Die Gartenlaube (1858)/Heft 52

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 52. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der Todtenbesuch am Skagerhorn.
Nach wirklichen Begebenheiten mitgetheilt von Ernst Willkomm.
(Schluß.)


VII.
Die todte Braut.

Zu dem Anschlag der Wellen gesellte sich jetzt noch ein anderer Ton. Es war, als trieben mit der Fluthwoge schwere Gegenstände gegen das Haus, denn die Wände dröhnten laut, und schon zeigten sich hundert lockere Stellen. Das Wasser stand bereits ein paar Fuß hoch im Hause.

Niels Sturleson sprach den Segen über uns und erhob sich. Da brach die Wand, ein schäumender Strom riß die Steine vollends nieder, und augenblicklich füllte sich der ganze Raum mit Wasser. Instinctmäßig drängten Alle nach der Thür, um die Treppe zu gewinnen. Der wüste Fremde erreichte sie im Sprunge zuerst, aber wie er sie aufstieß, prallte er mit einem Aufschrei zurück, den ich später nach Jahren noch manchmal im Traume gehört habe und vor dem jedes Mal mein Herz erbebte.

Gleich den unfesten Wänden war auch die Thür des Hauses von der Gewalt der Wogen eingedrückt worden. Mit diesen zugleich drangen, vom Zuge des Stromes erfaßt, schwimmende Gegenstände in Sturleson’s Wohnung und das Erste, was wir von diesen erblickten, war ein seines Deckels beraubter Sarg. In schlichte Kleidung gehüllt, lag darin ein Weib, so wohl erhalten, als wäre sie erst vor wenigen Stunden der Welt entrückt worden. Die bleichen Hände über die Brust gefaltet, schien sie zu schlummern, im Schlummer aber von einem bösen Traume gequält zu werden; denn ihr Gesichtsausdruck war der einer schwer leidenden, einer schuldlos Büßenden.

Gegen den Mann von dem zerstörten Schiff „Isaak“ trieb dieser offene Sarg zuerst heran, sein Blick fiel auf die Leiche, deren Antlitz von den noch brennenden Windlichtern hell beleuchtet ward, und mit dem gellenden Ausrufe:

„Marie Anne! Marie Anne! Sie hält ihr Versprechen!“ brach er gurgelnd zusammen. Er würde ertrunken sein, hätten nicht Einige von der Mannschaft der „Olga“ ihn erfaßt und schnell emporgerissen.

„Laßt ihn nicht sterben, nicht jetzt!“ schrie Henricksen, den Sarg erfassend, und seine Rechte auf die verschlungenen Hände der Todten legend. „Es ist der Räuber, der Mörder meiner Braut! Es ist der ruchlose Esthe Torkel Veen!“

„Torkel Veen!“ stammelte der Entsetzte, und sein Auge heftete sich angstvoll auf den zürnenden Henricksen.

Dies Alles war das Werk nur weniger Secunden. Der von Henricksen fest gehaltene Sarg schwankte auf und ab auf der fluthenden Welle, deren Gewalt gebrochen zu sein schien. Der Sturm wüthete nicht mehr mit der früheren Heftigkeit, und auch die Fluth hatte ihre größte Höhe erreicht.

„Wardst Du auch erst mein im Tode, Marie Anne,“ sprach Henricksen, seine Hand auf die Stirn der Entseelten, von den Fluthen dem Grabe wieder Entrissenen legend, „so will ich jetzt doch nicht eher von Dir lassen, bis der Räuber Deines Glückes den wohlverdienten Lohn empfangen hat!“

„Gott ist gerecht!“ fiel Niels Sturleson ein. „Er öffnet die Gräber, damit offenbar werden die Frevelthaten verhärteter Sünder! Dies Weib trieb vor einigen Wochen Nachts bei ruhigem Wetter an den Strand. Ich bestattete die Unbekannte wie Jeden, den die See mir zuführte. Wer sie sein möge, von wannen sie kam, auf welche Weise sie den Tod im Meere fand, nach dem Allen konnte ich nicht fragen. Ich bettete sie unter Bitte und Gebet zu den Uebrigen, die auf gleiche Weise hier ihre letzte Ruhestätte auf Erden fanden.“

Torkel Veen war völlig gelähmt. Er konnte sich nicht bewegen und auch die Sprache versagte ihm Anfangs. Jede an ihn gerichtete Frage beantwortete er nur durch Zeichen. Das Erscheinen der Todten, schien es, hatte einen vernichtenden Eindruck auf ihn gemacht. Er gab durch Zeichen zu verstehen, daß man ihm Zeit lassen möge; später sei er Willens, zu sprechen und sein Gewissen zu erleichtern.

Man breitete nun ein Tuch über das Antlitz der Todten, damit Torkel Veen nicht immer wieder von Neuem sich vor der Leiche entsetzte. Da sich das Wasser inzwischen ziemlich rasch verlief, so konnte man den Sarg ohne Bedenken in der Flur des Hauses stehen lassen, dessen Thür wir, so gut es gehen wollte, wieder befestigten. Darüber ward es Tag. Die aufgehende Sonne beschien ein düsteres Trümmerfeld. Auf dem kleinen Friedhofe war kein Grab unbeschädigt geblieben. Die meisten Särge lagen umgestoßen, einige zerbrochen, zerstreut auf den Ueberresten der zerborstenen Mauer. In Segelfetzen, zwischen Sand, Geröll und Muscheln fanden sich Gebeine längst Beerdigter. Am Strande, weiter nach dem Horn zu, lagen die gestrandeten Wracks der beiden Schiffe, und aus dem Rumpfe des „Isaak“ brodelte hie und da noch dunkler Rauch auf. Zu bergen gab es nichts. Die wild tobende See hatte alles Werthvolle entweder zerschlagen oder in unergründliche Tiefen versenkt.

Gegen Mittag hatte sich Torkel Veen so weit erholt, daß er [742] ein Bekenntniß ablegen konnte. Seine Erzählung läßt sich in Folgendem zusammenfassen.

Marie Anne war mit dem Steuermann des „Pawlowsk“ früher bekannt gewesen, als mit Henricksen. Der unbändige Esthe in seiner Naturwüchsigkeit machte auf das weiche und sich leicht anschmiegende Gemüth des jungen Mädchens einigen Eindruck. Ohne eigentlich Neigung zu Veen zu fühlen, war der seltsam geartete Mensch ihr doch auch nicht gleichgültig, Sie fürchtete sich vor ihm und ließ es doch geschehen, daß er ihr Aufmerksamkeiten erwies. Von Heirathsanträgen war indeß zwischen Beiden niemals die Rede gewesen.

Da lernte Marie Anne den jungen Henricksen kennen. Dieser war viel weniger keck, bei Weitem nicht so leidenschaftlich, als Torkel Veen, aber er zeigte Herz, und in seinem Auge konnte Marie Anne lesen, daß er sie liebe, mit Zärtlichkeit lieben werde. Henricksen machte kein Geheimniß aus seiner Leidenschaft und zauderte nicht, dem Mädchen, das ihm gefiel, seine Hand anzutragen. Marie Anne beglückte diese Werbung, aber sie wagte sie nicht sofort anzunehmen. Sie selbst war ein ganz unbemitteltes Dienstmädchen, und Henricksen fuhr als Matrose auf einem Grönlandsfahrer! Das gab nicht die besten Aussichten auf eine glückliche Zukunft, und darum zögerte sie, damit nicht ein übereilt gefaßter Entschluß sie später gereuen möge.

Henricksen ging inzwischen wieder zu Schiffe und Marie Anne hatte sonach Zeit, mit sich selbst zu Rathe zu gehen. Vor seiner Rückkehr ankerte der „Pawlowsk“ wieder in der nahen Hafenstadt, und schon ein paar Tage später begegnete der ungebärdige Steuermann des russischen Schooners dem jungen Mädchen.

Marie Anne wollte ihn meiden, aber Torkel Veen ließ sich so leicht nicht abweisen. Gezwungen mußte das geängstigte Mädchen ein Tanzlokal mit ihm besuchen, und als sie schieden, knüpfte er ihr fast mit Gewalt ein ganz neues Tuch um den Hals. Um den Heftigen nicht zu beleidigen, ließ sie es geschehen, legte es aber, nach Hause gekommen, sogleich wieder ab. Hier sah es ihre Freundin, die Tags darauf zufällig zu ihr kam. Leonore gefiel das Tuch und sie wünschte zu erfahren, wo sie es gekauft oder von wem sie es bekommen habe. Marie Anne hielt mit der Sprache zurück und Leonore vermuthete ein geheimes Verhältniß. Da gewahrte die Freundin Henricksen auf das Haus zukommen. Sogleich verbarg Marie Anne das Tuch und eilte dem Kommenden mit offenen Armen entgegen. Ihr Herz sagte ihr, daß kein Anderer sie besser vor den immer zudringlicheren Nachstellungen des heftigen Esthen schützen könne, als dieser ruhige, treue und ehrenwerthe Jugendgenosse, ihr Freund und Landsmann, den sie eben so gut kannte, wie sich selbst. Sie wußte jetzt, daß sie ihn, ihn ganz allein liebe, und sie war fest entschlossen, auf einen seinerseits erneuerten Antrag mit freudigem „Ja“ zu antworten.

Dieser Antrag blieb nicht aus und ehe noch der Tag verging, war Marie Anne die Braut Henricksen’s. Von ihrem Zusammentreffen mit Torkel Veen schwieg aber das Mädchen gegen ihren nunmehrigen Verlobten, da sie besorgte, ein zufälliges Begegnen beider Männer könne bei den wüsten Neigungen des Esthen, die ihr nicht entgangen waren, und bei der innigen Zuneigung Henricksen’s, von der sie überzeugt war, zu unangenehmen, wo nicht gar feindseligen Auftritten führen.

Torkel Veen hatte von dem Verlöbniß Marie Anne’s keine Ahnung. In der Hoffnung, es werde ihm gelingen, das heitere Mädchen dauernd sich zu erringen, kam er Abends, bald nach Henricksen’s Fortgang, in das Haus des Küsters. Der Empfang Marie Anne’s, der kühl, gemessen und auch befangen war, machte ihn stutzig. Er ward ungeduldig, bald sogar heftig und ungestüm. Das geängstigte Mädchen fürchtete eine Scene, die sie in ihrem eigenen Interesse zu vermeiden wünschte. So schlug sie denn vor, dem Ungestümen auf einem Spaziergange nach dem Deiche eine Eröffnung zu machen, welche ihr Benehmen rechtfertigen sollte. Um zu beweisen, daß sie ihm freundlich gesinnt sei und dies auch fernerhin zu bleiben wünsche, schlang sie das von Veen erhaltene Tuch um den Hals und verließ, wie sie meinte, unbemerkt das Haus ihres Brodherrn.

Marie Anne ging eine Zeit lang neben Torkel Veen fort, ohne auf dessen sehr bestimmte Anträge zu antworten. Erst als sie sich ganz unbeachtet sah – der Deich und hinter diesem die See lag bereits dicht vor ihr – erklärte sie mit kurzen Worten dem Esthen, daß sie sich vor wenigen Stunden einem Jugendfreunde verlobt habe.

Es war ein Unglück, daß die Nähe der See durch das starke Geräusch der brandenden Wogen jeden andern Laut erstickte. Kaum hatte Torkel Veen das Geständniß des Mädchens vernommen, das er bereits zu besitzen glaubte, so übermannte ihn die Raserei seines ungebändigten Naturells. Ohne ein Wort zu erwidern, umschlang er sie mit starkem Arme, um sie seewärts nach dem Nachen zu tragen, der hier bereit lag, damit der Steuermann sich in demselben nach dem draußen im Meer vor Anker liegenden Schooner zu jeder Zeit begeben könne. Marie Anne aber entwand sich geschmeidig seiner Umarmung und entfloh unterhalb des Deiches ihrem Verfolger.

Eine kurze Zeit behielt sie einen Vorsprung, da kreuzte ein Graben ihren Pfad. Schnell entschlossen übersprang sie diesen und eilte die Deichböschung hinauf. Torkel Veen aber hatte sie schon erreicht. Er faßte ihr Gewand, sie strauchelte und fiel, und im Ringen mit dem erhitzten Verfolger verlor sie das Tuch. Der leichte Wind trieb es fort in einen Ginsterbusch, wo es hängen blieb.

Marie Anne’s Widerstreben half ihr jetzt nichts mehr. Torkel Veen bemächtigte sich ihrer, trug sie in seinen Nachen und ruderte mit der Geraubten hinaus auf’s Meer. Aber es war noch nicht dunkel genug, um die Entführte unbemerkt an Bord des Schooners bringen zu können. Der Esthe kehrte deshalb nochmals um, und lief in eine Wehle unter dem Deiche ein, bis er sich gesichert glaubte. Auf den ihn begleitenden Matrosen durfte er sich verlassen. Die Widerstrebende ward hier gebunden und geknebelt, und so gelang es dem unbändigen Manne, der so leicht vor keinem Unternehmen zurückschrak, das unglückliche Mädchen ungesehen an Bord zu schaffen und es hier zu verstecken. Am nächsten Morgen schon lichtete der „Pawlowsk“ die Anker und stach in See. Die Gewaltthat Veen’s mußte am Lande Jedermann ein Geheimniß bleiben.

Wie sorgsam aber auch der leidenschaftliche Esthe seine Gefangene bewachte, die tief im Räume zwischen Ballen und Fässern ein trauriges Dasein führte, eine Ahnung des Geschehenen stieg doch in der Seele des Capitains auf. Er hielt es indeß für zweckmäßiger, zu schweigen. Torkel Veen war ein unerschrockener Seemann, der sich nicht leicht wieder ersetzen ließ. Ertappte er ihn aber auf einem offenbaren Verbrechen, so mußte dessen Entfernung vom Schiff doch die allergeringste Züchtigung sein. Auch scheuete er des wilden, schwer zu behandelnden Menschen gewaltthätigen Sinn. So schwieg denn der Capitain, bis der Schooner in Reval einlief.

Nun aber hatte er jeder Zeit ein scharfes Auge auf seinen Steuermann, der sich täglich ungebehrdiger zeigte und sichtlich verwilderte. Er überraschte ihn, als er das unglückliche Mädchen heimlich ans Land schaffen wollte. Es kam zu einem sehr heftigen Auftritte, der mit der Verhaftung des Frevlers endigte. Marie Anne ward einstweilen dem Schutz der Obrigkeit übergeben, um später, wenn die nähern Umstände ihrer gewaltsamen Entführung genauer erforscht sein würden, über sie zu verfügen. Leider hatte man aber bei Veen’s Verhaftung dessen Charakter nicht richtig beurtheilt. Schon in der ersten Nacht entkam er seiner Haft, und wußte sich auch schlau seines Opfers wieder zu bemächtigen. Er verschwand mit der zum zweiten Male Geraubten, und Niemand erfuhr, wohin der wilde Esthe gekommen sei.

Bald darauf begannen die Räubereien zu Wasser und zu Lande. Es dauerte viele Monate, ehe man die eigentlichen Urheber derselben ermittelte. Ein paar Mordthaten erst leiteten auf die rechte Spur. Der verschwundene Torkel Veen stand an der Spitze der verbrecherischen Rotte, die eine große Strecke der Küstengegend und das Meer zwischen den Inseln und Klippen besonders für Küstenfahrzeuge unsicher machte. Nur durch große Vorsicht entdeckte man endlich den Schlupfwinkel dieser neuen Flibustier. Dieser befand sich in einer schwer zugänglichen Höhle oder vielmehr einer geräumigen Felsenspalte, die sich mehrfach verzweigte. Nur bei ganz ruhigem Wetter konnte man ohne Gefahr in der Nähe dieses Versteckes landen, und sollte dies unbemerkt von denen geschehen, die jeder Zeit darin weilten und auf den leisesten Laut, der ihnen verdächtig erscheinen mochte, lauschten, so konnte eine Überrumpelung mit einigem Erfolg nur bei dicker Nebelluft versucht werden.

Zur Ausführung dieses schwierigen Unternehmens schritt man in jener Nacht, wo die „Olga“ unfern der felsigen Küste ankerte. Die Überrumpelung gelang über Erwarten, sie kostete aber viele Menschenleben. Nur Wenige der Verbrecher wurden lebend ergriffen. [743] Torkel Veen allein entkam mit Marie Anne, die ihm gezwungen angehörte. Er flüchtete sich mit der Leidenden, tief Trauernden, die er bald durch seine ungestümen Liebkosungen, bald durch rohe Mißhandlungen quälte, auf ein finnisches Holzschiff, das nach Christiania bestimmt war. Es war von plumper Bauart, alt und leck, wie diese Fahrzeuge es häufig sind. Trotzdem hatte es sich auch bei schwerem Wetter immer ganz leidlich gehalten. War es nun diesmal zu schwer beladen oder achtete man zu wenig auf die lecken Stellen, die täglich gestopft werden mußten: genug, eines Nachts gewahrte die nur aus fünf Köpfen bestehende Mannschaft ein verdächtiges Schwanken. Zu spät entdeckte man, daß das Schiff Wasser zog, und immer tiefer in die Wogen sank. Man versuchte, es zu erleichtern, indem man über Bord warf, was gerade zur Hand war, die Ladung selbst blieb unzugänglich. Das Schiff legte sich bald zur Seite und verschwand spurlos in die Tiefe. Bei diesem Ereigniß kam Marie Anne um’s Leben. Veen trieb auf einer Tonne längere Zeit umher, und ward endlich von einer Nordlands-Yacht aufgenommen. Diese brachte ihn nach Bergen, und hier ließ er sich für den „Isaak“ heuern, der mit reicher Ladung nach Riga segeln sollte. Die Sturmnacht bei Skagenhorn bereitete auch diesem Schiffe den Untergang.

Marie Anne’s Besitz brachte dem verbrecherischen Veen kein Glück. Sie vergalt ihm seine Mißhandlungen mit der ungescheutesten Verachtung und mehr wie einmal, wenn sie seine rohe Heftigkeit nicht zu bändigen wußte, schreckte sie ihn mit der Drohung von sich: „Ich komme nach meinem Tode körperlich zu Dir, und verklage Dich vor Gott und Menschen!“

Torkel Veen war nach diesen Bekenntnissen wie gebrochen. Er verlangte, daß man ihn als Verbrecher seiner Regierung übergeben solle. Dazu jedoch hatte der Capitain der „Olga“ keine Lust. Er glaubte, ein ferneres Leben voll Gewissensbisse sei hinlängliche Strafe für seine Verbrechen. So legte denn Niemand Hand an ihn.

Die von den Fluthen dem Grabe entrissene Leiche Marie Anne’s ward gegen Sonnenuntergang zum zweiten Male in Gegenwart der ganzen Schiffsmannschaft der gestrandeten „Olga“ feierlich beerdigt. Niels Sturleson sprach über dem zweiten Grabe der Verstorbenen ein ergreifendes Gebet.

Torkel Veen wohnte dieser Bestattung der von ihm Geraubten nicht bei. Man sah ihn überhaupt niemals wieder. Wahrscheinlich stürzte er sich freiwillig in’s Meer und fand hier seinen Tod. Nach unserer Rückkehr in die Heimath führte ich Leonore als Gattin heim. Henricksen verschmerzte nach und nach den Verlust seiner Braut, er hat aber nie geheirathet. Im nächsten Sommer erhielt er das Commando auf einem Grönlandsfahrer. Ich wurde sein Steuermann, und wir sind in bester Freundschaft volle zehn Jahre lang auf demselben Schiffe in die Polargegend gefahren, bis es uns ein Sturm ebenfalls an der Küste von Skagen in Trümmer schlug.

Selten mag ein Erzähler so aufmerksame Zuhörer gehabt haben, als Capitain Petersen. Es unterbrach ihn Keiner, so lange er sprach; selbst wenn seine Zunge unversehens an einer unbequemen Sylbe hängen blieb, war auch nicht eine Lippe, die sich zum Lachen verzogen hätte.

Der wackere Mann ahnte nicht, daß er schon ein Jahr später in der nämlichen Gegend, wo der Schluß seiner Erzählung spielte, ebenfalls sein Grab im Schooße des Meeres finden werde.




Theodor Körner in Leipzig.
Einem Freunde nacherzählt von Th. Creizenach.

Meine zwei letzten Schuljahre verbrachte ich auf einem oberdeutschen Gymnasium. Mein Vater, obwohl in Sachsen heimisch, hatte doch eine besondere Vorliebe für den kleinen Staat, zu dem diese Lateinschule gehörte. Der Director derselben war ebenfalls ein geborener Sachse und hatte noch Beziehungen zu seinem Geburtslande. Ich hatte schon zu Hause sagen hören, dieser Gelehrte sei als geschmackvoller Philologe den Besten in Deutschland gleichzustellen und auch sonst kein übler Mann, wenn auch Viele ihn nicht leiden könnten. Dies Urtheil wurde mir in Ellerburg, wo unser Gymnasium sich befand, vollkommen bestätigt. Professor Winfried wußte vortrefflich zu reden, sein Vortrag war würdig und elegant, ohne Schwulst und ohne Geziertheit; aber ein gewisses hochmüthiges Wesen war bei ihm um so anstößiger, als er sich vor den Großen des Ländchens meisterhaft zu schmiegen verstand und die Regierung in ihren bedenklichsten Händeln keinen gehorsameren Parteigänger hatte, als ihn. Er war in Dorf und Stadt eben nicht beliebt. Gleichwohl konnte man ihm nichts weniger Schuld geben, als thätige Bosheit oder Rachsucht; ja, man hätte ihm bei mancher Beleidigung, die ihm widerfuhr, um des Anstandes willen mehr Zornmuth und weniger Versöhnlichkeit gewünscht.

Winfried las mit uns außer den Alten auch deutsche Dichter. Am liebsten verweilte er bei der romantischen Schule; vor dem jungen Deutschland konnte er nicht genug warnen und erklärte einmal, er würde seinen eigenen Sohn eben so gern sterben sehen, als ihn zu dieser Rotte zählen müssen. Er war ein Deutschthümler vom reinsten Wasser und floß über von Bezeigungen der Pietät, wenn etwa von Arndt oder Max Schenkendorf die Rede war. Daher fiel es uns um so mehr auf, wie er jede Gelegenheit ergriff, unseren Liebling Theodor Körner auf’s Strengste durchzuziehen und uns zu versichern, es sei in demselben kein Funke echter Bildung und Poesie zu finden, man habe aus einem solchen „Taumler“ und wüsten Renommisten viel zu viel Wesen gemacht.

„Wie kommt göttlichen Personen ein solcher Zorn?“ fragten wir uns öfter, mit Anwendung eines classischen Dichterwortes. Ich hätte nach meiner Heimkehr Gelegenheit gehabt, mich darüber zu belehren; aber in der nächsten Zeit traten mir die Schulerinnerungen in so entlegene Ferne zurück, daß ich keinen Trieb hatte, Forschungen der Art anzustellen. Erst vor wenigen Jahren, als wir zu Dresden die Nachricht von Herrn Winfried’s Tode aus der Zeitung erfuhren, kam die Rede auf jenes anscheinend grillenhafte Urtheil, und ein befreundeter alter Herr ertheilte mir darüber die vollständigste Belehrung.

Im Jahre 1810 kam Winfried von Wittenberg aus, wo er studirte, öfter nach Leipzig. Bei seiner großen Jugend war er doch über die meisten Burschen bereits hinausgewachsen. Man sah ihn vielfach im Verkehr mit angesehenen Familien, besonders höherer Beamten. Seine Kenntnisse, seine Suada und die altkluge Würde, mit der er über die damaligen Studentenhändel sprach, verschafften ihm ein gewisses Ansehen. Er schien bei seiner Frühreife des Eintrittes in Amt und Würden schon ziemlich sicher zu sein. Er hatte sich daran gewöhnt, mit den ersten sächsischen Würdenträgern jener Zeit für das französische Kaiserthum zu schwärmen und die patriotischen Aeußerungen aus dem Kreise der Studenten für vorlaute Redensarten zu erklären.

Nun war damals ein bedeutendes Jahrgeld zu vergeben, das immer einem Studirenden der Philologie zukam und das nicht den gewöhnlichen Stipendien gleichzuachten war. Mit demselben war einige Beschäftigung an einer höheren Lehranstalt verbunden; und da es fast nur an sehr begabte junge Leute vergehen wurde, so war man gewöhnt, es als eine der schönsten Anwartschaften zu betrachten. Winfried konnte sich wohl Hoffnung darauf machen; er hatte sich durch seine Gewandtheit, wie durch Anstand und erkünstelte Bescheidenheit mehr als irgend ein Mitbewerber empfohlen. Die meisten Stiftungsverwalter sprachen sich für ihn aus. Das entscheidende Wort freilich mußte aus dem Munde des Präsidenten kommen; aber auch ihm schien Winfried angenehm zu sein.

Von den Uebrigen, die auf das Jahrgeld Anspruch machten, kam eigentlich nur noch ein gewisser Wermeroth in Betracht. Gegen ihn sprach wohl das Herkommen in so fern, als er den Naturwissenschaften fast mehr Eifer zugewandt hatte, als den alten Sprachen. Aber sein bisheriger Lebenslauf erweckte für ihn das höchste Vertrauen. Seine Anlagen waren mehr solid, als glänzend, wie auch seine sanften, ruhigen Augen erst dann fesselten, wenn man erkannt hatte, was aus ihnen sprach. Er war dreiundzwanzig Jahre alt und hatte sich erst mit neunzehn Jahren einem gelehrten Berufe zuwenden können. Durch Unterricht in besseren Häusern in Dresden wurde er bei Schülern, die nur um wenige Jahre [744] jünger waren, als er, ungemein beliebt; er hatte aus ihnen eine kleine Schaar gebildet, die in einem für jene Zeit neuen Sinne die Schulstudien mit anstrengenden Spaziergängen, mit mineralogischen und botanischen Fahrten abwechseln ließ und welchen der Gedanke nicht fern lag, sich durch solche Abhärtung zu Vaterlandskämpfern heranzubilden. Diese Lebensweise setzte er, so weit sein rastloser Fleiß es zuließ, in Leipzig fort, wenn auch nur mit denjenigen, die er von Dresden aus kannte. Ob er sich dadurch gerade den Behörden empfahl, ist sehr die Frage; ob der Präsident sein Thun mit Neigung oder mit Mißtrauen betrachtete, konnte Niemand wissen. Unter Privatleuten aber und mehr noch unter den Hochschülern hatte er geschworene Anhänger; von den letzteren war der Hervorragendste ein Studiosus der Cameralien und des Bergbauwesens, Theodor Körner aus Dresden.

Ein größerer Gegensatz unter jungen Leuten läßt sich kaum denken, als den Körner zu Winfried bildete. Auch er war frühreif, sogar in noch höherem Grade. Aber er war unbekümmert um den Schein, ließ Alles, was in ihm lag, brausen und gähren und stellte sich unbedenklich heraus, wo es galt, nicht sein eigenes, sondern eines Freundes Interesse zu vertreten. In früher Jugend schon mit großen Männern bekannt, stellte er seinem Ehrgeize ein hohes Ziel, hatte jedoch von der Genialität, die zur Erreichung desselben befähigt, sehr unklare Begriffe. Er war nicht ohne tiefere Richtungen des Denkens und Dichtens; er studirte die griechischen Tragiker und versenkte sich in Fichte’s Philosophie; aber der fabelhaft leichte, spielende Schöpfertrieb in ihm schien damals blos die Oberfläche zu berühren und leichten Schaum aufzuregen.

Körner hatte einige Wochen auf einem Landsitze zugebracht, dessen Eigenthümer in der Sommerzeit literarische Berühmtheiten zu beherbergen gewohnt war. Diesmal hatte sich Frau Elisa von der Recke mit mehreren Freundinnen eingefunden, zu denen auch die Schwester des Präsidenten gehörte. Sie war weit jünger, als dieser, doch schon den Dreißigen nahe; früh verwittwet, lebte sie seit Jahren bei ihrem Bruder, der ihren Verstand hochschätzte und ihre Wünsche zuweilen auf seine Entschließungen einwirken ließ; der einzige Zug von Nepotismus, den man dem tüchtigen Manne zum Vorwurfe machte. Sie war von nicht gewöhnlicher Denkungsart, galt für eine Feindin der Fremdherrschaft und wurde den jungen Leuten, die ähnlich gesinnt waren, ein Gegenstand ritterlicher Verehrung. Auf dem Landsitze war der junge Dichter, so hieß es, durch Lobsprüche so ausgezeichneter Damen sehr gehoben worden. Winfried schloß nach seinen eigenen Gesinnungen, wenn er annahm, daß Körner auch Adolphinen näher getreten sei und sie in der Stipendiumsfrage für seinen Freund Wermeroth günstig gestimmt habe.

Hier will ich noch eine Bemerkung meines Gewährsmannes einschalten. „Sie werden,“ sagte er zu mir, „vielleicht vermuthen, Körner sei ein hübscher, hochgewachsener, prächtiger Bursche, Winfried aber ein unansehnlicher Schleicher gewesen. Hätte ich einen Roman zu erzählen, so würde ich die Sache wahrscheinlich so darstellen. Es ist aber nicht der Fall. Körner war nicht schön zu nennen; sein Gesicht war zu eng beisammen und zu dunkel schattirt; Winfried dagegen, wenn auch nur von mittlerem Wuchse, hatte ein ausdrucksvolles, klares Gesicht, an dem besonders Stirn und Nase edel geformt waren.“

Winfried hatte Takt genug, an keinem Orte, und am wenigsten da, wo es dem Präsidenten und Adolphinen zu Ohren kam, über Wermeroth etwas Geringschätziges zu äußern. Wohl aber traf er dessen Umgebung, vor Allen Körner, ohne ihn zu nennen, mit manchem empfindlichen Worte, indem er auf hohle Renommisterei und belletristische Eitelkeit anspielte. Wo Parteien und Cliquen bestehen, kommt jede üble Nachrede nur allzuleicht zur Kunde desjenigen, den sie betrifft. Bald nahmen die verschiedenen Abtheilungen der Studentenschaft an der Stipendiumsfrage lebhaften Antheil und in dem Kreise, dem Körner angehörte, herrschte eine besonders gereizte Stimmung.

Im Spätsommer, um die Zeit, da die Entscheidung jeden Augenblick bevorstand, hatte sich eine Anzahl Studirender, unter ihnen Theodor, in einem öffentlichen Garten bei Leipzig zusammengefunden. Der Abend war herrlich; es wurde manches Lied angestimmt und viele Spaziergänger waren in der Nähe des Tisches, den die frohe Gesellschaft einnahm, stehen geblieben. Auch der Präsident, seine Schwester am Arme führend, war unter denselben. Ihre Gegenwart verfehlte den gewohnten Eindruck bei den Sängern nicht und machte manche jugendliche Stimme heller und voller tönen. Winfried stand nahe bei ihnen. Während eines längeren Chorgesanges traf Wermeroth ein; Körner trat mit ihm zur Seite und bald waren sie im angelegentlichsten Gespräch begriffen.

„So steht die Sache?“ sprach Körner mit kaum verhaltenem Zorn. „Noch heute, gleich jetzt will ich es dem Ränkeschmied eintränken.“

„Um Gotteswillen, beruhige Dich,“ fiel Wermeroth ein. „Bedenke, daß Du nicht zum Besten angeschrieben bist, das Consilium hast Du schon unterzeichnet; ich würde Dein Mißgeschick verschuldet haben und mir wäre damit nicht das Geringste geleistet.“

Die Mahnung war weise genug, aber Körner nicht in der Stimmung, sie zu Herzen zu nehmen.

Als er wieder Platz nahm, hatte man eben das Reiterlied aus dem Wallenstein angestimmt. Jeder sang einen Vers und der kräftige Chor wiederholte den Refrain. Körner kam an die Reihe. Vom Text abgehend, trug er eine rasch improvisirte Strophe vor, wie die Aufregung sie ihm eingegeben. Bei den Anfangsworten zitterte ihm die Stimme; erst durch die Macht der Melodie wurde sie wieder in’s Gleiche gebracht. Er sang:

Wir reiten dem Schicksal entgegen keck,
Wir wissen das Glück zu erjagen.
Bei Schranzen und Pfaffen sucht es der Geck,
Da will er ein Stellchen erfragen.
Er zischt und schnüffelt, er schnüffelt und zischt,
Bis daß er sich endlich den Bakel erwischt.

Bei den Worten „der Geck“ erhob er den Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger gerade gegen Winfried und hielt ihn in dieser Richtung bis zum Schlusse des Verses. Der Chor stimmte jauchzend und nach derselben Seite blickend ein:

Er zischt und schnüffelt, er schnüffelt und zischt,
Bis daß er sich endlich den Bakel erwischt.

Es entstand eine peinliche Aufregung; Adolphine blickte dem Präsidenten in’s Gesicht, dieser verzog keine Miene. Winfried wollte unbemerkt fortgehen, aber Körner stand auf und rief ihm nach:

„Winfried! Ich wohne Petersstraße, bei Buchbinder Nischke, im zweiten Stock.“

Zwei Tage nach diesem Vorfalle wurde Studiosus Körner durch Urtheil des Universitätsgerichtes relegirt.

Am Abend desselben Tages wurde Winfried vom Seniorenconvent der Studenten in Verruf erklärt.

Das Stipendium erhielt weder er noch Wermeroth. Doch nahm der Präsident Romlitz bald eine Veranlassung wahr, dem Letzteren eine vortheilhafte Stelle zu verschaffen. Er machte den Krieg vom Jahr Dreizehn als Freiwilliger mit, und wurde später als Professor der Mathematik an eine Militairschule berufen, an welcher er noch vor acht Jahren mit Auszeichnung wirkte.

Körner kam nach Berlin, sodann nach Wien, und durchmaß in weniger als drei Jahren unter dem Beifallsjauchzen der deutschen Jugend seine Laufbahn als Dichter und als Kriegsmann. Der frühzeitige Tod, der ihn bei Gadebusch ereilte, war für ihn und für seinen Ruhm ein Glück. Er bleibt uns das Vorbild eines kühnen, liebenswürdigen, von den schönsten Idealen erfüllten Jünglings, der seinen Lebenslenz mit edler Begeisterung ausgesungen hat. Was wäre in den trüben Jahren der Enttäuschung und des Mißtrauens aus ihm geworden? Er war nicht darnach angethan, auf engerem Gebiete den Kampf mit zäher Ausdauer zu führen, wie Uhland, oder sich in morgenländische Weisheit zu versenken, wie Rückert. Und wer kann sagen, ob seine Dichtung den Vollgehalt in sich trug, um sich nicht abzunutzen und nicht zu erschlaffen? Die Jugend und die frische Thatenlust machen ihren Werth aus.

Körner schlief seit Jahrzehenten unter der Eiche bei Wöbbelin, von Deutschland hochgeehrt. Nur der Rector von Ellerburg, Ordensritter, Studienrath und Kammermitglied, hatte ihm die Leipziger Improvisation nie verziehen.




[745]
Die Hamburger Milchleute.

Hamburger Milchleute im Eis.

Der Bewohner einer großen Stadt, dem alle Lebensbedürfnisse in’s Haus gebracht werden, denkt selten daran, welche Anstrengungen und Mühseligkeiten die Herbeischaffung eines Gegenstandes verursacht, dessen Dasein, da er regelmäßig vorhanden ist, gar nicht beachtet wird, dessen Wichtigkeit oder Annehmlichkeit aber dann an den Tag kommt, wenn er uns einmal fehlt.

Wer Morgens seinen Kaffee mit gutem Rahm vermischt zu trinken gewöhnt ist, würde sich sehr unangenehm betroffen fühlen, wenn der Letztere einmal ausbliebe und er seinen Mokka schwarz hinunterschlucken müßte. Damit nun ein solches Unglück möglichst verhindert werde und die Hausfrauen ihre sonst nöthige Milch regelmäßig erhalten, sind Hunderte und Tausende von Leuten rings um die Städte beschäftigt, dieses Nahrungsmittel zu produciren und unter allen Umständen nach der Stadt zu schaffen.

Von allen Milchleuten, welche in Deutschland existiren, haben nun wohl die auf den Hamburgischen und Hannoverschen Inseln wohnenden den abenteuerlichsten und gefährlichsten Weg nach der Stadt zu machen, und müssen oft Leib und Leben daran setzen, um ihre Kunden zu bedienen; – dafür sind sie aber auch ein kräftiges, wetterhartes, lebenslustiges Völkchen, dem es endlich zur Gewohnheit wird, sich mit den Elementen herumzubalgen und sich jeden Tag das Leben zu gewinnen.

Im Sommer, wenn Luft und Wasser warm und ruhig sind und der Wind gerade stark genug bläst, um die rothen Segel zu füllen und das Fahrzeug vorwärts zu treiben, dann haben die Hamburger Milchleute wohl viel vor allen Anderen auf ihrer vergnügten Fahrt voraus. Die flachbodigen, vorn und hinten spitzen Ewer mit ihrem starken hohen Maste liegen ruhig am Ufer der heimathlichen Elbinsel. Von allen Seiten kommen Männer und Weiber mit den stets roth angemalten Milcheimern, in denen der weiße Inhalt glänzt, an Bord und setzen sich inmitten des Fahrzeuges zu ihren Gefäßen, und zwar so, daß sie die Männer bei der Handhabung desselben nicht geniren. Der mit allen Flußströmungen und irgendwie eintretenden günstigen oder ungünstigen Wetterzufällen vertraute Steuermann nimmt seinen Platz ein und die Segel werden, wenn der Wind nur im geringsten zu gebrauchen ist, aufgezogen. Ist gänzliche Windstille und der Fluth- oder Ebbestrom der Fahrt günstig, so werden zwei lange Ruder in Thätigkeit gesetzt, an deren jedem drei bis vier Mann arbeiten, damit sich das Fahrzeug steuern läßt. Ist indeß weder Wind noch Wasser der [746] Fahrt förderlich, so müssen sich die Männer, mitunter wohl auch eine handfeste Frau, bequemen, auf den Seitenbänken des Ewers hinlaufend, denselben mit langen Stangen vorwärts zu bringen, um zu rechter Zeit nach der Stadt zu kommen.

Anders gestaltet sich die Sache schon im Herbst, wo das stürmische Wetter eintritt und die Elbe mitunter recht hübsche Wellen macht. Dann sind die mit rother Oelfarbe angestrichenen Segel oft bis zum Platzen gespannt, ein Mann benetzt sie auf der Windseite vermittelst einer Holzschaufel noch mit Wasser, damit sie sich möglichst zusammenziehen und ja keinen Wind durchlassen, und das Fahrzeug schneidet, von der sichern Hand des Steuermannes gezwungen, durch das Wasser, daß der Schaum, vom scharfen Schnabel zertheilt, darüber hinfliegt und die Wellen auf der Leeseite hineinschlagen. Hier hat wiederum ein Mann die Obliegenheit, das überflüssige Wasser hinauszuwerfen, während einige Andere bei den Schoten der Segel stehen, um dieselben auf den Ruf des Steuermannes Back- oder Steuerbord anzulegen. Dabei müssen ein paar auf die Schwerter – ein paar schwere, breite, fischfloßartige Breter, welche an den Seiten des Schiffes herunterhängen, und zwar ein paar Fuß tiefer, als der flache Boden – Achtung geben, damit sie das Abtreiben des kiellosen Fahrzeuges verhindern. – Das Schwert auf der Windseite wird jedes Mal aus dem Wasser gezogen, damit es die Fahrt nicht hindert, wogegen das auf der Leeseite, der vom Wind abgekehrten, hinabgelassen wird. Da die Männer bei solchem Wetter mit Südwestern und Oeljacken und weiten Schifferhosen, „Schlifbüxen“ genannt, bekleidet sind, so sehen sie richtigen Seeleuten oder Lootsen eher ähnlich, als friedlichen Milchleuten. Das meiste Unglück geschieht wohl in der Zeit der Frühjahr- und Herbststürme, wo oft durch das Umschlagen eines Fahrzeuges fünfzehn bis zwanzig Personen ertrinken. So gute und vortreffliche Segler auch die Leute sind, manchmal bringt ihre Sicherheit, welche durch einige Gläser Grog mehr, als gerade das kalte Wetter verlangt, zur Tollkühnheit gesteigert wird, sie um das Leben.

Hat der Milchmann seine Waare an die Kunden abgeliefert und seine Eimer unmittelbar darauf am Brunnen rein gewaschen und ganze Bündel, wie Weintrauben an jeder Seite der Trage hängend, in den Ewer getragen, so will der Magen auch was haben. Man will die Reform lesen oder Nachrichten von Freunden und Bekannten von den benachbarten Inseln einziehen und steigt in den wohlbekannten Keller hinab, wo sich Alles findet, was das Herz des Milchmannes, erfreut – ein Rundstück mit Käse oder Rauchfleisch, ein Stück saurer Aal von zwei Fuß und ein Glas Grog „stark und seut“, d. h. mit so viel Rum und Zucker und so wenig Wasser, als möglich, ist in der Regel sein Begehr. Bei der Bestellung des Grogs nimmt er den Wirth etwas auf die Seite und fügt die Worte „aber stark und seut“ gewöhnlich in leisem, vertraulichem Tone bei, worauf ihm der Wirth mit einem Auge zublinkt und durch fast unmerkliches Kopfnicken anzeigt, daß nichts geschont werden soll. Im Sommer wird statt Grog wohl ein „Poolschen“ Rothwein verlangt. Im Winter jedoch für jeden Grad Kälte ein Glas Grog, so daß der vor dem Fenster hängende Thermometer so ziemlich als Rechenbret gelten kann.

Mit dem Tage, wo sich auf der Elbe das erste Treibeis zeigt, beginnt die mühseligste Zeit des Milchmannes. Es ist beinahe eine Unmöglichkeit, über den Fluß nach der Stadt zu kommen, und doch soll und muß die Milch hinübergeschafft werden. Mit ungeheuerer Anstrengung zwängen die Leute dann ihre Fahrzeuge durch die Schollen, welche nicht stark genug sind, einen Mann zu tragen, und doch durch ihre Masse dem Schiffe die Fahrt versperren. Manchmal nimmt ihre Menge so überhand, daß das Fahrzeug, dem Willen und der Berechnung der Schiffer entgegen, Stunden weit mitgenommen wird, ja, es sind schon Fälle vorgekommen, wo es den Leuten erst nach zwölfstündiger Arbeit gelang, das einige hundert Schritt weite Ufer zu erreichen.

Kommt das Eis endlich zum Stehen und bedeckt eine dünne unsichere Eisdecke kaum den Fluß, so betreten die Milchleute mit rücksichtsloser Verwegenheit den glatten, trügerischen Pfad, der schon Manchem von ihnen zum spurlosen Grabe ward. Wenn es noch Niemand für möglich hält, daß das Eis einen Menschen tragen kann, sieht man diese kühnen, unverdrossenen Männer auf der Elbe aus dem Winternebel oder Schneegestöber auftauchen. Mit langen Stangen bewaffnet gehen Einige voraus und untersuchen Schritt für Schritt das Eis, umgehen verdächtige Stellen und suchen auf Umwegen ihrem Ziele, der Stadt, näher zu kommen. Ihnen folgen mit den schweren milchbeladenen Schlitten die Cameraden, stets bereit, bei dem Krachen des Eises den Schlitten im Stiche zu lassen und ihren Gefährten beizuspringen, welche sich im Falle eines Durchbruchs an die auf das Eis gelegten Stangen halten und so der Gefahr, unter das Eis zu kommen, entgehen. Sind sie glücklich herausgearbeitet, wobei die Helfenden ihr Leben ohne Zaudern in die Schanze schlagen, so müssen sie mit den nassen Kleidern, die bald zu Eisrüstungen erstarren, ihren Weg fortsetzen, und ein extrasteifer Grog muß dann in Hamburg gebraut werden, bei dem das Abenteuer besprochen und der Mann getrocknet wird. Für solche Fälle, in denen Grog stets als unfehlbare Medicin betrachtet wird, haben übrigens die Bewohner von der Unterelbe bis an die Nordsee einen besonders wirksamen erfunden, den sie Fliedergrog nennen. Man kocht erst Fliederthee und bereitet dann Grog daraus. Wer auf diese Mischung nicht in den Schweiß kommt, bei dem ist Hopfen und Malz verloren.

Wenn die Eisdecke der Elbe eine sichere Fläche bietet, auf der dann Zelte und Breterbuden aufgeschlagen werden, in denen etwas „Warmes“ zu haben ist, so tritt wieder ein Ruhepunkt im Leben des Milchmannes ein. Dies ist eine gefahrlose Zeit, wo er gemächlich hinter seinem Schlitten herschlendert und auf dem Nachhausewege ein Viertelstündchen in einem der Zelte verschwindet, wo etwas „Warmes“ zu haben ist. Diese Zeit dauert oft Monate lang, bei gelindem Winter aber nur kurze Zeit, und der Kampf mit dem Eis beginnt von Neuem.

Die Eisdecke, welche dann, in größere und kleinere Schollen zertrümmert, mit der Ebbe und Fluth auf- und abwärts treibt, zwingt die Milchleute, von ihren Eiskähnen Gebrauch zu machen. Eine solche Scene zeigt unser Bild. Die Milch wird nun, statt in Eimer, in lange, kleine Fässer gefüllt, damit sie bei dem Hin- und Herwerfen des Kahnes nicht verschüttet wird. Der Kahn selbst ist ein leichtes, etwa sechzehn bis achtzehn Fuß langes Fahrzeug, ganz wie die großen Ewer gebaut und zum Segeln und Rudern eingerichtet. Vier bis acht Mann bedienen sich eines solchen Fahrzeuges und arbeiten sich durch Wasser und Eis rastlos vorwärts. Nur ist eine Hauptbedingung, daß die Eisschollen stark genug sind, um die Männer und den Kahn zu tragen. Mit den Rudern arbeiten sich nun die Leute durch die freien Wasserstellen, bis eine Eisscholle ihnen den Weg versperrt. Sofort schlagen ein paar Männer ihre Haken in das Eis und halten den Kahn fest, während in demselben Augenblicke einige Andere auf das Eis springen und die Spitze des Fahrzeuges hinaufziehen, dann steigen auch die Uebrigen aus, und Alle packen den Kahn am Bord und ziehen ihn vollends hinauf, und lustig geht’s nun im vollen Lauf über die Scholle fort auf das nächste freie Wasser zu, in welches der Kahn ohne Aufenthalt geschoben wird. Die Vordermänner sind schon, sobald die Spitze das Ende des Eises erreichte, hineingesprungen und haben die Ruder ergriffen, während sich die Hintermänner beim Hinabrutschen des Bootes in’s Wasser über den Rand hineinkollern, so daß oft noch ihre Beine aus dem Fahrzeuge gen Himmel gerichtet sind, wenn die Ruderer schon volle Arbeit haben. So geht es fort, bald im Wasser, bald auf dem Eis, bis die Landungsstelle erreicht ist, von wo dann später der Rückweg nach der Heimath auf dieselbe Weise angetreten wird.

Aber auch hier, auf festem Grund und Boden, hat der Milchmann nicht immer Ruhe und muß selbst in seinem Hause oft mit dem Strome kämpfen, wenn derselbe bei Sturmfluthen die Dämme durchbricht. Dann ist der Ewer manchmal eine ungleich sicherere Zuflucht, als das Haus, und muß bei wachsender Noth wohl auch das Vieh aufnehmen, von dessen Rettung die fernere Existenz der Leute abhängt.

Wie verschieden das Leben eines Hamburger Milchmannes von denen anderer großer Städte, z. B. eines Berliner oder Wiener Milchlieferanten, ist, geht wohl aus Obigem leicht hervor. Nur Eins haben sie alle gemein, das ist die Leidenschaft, Wasser unter die Milch zu gießen, und ein Ding gibt es, was sie Alle fürchten und hassen, das ist der Milchmesser!

C. Reinhardt.




[747]
Ein aufgelöstes Räthsel.
Von E. Pirazzi in Offenbach.
(Schluß.)
Ihre Flucht. – Einige Fragen. – Carolinens Jugendjahre. – Der Besuch im Zuchthaus. – Ihre Bekenntnisse. – Woher sie ihre Betrugsgeschichte genommen. – Schluß.

Das räthselhafte Verschwinden Carolinens gab natürlich zu den verschiedensten Vermuthungen Anlaß. War sie selbstständig, aus eignem Antrieb entwichen, oder war sie entführt worden? War sie entflohen, ihrem Leben ein Ende zu machen, oder, den Schauplatz ihrer seitherigen Thaten verlassend, auf neue Abenteuer auszuziehen?

Wenn sie, wie Viele anzunehmen gereizt waren, in Folge einer Entführung verschwunden war, so konnte dies, allen Umständen nach, keinenfalls eine gewaltsame gewesen sein; vielmehr schien es dann eine Entführung mit ihrer eigenen Zustimmung zu sein, eine Entführung, zu der sie möglicher Weise überredet worden, um sie in irgend einen Hinterhalt zu locken und dort, wie Kaspar Hauser, vielleicht zu tödten. Denn zu anderm Zweck schien eine Entführung nicht anzunehmen, muthmaßlich also stand diese mit ihrer Geschichte in directem Zusammenhang.

Mit ihr verschwunden waren von beweglichen Gegenständen, außer der Kleidung, die sie am Leibe trug, nur noch jene sechs neuen Hemden, mehrere Halstücher und ein grauwollener Shawl – sämmtliche Gegenstände ihr gehörig.

Das Haus, worin Herr Eck wohnte, lag am äußersten südwestlichen Ende der Stadt, an der nach Darmstadt führenden Chaussee, von wo sich weite Wiesen nach den städtischen Promenaden und Waldungen hinziehen. Jene Promenade führt von der Darmstädter auch zur Frankfurter Chaussee hinüber. Diesen Weg scheint sie eingeschlagen zu haben, denn ein hiesiger Mann begegnete ihr selbigen Morgens unfern der Stadt auf dem Wege nach Frankfurt. Sie trug nichts in der Hand (muß also wohl jene Kleidungsstücke schon vorher fortgeschafft haben) und schien sehr eilig.

Auf seine Frage „wohin?“ antwortete sie, sie habe für ihren Papa etwas zu besorgen.

Daß ihre Entweichung keine ganz selbstständige gewesen, darauf schien ihre Unterredung vom vorigen Tage mit einer jener Personen hinzudeuten, mit denen ihr der Umgang schon früher untersagt worden war – eine Unterredung, die sie gegen Herrn Eck so entschieden in Abrede gestellt hatte.

Obgleich die Sache selbst hier großes Aufsehen erregte und auch den Weg in einige öffentliche Blätter nahm, so vermied man doch absichtlich, öffentliche Schritte in dieser Angelegenheit zu thun, und suchte mehr im Stillen, unter möglichster Vermeidung allen Eclats, der Verschwundenen auf die Spur zu kommen. Aber es wollte sich keine solche zeigen, bis endlich nach Verlauf von vierzehn Tagen, am 9. August, die bereits Eingangs erwähnte Botschaft des Neustädter Landgerichts hier eintraf und plötzlich Licht in das Dunkel brachte – freilich auch nebenbei neue Räthsel mit sich im Gefolge führte.

Nach jener officiellen Mittheilung war nicht daran zu zweifeln, daß „Caroline Kunigunde Lechner“ Offenbach freiwillig verlassen hatte, um sich ihren heimathlichen Behörden wieder zu überliefern, Sie hatte vermuthlich von Frankfurt aus die bairische Eisenbahn bis Aschaffenburg benutzt – (wie sie das Fahrgeld bestritt, ist uns nicht bekannt geworden; vielleicht hat sie, da sie kein Geld von hier mitnahm, einige von ihren Kleidungsstücken verkauft, möglicherweise auch den Ring, den ihr einst ihre Frankfurter Beschützerin geschenkt, und übrigens fehlte es ihr ja nie an Mitteln zu ihren Zwecken) – um rascher in’s Bairische hinüberzukommen, denn schon am Tage nach ihrer Flucht wurde sie zu Hessenthal im Spessart, etwa 1½ Stunden östlich von Aschaffenburg, festgenommen. Sie befand sich dort auf der directen Landstraße nach ihrer mittelfränkischen Heimath; diese Straße führt nämlich über Würzburg nach Nürnberg: zwischen beiden liegt Neustadt, in dessen Frohnfeste die Arrestantin jetzt zur Untersuchungshaft eingethan wurde. Die aus Offenbach mitgenommenen Halstücher und sechs Hemden führte sie bei sich.

Kaum waren diese Nachrichten in’s Publicum gedrungen, als man sich der Ansicht zuzuneigen begann, die von einigen Seiten her aufgestellt wurde: daß „Caroline“ wohl deshalb die Flucht ergriffen habe, um nicht durch ihre bevorstehende Taufe und Confirmation eine neue und schwere Sünde auf sich zu laden, indem sie mit beiden heiligen Handlungen, wenn sie dieselben zum zweiten Mal über sich ergehen lasse, ein frevelhaftes Spiel treibe. Denn daß sie Taufe und wohl auch Confirmation schon früher empfangen, unterlag jetzt wohl keinem Zweifel mehr. War sie aber gar ursprunglich katholischer Confession, so konnte es mehr noch der Uebertritt zur evangelischen Kirche gewesen sein, der sie von hinnen trieb.

Dagegen machte Herr Eck (und ebenfalls nicht ohne Grund) eine andere Ansicht geltend. Nicht sowohl die Furcht vor einer neuen Gewissensschuld, sagt er, hat die Gewissenlose in die Flucht getrieben – bereitete sie sich doch seit Monaten schon mit ziemlicher Ostentation auf Taufe und Confirmation vor, und sprach auch in dem mitgetheilten Briefe an die Frankfurter Dame in Bezug darauf als von „ihrem Glücke“ –, sondern wohl hauptsächlich die Ueberzeugung, daß mein Glaube an ihre Wahrhaftigkeit einen so gewaltigen Stoß erlitten, daß ich ihr gesagt: „Jetzt bist Du entlarvt!“ daß somit ihr festester Rückhalt und Schutz in mir so tief erschüttert worden, und sie sich fortan der schärfsten, mißtrauischsten Ueberwachung von mir zu gewärtigen hatte.

Die nach dieser Lösung noch immer ungelöst gebliebenen, ja zum Theil sich erst neu ergebenden weiteren Räthsel und Fragen aber sind hauptsächlich diese:

1) Was bestimmte „Caroline B.“ in Wirklichkeit, gerade jetzt ihre Maske fallen zu lassen und sich zur „Kunigunde Lechner“ unsaubern Andenkens zu entpuppen, um eine ganz leidliche Situation und eine sich ihr durch Adoption möglicherweise noch bietende erfreuliche Zukunft wieder mit der Vagabundenlaufbahn zu vertauschen, in deren Hintergrund ihr von Neuem die Zwangsanstalt winkte?

2) Wenn sie von Profession eine „Vagabundin“ ist, wie erklärt sich’s da, daß sie während ihres ganzen hiesigen Aufenthaltes sich nachweislich keiner einzigen unsittlichen und auch keiner unehrenhaften Handlung im Punkte des Eigenthums schuldig machte?

3) Woher nahm sie den Stoff zu ihrem wunderbaren Märchen, den sie in einer Weise bearbeitete, der jedem Dichter Ehre machen würde? Hat sie ihn aus Romanen geschöpft und „frei bearbeitet,“ oder ist Alles die originale Erfindung ihres eigenen Genie’s gewesen? Oder aber ist am Ende doch ein Titelchen Wahrheit an der Geschichte, und diese vielleicht von einer andern Person („Adolf!“), die sie auf ihren Irrfahrten, kennen lernte, zum Theil so erlebt worden? Was hat sie überhaupt in dieser Hinsicht erlebt oder erfahren? Hat sie ein Schloß, wie das beschriebene, und eine Waldwohnung, wie die geschilderte, wirklich einmal irgendwo gesehen, eine Zeit lang darin gelebt, oder sonst in Beziehungen dazu gestanden?

4) Woher hat sie ihr Ungarisch?

5) In welcher Beziehung steht sie zu dem berüchtigten Hause bei Stockstadt?

6) Warum war die Kluge darin so sehr unklug, daß sie, wenn doch einmal eine Maske, keine liebenswürdigere vornahm, daß sie sich nicht eifriger bestrebte, durch zuvorkommendes, freundliches Wesen sich alle Herzen zu erobern, was ihr, der so in Verstellung Geübten, doch um so weniger schwer fallen konnte, als ihr im Anfang alle Herzen theilnehmend entgegenschlugen, und was ihr nicht abzusehende Vortheile bringen mußte?!

Als die Seitens der diesseitigen Behörden wiederholt und dringend von dem Neustädter Landgerichte nachgesuchten Mittheilungen über die Antecedentien der Demoiselle „Caroline B.“, geborenen Kunigunde Lechner, der Himmel weiß warum, ausblieben und immer ausblieben, beschlossen zwei hiesige, mit ihrer Offenbacher Geschichte und ihr selbst völlig vertraute Männer sich persönlich nach Neustadt und zu „Carolinen“ auf den Weg zu machen, um an Ort und Stelle aus dem klaren Borne eigner Wahrnehmung und Anschauung zu schöpfen. Es waren zugleich Männer, die das lebhafteste moralische Interesse an ihr nehmen, und zu denen auch Caroline das vollste Vertrauen haben mußte: der Geistliche, welcher sie demnächst confirmiren sollte, und jener Candidat und Lehrer, der als Schwiegersohn der K.’schen Eheleute so lange Zeit in tagtägliche [748] Berührung mit unserer Delinquentin gekommen war — sie Beide benutzten Mitte September l. J. eine Woche ihrer Herbstferien zu einem Ausflug in die fränkischen Gaue, dessen Hauptziel der Ort sein sollte, wo sie Carolinen finden würden. Galt es doch auch, was Einige noch immer bezweifelten, ihre Identität mit der Kunigunde Lechner festzustellen. Diese Identität bestand allerdings, und zwar fanden die Herren Carolinen, nachdem sie sich vorher deshalb mit dem königl. bairischen Landgericht zu Neustadt persönlich benommen hatten, in der Zwangs-Arbeitsanstalt zu Kloster Ebrach. Dieses ehemals so reiche und große Cisterzienser-Kloster liegt äußerst romantisch in einem Thale des Steigerwaldes, etwa fünf Stunden westlich von Bamberg, und beherbergt an siebenhundert Verbrecher! Unter ihnen auch jetzt neuerdings wieder unsere bekannte „Unbekannte“, die Heldin unserer Geschichte.

Folgende Mittheilungen über ihre Vergangenheit und Gegenwart verdanken wir den umsichtigen Nachforschungen und Ermittlungen, welche beide Herren in dortiger Gegend, und zwar besonders beim Gerichte zu Neustadt, in Ebrach und am Orte ihrer Geburt über sie anstellten.

Dieser Ort ist Linden, woselbst unsere ungarische Magnatentochter am 23. Mai 1831 das Licht der Welt erblickte. (Ihr Alter betrug demnach bei ihrer Hierherkunft 22½ Jahre, was ziemlich mit den hierüber aufgestellten Annahmen [22—24 Jahre] stimmt, dermalen 27½ Jahre.) Linden ist ein sehr kleines und armes Dorf, die Gemeinde eine Filiale der evangelischen Pfarrei Gerhardshofen, Landgerichtsbezirks Neustadt a. Aisch und etwa 2½ Stunden von da entlegen. Die ganze dortige Gegend, zum ehemaligen Fürstenthum Ansbach und Baireuth gehörig, bildet nämlich eine protestantische Enclave des katholischen Baiern. Auch Kunigunde ist protestantisch getauft und confirmirt worden. Sie ist das uneheliche Kind der Anna Barbara Lechner aus Linden, welche sich einige Jahre darauf mit dem Steinhauer Nahr von da verheirathete. Dieser Mann, welchen die Herren, als sie nach Linden kamen, nicht sprechen konnten, da es hieß, er liege auf den Tod krank darnieder, erfreute sich daheim und in der Umgegend nie des besten Rufes. Als „die Gundel“, wie man sie dort allgemein nannte, sechs Jahre alt war, starb ihre Mutter. Der Stiefvater verheirathete sich wieder, und so bekam das Mädchen auch noch eine Stiefmutter. Bei diesen Stiefeltern, mit denen sie durch keinerlei Bande des Blutes verknüpft war, hatte es die Kleine schlecht genug. Die Leute waren überdies sehr arm, und Nahr schickte die Gundel und zwei jüngere Geschwister schon von klein auf betteln. Mit einem Rechen, den sie anscheinend zum Verkauf anboten, zogen sie im Lande herum; unter dieser Maske aber betrieben sie den geschäftsmäßigen Bettel. Wenn sie nichts mit heimbrachten, bekamen sie noch, wie das so in den Lehrjahren der freien Kunst des Bettelns üblich ist, Schläge dazu. Dies veranlaßte Kunigunde, bei der unter solchen Umständen von einer Erziehung nicht die Rede sein konnte, das Weite zu suchen. Als sie durch die Polizei wieder heimgebracht wurde, verweigerte der Stiefvater (ihr rechter Vater war schon früher nach Amerika ausgewandert) ihre Aufnahme. Sie ging deshalb, wie man dort zu Lande sagt, bei den Ortsbewohnern „in die Zeche“, d. h. da die dortige Gemeindecasse nicht im Stande ist, für uneheliche Waisen (und eine Waise war ja Kunigunde gewissermaßen) Pflegegeld zu bezahlen, so müssen die Bewohner solche Kinder der Reihe nach aufnehmen und ernähren. Die Behandlung, welche der ungebetene Gast hierbei genoß, wird sicher auch nicht die beste gewesen sein, und wirklich entzog sich Kunigunde durch neue Entweichungen in größere Ferne diesem Zustand noch öfter, wurde aber immer wieder heimgebracht.

Weil sie die Schule in dem benachbarten Orte Birnbaum (denn in Linden selbst ist keine) so wenig und so lückenhaft besucht, wurde sie erst im 15. Lebensjahre, nämlich auf Pfingsten 1846 zu Gerhardshofen confirmirt. Sie bekam bei dieser Gelegenheit im Confirmandenregister bezüglich ihrer Befähigung (!), ihres Fleißes und ihrer Kenntnisse die schlechteste Nummer!! Etwas Lesen, Schreiben und einige Bibelsprüche hat sie sich aber doch jedenfalls angeeignet. Es währte nicht lange, so entfernte sie sich auf’s Neue von ihrer Heimath. Um nicht wieder dahin zurückkehren zu müssen, verheimlichte sie, im südlichen Baiern aufgegriffen, drei Vierteljahre lang Name und Herkunft, und blieb während dieser Zeit fortwährend in Untersuchungshaft. Auf Grund dieses Schweigens erhielt sie dann, als sie sich endlich doch zu erkennen gab, ihre erste eigentliche Strafe, indem man sie auf ein Vierteljahr als Novize nach Kloster Ebrach schickte.

Nicht lange nach überstandener Strafe ging sie weiter, als je zuvor – nämlich nach Ungarn. Dies war im Jahre 1848. Nach mehrjähriger Abwesenheit daselbst (sie hat also gerade die Zeit während der Revolutionskriege in Ungarn verlebt, und verdankt sicher ihren dortigen Erlebnissen manche Erfahrungen, die sie später für ihre Geschichte verwerthete) wurde sie abermals wieder in ihre Heimath zurückgebracht. Zum zweiten Mal wurde sie Bewohnerin von Kloster Ebrach. Als sie ihre Strafzeit überstanden, brachte sie das große Meisterstück ihres Lebens, das sie sich vermuthlich im Stillleben ihrer Zelle ausgedacht, zur Ausführung. Sie hatte beschlossen, um erfolgreicher als bisher aufzutreten, die Rolle eines verstoßenen oder geraubten und ausgesetzten Kindes von vornehmer Herkunft zu spielen, und überschritt zu diesem Behufe abermals die bairische Landesgrenze. Wo und wie sie diese Rolle spielte, ist dem Leser bereits zur Genüge bekannt geworden.

Wegen wiederholten Vagabondirens ist Kunigunde zu neuer achtmonatlicher Haft verurtheilt. Bei diesem Urtheil ist also ihr kolossaler Betrug gar nicht mit in Frage gekommen, entweder weil er, den eigenthümlichen Umständen gemäß, nach dortigen Gesetzen gar nicht strafbar ist, oder man ließ ihn absichtlich fallen, um der freiwillig und wie es schien, reumüthig Geständigen kein allzuhohes Strafmaß zuerkennen zu müssen, was man formell um so eher konnte, als kein Kläger gegen sie auftrat. Und, „wo kein Kläger, da kein Richter.“ Sie war nur verurtheilt, weil sie sich neuerdings ohne Papiere auf offener Landstraße einherziehend hatte betreten lassen.

Der Herr Landrichter zu Neustadt, welcher uns als ein äußerst humaner Mann geschildert wird, hat den Offenbacher Herren erklärt, ihr jetziges Auftreten und Benehmen unterscheide sich in jeder Hinsicht auf's Vortheilhafteste von ihrem früheren, und die ihr in Offenbach zu Theil gewordene Erziehung gebe sich in ihrem ganzen Wesen auf’s Unzweideutigste kund. Er bezeugt ihr überdies, daß in dem dicken Actenstoß, den er über sie besitze, von Unehrlichkeit und unzüchtigem Wandel, wie sich dies auch von ihrem hiesigen Leben sagen läßt, nichts enthalten, und sie bisher lediglich wegen Landstreicherei in Strafe gekommen sei. Ueber ihre Vergangenheit und ihre jetzigen Aussagen hat er ein ausführliches Schriftstück entworfen, das für die hiesige Behörde bestimmt ist, und von dem wir nur nicht zu begreifen vermögen, warum es nicht längst schon hierher abgesandt wurde. Wären aber nicht jene Herren persönlich nach Neustadt gereist, so wüßten wir wahrscheinlich bis heutigen Tages noch nichts officiell, wer und was „Caroline“ eigentlich war und ist, und – das ist zum Mindesten nicht sehr höflich von jener Stelle gewesen, die man von hier aus deshalb wiederholt um Auskunft anging!

In ihren zu Protokoll genommenen Aussagen erklärte Kunigunde auf das Entschiedenste als Grund ihrer Entweichung von Offenbach: daß ihr die Sünde, sich noch ein Mal taufen und confirmiren zu lassen, zu schwer erschienen sei, als daß sie dieselbe auf sich zu laden vermocht habe. Ferner erklärte sie zu Protokoll, daß ihre Rolle im Anfange leichter gewesen, als gegen das Ende – während Verfasser dieses, wie sich der Leser erinnern wird, gerade das Gegentheil vermuthete, und wohl alle Leser mit ihm. Denn „ce n’est que le prémier pas qui coûte“, und es deuchte uns leichter zu reden, denn zu schweigen, und leichter natürlich zu reden, als verstellt. Anders Carolinen. Wie leicht ihr das Schweigen fiel, hatte sie damals schon bewiesen, als sie drei Vierteljahre lang ihren Namen verschwieg; und die sprachliche Verstellung selbst scheint für sie mindere Gefahr der Entdeckung mit sich geführt zu haben, als ihre Stellung, nachdem sie anscheinend so viel Deutsch erlernt hatte, sich mit größerer und endlich mit völliger Freiheit darin auszudrücken. Denn jetzt erst, sagt sie, sei sie stündlich Gefahr gelaufen, sich zu verrathen, jetzt, wo sie reden konnte und nun auch überall reden, erzählen, sich mittheilen sollte, wo Jedermann ihre Geschichte im Zusammenhang wieder und immer wieder von ihr hören wollte, und sie doppelt auf der Hut sein mußte, sich nie zu widersprechen, was früher, wo sie nur sehr wenig und sehr abgebrochen, unzusammenhängend sprach, bei weitem nicht so sehr zu fürchten gewesen. Auch habe sie durchaus nicht so viel zu erzählen gewußt, als sie nun absolut erzählen sollte. Darum und nur darum habe sie sich auch zwingen müssen, so unliebenswürdig zu sein, sich von den Menschen abzusondern, zurückhaltend, wortkarg, einsylbig zu werden, oder eigentlich nur zu scheinen. Sie sei in beständiger Furcht gewesen, sich zu verrathen, und diese Furcht habe sie manche Nacht nicht [749] schlafen lassen. Ihrem Drange nach Mittheilung doch einigermaßen zu genügen, habe sie sich in vertrauteren Umgang nur mit ungebildeten Personen niedern Standes, mit Dienstboten u. s. w. eingelassen, von denen sie sich nicht so scharf beobachtet wußte, und bei denen sie sich daher unbefangener geben konnte.

Mit Gefühlen besonderen Dankes erinnerte sie sich auch der im K.’schen Hause genossenen Wohlthaten. Es sei ihr oft hart angekommen, so unfreundlich gegen Frau K. zu sein und ihr soviel Anlaß zu Aerger zu geben; aber sie habe so thun müssen, um nicht durch die Gefühle von Dankbarkeit, Liebe und Freundschaft warm zu werden, und in einer schwachen Stunde Alles zu verrathen. So panzerte sie denn ihre Brust mit dreifachem Eis und Erz, und wenn ihre Gefühle wirklich dann und wann zum Durchbruch kamen, so geschah es in Gestalt jener Thränen, für deren Erklärung sie dann wieder, um sich nicht zu Bekenntnissen drängen zu lassen, zu neuen Lügen greifen mußte. So umstrickte sie sich immer mehr mit ihrem Lügengewebe und fiel zuletzt in ihre eigenen Netze. Die für ihre Rolle beste Politik: nur wenig zu sprechen, um sich nicht zu versprechen und auf alle Fragen meist erst nach öfterer Wiederholung derselben zu antworten, um inzwischen Zeit zu gewinnen, sich die Antwort reiflich zu überlegen – dieses Verfahren, im Anfang ihres Hierseins auf ihrer Unkenntniß der Sprache nur zu erklärlich, mußte ihr später, als dieser Grund wegfiel, natürlich für baare Unliebenswürdigkeit, Maulfaulheit und Verstocktheit gedeutet werden. Die K.’sche Familie hatte es so oft beklagt, daß sich Caroline nicht familiärer an sie anschließe, allen Bemühungen zum Trotz nicht herzlicher, zutraulicher werde – jetzt ist das Alles erklärt und das Räthsel ihrer Unliebenswürdigkeit dazu.

Zu verwundern bleibt, daß Kunigunde bei ihren Protokollaussagen ihres wackern Lehrers Eck mit keiner Sylbe gedacht! War es vielleicht eine unbesiegliche dumpfe Gewissensscheu, die sie hinderte, auch seiner dankend und freundlich zu gedenken, seiner, der unter Allen am meisten für sie gethan, der am schmählichsten von ihr betrogen, am tiefsten von ihr gekränkt wurde? Fast will es uns so bedünken, denn daß sie ihm Zuneigung geheuchelt, was sie im Grunde gegen Niemand gethan, wo sie keine empfand, vermögen wir nicht anzunehmen. Wie sehr tief sie sich früher als ihm verschuldet bekannte, beweist am schlagendsten eine Scene, von der wir nicht glauben können, daß sie nur gespielt war. Eines Tages nämlich, als sie sich mit ihm allein beim Unterricht befand und er ihr in seiner tiefeindringlichen Weise zu Gemüth und Gewissen sprach, sank sie plötzlich laut weinend vor ihm in die Kniee und rief mit einer Gebehrde höchster Verehrung gegen ihn: „Sie sind mein Retter!“ …

Herr Eck schildert noch jetzt den Eindruck dieser Scene als hochergreifend und unvergeßlich, und wenn sie wirklich etwas dem nur entfernt Aehnliches in diesem Moment empfand, so müssen wir um so fester an die Möglichkeit ihrer Rettung glauben.

Den Stoff zu ihrer Betrugsgeschichte gab sie an, größtentheils „aus Schriften,“ nicht aber aus dem wirklichen Leben geschöpft und dann, mit eigenen Zuthaten versehen, durch Combination weiter ausgeführt und in freier Weise bearbeitet zu haben. Die Geschichte von Kaspar Hauser, die ja ganz in dortiger Gegend, besonders aber in Nürnberg und Ansbach spielte, kann Kunigunden nicht unbekannt und auf ihren Entschluß nicht ohne Einfluß geblieben sein. Sollte sie aber nicht vielleicht auch einmal die Erzählung „Heinrich von Eichenfels,“ vom Verfasser der Ostereier gelesen haben, die auf allen Jahrmärkten um ein Geringes dem Volke feilgeboten wird? Manches in ihrer „Geschichte“ scheint auf eine „freie Benutzung“ dieser Erzählung hinzudeuten. Der Vater Heinrich’s, der Graf von Eichenfels, zieht in’s Feld und wird verwundet; Heinrich wird von einer Zigeunerin als kleines Kind aus dem Schloß geraubt und in eine verborgene Gebirgshöhle zu Räubern gebracht; diese liefern dem unterirdischen Haushalt Brod, Fleisch und Gemüse. Die alte Zigeunerin (eine Art Bertha!) gibt dem kleinen Heinrich gut zu essen, sein geistiges Leben bleibt aber ohne alle Nahrung und besonders sagt sie ihm nie ein Wort von Gott. Ein Miniaturbild seiner Mutter (das Medaillon) hat die Alte zugleich mit dem Kinde gestohlen. Bei seiner Entweichung aus der Höhle nimmt Heinrich dies Bild mit. Sein Erstaunen beim ersten Anblick der Sonne! Er kommt zu einem Einsiedler, mit dem er später auf einem Wagen durch Feld und Wald fährt, seine Eltern zu suchen u. s. w. Man wird zugeben müssen, daß diese Erzählung ganz beachtenswerthe Parallelen mit der Carolinens bietet. Leider jedoch haben wir gar nichts Näheres erfahren können, aus welchen „Schriften“ sie schöpfte.

Die wesentlichsten Punkte dieses über Kunigunde Lechner vom Landgericht zu Neustadt aufgenommenen Actenstücks fanden die Offenbacher Herren aus ihrem eigenen Munde bestätigt, als sie dieselbe in Kloster Ebrach besuchten. Sie war oder schien Anfangs durch das Erscheinen zweier ihr noch kürzlich so nahestehender Personen sehr niedergeschmettert, und ihr ganzes Wesen bekundete die Zerknirschung aufrichtiger Scham und Reue. Die Thränen flossen ihr wieder reichlich, und sie erschien so angegriffen, daß man sie sich niedersetzen hieß.

Ueberhaupt kam sie in einem geistig wie körperlich sehr herabgestimmten Zustand in Neustadt an, was sie besonders damit erklärt haben soll, daß es eine furchtbare Anstrengung gewesen sei, sich immer so zusammenzunehmen, daß man sich mit keinem Worte verrathe. Sie habe deshalb auch gar viele Nächte schlaflos zugebracht. Im Anfang konnte sie vor Thränen und Erschütterung nicht reden, allmählich aber schien sie ihre Kraft zusammenzunehmen, und begann, auf die in milder Weise an sie gerichteten Fragen zu antworten. Ihr jetzt Buße und Moral zu predigen, war dies natürlich nicht der Ort noch die Stunde. Im Uebrigen aber enthielten ihre Aussagen und Mittheilungen nichts Wesentliches, was nicht schon in dem ihre sämmtlichen Geständnisse und Bekenntnisse umfassenden gerichtlichen Protokolle enthalten gewesen, und im Vorherigen von uns in Kürze wiedergegeben ist.

Es war in der Abendstunde, als dieser Besuch bei der Gefangenen stattfand, und man kann sich denken, wie erschütternd es auch für die beiden Männer gewesen sein muß, diese ihnen so sehr am Herzen liegende „verlorene Tochter“, diese „Caroline“, im linnenen Zuchthauskleide vor sich zu sehen.

Die Geschichte Carolinens endet hiermit, wir werden uns aber erlauben, noch einmal später auf sie zurückzukommen, und zugleich über das fernere Schicksal des Mädchens einige Fragen aufzuwerfen.




Zwei Weihnachtsabende.


„Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
 Klingt ein Lied mir immerdar;
Ach, wie liegt so weit, ach, wie liegt so weit,
 Was mein einst war!“


Der Klang tönt wieder in tausend Herzen in dieser Zeit; auch in dem meinen klingt er an und leise wieder! Es ist ein eigen Ding um alle Jugenddichtung: sie spinnt sich wie ein goldener Faden in’s ernste Mannesalter hinüber; und was dieses auch immer dem Menschen gebracht und wie es denselben verändert haben mag: selbst das Herz des Mannes hat eine Stelle, welche sie erschüttern kann mit ihrer hinreißenden Kraft und Lieblichkeit. Wir Alle empfangen jedes Jahr das Christkind in unserem Herzen, mögen sich unsere Anschauungen verändert haben, wie sie wollen; wir Alle werden wieder zu Kindern, – und wäre es nur für Minuten! – wenn der Kinder Christnachtsfreude auch in uns erglüht!

Das habe ich nirgends lebendiger gefühlt, als in der Fremde, wenn der Kalender mir sagte, daß heute daheim die Lichter flimmerten und leuchteten – hinein, tief hinein in tausend Kinderherzen! Ich verspürte dann immer eine Weiche im Gemüth, wie sie wohl Kinder haben; ich empfand eine Sehnsucht, ein wahres Heimweh nach dem Vaterhause, daß ich über mich fast hätte zürnen mögen, wenn ich es nur gekonnt hätte. In gar verschiedenen Städten, unter gar verschiedenen Menschen habe ich die liebe Christnacht gefeiert; zwei Mal aber hat sie mich ganz besonders ergriffen. Der eine Weihnachtsabend gellt mir noch heute wüst und hohl in meine Erinnerung herein, der andere klingt mir voll und gewaltig in der Seele wieder. Ich will beide zu schildern versuchen.

[750] Wir waren in Madrid, alleinstehend und unbekannt in der großen Stadt, durchkältet an Leib und Seele von der hier wegen jeglichen Mangels an Schutz doppelt fühlbaren Rauhheit der Jahreszeit und den gemüthsleeren Großstädtern; wir suchten und fanden nur in der Erinnerung an’s liebe Deutschland Ruhe und Glückseligkeit. Wir konnten uns keinen Christbaum anzünden, so gern wir es auch gewollt hätten; aber in unserem Innern brannten dessen Lichter hell und freundlich schon lange vor dem Feste, welches wir in der Kirche zu begehen beschlossen hatten. Der von so vielen kleinen und großen Kindern herbeigesehnte Abend brach endlich herein. In den Straßen der Hauptstadt des christlichen Spaniens wogte von Sonnenuntergang an die Menge auf und nieder, „um das Christkind zu empfangen,“ Sie suchte sich gegenseitig zu ergötzen und zu überbieten in ihrer Freude. Männer und Frauen durcheilten in Schaaren die Straßen und schrieen und jubelten – aber nicht wie gesittete Menschen, sondern wie Barbaren. Beide Geschlechter hatten sich mit Trommeln, Tambourins, alten Kochtöpfen, blechernen Pfannen und Pfeifen ausgerüstet und handhabten diese Lärmwerkzeuge genau in derselben Weise, wie bei uns zu Lande die Dorfjugend ähnliche in der Walpurgisnacht, wenn sie im kindischen Uebermuthe die alten Hexensagen nicht verschallen lassen und die zur Teufelshochzeit Fahrenden vertreiben will mit Geschrei und Trommeln und Schießen und Feuerschein. Dabei waren alle Weinkneipen und Branntweinladen weit geöffnet, und die Hefe der Hauptstadt gährte in deren Thüren. Immer größer, wüster und abscheulicher wurde der Lärm; betrunkene Weiber suchten es den berauschten Männern gleichzuthun im Trommeln, Rasseln, Pfeifen und Schreien; die Kinder folgten dem Beispiele ihrer Eltern; wer ohne jene Tonwerkzeuge war, schrie und brüllte wenigstens – und eins der Lichter des Christbaumes in unserem Herzen verlosch nach dem andern.

Gegen Mitternacht versammelte sich die Menge in dichten Gruppen vor den Kirchthüren, welche geschlossen und mit Soldaten besetzt waren, und lachte oder schrie, trommelte und rasselte noch ärger, als zuvor, oder riß wohl auch gemeine Späße mit den anwesenden Frauen. Dazu wurden die Glocken in der hier gewöhnlichen Weise geläutet: mit einzelnen schnellen Schlägen, wie bei uns zu Lande bei Gefahr und Noth, und nicht vereint, sondern jede einzelne für sich in wirrer, mißhelliger Folge mit anderen. Das Glockengeläuts in Spanien hat mich stets empört; denn es ist eigentlich nur ein schändliches Mißbrauchen der herrlichen, so eigentlich christlichen Klangwerkzeuge; heute aber verletzte es mich mehr, als je. Der Kindheit Dichtung, der Heimath Sehnen und der Heimath Bild, welches Glockentöne in der Fremde in mir zu erwecken pflegen, mußte vor diesen grausigen Tönen dahinschwinden. Ich wunderte mich nicht mehr darüber, daß nur im deutschen Herzen Glockentöne zum erhabenen Liede erblühen konnten; ich sah ein, daß nur ein in Deutschland Geborener Schiller’s Worte verstehen konnte, niemals ein Spanier: denn ich selbst verstand in Spanien die Glocken nicht mehr.

Mit dem Schlage Zwölf wurden die Kirchthüren geöffnet und das außen versammelte Volk stürzte sich nun in das Innere des Gotteshauses. Wir folgten ihnen ernst und stumm; denn es war uns gar eigen zu Muthe geworden. Doch sollte es noch anders kommen. Wir wunderten uns nicht wenig, als wir im Innern des Gotteshauses Polizeimänner stehen, Bayonette blitzen sahen. An jedem Pfeiler standen zwei Soldaten mit Gewehren; durch die Mitte des Schiffes aber zog sich eine dichte Reihe derselben, dazu bestimmt, um die zum Beten hierhergekommenen Männer von den Frauen abzuhalten!

Ich wurde durch die Anwesenheit der Soldaten schreiend verletzt im innersten Herzen; aber ich wußte ja nicht, daß man in diesem Jahre dem Volke zum ersten Male verboten hatte, den barbarischen Lärm von den Straßen in der Kirche fortzusetzen, wie es sonst zu thun pflegte. Und in der That waren Soldaten nöthig, den Trommelschlag und anderen Tonmißbrauch auf die Kirchthüren zu beschränken, durch die er noch immer hereinklang in’s Heiligthum; es waren Soldaten nöthig, Störungen der Messe zu unterbrechen: denn verhindern konnten sie diese nicht. Man lachte, witzelte und lärmte auch in der Kirche fort, und alle Wachen waren nicht im Stande, die Ruhe herzustellen. Ja, als dann die jubelnden Worte des „gloria in excelsis deo“ kamen, und von rauschender Musik begleitet wurden, da zogen einige der Männer trotz der Soldaten Tambourins unter den Mänteln hervor, und schlugen diese und klapperten mit ihnen, als hätten sie einer Tänzerin den Takt anzugeben. Die große Menge belohnte diese Unberufenen mit einem schallenden Gelächter und murrte gewaltig, als man Jene festnahm und entfernte; denn sie verstand ja weder das pfäffische Geplärr am Altare, noch die Worte der Sänger im Chore, welche die Trommelschläger begeistert hatten. Mehrere Male noch wiederholte sich ähnlicher Unfug; ich war froh, als die Messe endlich zu Ende ging. Eilig kehrten wir nach unserem Stübchen zurück, und verschlossen sorgfältig dessen Thüren und Laden, um nur den Lärm nicht mehr zu hören, welcher uns unsere Weihnachtsstimmung so arg verbittert hatte und immer fort währte. Und erst dann, als wir allein im Stübchen waren, wurde es uns wieder wohl im Innern; ich aber gedachte einer andern Weihnachtsnacht, die ich vor Jahren gefeiert – und begann zu vergleichen. Ueber Meer und Länder hinweg, durch vergangene Jahre hindurch trug mich die Erinnerung; ich befand mich wiederum im inneren Afrika, und durchlebte noch einmal die dort gefeierte Weihnacht. – – –

Auf einem der Hauptströme des Nil, mitten im Walde, lag unser kleines Boot. Wir hatten den ganzen Tag über gejagt, gearbeitet, beobachtet, Neues entdeckt, Wunder erschaut und darüber Alles, selbst die Heimath vergessen. Aber als die Sonne sich neigte, als sie das Gold des Abends unter das hundertfach verschiedene Blattgrün der Baumkronen webte, als das Kreischen der Papageien verstummt war, und die Affenschaaren tanzend von Baum zu Baum gaukelten, um sich, von dem Gegurgel des Aeltesten und Stärksten der Bande geleitet, eine sichere, hochgewipfelte Mimose zur Nachtruhe auszuwählen; als der prächtige Seeadler drüben am andern Ufer des Stromes, welcher mir immer wie eine wunderschöne Blüthe seines grünen Ruhesitzes erschienen war, seinen blendend weißen Hals zusammenzog; als die zwei Riesenkrokodile auf der uns gegenüberliegenden Sandbank ihren von der Sonne durchglühten Panzer wieder im lauwarmen Strome zu kühlen gedachten; als die Nacht sich herabsenkte, friedlich, mild, heiter und herrlich, wie immer: da flogen unsere Gedanken über Land und Meer, durch Steppen und Wüsten unaufhaltsam der theuren Heimath zu; und wie auch die Nacht schmeichelte und uns liebkoste, es wollte ihr nicht gelingen, des Herzens Sehnen zu beschwichtigen. Wir hatten uns Punsch bereitet und die Pfeifen mit dem köstlichsten Tabak der Erde, dem unvergleichlichen Djebeli, gefüllt, aber „die Wolken des Rauchs wollten die Wolken der Schwermuth“ uns nicht vom Herzen nehmen: die Gläser blieben ungeleert und unsere Herzen ungefüllt. Unser Türke sang seine prächtigen Minnelieder in tonreichen Weisen, aber auch sie wollten uns nicht erheitern. Der Urwald selbst mußte sprechen, um uns ihm und uns selbst wiederzugeben, und er that es auch; er ließ uns unsere trüben Gedanken, unser Sehnen und unser Heimweh nicht länger.

Plötzlich schmetterten helle, kräftige Trompetentöne durch die bisher so stille Nacht. Sie kamen vom andern Ufer herüber; das Geschwätz der Diener und Matrosen verstummte augenblicklich und alle lauschten, wie wir. Von Neuem schmetterte es zu uns herüber. „El Fiuhl, el Fiuhl! – Elephanten, Elephanten!“ – jubelten die mit den Tönen Vertrauten. Ja, wahrhaftig, es waren Elephanten, welche drüben zum Flusse gingen; nur von ihnen konnten solche Klänge herrühren – und heute vernahmen wir sie zum ersten Male: die Christnacht wollte auch uns nicht unbeschenkt lassen. Aber nicht allein sie, die Waldriesen, ließen sich vernehmen, ihr Geschmetter sollte vielmehr gleichsam nur das Zeichen sein zum Beginn des nun laut werdenden, beinahe schauerlichen, aber doch unendlich großartigen Nachtconcertes. Der König des Waldes donnerte durch sein Reich, seine Königin antwortete, tiefes Schweigen folgte, jedoch nur für kurze Zeit. Ganz in der Nähe unseres Schiffes hob ein Nilpferd seinen Kopf aus dem Wasser und brummte, als wolle es versuchen, mit der Löwenstimme zu ringen, ein Panther grunzte, erschreckt gurgelten die Affen auf, die Hyänen und Schakale übernahmen wie gewöhnlich den Chorgesang, die Eulen schrieen dazwischen, auf der Sandbank klagte der Wogenpflüger der Nacht, der Scheerenschnabel, und Silberglöckchen gleich erklang das Gezirp der Cicaden dazwischen, dumpfer der tiefe Ton der Waldfrösche. Es war ein wunderbares Tonstück, welches wir hörten, und wunderliche Künstler führten es auf, aber es gab uns ganz dem Orte wieder und söhnte uns aus mit der Fremde. Wir lebten auf mit diesen Tönen der Nacht, die trüb gewordenen Augen glänzten wieder, und die Herzen schlugen hoch auf vor Freuden! –

[751] Ich weiß es, welcher von beiden Christabenden würdiger gefeiert worden ist. Den einen in Madrid kann nicht einmal die Erinnerung zu einem erträglichen Bilde umgestalten; den andern im Urwalde malt sie von Jahr zu Jahr mit immer lebendigeren Farben aus. Wenn ich jetzt seiner gedenke, kommt mir die alte liebe Weise immer wieder in den Sinn, und ich möchte fast seufzend ausrufen:

„Ach, wie liegt so weit, ach, wie liegt so weit,
 Was mein einst war!“

Brehm.




Die englische Zeitungs-Industrie.


Alle Erfindungen und Entdeckungen von der ersten an, Abel’s, der zum ersten Male Feuer anmachte, wofür er von seinem Bruder Kain todtgeschlagen ward, bis zur letzten und neuesten wurden und werden von der großen Menge, die niemals das Pulver erfunden hat, immer zunächst todtgeschlagen, wenn’s irgend möglich ist, wenn nicht mit Knütteln, so doch mit Zungen, Federn und der Weisheit des Bestehenden im Allgemeinen. Daß man Erfindern, Entdeckern, d. h. Erlösern der Menschheit, hernach Denkmale setzt, ihre Biographieen und Schicksale der Jugend zur Erweckung und Belehrung, Aufklärung und Erbauung zu lesen gibt, ändert die Thatsache nicht. Auch die nützlichsten, praktischsten Erfindungen wurden zunächst mindestens immer verhöhnt, verspottet und ausgelacht. Man denke an die ersten Eisenbahnen, das erste Dampfschiff. Der Erste, der die Möglichkeit desselben behauptete, wurde dafür bis zu seinem Tode in einem Irrenhause gehalten; der erste thatsächliche Erbauer eines Dampfschiffes in Schottland so lange verhöhnt, bis er sein fertiges Dampfschiff verfaulen ließ, von welchem ein Amerikaner sein Modell nahm, das er in New-York ausführen ließ. Von da kam erst die Erfindung in die alte Welt zurück.

Doch wir können dieses für die ganze Menschheit entehrende Thema nicht verfolgen und erwähnen nur noch zur Einleitung in unsern Artikel, daß es dem ersten Zeitungsherausgeber in England ebenfalls nicht viel besser ging. – Im Jahre 1622 unter Jakob I. kam Nathanael Butter auf den Gedanken, Neuigkeiten aus London nicht mehr schriftlich zu vervielfältigen, sondern regelmäßig zu drucken und zu verkaufen. So druckte er alle Wochen ein Mal ein Quartblatt voll Neuigkeiten und bot sie zum Verkaufe aus. Alle Welt lachte über den blödsinnigen Einfall und die butterige Hoffnung, daß die Leute alle Wochen so viel von dem Quartblatte kaufen würden, um die Kosten zu decken.

Jetzt druckt man in einer Stunde über hundert Mal mehr, als Butter im ganzen Jahre 1622, und macht nach Deckung ungeheuerer Kosten und Zahlung fabelhafter Honorare (z. B. 50 Pfund für einen einzigen Leitartikel, wie dies die Times schon gethan) noch Geld genug, um davon wie ein Fürst leben und eher sterben zu können, als andere Leute.

Auch Butter gewann schon mehr als Brod von seinem wöchentlichen Quartblatte.

In London wird jetzt allein jährlich so viel Zeitungspapier bedruckt, daß man die ganze Erde hineinwickeln könnte, wie ein Butterbrod.

Die Zeitungsschreiberei und Zeitungsindustrie bilden jetzt eine der ersten Künste und Gewerbe. Der Herausgeber und Redacteur wird jetzt nicht mehr gebildet, sondern geboren, wie der Dichter. Dies gilt wenigstens im vollsten Sinne von der englischen Presse, die freier ist, als irgend eine in der Welt, und Summa Summarum regierungsfreundlicher, als irgend eine in der Welt. Wenn die Preß-Polizeibehörden von Deutschland eine Ahnung von der Kunst hätten, wie die freieste und mächtigste Presse in der Welt den regierenden Classen dienstbar gemacht wird, sie würden nie wieder auf den Gedanken kommen, eine Nummer zu confisciren oder dergleichen zu thun, was sie jetzt als richtige Ueberwachung der Presse betrachten und prakticiren.

Kein gewissenhafterer Censor, als der englische „editor“ oder Redacteur. Er riecht mit einem einzigen Schnüffel aus jedem Artikel injuriöse Elemente heraus und wirft ihn weg, corrigirt ihn oder schickt ihn zu diesem Zweck an den Verfasser zurück. Stenographische Berichte, die dem Redner schmeicheln, statt der Welt sagen wollen, was er gesprochen, setzen eine eben so feine Nase voraus, eine noch feinere die Körbe voll täglicher Privatmittheilungen, die benutzt werden müssen, aber ohne den Leuten, die dadurch ihre Privatinteressen fördern wollen, in die Falle zu gehen. Das größte Censoramt und die Cardinaltugend des Editors bilden die trüffelhundfeinnasigen Spürtugenden, stets zu finden und zu wählen, was den Absatz der Zeitung am meisten fördert und der großen Menge am meisten gefallen mag.

Solche freie Presse hat trotz ihrer scheinbaren Allmacht und Allgegenwart ihre Schwäche, ihre Gegengifte in sich selber. Man confiscirt keine mißliebigen Nummern, man unterdrückt keine Zeitung, man bedroht sie nicht einmal, sondern bekämpft sie mit Preßfreiheit. Man gibt Zeitungen gegen Zeitungen und die Times, mit der Niemand concurriren kann, wird dadurch beherrscht, daß ihr die regierenden Classen so viel Privatmittheilungen machen, daß der Redacteur glaubt, aus ihnen die „öffentliche Meinung“ zu erkennen, d. h. die Macht, wodurch der größte Absatz erzielt wird.

Gerade die ungeheuere Masse von freien Zeitungen in England ist deren Gefahrlosigkeit (das begreift nur, wer etwas dahinter geguckt). Die Londoner Zeitungen wickeln schon allein die Erde in bedrucktes Papier. Außerdem hat jede große Stadt Englands ihre tägliche Zeitung; Manchester, Edinburg, Glasgow u. s. w. je drei bis vier.

Diese großen Penny-Zeitungen in der Provinz und London (eine von 40 Foliospalten auf Strohpapier auch nur 1 Penny) formiren eine neue Epoche in der Tagesliteratur. In Amerika hat man’s darin bereits noch weiter gebracht. In New-York gibt’s schoch lange große Zeitungen für einen halben Penny. Eine derselben ward unlängst für 50,000 Pfund verkauft. Sie wird mit einer Hoe’schen Dampfmaschine gedruckt, die in einer Stunde 18–20,000 Exemplare liefert. Ihre Anzeigen bringen jährlich über 20,000 Pfund ein.

Vor einiger Zeit hörte man, daß auch eine Manchester Penny-Zeitung (Manchester Examinor) mit einer Hoe’schen Maschine gedruckt werde. Diese Maschine von dem Amerikaner Hoe wurde bald ein Ereigniß. Ein Engländer kaufte sich das Patent für England und Frankreich für eine fabelhafte Summe und baute zuerst eine Maschine für die Times. Dann bestellte sich Ingram, Eigenthümer der „Illustrated London News“ eine, und die vierte ward für die doppelte Penny-Zeitung: „Morning and Evening Star“ (Morgen- und Abendstern), das Organ der Bright’schen oder radicalen Reformpartei (Manchester-Männer) glücklich ausgeführt, vor einigen Wochen in dem neuen Redactions-Palaste (Salisbury Square, City) aufgestellt und in Thätigkeit gesetzt.

Hier in diesem neuen Wunderpalaste einer Penny-Zeitung sah ich das Wunder von neuer Dampfpresse zum ersten Male arbeiten (mit Hülfe eines deutschen Sub–Redacteurs, die Anderen machten Schwierigkeiten). Zunächst welch’ eine Frucht der Penny-Zeitungsliteratur in diesem neuen, massiven Palaste, blos für Redaction und Druck des „Star“ gebaut! Unten die Maschinerie. Parterre Anzeigen und Verkauf. Eine Treppe hoch langer Corridor mit numerirten Zimmern an beiden Seiten, alle substantiell und bequem mit glänzenden Arbeitstischen, Fächern, Karten, Sopha’s, Teppichen u. s. w. ausgestattet für den Haupt-, für den Con- und Subredacteur, für den Redacteur des Auswärtigen, des Innern, die Polizei- und Gerichtsabtheilungen, Correctoren u. s. w., u. s. w. Oben drüber großer Saal für Setzer und Drucker mit allen möglichen Bequemlichkeiten, Sprachröhren, Winden und Flaschenzügen zwischen Unter- und Oberwelt. In ersterer pfeift und schnaubt und donnert alle Nachmittage und Nächte der gigantischste und niedlichste aller dampfbelebten Käfer.

So sieht sie aus, die Hoe’sche Horizontal-Dampfmaschinenpresse, wie ein ungeheuerer Käfer, vielleicht mehr wie eine riesige Kreuzspinne. In der Mitte der Rumpf, der sich horizontal drehende, auf einem Zwölftel seines Mantels die gesetzten Typen der ganzen Zeitung enthaltende Druckcylinder. Die übrigen elf Zwölftel des äußeren Mantels werden von beiden Seiten stets so mit weißen Bogen versehen, daß er während der ganzen Umdrehung seine Typen noch elf Mal abdruckt, also mit jeder einzelnes Umdrehung

[752]

Graf Szapary der Pflüger.
Von Ludw. Storch.


 Die Schmach.
 (1682.)

Du schönes stolzes Ungarland,
Mit Wein gesegnet, Wald und Saaten,
Donaudurchfluthet und umspannt
Vom weiten Halbkreis der Karpathen,

5
Wie reich Du auch an Helden warst,

Von Allen, die Du einst gebarst
Und zu des Ruhmes Glanz erhoben,
Strahlt Einer vor im reinsten Licht.
Dem Kranz, den ihm der Dichter flicht,

10
Hat still ein Stern sich eingewoben.


Ganz Ungarn stöhnt in Band und Haft
Der übermüthigen Osmanen;
Vergeudet ward des Landes Kraft,
Zerbrochen hingen seine Fahnen.

15
So schwer der Türken Säbel lag,

Noch schwerer lastete die Schmach
Der Knechtschaft auf den Magyaren.
Da mußte manches edle Blut
Mit hohem Sinn und Heldenmuth

20
Ein schlimmes Sclavenjoch erfahren.


Graf Szapary, an Tugend groß,
Des Feindes Uebermacht erlegen,
Erduldet doch das schlimmste Loos.
Er ziehet unter grimmen Schlägen

25
Der Ackerfurche neuen Weg

Am schweren Pflug des Hamsabeg
Zusammen mit des Fürsten Pferde.
Mit seinem Blute, seinem Schweiß,
Doch nie mit einer Thräne heiß,

30
Tränkt er die vaterländ’sche Erde.


Eh’ noch die Sonne ihre Bahn
Am Morgenhimmel hat begonnen,
Hat schon der tückische Osman
Dem Ritter neuen Schimpf ersonnen.

35
Mit Stier und Esel angeschirrt,

Von scharfem Peitschenstrang umschwirrt,
Verhöhnt, gestoßen und getreten,
Vor Durst und Hunger krank, der Held
Pflügt ohne Murren so das Feld

40
Des argen Jüngers des Propheten.


Der Türke wähnt den hohen Mann
Mit ausgesuchter Qual zu beugen,
Was Bosheit Scheußliches ersann,
Der Held erträgt’s mit stolzem Schweigen.

45
Trifft ihn des Hamsa Hieb und Spott,

So denkt er still: Mein Herr und Gott
Warb auch verspottet und geschlagen
Und zürnte seinen Quälern nicht
Und hat mit heiterm Angesicht

50
Die Dornenkrone still getragen.
[753]

 Die Rache.
 (1684.)

Geschlagen ist das Türkenheer,
Und Wien entsetzt vom tapfern Polen.
Der Ungar greift zur scharfen Wehr,
Der Türke wünscht beschwingte Sohlen.

55
Und eh’s der Padischah gedacht,

Ist in der blut’gen Waizner Schlacht
Vom Kreuz der Halbmond überwunden. –
Den Hamsabeg, zur Flucht gewandt,
Hält eisern eine Ungarhand.

60
Er wird gefangen und gebunden.


Batthianyi ist’s, der edle Graf,
Der Waffenbruder war dem Pflüger
Und in der Schlacht den Hamsa traf
Und glücklich fing den türk’schen Tiger.

65
Nun führt er ihn zu Szapary:

„Mein edler Freund, den Buben sieh,
Der Schmach Dir gab viel martervolle!
Nun thu’ ihm, wie er Dir gethan!
Spann ihn mit Deinen Stieren an

70
Und laß ihn pflügen Deine Scholle!“


Doch Szapary zum Türken spricht:
„Nicht also sei Dir zugemessen!
Ich geh’ mit Dir nicht in’s Gericht.
Was Du mir thatest, ist vergessen.

75
Die Bande löset Dir mein Schwert.

Frei bist Du! Nimm mein eignes Pferd
Und reite heim zu Deinen Brüdern!“ –
Der Beg steht lange wie versteint.
„Das thust Du Deinem ärgsten Feind,

80
Der Dich gekränkt an höchsten Gütern?“


Darauf der Christ: „Mein Meister sprach:
„Ihr sollet Eure Feinde lieben!
An denen, die mit Haß und Schmach
Euch kränkten, sollt ihr Wohlthun üben!“

85
Und als der Juden Zorn und Wuth

Sein Kreuz begoß mit seinem Blut,
Da betet er zum höchsten Wesen:
„Vergib, o Vater, ihnen mild!
Ihr Sinn ist ja von Nacht umhüllt.“

90
Und sterbend segnet er die Bösen.“


„Zu spät, o Herr, kommt Dein Geschenk!
Verloren gab ich meine Sache.
Denn meiner Thaten eingedenk
Erzittert’ ich vor Deiner Rache.

95
Das Gift, in meinen Ring gefaßt,

Nahm als Gefangner ich mit Hast.
Schon greift der Tod mir nach dem Leben.
Doch sterbend, Christ, erkenn’ ich dies:
Der seine Feinde lieben hieß,

100
Der hat der Welt das Heil gegeben.


„O nimm mich auf in seinen Bund
Und laß als Christen fromm mich sterben!
Du gabst mir Deine Liebe kund,
Laß nun die seine mich erwerben!“ –

105
Der Ungar, der sich tief verneigt,

Das Kreuz am Schwerte dar ihm reicht
Und gießt, geschöpft aus naher Quelle,
Ihm auf das Haupt mit hehrem Wort,
Dem Glauben an den ew’gen Hort,

110
Der Christentaufe heil’ge Welle.


Der Sterbende umfaßt das Kreuz
Und küßt’s mit brünstigem Verlangen.
Des Todes Schatten hat bereits
Sein Haupt mit kaltem Hauch umfangen.

115
Doch hält er noch den Blick verklärt

Dem Liebesspender zugekehrt
Und streckt ihm froh die Hand entgegen.
Und wie sie dieser weinend drückt,
Da wird er selig heimentrückt.

120
Das ist der Liebe Gottessegen.

[754] zwölf bedruckte Exemplare liefert. Die Art nun, die reißende Schnelligkeit, spielende Leichtigkeit und Sicherheit, wie die kleinen, eisenräderigen, von dicken, ledernen Riemen gedrehten, an den äußersten Enden mit lattenartigen Krallen klappenden, reißenden, wilden und doch so sicher und exact greifenden, weiter schlingenden, herauswindenden und glatt niederlegenden drei Etagen hohen sechs Beine dieses Käfers arbeiten, dies ist eigentlich das Wunder. Ich weiß es recht gut, es geht Alles natürlich zu. Es ist keine Hexerei, nein. Aber ich begriff nichts, ich wollte nichts begreifen und blieb dabei, es sei der wunderbarste, aus mehr als 1500 mathematisch genau geformten Gliedern, Muskeln und Nerven combinirte, dampfbeschwingte, eiserne Riesenkäfer, der vor meinen Augen während der Stunde, die ich ihm zusah, 15,000 scheunthorartige weiße Stücke Papier nahm, sie bedruckte und bedruckt glatt übereinander 15,000 Mal wieder hinlegte, so daß die vielen dienstbaren Geister, die athemlos um ihn herumwirthschafteten, nichts weiter zu thun hatten, als ihm weißes Papier hinzulegen und bedrucktes wieder wegzunehmen. Funfzehntausend in der Stunde! Wenn das Guttenberg wüßte! Und Doctor Faustus! Dreißigtausend in der Stunde liefert er in Amerika. Es ging hier blos deshalb so langsam, weil die Jungens noch nicht recht eingeübt sind. Alle fünf bis sechs Minuten klingelte es: die Maschine stand still, weil bald hier, bald da ein dienstbarer Geist nicht schnell genug gewesen war. Aber sie verpustete sich immer blos etwa eine Minute. Dann schrillte und pfiff es wieder und die Bogen flogen und wirbelten wieder schneller, als das Auge folgen konnte, immer sicher, exact, niedlich, reinlich, prompt und wundervoll.

Ich habe hier natürlich nicht den fernsten Gedanken an eine technische Beschreibung. Sie sieht wie eine fabelhafte Riesen-Kreuzspinne aus und arbeitete vor den Augen etwa so und so. Weiter sah ich nichts, weiter wollte ich vor der Hand nichts sehen und sagen.

Solche unersättliche Maschinen, solche Tausende von Papier-Scheunthorflügeln brauchen Futter. Ich habe hier eine Nummer der Times vom 7. Mai 1850 mit 72 Foliospalten oder 17,500 Zeilen, die aus 1,125,000 Buchstaben bestehen. Sie ist nicht immer so groß, besteht aber in der Regel aus 12–15,000 Zeilen, von denen zwei Fünftel bis die Hälfte Abends vor zehn Uhr noch nicht geschrieben sind. Um acht Uhr früh, d. h. zehn Stunden später, liegt sie in 60–80,000 Exemplaren überall zum Frühstück bereit. Dasselbe gilt von den andern Morgenzeitungen, von denen einige, wie der „Star“, auch jeden Abend noch einmal neu erscheinen.

Fast alle Zeitungen Londons erscheinen in der City, welche zwischen vier bis fünf Uhr ihre Geschäfte schließt. Dann strömen allemal Tausende heraus, zwischen denen sich jedesmal Tausende hineindrängen müssen: die Nachtvögel der Presse, Schreiber, Setzer, Drucker etc. Ihre Geschäfte beginnen, wenn gewöhnliche Sterbliche schließen, und dauern bis 2–3 und 8 Uhr Morgens. Die Zeitungsschriftsteller geben ihre Abendgesellschaften Vormittags. Mancher hat seit einem Menschenalter keinen Morgen gesehen, geschweige eine aufgehende Sonne. Ihre Sonne geht immer im Westen auf, nämlich wo und wenn unsere untergeht.

Einen Blick in die Setzersäle oben: Ameisenhaufen, Metallstückchen in kleinen schmalen Streifchen alle 24 Stunden hundertcentnerweise aufpickend und wieder zerstreuend. Jungens dazwischen stets mit Fahnen und Papierstreifchen, noch naß, umherschießend, Trepp auf, Trepp ab aus allen möglichen Etagen und Zimmern. Was für mysteriöse Herren sitzen in letzteren? Vor Allen die mysteriöse, gewöhnlich kahlköpfige Majestät des „Editor’s“, der immer bloß „Wir" heißt in der Zeitung, dessen Brauen, wie einst die Jupiters auf dem Olymp, Throne und Ministerien erschüttern oder stürzen, umgeben von einem diplomatisch demüthigen Generalstabe, dem „reporter“ aus dem Parlamente oder von einem Meeting, manchmal mit Eisenbahn-Extrazug eben erst aus einer weiten Provinzialstadt angekommen,[1] dem Sub-Redacteur, der wortreiche Mittheilungen zusammenstreicht und aus Bergen von Briefen, „Blaubüchern,“ Provinzial-Zeitungen etc. Lesbares auszieht, dem Telegraphen-Redacteur, der auf die Drähte horcht, welche 12–20 an allen Eisenbahnen, über und unter der Erde und unter dem Meere weg Neuigkeiten hereinzucken, dem Correspondenzen-Redacteur, der von Indien und China und aus aller Herren Ländern täglich Briefe mit doppeltem und dreifachem Porto bekömmt, wovon im Durchschnitt nur ein Fünftel Platz finden kann, obgleich Alles mit Gold bezahlt wird, den Chefs verschiedener Abtheilungen aus verschiedenen Zimmern, die bis zur letzten Minute mit Unglücksfällen etc. herbeiströmen. Wer bringt all’ das Unglück? Das ist die Sache der literarischen Nachtvögel der Straße, der „penny-a-liners“ (die früher 1 Penny für die Zeile, jetzt 1½ Penny bekommen), die mit Vervielfältigungsschreibeapparat bewaffnet Tag und Nacht in der Nähe von Spritzenhäusern und Polizeistationen lauern, um Feuersbrünste, Morde, Selbstmorde, die schauderhaftesten der täglichen Schauer- und Schandthaten Londons mit spitzem Stahlgriffel auf eine dicke Lage von abwechselnd weißen und schwarzen Papierstreifen 5–8mal mit einmaligem Schreiben durchzudrucken und dann die so gewonnenen Exemplare athemlos in die verschiedenartigen Redactions-Briefkasten zu werfen.

Die englischen Zeitungen sind, wie die englischen Betten, zweischläfrig. Dies ist Grund weiblicher Corruption. Die eine Hälfte der Zeitungen enthält immer Polizei- und Mordgeschichten. Diese liest die Frau mit den Töchtern, Mann und Bruder überfliegen die politischen. Gelesen wird längst nicht mehr. Es ist unmöglich. Die 800 Zeitungen und Journale Englands sind fast alle ungeheuer reich und umfangreich, dabei eng gedruckt. Wer nur eine alle Tage lesen wollte, wäre nach spätestens einem Vierteljahr wahnsinnig oder verhungert. Niemand hat Zeit zum Lesen. Man guckt drüber hin und wird dadurch confus und leichtsinnig. Wollte man genau lesen, bliebe keine Zeit zum Geldmachen und auch kein Kopf dazu. Das genaue Lesen richtete vielleicht noch ärgere geistige und moralische Verwüstungen an. Die Zeitungen sind nicht ehrlich, sie vertreten keine Grundsätze und schwanken mit der öffentlichen Meinung sklavisch hin und her. Die Times hat im Verlauf weniger Jahre alle Dinge, Menschen und Staaten, je nach den Tagesinteressen Englands in den Staub getreten und in den Himmel erhoben, am eclatantesten Napoleon.

Die englische Tagespresse ist die gigantischste Industrie der Erde, aber man beneide England nicht darum. Sie ist über sich selbst hinausgewuchert, und durch ihre ungeheuere Massenhaftigkeit, Schnelligkeit und Principlosigkeit längst ungenießbar, ihre eigene Ohnmacht geworden. Allen Respect vor der Tagespresse, dieser Lunge und diesem Herzen alles cultivirten Völkerlebens, wo sie von unabhängiger, edler Intelligenz, von Principien, die sich aus den Parteistandpunkten gebildeter Menschen und Interessen nothwendig und natürlich ergeben und durch ihre Reibungen das geistige und politische Leben bedingen, geleitet und geschrieben wird; aber nur den bedingten Respect vor der englischen Tagespresse, deren etwa 500,000,000 Pfund Betriebs-Capital zu mehr als zwei Dritteln den Papier- und Schwärzefabrikanten, den Typengießern, Maschinenbauanstalten und sonstigen Industriellen gehört, die in diese gigantische Preßfreiheit eine Censur und Abhängigkeit bringen, welche die Reste von Freiheit, die die regierenden Classen (nicht die Regierung, nicht politische, sondern Classen und Kasten-Interessen) noch übrig lassen, vollends zu einer Chimäre verflüchtigen.

Die Presse ist in ihren Mitteln eine gewaltige, großartige, gebildete Industrie, aber nicht in ihren Zwecken. Durch die ungeheueren Capitalien, welche Industrielle in der englischen Presse gut haben, sind die Zwecke von den Mitteln überwuchert worden. Nichts ist deshalb gefährlicher für die deutsche Presse, als sich von der englischen abhängig zu machen und fast alle Tage Times-Urtheile als Autoritäten zu citiren. Deutschland werde frei, vor Allem in der Presse!




[755]
Blätter und Blüthen.


Sand und sein Scharfrichter. Die unglückselige That war vollbracht und Kotzebue als Opfer eines politischen Fanatismus durch Sand’s Dolch gefallen.

Sand, obwohl er an den selbst beigebrachten Wunden schwer litt, sah ruhig, im Wahn, eine gute That vollbracht zu haben, in seinem Gefängnisse dem Tode entgegen; das Urtheil war ihm bereits verkündet.

Da ließ er am Nachmittag des 19. Mai 1820, welcher dem Tage seines Todes voranging, den Scharfrichter W. aus H., dem die Vollstreckung des Urtheils von der Regierung aufgetragen war, zu sich entbieten. Sogleich erkannte er seinen Mann, als man ihn bei seinem Eintritt mit den Worten vorstellte, es sei der Herr aus H., welchen er zu sprechen wünsche. Sand hieß ihn freundlich willkommen, unterhielt sich an drei Viertelstunden mit ihm, fragte ihn, wie er sich auf dem Schaffot zu verhalten habe, und sagte, als er dessen Erschütterung bemerkte:

„Fürchten Sie Nichts, lassen Sie sich durch nichts irre machen, und sollten Sie auch mehrere Mal hauen.“

Nach geendigter Unterredung, welche zwischen Beiden unverkennbar eine Art von Befreundung herbeiführte, sagte Sand zu W., daß er von ihm noch keinen Abschied nehmen wolle, weil er ihn noch einmal zu sehen habe. „Am Scheidewege!“ erwiderte dieser.

Somit entfernte sich W. von Sand, und die Vorbereitungen zur Hinrichtung wurden getroffen. Ein Bekannter des Scharfrichters will nach dessen Besuch bei Sand eine bedeutende Veränderung in seinem ganzen Wesen wahrgenommen haben.

Am 20. Mai wurde die Hinrichtung vollzogen. Sand saß auf dem verhängnißvollen Stuhle. Weil er besonders seiner Wunden und seiner angegriffenen Nerven wegen nicht allzufest gebunden zu werden wünschte, so wurde er nicht mit der Brust, sondern mit dem Unterleibe an den Stuhl befestigt. Die Hände band man ihm Anfangs auf die Brust; da er aber sagte, es erschwere ihm das Athmen, band man sie auf den Schooß.

Sand wünschte, seine Haare nicht zu verlieren, worauf der Scharfrichter herbeitrat und ihm sagte, sein Haar sei für seine Mutter bestimmt. Sand nickte Beifall. Man schnitt ihm nur wenige Haare ab, und band die übrigen in die Höhe. Der Nachrichter zog nun ein rothes, schwarzgeblümtes Seidentuch aus der Tasche, und es wurde Sand um die Augen gebunden. Mit beiden Armen schwang W. sein Schwert, und in einem Augenblick war der Halswirbel durchschnitten.

Nachdem der Leichnam sich verblutet hatte, band man ihn los, und legte ihn nebst dem Haupte in den bereitstehenden Sarg. Hierauf wurde dieser mit Nägeln zugeschlagen, auf einen Wagen gestellt, mit einem schwarzen Tuche behangen und in langsam feierlichem Zuge, von Militair auf beiden Seiten begleitet, an seinen Bestimmungsort gebracht.

Sobald sich das Militair vom Schaffot entfernt und nur wenige Schildwachen zurückgelassen hatte, eilte eine Menge der Umstehenden, worunter sich mehrere Studenten aus Heidelberg befanden, die Stufen hinauf, um die wenigen Reste des abgeschnittenen Haares aufzulesen, und Taschentücher, Papiere und Commersbücher in das Blut zu tauchen. Späterhin sah man noch viele um das Gerüst versammelt, welche sich blutige Spähne aus den Bretern heraushauen und blutigen Sand reichen ließen.

Als die Execution schon längst vorüber war, sah man noch Studenten von Heidelberg kommen und den nähern Weg über’s Feld einhersprengen. Die fünfte Stunde war nämlich erst am Nachmittag des vorhergehenden Tages zur Hinrichtung festgesetzt worden, indem es vorher hieß, sie würde um elf und dann wieder um sieben Uhr vor sich gehen. Um drei Viertel auf sechs Uhr war der Sarg bereits wieder in der Stadt.

Das Volk nannte die Wiese, auf welcher die Hinrichtung vollzogen war, „Sand’s Himmelfahrts-Wiese.“

Den Richtstuhl schenkte der Scharfrichter einem seiner Freunde, welcher ihn sogleich vom Schaffot herunternahm, damit durch die Menge eilte und selbst nach Hause brachte.

Nachdem das Schaffot abgebrochen war, ließ der Scharfrichter W. die Breter nach H. bringen, um sie an seinem Gartenhäuschen, welches auf einer Anhöhe lag, zu verwenden, und sich in demselben Sand’s zu erinnern. Das Bret, worin der Block befestigt war, an welchen nachher der Richtstuhl gebunden wurde, zog sich mit der durchsägten Oeffnung an der Decke hin.

Schon bei seinem Nachhausekommen erschien W. den Seinen ganz verändert. Der sonst so heitere, gesprächige Mann sprach wenig, zog sich von seinen Freunden und selbst von seiner Familie zurück und versank immer mehr und mehr in eine düstere Schwermuth. Als das Gartenhäuschen in der angegebenen Weise vollendet war, brachte er seine meisten freien Stunden mit dumpfem Hinbrüten in demselben zu. Alle Mühe, ihn zu zerstreuen, und ihn von dem Besuche seines Lieblingsaufenthaltes abzubringen, war vergebens.

So verging der Sommer 1820 und die Melancholie des armen W. steigerte sich von Tag zu Tage. Endlich ward er ernstlich krank, und seine krankhafte Phantasie bewegte sich nur um Sand und die Momente seiner Hinrichtung. Man benutzte die Zeit seiner Krankheit, um jene verhängnißvollen Breter aus dem Gartenhäuschen zu entfernen, und bemühete sich dabei, seine aufgeregte Phantasie auf andere Gegenstände zu lenken, aber vergebens.

Als W. von seiner Krankheit so weit genesen war, daß er das Zimmer verlassen konnte, war sein erster Gang nach seinem Gartenhäuschen. Als er dessen Räume ganz verändert und mit verschiedenen freundlichen Bildern ausgeschmückt fand, verließ er es sogleich wieder, ohne dieser Veränderung mit einem Worte zu gedenken, verbrachte den Tag anscheinend ruhig in seiner Familie, sprach mehr, als man seit jener unglücklichen Execution von ihm gewohnt war, und erwähnte diese mit keiner Sylbe. Abends begab er sich still und ruhig in sein Schlafzimmer.

Am andern Morgen fand man das Zimmer verschlossen, und als auf wiederholtes Pochen und Rufen keine Antwort erfolgte, öffnete man es mit Gewalt.

Da war das Zimmer leer und alle angestellten Nachforschungen nach W.’s Aufenthalte blieben ohne Erfolg.

Mehrere Wochen waren seit W.’s Verschwinden aus H. vorübergegangen. Da ließ sich in Wunsiedel bei Sand’s Mutter, der verwittweten Frau Justizrath Sand, deren Gemahl seit kurzem gestorben war, ein fremder Mann anmelden, welcher sie um eine geheime Unterredung bitten ließ, indem er ihr eine wichtige Mittheilung zu machen habe.

Dieser Mann war dem Dienstmädchen der Dame wegen seines irren Blickes und scheuen Benehmens im höchsten Grade aufgefallen, weshalb sie Anstand nahm, ihn der Gebieterin zu melden. Als aber der Mann nach zweimaliger Abweisung zum dritten Male wiederkehrte und seiner Bitte um Zutritt bei der Frau Justizräthin die Versicherung beifügte, daß er ein Unglücklicher sei, dessen Seelenruhe von einer Unterredung mit der Dame des Hauses abhänge, ward er endlich vorgelassen.

Tieferschütternd war die Scene, als die Dame jenem Manne entgegen trat. Er stürzte nieder auf die Kniee, klagte sich als den Mörder ihres Sohnes an, bat sie in den rührendsten Ausdrücken um Vergebung, wie auch ihr Sohn ihm vergeben habe, und beschwor sie, ihm zum Zeichen ihrer Vergebung die Hand zu reichen. Die Spuren des Irrsinnes traten immer deutlicher bei dem Manne hervor und die Dame wollte sich entfernen. Als aber der Mann schluchzend unter heftigen Thränen sich als den Scharfrichter W. von H. zu erkennen gab und bei der Seligkeit des Gemordeten schwur, er werde nicht eher von der Stelle weichen, bis er ihre Verzeihung erfleht und sie ihm versöhnt die Hand gereicht habe: da reichte sie ihm dieselbe bin mit der Versicherung, daß sie nicht den geringsten Groll gegen ihn habe und haben könne, weil er ja doch nichts Anderes gethan habe, als seine Pflicht, die sein Amt von ihm fordere.

W. ergriff die Hand mit Heftigkeit, küßte sie, drückte sie an das Herz und dankte der Dame unter strömenden Thränen für den lindernden Trost, den sie in seine verzweifelnde Seele gesenkt habe, verließ das Zimmer und eilte in seinen Gasthof zurück.

Dort angekommen, versank er aber bald wieder in den vorigen Zustand zurück, und sein Benehmen war der Art, daß sich der Wirth genöthigt sah, der Polizei davon Anzeige zu machen. Der unglückliche W. ward in ein geeignetes Local gebracht und seiner Familie Nachricht gegeben. Sein Zustand aber verschlimmerte sich von Tag zu Tag, bis endlich der stille Wahnsinn, der erst seinen Geist gefangen hielt, in entschiedene Tobsucht überging.

Mit Bewilligung seiner Familie ward W., um seine Genesung zu bewirken, nach der Irrenheilanstalt St. Georgen bei Baireuth gebracht, und bald erfolgte dort die Genesung seines Geistes mit dem Friedenskusse des Todes. –

Dr. L.




Die Franzosen in Cochin-China und dessen Marmorgrotten. Wir Deutschen, die wir Alles idealistisch aufzufassen lieben, freuen uns der englischen, französischen, russischen und amerikanischen Siege in China und Japan, weil nun dort „Civilisation“ und sogar Christenthum unter den blinden Heiden verbreitet werden könne. – Thatsache ist, daß bisher verschlossene Länder, mehr als ein Drittel sämmtlicher Bewohner der Erde, der gebildeten, fabricirenden und handelnden Abendwelt zugänglich geworden. Zu China und Japan kommt nun wahrscheinlich auch Cochin-China, in welches sich die Franzosen Eingangslöcher geschossen haben. Eine französische Flotte erzwang sich Anfangs September festen Boden vor der Hauptstadt Cochin-China’s, Touranne, angeblich in christlichem Rachegefühl über französische Missionäre, die wiederholt von Cochin-Chinesen ermordet wurden. Der Kaiser Meng-Meng befahl 1833, daß alle christlichen Kirchen und Häuser niedergerissen und deren Bewohner und Priester ermordet werden sollten. Die Missionäre Gagelin und Jaccard wurden erwürgt. Ein dritter, Marchand, ward 1855 mit glühenden Zangen gezwickt, der Bischof Lefevre 1854 sechs Monate in einem Gefängnisse gemartert u. s. w. Aber der Kaiser Thieufri, wegen dieser Missethaten gegen französische Missionäre bedroht, erklärte sich bereit, mit den Franzosen Freundschaft und einen Handelsvertrag zu schließen. Ehe etwas der Art zu Stande kam, erhielt man von einem neuen Missionär-Martyrthum Kunde. Die Anamesen oder Cochin-Chinesen hatten den Bischof Diaz in Tonquin mißhandelt. Während die französische und spanische Regierung Rechenschaft dafür forderten, wurde der Bischof Melchior im Innern des Landes arretirt und ermordet.

Um diese Frevel zu rächen, griff eine französisch-spanische Flotte die Seefestungen des Landes an, zerstörte sie und landete. Zwar übt jedes Land das Recht aus, Menschen und deren Lehren, die dem „Landrecht“ und der „Landesreligion“ zuwider sind, zu bestrafen; aber die Christen verlangen von den Heiden für das Christenthum eine Ausnahme. Insofern es als Religion der Liebe, der Wirkung auf Herz und Ueberzeugung gelten will, durfte es auf diese Ausnahme keinen Anspruch machen, sondern mußte Alles der inneren, geistigen Macht der christlichen Lehre überlassen, die wenigstens auf keinen Fall mit Kanonen und Bombardement verbreitet werden kann. Das ist und bleibt ein Widerspruch in sich selbst. Diese Praxis hebt Alles, was wesentlich christlich ist, mit Stumpf und Stiel auf und ist geeignet, auch etwa schon gewonnene Gläubige zu den umgekehrten Saulus-Paulus-Proceß zu bringen.

Doch still davon. Unter uns: das Christenthum ist blos ein Vorwand. Man treibt den schamlosesten Spott mit dem „Worte Gottes.“ [756] Man sagt: Verbreitung des Christenthums, und meint in England damit gewaltsamen Verkauf von Baumwollenwaaren, in Frankreich Absatz von Quincaillerien und sonstigem eleganten Quark. Wenn man damit friedlich auf die Weltmärkte zöge und durch gute „ländlich sittlich“ eingerichtete Waaren, wohlfeile Preise und freundliches Benehmen Kunden zu gewinnen suchte, wäre dies sehr schön, sehr löblich, sehr praktisch, und würde mehr Civilisation verbreiten, als alle die kriegerischen Heldenthaten zu Wasser und zu Lande.

Wenn die Engländer z. B. nach Beendigung des scheußlichen Opiumkrieges, der ihnen fünf chinesische Häfen öffnete, sofort angefangen hätten, die Chinesen mit blauen Baumwollen-, Hemden- und Hosenstoffen zu bombardiren, statt den der ostindischen Compagnie monopolisirten Opium zu schmuggeln, Ablaßkram mit englischen Flaggen zu treiben (um chinesische Seeräuberei durch die englische Flagge zu schützen), wäre China längst erobert und wirklich gewonnen worden.

Doch das ist ein weitführendes, verfängliches Thema. Halten wir uns an Thatsachen. Jetzt an die, daß die Franzosen ein neues, großes, hinterasiatisches Reich betreten und zunächst für die Neu- und Wißbegier geöffnet haben.

Cochin-China oder Anam (Annam) ist ein Kaiserthum am östlichen Gestade Hinterindiens und reicht im Norden bis an die Grenzen China’s, im Westen bis Siam, wo die Franzosen schon Fuß gefaßt haben. Es besteht aus Tonquin, dem engeren Cochin-China, Cambodscha und Laos. Die alte Hauptstadt Hué, vor der großen Revolution ziemlich stark von französischen Auswanderern bevölkert, trägt noch vielfache Spuren französischer Baukunst und Cultur. Franzosen bauten die Mauer um die innere Stadt mit Citadellen, Palästen, Casernen, Arsenalen und manchen öffentlichen Bauten.

Das Land ist, wo nicht dicht überwaldet, chinesisch sorgfältig bebaut und drainirt, und liefert Reis, Zucker, Indigo, Farbhölzer, Eisenholz, werthvolle Baumharze, Thee, Elfenbein, Seide, Eisen, Kupfer und mancherlei andere werthvolle Metalle, außerdem hunderterlei pikante Gewürze. Der Kaiser ist alleiniger Kaufmann und Fabrikant. Die etwa 5 Millionen Einwohner (darunter eine halbe Million Christen) betrachtet er als seine Arbeiter und Diener, die ohne baaren Gehalt sich für ihn placken müssen. Er soll die schönste Elephantenarmee haben, ein ganzes Heer auf 800 bis 1000 wohldisciplinirten Elephanten.

Von dem Innern weiß man noch nicht viel. Aber nach dem Aeußeren, der Touranne-Bay und ihren Gebirgen und Grotten und Naturtempeln von reinem Marmor zu schließen, muß es voller Wunder und grandioser Schönheiten sein.

Die Touranne-Bay wird als die tiefste und sicherste in der Welt geschildert und deren Marmor-Grotten als die wundervollsten Architekturen der Natur. Sie sind vom Wasser aus zugänglich, wie die Fingalshöhle auf Staffa. Ein französischer Officier, der sie besuchte, läßt sich darüber so vernehmen:

„Mit Erlaubniß der betreffenden Behörden brachen wir in zwei Booten auf. Alles um uns her war voller Leben und Reiz, als wir aus der Bucht den Fluß hinaufsegelten. Auf beiden Seiten üppige Cocos-Palmenplantagen, unter denen malerische Bauernhütten sich schatteten. Jede Flußwendung eröffnete immer reizendere Landschaftsbilder mit gaffenden und staunenden, athemlos an’s Ufer stürzenden Weibern, Mädchen und Kindern in der leichtesten, heitersten Bekleidung, die in heißer Luft und hellster Sonne als ganz überflüssig um die sonst größtentheils nackten Gestalten flatterten. Die Meisten trugen nichts, als leichte Hemden. Hosen und Mützen schienen Aristokratie zu verrathen.

„Nach mehrstündigem Rudern kamen wir in die Schatten der Marmorfelsen mit den berühmten Grotten. Fünf echte Marmorberge steigen aus dem Ufersande, üppig bekränzt mit wogenden, blühenden, duftenden Schlinggewächsen. Auf einem der Marmorhäupter liegt loses Gestein, in der Ferne gesehen wie geharnischte Ritter auf Gräbern knieend. Unweit davon, im Schatten von Bäumen und duftig umblumt, erhebt sich eine Pagode mit einem Labyrinth von Altären und Nischen mit Götzen aus Stein und Holz, mit einem irdenen, glasirten, lebhaft bemalten Dache. Die Marmorwände der Felsen sind allenthalben in Götzenbilder zurechtgehauen, auf welche Cactus- und Aloeblüthen in der wildesten Ueppigkeit herabranken. In die Berge hinein führen mannichfache, von der Natur gebaute Thore und große Hallen und Grotten, stets üppig durchrankt und überblüht von Schlingpflanzen.

„Doch Alles war Kinderspiel gegen die natürlichen Marmorgrotten der Pagode, in welche wir nun traten. Welch’ ein seltsames Bild! Einige Europäer in der Mitte Hunderter wildfremder Eingeborner, dunkele, mit „sichtbarer Finsterniß“ gefüllte Wege und Corridore hinabirrend und plötzlich in eine blendend helle Combination von Natur- und Buddhisten-Culturwunder eintretend, angestarrt von grimmigen, steinernen Wächtern des Heiligthums, monströsen, kolossalen Figuren, auf Tigern und Löwen reitend, uberschwemmt mit wahrhaften Fluthen blendenden und seltsam gefärbten Lichtes. Nach einigen Minuten standen wir vor einer Marmortreppe, auf beiden Seiten von ähnlichen Figuren geschmückt, die in eine andere 80 Fuß lange und 100 Fuß hohe Grotte führen, ausgemalt von den wunderbarsten Farbentinten, ätherischen Brechungen des Lichtes auf farblosen Stalaktitensäulen, Bogen, Wänden und Wölbungen. Einige Stalaktitenauswüchse hängen von den Wölbungen oben wie lebendige Ungeheuer, die ihre Köpfe durch’s Dach hereinzwängen. Am Fuße der Treppe eine offene Pagode mit den brillantesten Kunstfarben und ungeheuerlichsten Formen von Altären und religiösen Symbolen oder Verkörperungen. Die Götzen waren größtentheils reich vergoldet. Am Ende eine besondere Capelle, einer darin stehenden kolossalen Gottheit besonders gewidmet. Sie war am sorgfältigsten und individuellsten aus einem sich erhebenden Marmorblocke gemeißelt. Auf beiden Seiten derselben kolossale Vasen mit den duftig betäubendsten Wohlgerüchen. An den Wänden empor nisten und zwitschern zwischen blühenden Schlingpflanzen Tausende von Schwalben und klettern und kreisen unzählige Affen.“

Diese kolossale, wundersame, märchenhafte Mischung von Natur und Cultur gibt Eindrücke, die alle übertreffen und von allen abweichen, die je von anderen Naturwundern der Erde geflossen sein mögen.

Sicherlich werden auch aus diesen hinterasiatischen, jetzt aufdämmernden Geheimnissen unserer Wissenschaft und Kunst, unserem Handel und Gewerbe neue Lebensquellen zufließen.




Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das vierte Quartal und der Jahrgang 1858 und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen für das nächste Jahr schleunigst aufgeben zu wollen.

Im nächsten Quartal kommen außer den trefflichen Beiträgen von Bock, Roßmäßler, Beta in London, A. Brehm etc. etc. zum Abdruck:

„Er betet“. Erzählung von Temme (Verfasser der „Neuen deutschen Zeitbilder“). – Westphälische Erinnerungen von Heinrich Koenig: „Die geheime Polizei“. – Berliner Bilder von Ernst Kossak. – Reise-Erlebnisse in Rußland von Wilh. Hamm, mit Abbildungen. – Die Jagd auf den Hochalpen von Guido Hammer, mit Abbildungen. — Ein Parvenu des vorigen Jahrhunderts von L. Storch, mit Abbildung. – Ein Besuch bei Kane, dem Nordpolfahrer. – Preußische Licht- und Schattenbilder von Max Ring: Die Gräfin Lichtenau, Bischoffswerder und Wöllner. — Humoristische Vorlesung über die Philosophie des Luxus und der Mode. Ungedruckte Reliquie von Carl Herloßsohn. – Eisenbahnfahrt über den Semmering. – Ein Burschentag in Bamberg. — Johanna’s (Wagner) erste Lorbeeren. Von Albert Traeger.




Unsere österreichischen Leser

haben wir noch besonders zu benachrichtigen, daß von Neujahr ab in Folge der in den Kaiserstaaten eingeführten Stempelsteuer die „Gartenlaube“ vierteljährlich um 13 Neukreuzer im Preise steigen und statt der früheren 79 Neukreuzer vom nächsten Quartale an

90 oder 91 Neukreuzer

kosten wird. Im Voraus überzeugt, daß diejenigen Freunde unserer Wochenschrift, welche dieselbe lieb gewonnen, ein Familienblatt nicht aufgeben werden, welches trotz dieser Preiserhöhung immer noch das billigste von allen erscheinenden ist, bitten wir nur, die Bestellungen recht zeitig aufzugeben, damit die regelmäßige Expedition keine Störung erleidet.

Alle Buchhandlungen und Postämter nehmen Bestellungen an.

Leipzig, den 18. December 1858.

Die Verlagshandlung.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Um die berühmte Rede Bright’s in Manchester, die Abends um 7 Uhr schloß, Morgens 8 Uhr fix und fertig zu bringen, hatte die Times einen Extrazug für ihren Reporter bestellt, der vor 16 ihretwegen geänderten Zügen vorbei die 112 Meilen in 2½ Stunden zurücklegte und vor 12 Uhr Nachts in der Redaction war, wo der stenographische Bericht, in Worte übersetzt, gesetzt und früh um 8 Uhr in etwa 80,000 Exemplaren mit der Zeitung gedruckt war.