, wickelte es um den Finger, tauchte diesen in das Oel einer brennenden Lampe, und zündete ihn an. Während der Finger wie ein Licht brannte, und der Geruch brennenden Fleisches sich umher verbreitete, sprach sie ruhig mit ihrer Umgebung weiter, ohne einen Schmerzenslaut von sich zu geben. Der Gebrauch des Kamphers mag dabei viel gethan haben; aber während dieser Verbrennung rieselte der Angstschweiß von ihrer Stirn. Es muß also mehr moralische Kraft, als Kampher, dabei gewirkt haben. Man kann hier wohl mit Recht Luther’s Ausspruch: „Wasser thut’s freilich nicht“ auf diesen Kampher anwenden, der übrigens auch nicht sowohl als nerventödtende, als vielmehr als vermeintlich Körperverflüchtigung unterstützende Substanz gebraucht wird.)

Die ein Jahrhundert lang fortgesetzte Verletzung und Ausbeutung materieller Interessen der Indier durch die englische Politik würde, so arg sie’s auch trieben, die „Milch frommer Denkart“ nicht in das „gährende Drachengift“ der Empörung verwandelt haben. Erst das Eingreifen dieser englischen Politik in das Leben, Glauben und Lieben der Indier unter sich (wovon die mit Schweinefett geschmierten und den Sepoys aufgedrungenen Patronen nur ein Beispiel waren, das einen letzten Tropfen zu der Ueberfülle früherer und anderer Eingriffe und Verletzungen fügte) brachte den stillen Haß der Indier in die Gährung eines Ausbruchs, wie er kaum je in der Geschichte vorgekommen sein mag. Die indischen Soldaten der Engländer, die aus Natur und Neigung die Säuglinge ihrer Officiere gehätschelt und geliebkost haben würden, wie ein englisches Blatt treffend bemerkte, warfen diese Säuglinge jetzt in die Luft, fingen sie mit ihren Bajonnetten auf, und hackten sie dann in Stücken. Deren Mütter wurden auf unsagbare Weise gemißbraucht und dann ebenfalls zerstückelt. – Was muß Alles vorausgegangen sein, um solche Scenen erklärlich zu machen? Dabei war es keine blinde Wuth durchweg. Wir hörten von vielen Fällen, in welchen indische Soldaten ihren englischen Officieren erst Zeit und sogar Geld gaben, um sich mit ihren Familien zu entfernen, ehe die Empörung ausbrach, von Beispielen, daß Empörer entweder ihre Officiere oder deren Frauen und Kinder mit viel Aufopferung in Sicherheit brachten, von der respectvollen Haltung der siegenden Empörer gegen ihre wehrlosen englischen Officiere, die noch versuchten, sie zur Treue gegen englische Herrschaft zurückzureden, von unterthänigster Ablehnung und Bekämpfung ihrer Gründe durch Gegengründe u. s. w. Alle diese Scenen beweisen sehr deutlich, daß die Empörung nicht überall Ausbruch einer blinden Wuth war, sondern allenthalben, wo englische Officiere durch besondere Menschlichkeit und namentlich durch Erlernung der Sprache ihrer Soldaten (was eben schon Liebe voraussetzt) Veranlassung zu Schonung und Rücksicht gegeben hatten, diese auch stets geschont, beschützt und nobel behandelt wurden.

Daraus geht von selbst hervor, daß die unmenschlichen Ausbrüche maßloser Wuth gegen alles Englische in den meisten bengalischen Städten nur Folge einer maßlos empörenden Wirthschaft der Engländer gewesen sein muß. Man kann hier im vollen Umfange Bettina’s Ausspruch: „der Verbrecher ist des Staates eigenstes Verbrechen“ verwirklicht finden. Wir schaudern unwillkürlich vor den Schandthaten der englisch-indischen Armee zurück und denken wohl auch an eine gerechte Bestrafung der eingefangenen Empörer, wenn wir hören, wie die der höheren Kasten dutzendweise vor Kanonen gebunden und in alle Lüfte geschmettert werden, während die der niederen Kasten sich reihenweise mit dem Stricke

[497]

[498] und improvisirten Galgen begnügen müssen.[2] Müssen die brutal gemordeten englischen Frauen und unschuldigen Kinder nicht grimmig gerächt werden? Freilich, sagen die Criminalgesetzbücher. Aber auch die englisch-indischen Soldaten waren unschuldig. Wenn ihm ein Jahrhundert lang unter dem Titel: „Civilisation und Cristianisirung“ alles mögliche Gift eingezwungen und alles mögliche Recht und Geld der Heimath genommen wird und er dann einmal in voller Wuth losbricht, so ist dieser Paroxysmus doch nichts, als endlich zur Krisis getriebene Folge fortgesetzter Vergiftung und Beraubung, deren Schuld nur allein die Vergifter und Räuber tragen. Vor dem parteilos und sachlich urtheilenden Richterstuhle des natürlichen Menschen- und Völkerrechts (ohne alle Rücksicht auf etwa besondere Freiheits-Rechte) könnte blos ein einstimmiges Schuldig für alle Mord- und Gräuelscenen in Indien gegen die englische Politik und die ostindische Compagnie ausgesprochen werden, ein Schuldig des Mordes ihrer eigenen Weiber und Kinder, an allen Blut- und Brandscenen, welche tausendweise aus paradiesischen Naturscenen gen Himmel rauchten und flammten und noch lange in Kerker- und Executionsscenen, in Schlachten und Schlächtereien fortwirken werden, „um Ruhe und Ordnung wieder herzustellen.“

Indien ist weit von hier und die Engländer zu Hause, meint man, haben nicht unmittelbar sehr darunter zu leiden. Das ist ein großer Irrthum. Abgesehen davon, daß das indische Budget mit einem fortwährend steigenden Deficit am Marke des Volkes zehrt, zehrt es Tausende materiell und moralisch mit Haut und Haaren auf und aus. Ich sah einige Regimenter von London von Weibern und Kindern Abschied nehmen, um sich nach Indien transportiren zu lassen. Welch’ herzzerreißende Scenen! Welch’ stumme Verzweiflung in den Gesichtern der Soldaten! Jeder schien zu fühlen, daß er einem elenden Tode unter brennender Hitze und überschwemmenden Regengüssen, nicht einem Tode im Kampfe entgegen gehe. Viele Weiber schrieen’s auch jammerkreischend aus: Ich sehe Dich nie wieder! – Und dazu ist der nagendste Kummer Hausfreund und Schlafgenosse in Tausenden von Familien geworden. Die 10,000 Engländer in Indien sind durch ganz England und in den verschiedensten Graden bekannt, befreundet, verschwistert, verschwägert. Sind unsere Söhne, Töchter, Kinder, Enkel u. s. w. auch mit ermordet? Diese Frage wühlt noch Tag und Nacht durch unzählige Familien. Viele Ermordete sind bekannt. Man hat’s gelesen, wie sie überfallen, auf den Markt geschleppt, gemißhandelt und zerstückt wurden, wie Andere, zarte Frauen und Kinder, Tage und Nächte lang durch Dschungeln flohen und doch endlich noch aufgefunden und ermordet wurden.

Die schwarzen Flore, die nach dem fürchterlichen Krim-Winter sich um englische Köpfe hüllten, verschleiern jetzt noch viel mehr grimmig gramentstellte Gesichter.

Neulich ging ich zu Fuße von den heitern Höhen des Krystall-Palastes durch die Waldhügel und Villa’s der Umgegend nach Forest-Hill, der ersten Eisenbahnstation vom Palaste nach London, um einen Freund zu besuchen. Unterwegs fand ich die himmlische Ruhe der Gegend vor einem einsam und versteckt stehenden Hause plötzlich durch wüthenden, brüllenden, fenstereinwerfenden Pöbel unterbrochen. Die königliche Familie von Oude, die herkam, um vor’m Parlamente Recht zu suchen, wie sechs oder acht andere abgesetzte indische Fürsten vergebens versucht haben, hatte sich vor den Verfolgungen des Pöbels hierher geflüchtet, war aber auch hier aufgefunden worden, um sich dafür mißhandeln zu lassen, daß die Engländer ihr ohne eine Spur, ja ohne einen Schein von Rechtstitel Thron und Reich wegnahmen. Die dreißig Personen des indischen Hofes von Oude (der abgesetzte König selbst sitzt im Fort William zu Calcutta gefangen), in ein verstecktes Haus zusammengedrängt, mußten auch aus diesem Asyle fliehen. Der Pöbel revoltirt hier zur Verherrlichung der Verbrechen in Indien, Tausende grämen sich ab über scheußlich gemordete Angehörige, das Land gibt seine Söhne her, um sie vom indischen Klima umbringen zu lassen und alle Kosten dafür doppelt und dreifach zu bezahlen. Das ist der Segen des Besitzes von Indien!




Der militairische Stellenmarkt in England.[3]

Die nachstehenden Enthüllungen eines englischen Cavallerieofficiers, die wir Dickens’ Household Words entnehmen, gewähren einen belehrenden Blick in das Treiben und Wirken der auch nach dieser Seite hin durch und durch faulen Adels- und Geldwirthschaft der stolzen Britannia und sind mehr als vieles Andere geeignet, den Zustand der englischen Armee zu erklären. –

Warum ich eigentlich Dienste nahm, wüßte ich wohl schwerlich zu sagen. Ich fühlte gerade keinen besonderen kriegerischen Eifer in mir. Es war vielleicht, weil mehrere „Männer,“ von sechszehn Jahren oder da herum, die meine Cameraden in einer fashionablen öffentlichen Schule waren, in die Armee zu treten beabsichtigten; oder, wahrscheinlicher, wegen des gloriosen Vorrechtes, eine mit Goldtressen bedeckte Uniform tragen zu dürfen; am allerwahrscheinlichsten aber doch wegen der Alternative, die mir mein Vater stellte: entweder mir ein Officierspatent zu kaufen, mich mit guten Pferden in ein wohlbekanntes Regiment zu bringen und mir zugleich, außer meinem Gehalte, 500 Pfund (3350 Thlr.) jährlich zur freien Verfügung zu stellen, oder aber, mich auf die Universität zu schicken, wo ich mich um einen Grad bewerben sollte, um mir dann bei einem Anwälte im Tempel den Kopf mit der Rechtsgelahrtheit zu zermartern.

Die Wahl war schnell getroffen und mein Name wurde sogleich beim Kriegsamte für eine Charge vorgemerkt.

Officiersstellen waren zu jener Zeit gerade schwer zu erlangen, selbst durch Kauf; und erst nachdem ich anderthalb Jahre gewartet und meinen Vater gepeinigt hatte, fast monatlich an das Parlamentsmitglied für unsere Grafschaft und die verschiedenen Generale zu schreiben, mit denen er bekannt war, erhielt ich endlich vom militairischen Secretair des Oberbefehlshabers die officielle Weisung, daß nach Einzahlung einer Summe von 840 Pfund (5600 Thlr.) an den Armeeagenten, Herrn Soundso, mein Name Ihro Majestät für ein Fähnrichspatent in den leichten Dragonern empfohlen werden würde.

Auf diese Art wurde ich in der Armee angestellt: nicht etwa wegen irgend eines Verdienstes, das ich besessen hätte; nicht, weil ich vielleicht geistig oder physisch mich dazu eignete; nicht, weil ich ein Jota von der ganzen Sache verstand; sondern erstens, weil mein Vater so viel Einfluß hatte, mir eine Charge zu verschaffen, und dann zweitens, weil er Geld genug besaß, 840 Pfund dafür zu bezahlen.

Ungefähr zwei Monate, nachdem ich meinen Namen in der officiellen Zeitung als Fähnrich bei den leichten Dragonern gelesen [499] hatte, traf ich im Hauptquartiere des Regiments ein, das in einer Fabrikstadt im Norden Englands stand. Während der ersten vier Monate blieb ich ziemlich fest an den Kasernenhof gefesselt, um all’ die verschiedenen Uebungen, Exercitien und sonstige Obliegenheiten zu erlernen. Es ist eine außerordentliche Anomalie, daß die jungen Officiere in ihren Dienstpflichten erst dann unterrichtet werden, nachdem sie bereits in ihre Posten eingetreten sind, und nicht schon vorher. Gar oft sah ich so einen neuernannten Fähnrich erst reiten lernen, – ohne Steigbügel in der Reitschule herumtorkelnd, nicht selten von dem Reitlehrer ziemlich unsanft angeschnauzt und schallend verlacht von den Soldaten, – der einige Stunden später einen Trupp beim Stalldienste commandirte, von dessen Einzelheiten er weniger verstand, als die Pferde, die eben gestriegelt wurden. Ich fordere alle Soldaten, über die ein solcher Junge Autorität ausüben soll, heraus, irgend welchen Respect vor einem Gelbschnabel zu haben, der auch nicht das Geringste von seinen Berufspflichten kennt und vor ihren Augen erst erlernen muß, was sie alle vollständig inne haben und viele unter ihnen schon wußten, noch ehe er geboren war.

Nach ungefähr sechs Monaten hatte ich meine Reitschule und das Exercitium absolvirt und in noch dreien konnte ich bei einer Feldübung das Commando einer Abtheilung übernehmen, ohne gerade viel mehr Verstöße zu machen, als meine Nebenmänner. Mit dieser Fertigkeit fing ich an ein gewisses Interesse an meinem Fache zu nehmen und würde vielleicht noch ein ziemlich guter Soldat geworden sein, wenn ich bei den älteren Officieren einige Aufmunterung gefunden hätte. Allein bei den leichten Dragonern, wie beinahe in jeder anderen Waffengattung des Heeres, galt es für höchst pöbelhaft und unleidlich, von irgend etwas zu sprechen, was mit der Dienstpflicht zusammenhing. Der Oberst, der das Corps commandirte, war der jüngere Sprosse eines hochadeligen Hauses und hatte sich durch gewichtigen Einfluß und enorme Geldauslagen in sehr wenig Jahren zu seiner gegenwärtigen Stellung emporgeschwungen. Er schien das Regiment ganz als sein Privateigenthum zu betrachten und war sehr ungehalten, selbst wenn die obersten Behörden des Kriegsamtes sich viel in sein Commando einmengten. Er war verheirathet, und außer auf den Paraden und in den Stallungen sahen wir nur wenig von ihm; da er uns aber so viel Urlaub gab, als wir nur wünschten, und uns nicht mit vielem Exerciren plagte, so war er sehr beliebt bei seinen Officieren und erfreute sich durch die ganze Cavallerie des Rufes eines ganz ausgezeichnet guten Kerls. Die Wahrheit ist, daß er bei all’ seiner wirklichen Liebe für den Beruf sowohl, wie für das Regiment, doch zu viel Verstand besaß, um das Unmögliche zu unternehmen. Gleich so vielen Andern in seiner Stellung erkannte er, daß seine Officiere eben keine Soldaten waren und Nichts sie dazu machen könne, so lange das gegenwärtige System fortbesteht. Die sämmtlichen Geschäfte des Regiments wurden allein nur von dem Oberstlieutenant, seinem Adjutanten – ein tüchtiger Mann von mittleren Jahren, der ganz von unten auf gedient hatte und mit allen Theilen des Dienstes auf’s Genaueste vertraut war, – und sechs Wachtmeistern versehen. Die Rittmeister wußten blutwenig von den Leuten oder Pferden ihrer Schwadronen, und die Lieutenants noch weniger. Wünschte der Oberst oder der Adjutant von einem Rittmeister irgend etwas seine Mannschaft Betreffendes zu erfahren, so mußte er, um eine richtige Antwort zu bekommen, sich jedes Mal direct an den Wachtmeister der Schwadron wenden. Capitaine durch Kauf wissen überhaupt nur selten viel von ihren eigenen Soldaten. So unbedingt waren Berufsgegenstände in der Unterhaltung meiner Cameraden verpönt, daß man unsre Officierstafel wirklich erst jahrelang besucht haben mußte, um zu glauben, mit welchem Spotte und welcher Verachtung jede Frage, die sich auf den „Kram“ bezog, sogleich abgetrumpft wurde. Das Gleiche war bei jeder Officierstafel wahrzunehmen, an der ich gespeist habe, und es sind nur wenige in der ganzen Cavallerie, deren Gastlichkeit ich nicht genossen hätte. Pferde, Hunde, Jagen, Schießen, Wettrennen, das Ballet und die Adelschronik, das sind die immer wiederkehrenden Gegenstände aller Gespräche, der Inhalt aller Kenntnisse; von Kriegskunst und Kriegsgeschichte dagegen, von Einüben der Menschen und Pferde, wissen sie nichts, wollen sie nichts wissen noch hören und ebensowenig dulden, daß ihre Cameraden etwas davon lernen. Eins der ersten Dinge, die ein junger Mensch nach seinem Eintritt in ein Regiment von seinen Cameraden lernt, ist, jede Art von Dienstpflicht als „Plackerei“ zu bezeichnen. Einmal in einer Woche oder zehn Tagen auf Wache sein, ist Plackerei; die Stallungen besuchen und täglich eine Stunde lang thun, als beaufsichtige man das Pferdeputzen, ist Plackerei; zwei oder drei Tage Feldübungen in zehn Wochen, ist Plackerei; als Mitglied bei einem Kriegsgericht sein müssen, ist entsetzliche Plackerei; und auf der Straße die Uniform tragen – wie es in Dublin und einigen andern großen Städten reglementmäßig ist – das ist eine ganz unerträgliche Plackerei. Keinen Urlaub erhalten nach London während der Saison, nach Doncaster oder Newmarket zu den Wettrennen, nach Schottland im August oder im October nach Leamington, sind es überschwengliche Plackereien, daß schon gar mancher patriotische Capitain in Folge dessen ausverkauft hat.

Nicht als ob es solche Krieger an der Art hätten, sich dergleichen, aus der Dienstpflicht entspringende Plackereien lange gefallen zu lassen. In dieser Beziehung sind sie nur consequent. Sie treten in die Armee, weil es ihnen gerade Spaß macht, und aus demselben Grunde treten sie auch wieder aus. Es sind mir selbst Rittmeister bei den Dragonern bekannt, welche die Wirthschaft, wie sie es nennen, stehenden Fußes aufgaben, und was die geringeren Officiere anlangt, „so kann man“ – nach dem Ausdrucke eines alten Wachtmeisters, – „zu keiner Zeit wissen, welche Fähnriche und Lieutenants in den nächsten zehn Minuten noch zum Regimente gehören.“ Ich erinnere mich eines Rittmeisters, der erst kürzlich aus Indien zurückgekehrt war und dem sein Oberst einen dreitägigen Urlaub nach London abschlug. Fünf Minuten nach der Weigerung stand er im Zimmer des ersten, zum Kaufe vorgemerkten Lieutenants und frug ihn, wie viel er ihm geben wolle, wenn er ausverkaufe. „Wenn Sie Ihre Papiere diesen Nachmittag einsenden, will ich so und soviel (eine große Summe nennend) zahlen.“ Die Papiere wurden eingesendet, eine Anweisung auf die verabredete Summe wurde ausgestellt, und innerhalb vierundzwanzig Stunden war der Rittmeister ein freier Mann und der Lieutenant ein Rittmeister. Ich wüßte wenigstens zwanzig Officiere und mehr, die während meiner Dienstzeit wegen irgend einer kleinen Empfindlichkeit augenblicklich die Armee verließen. Das ist natürlich: die Officiere betrachten ihre Stellen einfach als Privateigenthum, – was sie bei dem gegenwärtigen Systeme auch wirklich sind, – und glauben sie mit demselben Rechte nach ihrem Belieben wieder verkaufen zu können, wie sie sie gekauft haben.

Nachdem ich ungefähr zwei Jahre im Regiment war, wurde ich ältester Fähnrich für den Kauf und hatte auch bald Gelegenheit, meine Beförderung zum Lieutenant zu erlangen. Was war mein Anrecht auf dieses Avancement? Geld, weiter gar nichts. Vor mir stand ein Officier, der von unten auf gedient und viel Kriegsdienst gesehen hatte, als das Regiment in Indien stand. Dieser Herr war seit beinahe zwanzig Jahren Soldat und nur durch sein Verdienst vom Gemeinen durch alle Grade bis zum Fähnrich und Regimentsadjutanten aufgestiegen. Weil er aber kein Geld besaß sich das Lieutenantspatent zu kaufen, so sprang ich, nach zweijährigem Dienste, über ihn hinweg. Mit Einschluß dessen, was mein Vater für meinen ersten Posten gezahlt hatte, kostete mein jetziger Rang 1760 Pfund (11,800 Thlr.). Der gesetzliche Preis für eine Lieutenantstelle ist 1160 Pfund (7800 Thlr.) und die Parlamentsacte so wie das Armeereglement erklärt jede Mehrzahlung für ein gerichtlich zu bestrafendes Vergehen; nichts destoweniger wird kaum je eine Stelle in der Armee um den gesetzlichen Preis verkauft, ja das Doppelte wird oft den älteren Officieren geboten, um sie zum Ausverkauf zu bewegen. Für die 1760 Pfund, die mein Vater für meine Patente ausgelegt hatte, erhielt ich ein jährliches Einkommen von 162 Pfund (1100 Thlr.), was bei weitem nicht meine monatliche Tischrechnung deckte. Ich war keineswegs verschwenderisch, sondern hielt im Gegentheil mein Geld sehr zusammen, und doch kamen meine Kasernenkosten – d. h. Alles, was ich ausgab, wenn ich wirklich beim Regimente anwesend war – niemals unter 50 Pfund (340 Thlr.) des Monats, und nur wenige meiner Cameraden gaben so wenig aus, wie ich. Hieraus ist ersichtlich, daß es reine Verrücktheit wäre, ohne ein ziemliches Privateinkommen in ein Cavallerieregiment treten zu wollen. Auch unterrichtet sich das Kriegsamt immer über die Mittel der Candidaten für solche Regimenter, ehe eine Ernennung stattfindet. In den Infanterieregimentern ist, wie ich glaube, die Lebensweise nicht so kostspielig, obwohl in dieser Waffengattung selbst junge Officiere immer 2 bis 300 Pfund (1400–2000 Thlr.) außer ihrem Gehalte jährlich haben müssen, um wie [500] ihre Cameraden leben und sich von Schulden freihalten zu können. In meinem Regimente befanden sich nur zwei Officiere, die keine Privatmittel besaßen: das waren der Quartiermeister und der Adjutant. Beide waren von Unten auf avancirt, und da sie in Folge ihrer Stellungen höhere Gehalte bezogen, als ihre Ranggenossen, der Oberst sie der Auslagen wegen von der Officierstafel dispensirte, und es von ihnen nicht verlangt noch erwartet wurde, daß sie sich bei den Subscriptionen für Bälle, Jagden, Wettrennen, Festessen und ähnlichen Extravaganzen betheiligten, so machten sie es möglich, auszukommen.

Das allgemein gebräuchliche Feilschen um Avancement würde in der Handelswelt bei einem häßlichen Namen genannt werden. Ungefähr vier Jahre, nachdem ich meine Lieutenantsstelle gekauft hatte, bot sich mir die Gelegenheit, eine Rittmeisterstelle zu erlangen. Ich war nicht der älteste Lieutenant, sondern hatte noch zwei vor mir auf der Liste. Der eine von diesen war der Reitlehrer, der zwar eine Jahresrente bezog, die ihn befähigte, bequem zu leben, aber nicht genug Vermögen besaß, eine Schwadron zu kaufen. Der andere ältere Officier hatte eben sein Geld beim Wettrennen verloren, und mußte daher seinen Namen von der Käuferliste zurückziehen. Es galt für einen besondern Glücksfall, daß ich, dritter Lieutenant und erst sechs Jahre in der Armee, schon eine Schwadron haben konnte, und der Rittmeister, welcher sich zurückzuziehen gedachte, beschloß daher auch, mich tüchtig zahlen zu lassen, um ihn dazu zu bewegen. Ich hatte gehört, daß er 5500 Pfund (37,000 Thlr.) für die Schwadron gegeben hatte, – während der Reglementspreis nur 3328 Pfund (22,000 Thlr.) war, – und bot ihm dieselbe Summe. Er aber verlangte 6000 Guineen (42,000 Thlr.). Das schien mir denn doch zu viel; aber nach langem Handeln und Feilschen willigte ich, 6000 Pfund (40,000 Thlr.) zu zahlen, und ihm ein altes Pferd für 100 Pfund (670 Thlr.) abzunehmen. Der Handel wurde abgeschlossen, und in wenig Tagen erschien mein Name in der officiellen Zeitung als Rittmeister durch Kauf. Noch einmal hatte ich vermöge der langen Börse meines Vaters zwei weit ältere Officiere übersprungen. Wohl zwanzig Mal war ich bei ähnlichen Käufen und Verkäufen zwischen meinen Cameraden gegenwärtig, und weit öfter noch wurde ich dabei zu Rathe gezogen. Auch habe ich noch nicht das Ganze erzählt. Wenn nämlich so eine Beförderung stattfinden soll, ist nicht nur der Handel zwischen dem Officiere, der jetzt ausverkauft, und dem andern, der seine Stelle kaufen will, in’s Reine zu bringen, sondern auch die niedern Grade, die dadurch eine Stufe vorrücken, haben ihren Theil an der Summe beizutragen. So auch bei mir: ich war zwar dem austretenden Rittmeister allein für die ganzen 6000 Pfund verantwortlich, mußte aber erst noch mit dem Fähnrich unterhandeln, der mir als Lieutenant folgen sollte, um von ihm den Preis seines eignen Avancements zu bekommen, das durch mein erkauftes Aufrücken möglich wurde.

Eine recht praktische Erläuterung dessen, wohin unser System des militärischen Avancements führt, ergab sich in meinem eigenen Falle, kurz nachdem ich in Besitz meiner Schwadron getreten war. Das Hauptquartier unseres Regimeuts lag jetzt in einer Garnisonsstadt im Süden von Irland; und da es gerade die Jahreszeit war, in der keine Feldübungen stattfinden, so befanden sich mehre unsrer Officiere auf Urlaub. Damals hatten wir nur sechs Schwadronen bei jedem Cavallerieregimente, und vier von den Unsern waren auf verschiedene Außenposten detachirt. Der Oberst reiste auf dem Festlande und der Major, der in seiner Abwesenheit das Regiment commandirte, wurde plötzlich unwohl und begab sich ohne Weiteres auf das Gut seines Vaters in der Nähe. Da ich der einzige Rittmeister im Hauptquartiere war, und es nicht thunlich schien, einen der andern von den Außenposten abzurufen, so führte ich länger als einen Monat den Befehl über das ganze Regiment. Während dieser Zeit standen natürlich alle eben anwesenden Officiere unter mir, darunter auch der Reitlehrer und der Adjutant. Der letztere war Dragoner gewesen und zum Wachtmeister avancirt, schon sechs Jahre vor meiner Geburt; selbst das Officierspatent, das er sich durch seine langen, ausgezeichneten Dienste erworben hatte, war ihm vier Jahre vor meinem Eintritt in die Armee verliehen worden. Dennoch aber, und lediglich kraft des Kaufgeldes, commandirte ich diesen Mann, der, wie ich nicht umhin konnte, zu fühlen, als Soldat in jeder Beziehung über mir stand. Er hatte in Indien drei oder vier Wunden empfangen, trug mehrere Ehrenmedaillen, und war in Armeebefehlen öffentlich mit Auszeichnung genannt worden. Weil er aber kein Geld besaß, um auf den Stellenmarkt zu gehen, so konnte er niemals eine höhere Stufe erklimmen, sondern blieb mit allen seinen Verdiensten bis an’s Ende simpler Fähnrich.

Der andere Officier, dessen ich erwähnte – der Reitlehrer – war der älteste Lieutenant im Regimente. Er war nie Gemeiner gewesen, sondern trat in das Regiment, als es noch in Indien stand, wo er viel schweren Dienst sah, so ein vierzehn Jahre, ehe ich mein erstes Patent erhielt. Dieser Officier hatte sowohl seine Fähnrichs- als Lieutenantscharge erkauft; nachdem aber sein Vater durch das Falliment einer Bank in Calcutta sein Vermögen verloren hatte, konnte er ihn, außer mit einer bescheidenen Jahresrente, nicht weiter mit Geld unterstützen. Die Folge war, daß er Lieutenant blieb, obwohl sämmtliche Rittmeister und auch der Major erst lange Jahre nach ihm als Anfänger in das Regiment getreten waren, und Keiner von ihnen wußte, was ein Schuß im Ernste sei, während er in Indien drei Feldzüge mitgemacht hatte.

Ich blieb noch ungefähr sechs Jahre in der Armee und lebte während dieser Zeit nach Art der meisten meiner Cameraden. Die wechsellose Monotonie des englischen Militairlebens bietet keinen Spielraum für jene energische Thatkraft, die dem Angelsachsen[WS 1] unter allen Himmelsstrichen und in jedem Fache eigen zu sein scheint. Das wird jedem Officier nach einer gewissen Zeit fühlbar. So lange des Daseins Zweck und Ziel in Jagen, Schießen, Wettrennen, Tafelfreuden und lustigen Gesellschaften besteht, hat eine Charge in einem Prachtregimente einen gewissen Reiz, der für die meisten diesseits der dreißiger Jahre höchst verführerisch ist. Aber nach diesem Alter fängt das Gemüth an, nach den Realitäten des Lebens zu verlangen; man wünscht ein Vorschreiten in der gesellschaftlichen Stellung, im Vermögen, oder selbst eine Vergrößerung der Verantwortlichkeit, ja sogar der Sorgen. Daher kommt es, daß so viele Officiere den Dienst verlassen, nachdem sie vielleicht zehn bis zwölf Jahre in der Armee gestanden haben, also gerade in einer Zeit, wo sie endlich ihre Pflichten erlernt haben und am meisten geeignet wären, ihrem Lande die wirksamsten Dienste zu leisten.

Nach zehn Jahren eines angenehmen, aber unnützen, wenn auch vielleicht nicht geradezu schlechten Lebens verkaufte ich aus, erhielt von meinem Nachfolger dieselbe Summe, die ich für meine Stelle gegeben hatte, und war wieder Privatmann.

Wie ist es möglich, daß bei einem derartigen militairischen Systeme die englische Armee in Kriegszeiten sich je dem Lande nützlich erweise? Ich gebe zu, daß unsre Lehrzeit in der Krim unsern Truppen Einiges von der Kriegskunst beigebracht habe; aber sollte ihnen dies Alles nicht schon längst vorher bekannt gewesen sein? Was würde man zu einem Arzte sagen, der, zu einem Kranken gerufen, erst anfangen wollte, Medicin zu studiren?




Allgemeiner Briefkasten.

Folgende Gedichte können nicht aufgenommen werden:
H. in Sprendlingen. – M. v. W. in Camburg a. d. Saale. – J. G. M. in Bunde in Ostfriesland. – A. B. in Feldkirch. – H. K. in Eilenburg. – Th. G. in Dresden. – W. K. in Naumburg. – A. A. K. in Prag. – A. F. in Constanz. – G. V. in Weißenfels. – L. M. in Riga. – E. M. in Naumburg. – E. v. D. in Haus Campe. – H. F. in M. u. W. – M. D. in Nürnberg. – C. J. in Leipzig. – S. L. in Göttingen. – F. O. in Mediasch. – E. W. E. in Halle. – E. L. in Breitenbach bei Siebenlehn. – K. Spp. – H. D. in Marienburg. – E. N. in Triest. – E. N. in Naumburg. – Joh. Ch. Sch. in Wien. – L. E. in Naumburg. – J. M. in Elberfeld. – C. P. in Bialosliwe. – C. E. in Dresden. – F. E. in Bischofsheim. – E. F. in Luxemburg. – A. Z. in Wesel. – L. a. S. Heiligenstadt. – H. M. in Leipzig. – R. F. in Danzig. – Fr. Al. B. in Aachen. – A. N. in Segeberg. – H. St. in Buttlar. – W. K. in Teplitz. – F. K. in Biala. – A. B. C. in Leipzig. – O. G. R. in Leipzig. – H. M. in Görlitz. –



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Man vergleiche über das Nähere das Werkchen: „Vorschußvereine als Volksbanken“ von Schultze-Delitzsch. Leipzig, 1855 bei E. Keil. Preis 10 Ngr., ferner die „Jahresberichte über Vorschußvereine pro 1855 und 1856“ von demselben Verfasser in der deutschen Gewerbezeitung, Jahrgang 1856, Nr. 3 und Jahrgang 1857, Nr. 2.
  2. Die beifolgende Abbildung einer solchen Scene in Peschawur gibt eine drastische Anschauung dieser Executionsweise, die eigentlich indisch ist, und von den Engländern gegen Verbrecher höherer Kaste aufgenommen ward. Diese Todesart ist leicht, und hat für den Hindu, der sich religiös nach Vernichtung und Auflösung in alle Lüfte sehnt, nichts Schreckliches; nur den Umstehenden bekommt sie manchmal nicht gut, wie denn bei diesen Zerschmetterungen sehr oft Glieder der Zerschossenen umstehenden Lebenden an die Köpfe flogen und ihnen Glieder zerschlugen. Bei der Zerschießung von zehn brahminischen Soldaten in Ferozepore zeigten die aus ihren Eisen geschlagenen und vor die Kanonen gebundenen Opfer den grössten Muth. Einige, die erschreckt aussahen, wurden von den Andern gescholten: „Was zeigt Ihr Furcht? Sterbt als Männer, nicht als Feiglinge! Ihr vertheidigt eure Religion, warum zittert Ihr also für euer Leben? Unsere Henker sind keine Sahibs. Sahibs? Hunde sind es!“ Einer wendete sich, schon vor die Kanone gebunden, trotzig um und warf dem commandirenden Officiere die Verbrechen Englands an Indien vor, bis dieser Feuer! rief, und der Sprechende unter Donner und Dampf verschwand.
    Aber auch für die Engländer, die schwere Rache üben, gibt es freilich – Entschuldigung wenigstens. Ein Officier, der kurz vorher in Delhi stand, schreibt z. B.: „Unser Blut ist in Wallung. Wir haben gesehen, wie Freunde, Verwandte, Mütter, Gattinnen und Kinder grausam ermordet und ihre Leichen grausam verstümmelt worden sind. Das allein in Verbindung mit dem Muthe, der uns die Russen besiegen ließ, würde uns mit Gottes Hülfe in den Stand setzen, den Sieg über diese Feinde zu erfechten. Unsere Scharfschützen rufen, wenn sie angreifen (10 gegen 100), einander zu: „Gedenkt der Weiber und der Kinder!“ und dann fliegt Alles vor ihnen dahin, wie Spreu vor dem Winde.“
  3. Während des Krim-Feldzuges hat sich bekanntlich das System des Officierstellenkaufs in der englischen Armee als nachtheilig und gefährlich so deutlich herausgestellt, daß man endlich ernstlich mit einer Reform desselben umgeht. Das Unglück in Indien mit seinem blutigen Gefolge hat wiederum großentheils in jenem Stellenkaufe eine, wenn auch entferntere Veranlassung, und so wird man obigen Artikel mit Interesse lesen.
    D. R.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Angelsachen