Die Gartenlaube (1858)/Heft 7

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 7. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der gefangene Dichter.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Das Mädchenantlitz, welches der junge Mann in diesem Augenblicke vor sich erscheinen sah, war kein anderes, als das Minettens. Minette erschien nämlich, nachdem sie das von ihrem Kammerfenster aus gepflogene Gespräch abgebrochen hatte, unten in der Hausflur; sie war im Begriff, in den Garten zu gehen, aber da sie den fremden jungen Mann sich nahen sah, wartete sie, bis er vorübergegangen.

Der Fremde ging aber nicht vorüber. Im Gegentheil, er kam geraden Weges auf das Gärtnerhaus zugeschritten, trat über die Schwelle in die offene Hausflur und überreichte Minetten sein Bouquet mit den Worten:

„Nehmen Sie diesen Strauß von mir an, schönes Kind – wollen Sie ihn nicht von mir, als einem Unbekannten, annehmen, nun, so denken Sie, der Garten sende Ihnen seine schönsten Blumen zum Morgengruß.“

„Mein Herr, ich weiß nicht …“ stotterte Minette, bis unter die Haarwurzeln erröthend, und streckte nur sehr zögernd die Hand nach dem Geschenke aus.

„Wollen Sie mich mit einem Korbe betrüben?“

„Sie sind sehr galant, mein Herr – – aber in der That, wenn der Vater die abgepflückten Blumen sieht …“

„So gibt es eine Untersuchung? O, seien Sie darüber ruhig. Es hat ihn keine unberufene Hand geraubt; der junge Gärtner selbst hat ihn geschnitten und so sinnig und hübsch geordnet.“

„Wer, der Wilhelm?“ entgegnete Minette und griff nun unbedenklich nach dem Strauße.

„Ja, der Wilhelm wird es gewesen sein,“ antwortete lächelnd der Fremde; „Sträuße, die der Wilhelm bindet, scheinen sich freundlicher Aufnahme bei Ihnen zu erfreuen, – ist’s nicht so?“

Minette erröthete auf’s Neue und, um es zu verbergen, neigte sie ihr hübsches Gesicht über die Blumen.

„Ich danke Ihnen, mein Herr!“ sagte sie dann, indem sie einen zierlichen Knix machte.

Der junge Mann blieb stehen, trotz dieser verständlichen Andeutung, daß man ihn verabschiede. Die seltene Anmuth des hübschen jungen Mädchens schien ihn zu fesseln.

„Wollen Sie mich so gehen lassen, Demoiselle,“ hub er an, „ohne mir Ihre allerliebsten Fingerspitzen zum Küssen zu reichen?“

Sie schüttelte kokett den Kopf.

„Ich muß nun an meine Arbeit, Herr,“ versetzte sie, sich von ihm abwendend.

D« Fremde ergriff sie am Arme.

„Der Wilhelm sieht’s nicht!“ sagte er in neckendem Tone.

Sie entzog sich ihm mit einer raschen gewandten Bewegung, nickte ihm lächelnd zu und wollte eben der Treppe im Hintergrunde der Hausflur zueilen, als sie plötzlich wie angewurzelt stehen blieb und erschrocken ausrief:

„O, mein Herr, gehen Sie doch! Gehen Sie!“

„Was ist Ihnen, weshalb wechseln Sie erschrocken die Farbe? Sehen Sie den Wilhelm drohend da hinten auftauchen?“

„Sie haben noch gut scherzen,“ rief sie halblaut aus, ängstliche Blicke zur offenen Thüre hinaus werfend, „machen Sie um Gotteswillen, daß Sie fortkommen; fort – nein, nicht in den Garten, das ist zu spät, man sieht Sie – rasch hierhin, die Treppe hinauf – warten Sie oben!“

Und damit schob das junge Mädchen den Fremden, der willenlos ihrer Hast nachgab und nicht begriff, was sie so mit Angst erfüllte, die Treppe hinauf.

„Warten Sie, bis ich Sie herunterhole,“ rief sie ihm noch einmal halblaut nach und dann hörte er sie unten eine Thüre öffnen und davon gehen.

Er sah sich oben in einem schmalen Corridor, auf den die Treppe führte. Am Ende dieses Corridors befand sich eine Thüre, welche halb geöffnet stand und den Einblick in eine Kammer freiließ; im Hintergrunde der Kammer war ein offenes Fenster. Der junge Mann schritt den kleinen Corridor hinab und blickte neugierig in die Thüre; es war ein freundliches, nett und zierlich gehaltenes Giebelzimmerchen; Minettens Bett, mit weißer Spreitdecke überzogen, stand zur Rechten, links ein Tisch mit ihrem kleinen, einfachen Toiletten-Apparat. Der Fremde sah sich lächelnd in dieser friedlichen jungfräulichen Umgebung um, dann ging er bis an das offene Fenster, um einen Blick hinauszuwerfen.

Als er nun sich durch das Fenster vorbog, begegnete er höchst unerwartet einem anderen Blicke, der verwundert ihm entgegenschaute.

Dieser verwunderte Blick schoß aus den, die höchste Ueberraschung ausdrückenden, weit aufgerissenen Augen Wilhelms, des Gärtnergehülfen, der gerade unter dem Fenster auf seiner Leiter stand, noch immer mit dem Abpflücken unnützer Rebenblätter beschäftigt.

„Ah! Er! Er da?!“ rief Wilhelm aus, und mit dem zitternden Tone höchsten Zornes setzte er hinzu: „Was zum Teufel hat Er da zu schaffen?“

Der Fremde wollte antworten, aber der Gärtnergehülfe hörte [90] schon nicht mehr auf ihn; er stieg, er sprang vielmehr die Staffeln blitzschnell hinab und verschwand um die Hausecke.

Wilhelm war außer sich; ein fremder junger Mensch schaute aus Minettens Kammer heraus; er mußte sich augenblicklich Aufklärung darüber verschaffen, was er sich dabei zu denken habe, und deshalb stürmte er fort, in’s Haus hinein.

Als er in die Thüre trat, erschien eben Minette aus dem Wohnzimmer links und wollte eilig über die Flur, die Treppe nach oben zu, um den Fremden, den sie dort hinaufgeschickt hatte, herunterzuholen und fortzuschaffen.

Aber Wilhelm ergriff sie am Arme.

„Minette!“ sagte er, „Jungfer Minette!“

„Nun, was ist’s?“

Er antwortete nicht, er schien vor Zorn die Sprache verloren zu haben – er deutete todtenbleich auf den großen schönen Strauß, den Minette in den Gürtel gesteckt hatte.

„Was ist’s?“ sagte sie noch einmal, bebend in die eine fürchterliche Leidenschaft spiegelnden Züge Wilhelms blickend.

„Was bedeutet der Strauß?!“ flüsterte er jetzt mit vor Wuth halb erstickter Stimme, „von wem hat Sie den Strauß?“

„Den Strauß? Den hat mir eben ein Fremder gegeben!“

„Ein Fremder! ja, ein Fremder! o, ich weiß, wie fremd er Ihr ist – Sie Abscheuliche, – o, Alles, Alles weiß ich – weiß, was der Strauß bedeutet, was die dunkelrothe Nelke heißt – und ich Esel, ich mußte selbst den Strauß schneiden, darum war dieser Fremde so eigensinnig versessen darauf, daß ich den Strauß bände, damit er und Sie über mich spotten und mich verhöhnen könnten – und darum wollte Sie mich durchaus für den Abend in’s Wirthshaus senden – sieht Sie, daß ich Alles weiß, Sie Schlange, Sie Lügnerin, Sie …“

„Wilhelm – nein, wahrhaftig, Wilhelm, Er ist rein toll geworden!“

„Nun, zum Tollwerden ist’s freilich! So belogen und betrogen zu werden!“

„Wer hat Ihn betrogen?“

„Sie!“

„Mit dem Strauß? Ist’s denn nicht Alles heller Wahnsinn, was Er spricht?“

„Sie leugnet’s noch! Sie leugnet wohl noch gar, daß Sie den Fremden oben in Ihrer Kammer verborgen hat? O, Sie Falsche, Hinterlistige, Gottlose ... aber warte Sie nur, das soll der Vater erfahren, mit eigenen Augen soll er’s sehen, wie Sie’s treibt!“

Und damit stürzte der Mensch, der sich in eifersüchtiger Wuth selbst nicht mehr kannte, zum Hause wieder hinaus, um im Garten nach dem Vater des Mädchens zu suchen.

Minette, welche sich bis jetzt von all’ den Vorwürfen, die so plötzlich über sie ausgeschüttet wurden, nicht hatte die Geistesgegenwart rauben lassen, da sie sich ihrer vollständigen Unschuld bewußt war, begann nun dennoch, diese Geistesgegenwart zu verlieren. Den Vater fürchtete sie. Er war ein strenger, zorniger Mann. Er war leider – wir müssen es zur Steuer der Wahrheit gestehen – ein stiller Verehrer des landesüblichen Traubensaftes. Während diese Neigung Meister Allgeyer’s Cerebralthätigkeit eben nicht zu höherer Intelligenz verfeinert hatte, waren dadurch die cholerischen Theile seines Temperaments, die biliösen Elemente seines Organismus, in einer Weise verstärkt und ausgebildet, daß er außerordentlich stürmischen Zornanfällen ausgesetzt war, wobei er das vollständige Abbild jenes Dänen wurde, von dem es im Hamlet heißt:

You can not speak of reason with the Dane,
And loose your words!

denn alle Worte der Vernunft waren in solchen Augenblicken an Meister Allgeyer vollständig verloren, ja rein verschwendet.

Minette bekam deshalb einen tödtlichen Schrecken bei der Drohung Wilhelms, ihren Vater herbeirufen und sie vor ihm anklagen zu wollen … mochte sie so unschuldig an Allem dem, was Wilhelm ihr vorwarf, sein, wie sie wollte, – wenn er den Vater zuerst erreichte und ihm mit seinen tollen Geschwätz den Kopf erhitzte, nachher war sie verloren. Deshalb sprang sie Wilhelm nach, strebte, ihn am Arme zurückzuhalten, versuchte, ihn zum Bleiben, zum ruhigen Anhören zu bewegen, gab ihm alle möglichen guten Worte und gelangte, während er fortfuhr, seine eifersüchtigen Anklagen hervorzusprudeln, immer weiter von dem Gärtnerhause fort, in die Gebüsche der Anlagen hinein.

Der junge Mann, den wir oben in Minettens Kammer gelassen haben, war unterdeß, nachdem er sich noch einmal mit seinem lächelnden Fürwitz da umgesehen, zurück und wieder auf den Corridor gegangen, von dem Minette ihn herabholen zu wollen versprochen hatte. Er vernahm den lauten Wortwechsel unten, ohne verstehen zu können, um was es sich handelte. Leise ging er der Treppe näher; aber in diesem Augenblicke entfernte sich der eifrige Stimmenwechsel und verlor sich dann außer dem Hause in den Garten hinein.

Der Fremde schritt nun behutsam die Treppe hinunter. Die größte Stille herrschte im ganzen Hause. Unbehütet lag es da, die Hausthüre offen, offen auch die Thüre rechts, in welche Minette vorhin eingetreten war, nachdem sie den Fremden so eilig und erschrocken die Treppe hinaufgesandt hatte.




IV.

Der Fremde schien entweder eine sehr neugierige oder eine sehr beobachtungssüchtige Natur. Jedenfalls fehlte es ihm nicht an einer gewissen Dosis von unbefangener Keckheit, denn mit dieser trat er, statt das Häuschen, in welchem er doch im Grunde ganz und gar nichts zu suchen hatte, jetzt zu verlassen, in die offene Thüre rechts. Sie führte in das Putz- und Visitenzimmer Meister Allgeyer’s; es war sehr blank und rein gescheuert, die Stühle und Tische standen in der schönsten Ordnung da, der Thüre gegenüber blähte sich breit der Luxus eines schönen Sopha’s aus Kirschbaumholz und auf der Commode unter dem Spiegel standen auf weißer gehäkelter Decke allerlei altfränkische Nippsachen, kleine Schäferfiguren in sächsischem Porzellan, ein Topf mit Potpourri und das unvermeidliche Kaffeegeschirr mit rothgeblümten Schalen. Die Wände waren geweißt, aber statt der fehlenden Tapeten hatten allerlei illuminirte schöne Kupferstiche, auf denen Paul und Virginie in den zärtlichsten Situationen ihres rührenden Lebenlaufes oder der alte Fritz in den hervorragendsten Momenten seiner Heldenlaufbahn dargestellt waren, die Kosten der Ausschmückung übernommen.

So unterschied sich denn der Raum in nichts von anderen Stübchen gleicher Bestimmung in jener guten bescheidenen Zeit; es war nichts da, was verdiente, die Blicke so lange zu fesseln, als der Fremde sich in diesem Raume aufhielt. Und von dem Stübchen wurden seine Blicke auch in der That nicht gefesselt; sie flogen durch dasselbe hindurch in einen zweiten dahinter liegenden Raum, in welchen er hineinschaute und an dessen Ende sich ihm ein Anblick darbot, der ihn anzog. In der Ecke dieser Hinterstube nämlich war eine dunkle Vertiefung angebracht, welche von dem jungen Manne im ersten Augenblicke für ein hohes Kamin gehalten wurde, dann aber, bei näherem Hinsehen sich als Eingang in eine tiefliegende Räumlichkeit darstellte, zu groß freilich, um etwa als Eingang in gewöhnliche Kellerräume zu dienen. Darauf zuschreitend sah der junge Fremde, daß eine Treppe von vielleicht zehn Stufen hier ziemlich steil hinabführte, und zwar in einen Gang, der unter der Erde fortlief. Der Eingang über der Treppe war gewölbt aus rohen Tuffsteinen, die kunstreich so gelegt schienen, daß sie hie und da kleine Lücken ließen, durch welche Licht eindrang. Auf dem bituminösen Gestein der Wände wucherten Schlingpflanzen. Unten war der Gang mit glänzend reingehaltenen Fließen ausgelegt, die schwarze und rothe Carreaux bildeten.

„Der Herr Gärtnermeister scheint sich hier ein unterirdisches Tusculum angelegt zu haben,“ sagte unser junger Freund, indem er die Stiegen hinabschritt und aufmerksam die ganze Einrichtung und die Structur der Wände betrachtete. Nachdem er etwa zehn Schritte in dem dämmernden Raume vorwärts gemacht, gelangte er an eine Wendung und, um diese einbiegend, sah er sich in ein Stück des Ganges versetzt, das durch zahlreichere und größere Oeffnungen im Gestein der Decke noch besser erhellt war. Die herabhängenden Schlingpflanzen zeigten sich hier noch reicher geordnet, und mit ihrem hellen, schwach gefärbten Grün, das wegen Mangel an freier Luft nicht zur völligen Entwickelung gediehen war, bildeten sie ein Relief für kleine weiße Büsten, die auf den vorspringenden Ecken der Tuffsteine, wie auf natürlichen Consolen standen.

[91] Ueberrascht schritt der Fremde weiter in diese merkwürdige anmuthende kleine Unterwelt. Er musterte die Büsten und sah, daß sie berühmte Philosophen und Dichter der Vorzeit darstellten: Homer, Virgil, Sokrates, Plato, Sophokles, Aristophanes. Als er weiter schritt, kamen auch Voltaire, Rousseau, Pope und Gibbon zum Vorschein.

Der Fremde wandelte immer tiefer in den Grottengang hinein, mit einer gewissen Behutsamkeit sachte auftretend, als ob er scheu einer merkwürdigen Entwickelung dieser mysteriösen Anlage entgegenschreite. Noch einmal kam eine Wendung, und dieser folgend, hatte der junge Mann nun plötzlich einen Anblick, der in der That nicht überraschender, fesselnder, unerwarteter sein konnte. Durch eine schmale Bogenwölbung sah er in ein rundes Gemach, dessen Decke etwas höher aufgewölbt war, wie der Gang. In der Mitte dieser Wölbung hing eine Ampel nieder, während unten ein farbiger, aus Aloefasern geflochtener, sogenannter indianischer Teppich den Boden bedeckte. Rings an den Wänden umher lief eine zierlich aus rohem, noch mit seiner Rinde bedeckten Holze verfertigte Bank, während die Wände darüber, so wie im Gange, Schlingpflanzen und Büsten, nur zahlreicher und größer, trugen. Im Hintergrunde der kleinen Rotunde aber war eine Nische, eine Art kleiner Absis, wie in einer byzantinischen Kirche, angebracht, und in dieser stand über zwei Stufen erhöht ein mit einem grünen Tuche bedeckter Tisch, der um so mehr an einen Altar erinnerte, als ein einfaches Kreuz aus schwarzem Ebenholz sich darüber erhob, während mehrere Bücher darauf lagen.

Auf der Bank zur Rechten dieses Altars saß eine hohe weißgekleidete Frauengestalt.

Als der Fremde in dem Raume erschien, hob sie wie erschrocken das Haupt, während zugleich ein offenes Buch von ihrem Schooße auf den Boden niederglitt.

Der junge Mann stand wie angewurzelt. Er starrte mit großen Augen in ein unbeschreiblich edles, von blonden Locken umwalltes Gesicht mit feingeschnittenen Zügen, in denen sich die ausgebildetste Intelligenz aussprach, während der volle weiche Mund das Gepräge vollendeter Herzensgüte trug. Der Teint schien mehr bleich als frisch, falls dies nicht die Wirkung des Lichtes war, welches nur gedämpft und gebrochen durch die in der Decke gelassenen Lücken eindringen konnte.

Ein leises „Ah – wer ist’s?! was wollen Sie?!“ tönte jetzt dem Fremden entgegen, mit einer Stimme, in welcher er den Ausdruck eines gewissen Unwillens über sein Erscheinen nicht verkennen konnte.

„Verzeihung,“ versetzte er deshalb ziemlich schüchtern, „ich konnte nicht denken, daß ich mich störend in eine vielleicht geflissentlich gesuchte Einsamkeit dränge, als ich diesen seltsamen Gang betrat.“

„Wer hat Sie hereingelassen?“ fuhr die Dame mit einer Stimme fort, welche zeigte, daß ihr Unwille sich nicht gemildert hatte.

„Niemand; der Zufall hat mich geführt, ein glücklicher Zufall!“ versetzte er mit einer Ruhe, welche jetzt seine volle Zuversicht zurückgekehrt zeigte.

„Sie haben sehr unrecht, ihn glücklich zu nennen, mein Herr, am wenigsten wird er glücklich für die sein, welche den Befehl von mir haben, hier jede Störung von mir fern zu halten.“

Der junge Mann ließ sich durch diese strengen Worte nicht irre machen. Mit ruhiger Bestimmtheit antwortete er:

„Kann ich es denn einen unglücklichen Zufall nennen, der mir ein bezauberndes Bild, wie aus der Phantasie eines Dichters geboren, traumhaft schön und dennoch kein Traum, vor Augen stellt? Die Dichter sind selten so glücklich, daß ihnen die Wirklichkeit so holde Erscheinungen, so phantastisch, ja märchenhaft umrahmt, enthüllt. Sie sind leider nur zu sehr darauf angewiesen, mühsam und arbeitsvoll aus sich selbst Alles das zu schöpfen, womit Andere erfreut und erhoben werden. Darum verzeihen Sie mir und treiben Sie mich nicht sofort von hinnen, holde Gottheit dieser Grotte, bevor mir noch vergönnt wurde, Sie zu verehren!“

Bei diesen Worten trat der Fremde näher, ließ sich auf ein Knie nieder und, wie um einer solchen Huldigung das Auffallende oder gar Komödiantenhafte welches darin erblickt werden konnte, wieder zu nehmen, hob er das niedergefallene Buch vom Boden auf, um es der Dame zu überreichen.

„Sind Sie ein Dichter?“ fragte diese mit milderem Tone, indem sie das Buch annahm.

„Ob ich es bin? Ich weiß es nicht, aber ich träume es.“

„Das ist gefährlich.“

„Weshalb?“ fragte der Fremde.

„Weil es zu träumen gar oft auf Abwege führt.“

„Abwege führen oft zu holden Zielen, wie ich eben erfahre!“

„Wissen Sie denn, an welches Ziel Ihr heutiger Abweg Sie geführt hat? Vielleicht an ein sehr schlimmes, wenn ich Ihren Vorwitz strafte!“

„Eine Strafe würde nur dazu dienen, mir das Bild, welches ich vor mir habe, für immer noch unauslöschlicher in die Seele zu prägen. Wie man Kinder straft, blos damit sie eines denkwürdigen Ereignisses sich in ihrem Alter besinnen!“

Die Dame lächelte,

„Wollen Sie mich bestrafen?“ fuhr der Fremde, noch immer knieend, fort.

„Nein,“ antwortete sie, „erheben Sie sich.“

Der junge Mann stand auf.

„Gehen Sie jetzt! Und ich vertraue Ihnen bei Ihrer Ehre, daß Sie weder über diesen Ort, noch über diese Begegnung gegen irgend Jemanden indiscret sind.“

„Sind wir nicht immer darauf angewiesen, das Schönste, Herrlichste, was in unser Leben tritt, ängstlich vor der Welt Augen zu verschließen? Verlassen Sie sich darauf, ich werde diese Stunde eifersüchtig und behutsam vor jedem Sterblichen geheim halten.“

Können Dichter schweigen?“ fragte die Dame.

„Gewiß! Es lehrt sie die Stunde der Inspiration, wo die Trunkenheiten des Schaffens über uns kommen und uns Dinge begehen lassen, auf welche wir um Vieles, ja, um Alles in der Welt nicht das Auge eines Sterblichen blicken lassen möchten!“

„Haben Sie oft solche Trunkenheits-Anfälle? Sie reden davon, daß man sich vor Ihnen beinahe fürchten sollte!“

Der Fremde lächelte.

„Seien Sie ruhig, edle Frau, diese Trunkenheit ist höchstens die eines Kindes, welches entzückt die hellen Himmelslichter über seinem Haupte anjubelt und gleich darauf in Wehmuth versinkt, daß seine Arme nicht bis dahinauf langen, um sie sich herunter zu holen. Die Dichter sind eben so. Sie schwanken zwischen dem Rausch eines unendlichen Lebensmuthes, wo der Muth nicht allein für dieses Leben, sondern auch für alles andere Leben, für das des Jenseits, des Himmels und der Unterwelt ausreicht; wo er Alles umfassen, in Alles jubelnd sich stürzen zu können wähnt und die Welt umarmt, wie ein anvertrautes Weib, das sich von ihm lieben lassen muß: und dem grenzenlosen Jammer, daß die Sterne so hoch sind, die Wolken unsere Schritte für ein sonnenhohes Wandeln nicht tragen, die Welt nichts als ein durch und durch falsches, treuloses Wesen ist … das ist unser Loos, edle Frau, und in diesem Hin- und Herfluthen unserer Gefühle würden wir untergehen, wenn wir nicht auf unserm Lebensgange einen freundlich rettenden Genius finden, der uns hilft uns wiederfinden, wenn wir uns verloren haben, der uns zuruft, wie der Herr dem Petrus, als er auf dem See Genezareth wandelte und im Begriff war, in den Wogen zu versinken!“

Die Dame blickte den jungen Mann, während er so redete, mit Zügen an, in welchen sich ebensoviel Ueberraschung als Theilnahme spiegelte, während ihr Auge so mild und gütig auf ihm ruhte, daß er fortfuhr:

„Hätte ich heute einen solchen Genius gefunden, eine Hand, die sich mir böte – o, ich wollte sie verehren gleich der einer Heiligen, wie wollte ich sie an mein Herz drücken, diese Hand, an meine Lippen …“

Er knieete dabei noch einmal vor der Dame nieder, und indem er ihre Hand ergriff, versuchte er sie mit leidenschaftlicher Bewegung an seine Lippen zu führen.

Aber sie entzog ihm rasch diese Hand und sagte mit ernstem, zurückweisendem Tone:

„Gemach, gemach, mein Herr Dichter, lassen Sie sich von Ihrer Phantasie nicht zu Thorheiten fortreißen. Eines Genius, der auf die zu hoch gehenden Wogen das Oel der Besonnenheit ausgieße, scheinen Sie allerdings zu bedürfen. Aber lassen Sie die Hoffnung fahren, vom Baume des Lebens, um dessen goldene Früchte Sie bisher, wie ein Kind um den Weihnachtsbaum, geschwärmt zu haben scheinen, auch einen schönen Genius im weißen Kleide und mit rosafarbenen Schwingen pflücken zu wollen, wie ihn die Kinder ja auch oben auf ihren Weihnachtsbäumen finden. [92] Der Genius, der einem Dichter hilft, ruht in seiner eigenen Brust – da müssen Sie ihn suchen. Die Wirklichkeit hat einen anderen noch nie geboten. Wohl Ihnen, wenn Sie ihn finden. Streben Sie ja danach. Denken Sie an das Schicksal Tasso’s, der ihn nicht suchte, oder besser, ihn nicht zu finden wußte, weil er ihn ebenfalls in den Reihen der Sterblichen suchte, und zu sich herabbeschwören zu können glaubte durch die Beschwörungsformeln der Leidenschaft.“

Der junge Mann schwieg; er schien verstummt vor so viel überlegener Geisteshöhe. Auch wohl ein wenig beschämt!

„Tasso hat doch den Genius gefunden,“ antwortete er nach einer Weile – „in Leonoren von Ferrara.“

„In seiner Fürstin,“ antwortete die Dame stolz, „– daß er in ihr den eigens für ihn gesandten Genius erblickte, war schon der Anfang jenes Wahnsinns, in den er verfiel, weil er in seinem Innern nicht das Maß, die Haltung und die Harmonie fand, die ihn gerettet hätten.“

Und damit erhob sie sich.

„Sie gehen – gehen, zürnend über meine Kühnheit?!“

„Bleiben Sie hier eine Weile zurück,“ erwiderte sie, ohne seine Frage zu beantworten. „Verlassen Sie diese Grotte nicht mit mir zugleich!“

„Und ich sehe Sie nie wieder, um mir Verzeihung zu erwerben?“

Ihre schöne, schlanke Gestalt war im Begriff, aus der Grotte zu verschwinden; da wandte sie sich zurück und sagte, mit demselben mehr strengen als milden Tone, den sie während der letzten Augenblicke der Unterredung wieder angenommen hatte:

„Lassen Sie sich den Nachmittag im Schlosse bei der Gräfin von Schwartzenau melden, mein Herr Doctor Goethe!“

„Sie kennen mich?!“ rief der junge Mann überrascht.

Sie war verschwunden, ohne zu antworten.

Der Fremde – oder, da sein Incognito jetzt von der weißen Dame der Grotte beseitigt ist, Goethe blickte ihr mit begeisterungsvollem Auge nach.

„Wer ist diese Frau? Dieser Inbegriff von Schönheit und Geist?“ rief er aus. „Sie ist voll Hoheit, wie eine Fürstin, wie eine Herrscherin, der nicht die Macht, sondern die Seelenschönheit und die angeborene Grazie die Menschen unterwirft – wer kann es sein, wer anders, als die Fürstin selbst, als Caroline, die bewunderte Landgräfin? Woher sie mich kannte? Liest sie die Namen der Menschen auf ihrer Stirn geschrieben, oder hat sie mich so genau sich schildern lassen, daß sie danach mich erkannte?“

Und die Arme über der Brust verschlingend, schritt er eine Weile, stumm, in Sinnen versinkend, in der kleinen Grotte auf und nieder.

Er mochte auf diese Weise, träumend und sinnend in dem mährchenhaften Raume, in welchem er sich befand, länger verweilt haben, als er selbst es glaubte. Endlich schickte er sich an, denselben zu verlassen. Er warf noch einen Blick umher, wie um sich das Bild der Grotte einzuprägen, und dann trat auch er durch die kleine Bogenwölbung in den Gang. Bald war er am Ende desselben. Die Flügelthüre auf der Hohe der emporführenden Stiegen stand nicht mehr offen. Als er sie erreicht hatte und die Hand auf’s Schloß legte, fand er sie verschlossen. Er klopfte an, erst leise, dann lauter – aber vergebens. Niemand schien ihn zu vernehmen, Niemand draußen zu sein. Er rüttelte, er pochte endlich aus Leibeskräften an die Thüre. Alles war umsonst – das Gärtnerhaus schien wie ausgestorben; nicht das leiseste Geräusch ließ sich vernehmen, viel weniger der Fußtritt eines nahenden Befreiers.

„Ich bin ein gefangener Mann, wie mein Götz im Thurm von Heilbronn,“ sagte er endlich; „ist’s ein Zufall, oder bin ich’s zur Strafe? Jedenfalls muß ich mich fügen!“

Und langsam, resignirt, schritt er den Weg, den er gekommen, zurück, wieder in die Grottenrotunde hinein.

„Da ist ja auch er, von dem sie sprach,“ sagte er, hier vor einer der Büsten stehen bleibend, die die Wände der unterirdischen Halle schmückten. „Armer Tasso!“

Und nachdem er eine Weile in die Züge des glücklichen Sängers geblickt hatte, warf er sich plötzlich, wie in einem Anfall von Leidenschaft, vor der Stelle, wo die hohe Frau gesessen hatte, auf die Kniee nieder, stützte die Arme auf die Bank und die Stirn auf seine Hand und rief aus:

„Soll ich Dich lieben, Fürstin, wie Tasso Leonoren? O, ich könnte es, heiß, verzehrend, wie er .... Aber still, Herz, dämpfe deinen Schlag! Verwirr’ dich nicht in die trügerischen Irrwindungen eines unabsehbaren Labyrinths, an dessen Ende das Verderben lauert. Bist du nicht gewarnt? Bin ich nicht für den bloßen Gedanken an solche Liebe schon jetzt ein armer Gefangener? O, wie fühle ich mit Dir, Torquato! Armer Torquato!“

Und er erhob sich, trat wieder vor die Büste des Dichters hin, aber während er auf sie schaute, verrieth sein Auge, daß er viel weniger den Gegenstand vor ihm anblickte, als mit einer Reihe innerer Bilder oder Gedanken beschäftigt war, in welche er immer mehr sich zu verlieren schien. Sein Auge flammte höher auf, seine Wange röthete sich. Er murmelte einzelne Worte vor sich hin. Er wandelte wieder auf und ab. Er warf sich auf die Bank nieder, und stützte das Kinn auf die Hand, den Arm auf das übergeschlagene Knie. Lange saß er so in Sinnen völlig verloren da. Dann erhob er sich wieder, nahm eines der Bücher von dem kleinen Altar in der Nische, warf es wieder hin, nahm ein zweites, ein drittes – dies hatte weiße Blätter am Ende, und schien zu sein, was er suchte; aus einem Etui in seiner Brusttasche nahm er einen Bleistift, und begann nun auf die weißen Blätter hastig zu schreiben.




V.

Einen eigentümlichen und für die Zeit in hohem Grade charakteristischen Contrast bildete das Herrscherpaar, welches in jenen Tagen über die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt und die durch eine Erbtochter von Hanau erworbenen Hanau-Lichtenbergschen Landestheile gebot. Nie hat es eine friedlichere Ehe gegeben, wie zwischen dem Landgrafen Ludwig IX. und der Landgräfin Caroline; denn nie hat ein Mann den Beruf der Frau, mit ihm das Scepter zu führen, mit größerer Klarheit eingesehen, mit größerer Bereitwilligkeit anerkannt. Dadurch, daß er seinem Volke eine solche Landesmutter zuführte und sie dann, ohne ihr irgend die Hände zu binden, landesmütterlich schalten und walten ließ, ist Ludwig IX. der Wohlthäter seines Landes geworden. Er selbst fühlte sich nicht geschaffen für das unruhig bewegte, in ungeregelten Kreisen sich durcheinander wirrende Treiben der großen Welt, des Hof- und Staatslebens; er war eine ausgebildete Einsiedlernatur, welche in der Einsamkeit, die sie frühe gesucht, immer mehr und mehr sich beschränkt hatte auf das Einzige, wodurch sie lebendig angeregt, freudig bewegt wurde – das Waffenhandwerk. Das Militair war Ludwigs IX. Steckenpferd, mehr, wie es je Friedrich Wilhelms I. oder irgend eines andern Fürsten Steckenpferd gewesen ist. Um beiden Neigungen, der einsiedlerischen und der militairischen, zugleich zu fröhnen, hatte er sich in seinen Landen einen stillen Winkel ausgesucht, in welchem er sicher sein konnte, von Niemandem, den er nicht wollte, gestört zu werden. Dieser Ort hieß Pirmasens.

(Fortsetzung folgt.)




Bilder aus Wien.
Der Esterházykeller.

Wer nimmt nicht gern auf einige Stunden Abschied vom goldigen Sonnenlicht, um tief im Bauch der Erde eines jener dunkeln Arsenale zu besuchen, worin die Waffen gegen unsern alten Erbfeind, den Durst, aufbewahrt liegen.

Jede Stadt von einiger Bedeutung hat ein solches Zeughaus, worin man sich männiglich bewaffnen und streiten kann. Freilich wankt Mancher schwer verwundet von dannen, aber nicht vom Feind, dem Durst, sondern von seinen eigenen Waffen, von denen [93] er zu viel oder zu schwere führte, was nur alte bewährte Kämpen ungestraft thun können.

Wenn nun auch nicht jede Stadt solche berühmte Keller aufweisen kann, wie Bremen seinen Rathskeller – München den Bockkeller – Hamburg Wilcken’s Keller und Leipzig Auerbach’s Keller, so trifft man doch überall einen „Keller“ und darin gewiß etwas zu trinken! –

In Wien ist nun, besonders bei den Fremden, der Esterházykeller am bekanntesten. Die dort lagernden unverfälschten Ungarweine und der Name des Fürsten, der jedesmal, wenn er ausreitet, einen „silbernen Hut“ verliert, und so viel Schafheerden besitzt, daß dieselben einige kleine deutsche Fürstenthümer in zwei Stunden kahl weiden würden, lassen in dem Fremden dann Bilder von großartigen Kellerhallen mit Marmorsäulen und kunstvoll geschnitzten Riesenfässern aufdämmern, zwischen denen ehrwürdige Kellermeister mit Fackelbegleitung umherwandeln. Aber mag die Phantasie des Durstigen noch so groß und reich sein, die Wirklichkeit läßt Alles hinter sich, und das Gefühl eines ungeheuern Erstaunens erfüllt den Besucher, der zum ersten Mal den berühmten Keller betritt.

Der Esterházykeller in Wien.

In der Zeit von elf bis ein Uhr, so wie Nachmittags von fünf bis sechs ist die Thür zum Naß geöffnet. Wir verlassen den Graben, und schreiten in der stillen Naglergasse fort, bis wir zum Haarhof kommen, wo uns der kundige Mentor etwas bergab in eine Gegend führt, in der ein starker Ammoniakgeruch verherrscht. Mit Verwunderung stehen wir vor einer halbgeöffneten alten, verrosteten Eisenthür, in welche entweder der Rost, oder der kunstreiche Verfertiger eine Verzierung gearbeitet hat, die eben so wohl einem Adler, als einem umgestülpten, zerrissenen Regenschirm gleicht.

Durch diese Thür betreten wir eine Treppe, welche durch die täglichen Mißhandlungen der Heraufgehenden und durch ihr Alter boshaft geworden ist, und welche nichts lieber sieht, als daß man über sie hinunterfällt. Um dies nun möglichst zu erleichtern, hat man auf ihrer Mitte eine Fallthür angebracht, die wiederum nur zur Hälfte geöffnet ist, denn auf der andern Hälfte, die ganz so ausschaut, als ob sie seit ihrer Geburt niemals geöffnet worden, steht ein alter Windofen und ein Blechleuchter, der aussieht, als ob es sein Kind wäre, und in dem mit ungeheurem Hohn ein elendes Talgstümpfchen brennt, damit man die nun folgende pechschwarze Finsterniß sieht. Zur Ehre der Treppe müssen wir jedoch erwähnen, daß ein alter blankpolirter Strick an der Wand das Hinunterfallen bedeutend befördert, weil er die spaßhafte Gewohnheit [94] hat, einige Klafter länger zu werden, wenn sich Jemand ernstlich an ihn hält.

Mit Todesverachtung tappen wir nun den finstern Schacht hinab. Den verrätherischen Strick haben wir losgelassen, ehe er noch länger wurde. Fuß vor Fuß den Boden untersuchend, steigen wir tiefer, bis uns ein Stoß vor den Kopf und ein dumpfes Klirren auf die Idee bringt, daß hier eine Glasthür sein könnte. Dies ist in der That der Fall, und wir drücken dieselbe auf, um die letzten Stufen unter unseren Füßen zu verlieren und eine schiefe Ebene hinab zu rennen, welche an einem Tisch mit Würsten, Käse und Semmeln endigt, gerade als ob der Baumeister beabsichtigt hätte, die Eintretenden mit der Nase auf diese Gegenstände zu führen.

Obgleich wir nun zum Stillstand gebracht, nichts weiter sehen können, als vier bis fünf schwächliche Talglichter, und hier und da aus der Dunkelheit den wohlbekannten und erheiternden Blitz eines Glases, so riechen wir dennoch. Unsere Nase spürt einen starken, tüchtigen Weingeruch, nicht etwa, als ob man eine dünnhälsige Flasche entkorkte, sondern eine massive Blume, eine Art Victoria Regia, die uns von allen Seiten umgibt, wie eine Taucherglocke. Zu dem Gläserblitzen kommen nach und nach, wie sich unsere Augen an die Beleuchtung gewöhnen, glänzende Augen, die zwischen den Fässern hervor uns anblicken. Endlich lernen wir auch Gesichter und Gestalten unterscheiden, die dort auf allem Möglichen sitzen, nur nicht auf Stühlen. Jeder hält sein Seidelglas mit beiden Händen fest, als könnte es ihm gestohlen werden, und hie und da hat Einer ein Papier auf den Knieen liegen, dessen Inhalt von dem oben erwähnten Tisch stammt.

An einem anderen Tisch, etwas im Hintergrund, sitzt ein hagerer Mann, von etwas ziegenbockartigem Ansehen, welcher den Wein verkauft und das Register darüber führt. Er hat gewöhnlich einen Regenmantel um, wahrscheinlich, damit er nicht auch äußerlich naß wird. Unter einem Seidel wird nicht verabreicht, und wenn sich Zwei zu einem Seidel associiren, so entlockt diese „Jämmerlichkeit“ dem Wasserdichten nur ein verächtliches Lächeln, dem frommen Küper aber ein mitleidiges Kopfschütteln, denn es ist ihm unbegreiflich, wie ein lebendiger Mensch weniger, als ein Seidel trinken kann.

Die geringste Sorte, Guldenwein genannt, wovon das Seidel 6 Kreuzer kostet, ist schon ein vortreffliches Getränk, welches man in Auerbachs Keller gern mit 25 Ngr. à Flasche bezahlen würde. Dann kommt das Seidel zu 9 Kreuzer, ein tüchtiger Bursche, der einen im Genick hat, ehe man es sich versieht, und auch wohl im Stande ist, einen unter’n Tisch zu werfen, besonders, wenn er mit „Wermuth“ gemengt ist. Vom Wermuth, unter dem man sich nicht etwa ein bitteres Getränk vorstellen darf, kostet das Seidel 15 Kreuzer. Es ist ein dicker, trüber, malagaartiger Wein von großer Stärke und mehr zum Naschen und Mischen, als zum Trinken. Diese drei Sorten sind die hier gewöhnlich begehrten, und werden in den Besitzungen des Fürsten gebaut. Andere Ungarweine, wie Tokayer u. dgl., sind nicht zu bekommen.

Nachdem wir uns mit Wein versorgt haben, wenden wir uns zum Büffet und entscheiden, ob wir warm oder kalt speisen werden. Warm heißt Frankfurter Würstel mit Green, wobei wir zweierlei Entdeckungen machen. Erstens, daß die Würstel, welche in Frankfurt „Wiener“ heißen, hier „Frankfurter“ genannt werden, und zweitens, daß der alte Windofen oben auf der halben Fallthür kein leerer Wahn oder eine verfehlte Bestimmung sei, sondern wacker eingreife als Rad in der großen Weltmaschine, denn Wiener Wursteln heiß zu machen, ist nicht der Bestimmungen schlechteste.

Speisen wir kalt, so heißt dies „Käse“, und sind damit beide Nahrungsfragen erledigt, so kommt die Platzfrage an die Reihe, denn da wir ein Stück Käse, ein Brod und ein Glas Wein haben, so müßten wir nothwendiger Weise eins dieser drei Stücken stets unter den Arm klemmen, wenn wir stehend schmausen wollten.

Tische und Stühle sind nicht vorhanden, doch hat eine mitleidige Hand ein Bret längs der Wand neben der Thür auf irgend etwas gelegt, und so eine Bank geschaffen, auf welcher wir uns niederlassen. Hart über unserem Kopf hat Jemand ein Stück Holz der Mauer gewaltsam zwischen die Rippen gekeilt, und daran einen Leuchter gehängt, der eine so große Familienähnlichkeit mit dem auf der halben Fallthür hat, daß wir ihn ohne Weiteres für seinen Bruder halten. Da sich unsere Augen vollkommen an die Dunkelheit gewöhnten, sehen wir jetzt deutlich jeden Ziegelstein, der sich aus dem Gewölbe des Kellers hervordrängt, die Namenszüge auf den Fässern und die stillen Zecher neben denselben, deren immer mehrere auftauchen.

Ein plötzlicher Knall an der Glasthür, wo die betreffenden Scheiben längst von Holz eingezogen sind, verkündet die Ankunft eines neuen Gastes, der dann gewöhnlich auch sofort hereinstürzt. Stolpert er nicht auf den Würsteltisch los, sondern geht mit ruhigem Schritt nach dem Wasserdichten, so kann man darauf schwören, daß es ein Stammgast ist.

Mit Bedauern erfahren wir, daß sich die Ungarweine im Allgemeinen nicht auf Flaschen halten, und vom Faß weg getrunken werden müssen, was auch ihren billigen Preis herbeiführen mag. Wenn unsere Meißner oder Loschwitzer Weine diese Eigenschaft hätten, so müßte man folgerichtig beim Trinken derselben etwas herausbekommen, beim Grüneberger wenigstens auf das Maß ein kleines Rittergut. Und wie herrlich schmeckt dann der Ungarwein, wenn man dabei an Grüneberg denkt und an das schöne Gedicht von Heine:

Zu Grün’berg steht an der Mauer
Ein Weinstock hoch auf der Höh!
Die harten Trauben voll Trauer
Bedeckt im August der Schnee.

Er träumte von dem Schumlauer
Dort unten im Ungarland,
Und seufzte: ’s wird Alles sauer,
Wird nur mein Name genannt.

d. h. bei Heine handelt es sich eigentlich um eine Tanne und eine Palme, aber ein Ungarweinstock und ein Grüneberger stehen ungefähr in demselben Verhältnisse, und doch gibt es noch einen Wein, der nach dem Grüneberger kommt. Es ist dies der „Leipziger“, nicht etwa der, der dort getrunken wird, denn das ist Grüneberger mit falschen Legitimationen, sondern der, der dort wächst! Es kommt freilich selten vor, aber es ist Tatsache, daß der Finanzrath C… einmal aus in Leipzig gewachsenen Weintrauben einen Eimer und 16 Flaschen Wein gepreßt hat. Die Wirkungen dieses Weines waren unerhört. Brachte man eine Flasche voll in ein Zimmer, so blieben plötzlich alle Uhren stehen, die Saiten vom Pianoforte platzten mit einem Ruck, und die Tischplatten zogen sich krumm.

Aber ernstlich, der hier im Esterházykeller verschenkte Ungarwein ist so gut und echt, daß man ihn selbst in Ungarn, wo, nebenbei gesagt, das Fälschen des Weines an der Tagesordnung ist, nicht reiner und von besserer Qualität trinkt. Der Verbrauch ist deshalb auch ein ungemein großer und wiegt in dem Einkommen des Fürsten sehr bedeutend mit. Man nennt als Werth der hier aufgestapelten Weine eine ungeheure Summe, die allein hinreichte, um zehn andere unfürstliche Familien zu reichen und angesehenen zu machen.

Da die Tischzeit nahe war, so ward viel Wein nach der Oberwelt geholt und zwar von hübschen Dienstmädchen ganz unverhohlen, dann von ältlichen Damen in Strickbeutel und Arbeitskörbe eingezwängt, und von einigen ganz respectablen Herren in großen viereckigen Flaschen, aus alten Apotheken stammend, welche in dickes Papier in Buchform verpackt nach Haus geschmuggelt wurden, wobei die guten Herren in der festen Ueberzeugung gingen, daß kein Mensch eine Flasche in dem Papiere vermuthen könne. – Aber geht nur hin und packt eine Flasche, wie ihr wollt, siegelt sie zu und schreibt „ Proben ohne Werth“ darauf: man merkt doch, daß Ihr eine Flasche Wein tragt, eben so gut wie man es jenen Beiden anmerkt, die fest an einander gehalten nach oben steuern, obgleich sie ihren Wein tief im Innern verborgen haben.

Auch wir steigen hinauf an das Tageslicht, denn ein anderes Geschlecht braucht um die Mittagsstunde unsern Platz und macht dem Ofen eine heiße Stunde, in der viele „Würstel“ als Opfer fallen.

C. Reinhardt.
[95]
Die Lauine.[1]
Von E. A. Roßmäßler.

Neben dem diplomatisch schleichenden Geiste der Gletscherwelt wohnt noch ein toller Poltergeist in den schneeerfüllten Kesselthälern der Hochalpen: die Lauine.[2] Nicht leicht tritt die zerstörende Gewalt des Wassers so jäh und schreckenerregend auf, als in dieser Gestalt, wenn es auch in anderen viel bedeutendere Wirkungen hervorzubringen vermag. Manche Alpenthäler, z. B. das Oberhaslithal, finden sich bald von links, bald von rechts her mit weit vorspringenden, das Thal quer durchschneidenden Wällen und Halden von Felsblöcken unterbrochen, welche mit den Lauinen von den Uferbergen des Thales niederdonnerten. Wenn der Zug der Touristen die Einsamkeit der Alpenthäler belebt, ist diese zerstörende Macht des Schnee’s gewöhnlich schon ganz gebrochen und in die äußerste Grenze der Schneeregion gebannt. Die kühnen Kunststraßen, welche sich bis dahin versteigen, wissen durch gewaltige Gallerien der Wuth der Lauinen zu entgehen. Es gehört aber zu den eine Schweizerreise charakterisirenden Genüssen, z. B. von der Wengernalp aus von dem gegenüberliegenden Stock, aus dessen Mittelpunkt die reine Jungfrau in das Himmelblau aufragt, in den Mittagsstunden Lauinen Herabkommen zu sehen. Man glaubt sich in der reinen Bergluft ihnen viel näher, als man ist, und doch steht man in vollkommener Sicherheit, denn zwischen der Wengernalp und den steil abfallenden Wänden jener Bergriesen gähnt die tiefe Schlucht des unzugänglichen Trümmletenthales – die Rumpelkammer, in der sich aller Schnee und Trümmerschutt anhäuft. Erwartungsvoll, und selten um diese Zeit vergebens, ist Auge und Ohr hinübergerichtet nach den unermeßlichen blendenden Schneemassen. Plötzlich kracht und donnert es da drüben, wie aus tausend fernen Geschützen – noch liegt aber Alles in todter Ruhe, denn vergebens sucht der eilig über die Schneefelder fliegende Blick eine Bewegung der Masse. Entweder läßt die große Ferne oder die versteckte Lage den Heerd der Bewegung nicht erkennen. Aber bald ist das durch vielfältigen Wiederhall verstärkte Donnern vorüber und am untern Saume der Schneeregion schießt aus einem vorher unbemerkten Spalte der Bergwand eine blendend weiße Schaumcascade hervor und überschüttet den aus dem Trümmletenthale hervorsehenden Schuttkegel mit neuem Schnee. Dieser Schuttkegel zeigt von den vorausgegangenen Lauinenfallen alle Abstufungen vom reinen Weiß bis zum schmutzigen Aschgrau in abwärts laufenden lappenformigen Ausbreitungen, so daß es aussieht, als sei zu verschiedenen Zeiten auf seiner Spitze ein Gefäß voll zäher bald heller, bald dunkler grauer Farbe ausgeschüttet worden, und diese sei dann wie ein Lavastrom bald breiter bald schmäler, bald mehr bald weniger tief herabgeflossen. Die graue Färbung des oberflächlichen Schnee’s und deren Ursprung kennen wir von den immer schmutziger werdenden Flächen unserer abschmelzenden Schneefelder.

Dies ist die eine Form der Lauinen, ich möchte sie fast harmlos nennen, weil sie selten große Steine mit sich zu führen scheint; wir denken aber bei dem Worte Lauine nicht an sie, sondern an eine andere, die wir als Sinnbild der Zerstörung kennen.

Es ist leicht zu errathen, daß bei der Bildung und Beschaffenheit der Lauinen der Temperaturgrad, der in der Region des ewigen Schnee’s gerade herrscht, von Einfluß sein müsse. Bei großer Kälte unterbleiben die Schneeball-Gefechte der munteren Jugend, weil sich dann der Schnee nicht ballt. So muß es auch in der Schneeregion sein, und man unterscheidet demnach zunächst kalte und warme Lauinen. Gewöhnlicher ist jedoch die Unterscheidung derselben nach dem Aeußeren ihrer Erscheinung und ihrer Wirkungen.

Die Lauinen sind in ihrem Erscheinen nicht in dem Grade vom Zufalle abhängig, als wir Ebenenmenschen anzunehmen geneigt sind, denn an vielen Orten herrscht darin einige Regelmäßigkeit der Wiederkehr. Hierzu trägt natürlich ein gewisser Grad der Neigung der Felsenwände und der Schneereichthum des Monats am meisten bei. Deshalb wird bei der Anlegung der Alpenhütten hierauf Rücksicht genommen und solche „ungeheuere“ Orte vermieden. Der kundige Alpenbewohner sieht nicht selten das nahe bevorstehende „Niedergehen“ oder „Losbrechen“ einer Lauine voraus und kehrt oft auf einem weiten Marsche nahe seinem Ziele wieder um und schlägt lieber einen großen Umweg ein; er weiß, daß seine Fußtritte eine Lauine an seiner Seite „antreten“ könnten.

Dies gilt nämlich von den sogenannten Staublauinen, die als die gefährlichsten gelten. Ihr Niedergehen ereignet sich namentlich bei größeren Kältegraden, wenn bei anhaltendem Schneefalle der Wind große Schneemassen an stark geneigten Abhängen angeweht hat. Man nennt sie auch Wind- oder Schlaglauinen, weil ihnen ein furchtbarer Luftdruck vorausgeht, der allein schon Bäume und Hütten umzureißen vermag. Da ihr Niedergehen auf einem Herabrutschen großer Schneemassen beruht, so hat man an nicht gar zu gefährlichen Stellen mit gutem Erfolge an den unteren Grenzen solcher Rutschfelder hohe Steinwälle aufgerichtet. Die „heiligen Haine“ unserer Altvordern finden in den Alpenhöhen ihr Seitenstück in den Bannwäldern; sie sind eben so unverletzlich, wie jene, und dienen zum Schutze der darunter liegenden Gebiete vor dem Andrange der Lauinen. Dennoch durchbrechen die Lauinen zuweilen die Bannwälder und hinterlassen in ihnen breite Gassen mit aufgerissenem Boden. Der Schweizer nennt sie Lauizug, der Tiroler Lahnenrunst. Ueberschreitet eine Lauine die enge Schlucht eines Baches, so füllt sie diese mit festem Schnee aus, welchen der Bach nach und nach durchbohrt, so daß eine Lauinenbrücke bleibt, die zuletzt meist verschwindet, sich aber alljährlich in gleicher Weise erneuert. Liegen solche Lauinenbrücken hoch genug nach der Schneegrenze hin, so erhalten sie sich auch lange Zeit und Schlagintweit erwähnt einer solchen, die sich seit 73 Jahren erhalten hatte. Ich traf Ende August im Hintergrunde des Lauterbrunnenthales den Rest einer Lauinenbrücke, d. h. die eine zu einem breiten Schuttkegel abgeschmolzene Seite derselben, die ebenfalls sehr alt sein mußte, denn der Schnee war ganz und gar mit schwarzgrauem Schutt bedeckt, auf dem sich Alpenpflanzen angesiedelt hatten.

Diejenige Form der Lauine, in der wir uns dieselbe überhaupt gewöhnlich und zwar als das Sinnbild des Schreckens und der Zerstörung denken, die Roll- oder Grundlauine, ist viel weniger schädlich, als die Staublauine. Sie entsteht bei gelinder Witterung, wenn sich der Schnee ballt. Aber eine Rolllauine ist auch keineswegs ein einziger ungeheuerer Schneeball, in welchem wir uns die auf ihrer Bahn weggerissenen Bäume und Felsentrümmer und Hütten wie die Nadeln im Nadelkissen feststeckend denken. Nur selten erreicht ein solcher Lauinenball die Größe von 30 bis 40 Fuß; vielmehr ist eine Rolllauine ein Strom von zahllosen kleinen Bällen, die 1 1/2 bis 2 Fuß gewöhnlich nicht übersteigen. Diese sind dabei durch Aneinanderreiben und Stoßen ohne Zweifel in einem gewissen Wechsel des Bestehens und Umbildens begriffen, was ihre Bewegung mäßigt, so daß man solchen Lauinen, wenn ihr Sturz nicht durch eine sehr geneigte Ebene begünstigt wird, allenfalls entrinnen kann. Ihre Bewegung beträgt nur etwa 8 bis 10 Fuß in der Secunde. Der Grad ihrer Verheerung ist zum Theil von der Beschaffenheit des Bodens abhängig, über den sie rollt. Ist er feucht und nicht gefroren, so reißt die Lauine allerdings denselben bis auf den felsigen Untergrund mit hinweg und dadurch werden bedeutende Nachtheile für die Alpenmatten herbeigeführt.

Wie sehr auch in dem Gebiete der Natur das „viribus unitis“ gilt, wie kleine Kräfte in einmüthiger Vereinigung Großes bewirken können, das lehren auch die Lauinen. Es ist wiederholt beobachtet worden, daß an Stellen, wo sonst regelmäßig Lauinen niedergingen, diese ausblieben, wenn die geneigten Flächen, auf welchen die Ablösung der Lauinen zu beginnen pflegt, im vorhergegangenen Sommer [96] ihres Grases nicht beraubt worden waren. Dies konnte nur geschehen wegen eines zeitigen und bleibenden Schneefalls, der sich durch Anschmelzen mit den Grashalmen fest verband und dann, da diese Verbindung eine vieltausendfältige ist, die ganze Schneemasse so fest an den begrasten Boden haften läßt, daß sie daran nicht herabgleiten kann. Dies hat die Alpenbewohner in Wallis auf den glücklichen Einfall gebracht, die Lauinen gewissermaßen festzunageln. Auf solchen Ursprungsstätten der Lauinen, fast immer fette Alpentriften, schlägt man in etwa fußweiten Abständen Pflöcke in den Boden, die alsdann den den Winter über fallenden Schnee festhalten und ihn nur allmählich abschmelzen lassen.

Tiefe Alpenthäler mit hohen, in die Schneeregion reichenden Uferbergen, wie z. B. der obere Theil des Haslithales im Berner Oberlande, bieten zur Zeit des Touristenschwarmes, wo das Niedergehen der Lauinen gewöhnlich vorüber ist, das Bild der Zerstörung. Aus den tiefen Einschnitten der Thalwände, von denen man von unten oft nicht ahnt, daß sie die Ausgänge aus bedeutender Höhe herabkommender Felsengassen sind, erstrecken sich oft in das Thal hinein Wälle ganz frisch aussehender Blöcke von überraschender Größe, die dennoch durch den überwältigenden Druck des weichen Schnee’s herabgeworfen, vielleicht erst oben losgebrochen worden sind. Selten ereignen sich solche Lauinenfälle in sehr besuchten Gegenden noch im Spätsommer, weil dann der Schnee bis zur ewigen Schneegrenze hinauf abgeschmolzen zu sein pflegt, dafern nicht ausnahmsweise zeitige Schneefälle und darauf folgende milde Witterung neuen Stoff dazu bieten. Um diese Zeit beschränkt sich das Niedergehen von Lauinen auf die unzugänglichen Heiligthümer der Hochalpen, aus denen dem Reisenden meist nur von fern in der vorher beschriebenen Weise Kunde wird. Wenn wir aber mit aufmerksamen und geübten Blicken die Alpenwelt durchwandern, namentlich zu der Zeit, wo durch das den Sommer über stattgehabte Abschmelzen die Schneegrenze sehr hoch liegt, so erkennen wir, daß auch die Lauine eine der mancherlei Formen ist, in welchen das Wasser unausgesetzt an den Umrissen der Hochgebirge ändert und mäkelt.

Aber neben diesem gewaltsamen Wirken haben die Lauinen auch noch eine mit dem Gedeihen des Lebens in nahem Zusammenhange stehende Bedeutung. Es ist kaum möglich, sich von den unermeßlichen Mengen Schnee’s eine richtige Vorstellung zu machen, welche alljährlich durch die Lauinen unter die Schneegrenze herabgefördert werden. Blieben diese Massen an den Stellen liegen, wo sie als Schnee niedergefallen sind, so würden sie kaum bis zum Spätsommer abschmelzen, an schattigen Hängen gar nicht dazu gelangen und so würde vielleicht die Schneegrenze – die wir als nicht blos von der Seehöhe abhängig bereits kennen gelernt haben – allmählich tiefer herabsinken und das Weidegebiet der Alpenmatten immer mehr beeinträchtigen. Durch den Lauinenfall werden regelmäßig alle Jahre eine Menge Alpenmatten von den Schneelasten befreit. Dieser Lauinenschnee wird nun in den tieferen Höhenstufen von den hier wirksameren Sonnenstrahlen und von Regengüssen schneller verzehrt und ihr Wasser kommt den Tiefländern zu Gute, während der ewige Schnee seinen Wassergehalt denselben vorenthält. Tschudi[3] hält daher die Lauinen trotz der von ihnen sonst angerichteten Verheerungen dennoch für eine vorwiegend nutzenbringende Alpenerscheinung.




Die Leipziger Gewandhausconcerte und ihre Entstehung.


Weit über die Grenzen Sachsens und Deutschlands hinaus ragt der Ruhm des Leipziger Gewandhausconcerts. Mögen in größeren Städten gewaltigere Orchester und zahlreichere Sängermassen in kolossaleren Räumen vor einem größeren und glänzenderen Publicum zusammenwirken, so werden diese Leistungen sich dennoch nur in seltenen Fällen mit dem messen können, was hier mit verhältnißmäßig wenigen, aber auserlesenen Kräften unter einer Führung geboten wird, die ihren Stolz darin sucht, dieses Institut auf dem hohen Standpunkte zu erhalten, auf den es durch seine Begründer und deren Nachfolger gehoben worden.

Kein Sänger und kein Virtuos, wäre er auch anderwärts noch so oft mit Beifall aufgetreten, wird seinen Ruf für dauernd begründet erachten, so lange derselbe nicht die Feuerprobe des Leipziger Gewandhausconcertes bestanden hat, und wenn ein Componist sein Werk hier zur Aufführung gebracht und damit vor der Leipziger Kritik Gnade gefunden hat, so braucht ihm an andern Orten deswegen nicht mehr bange zu sein.

Es ist interessant, ein Kunstinstitut, welches sich eine so unbestrittene Geltung und Anerkennung erworben, bis auf seine ersten Anfänge zurückzuverfolgen und seine allmähliche Entwickelung zu betrachten, was hier mit möglichster Kürze und Bündigkeit nach den zuverlässigsten, hierüber vorliegenden Nachrichten geschehen soll.

Schon im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts bildeten in Leipzig die Studirenden unter Direction „qualificirter Personen“ ein sogenanntes Collegium Musicum, welches Mittwoch Abends von acht bis zehn Uhr in der Wohnung des königlichen Hofchokoladier Lehmann seine Zusammenkünfte hielt. Auch kam damals ein sogenanntes großes Collegium Musicum vor, welches Freitags oder Sonnabends auf dem Ballhause in der Petersstraße gehalten wurde und dessen Stifter der Organist an der Neukirche, Georg Philipp Telemann, war, welcher später als Musikdirector in Hamburg angestellt ward.

Eine weit bedeutendere Anstalt aber wurde das sogenannte Große Concert, welches als der eigentliche Keim der musikalischen Bedeutung zu betrachten ist, welche Leipzig im Laufe der Zeit errungen und bewahrt hat.

Es war ein Verein von nicht mehr als sechzehn Personen sowohl adeligen als bürgerlichen Standes, welcher im März 1743 das Große Concert begründete. Jedes Vereinsmitglied sollte zur Erhaltung des Instituts jährlich zwanzig Thaler beitragen, so daß vierteljährlich ein Louisd’or zu entrichten war. Die Zahl der Musicirenden belief sich gleichfalls auf sechzehn „auserlesene“ Personen.

Das erste Local dieses Concerts war auf der Grimmaischen Gasse bei dem Bergrath Schwabe, ward aber nach kurzer Zeit in das Haus des Buchhändlers Gleditsch verlegt.

Schon damals traten auch fremde Künstler in diesem Concerte auf und an musikalischen Wunderkindern fehlte es ebenfalls nicht. Freilich waren letztere noch nicht so häufig wie später, denn wir finden es als eine große Merkwürdigkeit aufgezeichnet, daß am 16. September 1743 „in dem bei Herrn Gleditschen, dem Buchführer, mit Trompeten und Paukenschall abgehaltenen großen Concert ein Knabe von zwölf Jahren sich auf dem Clavicembalo mit einem Concert wohl hören ließ.“

Schon im October desselben Jahres wurde von diesem Verein durch ein bis auf dreiundzwanzig Musiker gebrachtes Orchester ein großes Concertexercitium auf dem Saale des Ranstädter Schießgrabens gehalten. Dieses Concert wurde von vielen vornehmen Personen besucht, unter andern von dem Grafen von Manteuffel und dem Grafen von Wackerbarth-Salmour, Oberhofmeister des Kurprinzen und selbst geschicktem Musikus und Componist.

In diesem Concerte ließen sich nach dem noch vorhandenen Programm hören: „Der königl. Flaut-Traversiste Mons. Knöcher; ferner Hr. Doles“, der nachmalige berühmte Cantor der Thomasschule – „ein Membrum dieses Concerts auf dem Clavicembalo, und drittens der Eisenachsche Hofbassiste Mons. Voigt, welcher nicht allein einen schönen tiefen Baß, sondern auch einen unvergleichlichen Alt in zwei Arien sang.“ Alle diese wurden mit Beifall angehört, insbesondere aber ward ein „Mons. Abel auf der Viol da Gamba in Spielung eines Trio und musikalischer Fantasie solo sehr admiriret.“ Auch mußte Letzterer Tags darauf sich vor den gerade in Leipzig anwesenden königlichen Majestäten hören lassen und hatte das Glück, der königlichen Capelle zugewiesen zu werden.

Zu dem ersten Jahrestage des Großen Concerts, welcher feierlich begangen ward, componirte der wackere Doles eine große Cantate mit Trompeten und Pauken, deren Hauptarie folgenden Text hatte:

„Das Steigen und Fallen der frohen Gesänge,
Die flüchtigen Läufer veränderter Gänge
Ermuntern und trösten den traurigen Geist.
Die Schwermuth verliert sich, die Freude zerreißt
Die widrige Fessel verdrießlicher Stunden,
Womit ihn die kränkenden Sorgen gebunden.“

[97] Zu einem für die Sache selbst sehr heilsamen Wetteifer ward das Große Concert durch eine Gesellschaft italienischer Opernsänger angestachelt, welche in dem Reithause am Ranstädter Thore unter der Direction[WS 1] eines gewissen Pietro Mingotti ihre Vorstellungen gaben. Unter dieser Gesellschaft befanden sich zwei Castraten und zwei Damen, Rosa Costa und Stella, deren Gesang mit dem ungetheiltesten Beifall aufgenommen ward.

Mit dem Großen Concert ging schon im zweiten Jahre seines Bestehens eine bedeutende Veränderung vor. Buchhändler Gleditsch, welcher das Amt eines Directors bekleidet, starb und der Verein beschloß nun, die musikalischen Unterhaltungen in den Gasthof zu den drei Schwanen im Brühl zu verlegen. Zugleich wurde die Anzahl der Mitglieder auf dreißig vermehrt und in einer Generalversammlung derselben beschlossen, daß von nun an Niemand ohne Billet Einlaß erhalten sollte. Ein solches Billet liegt den Notizen, aus welchen wir diese Nachrichten schöpfen, bei. Es hat die Größe eines Kartenblattes, auf welchem die Muse der Tonkunst sehr sauber gestochen erscheint. Oben darüber stehen die Worte: „Vetat Tristari“ (Es wehret der Traurigkeit) und darunter: „Leipziger Concert 1744.“ Die Damen beschloß man, wie zeither, so auch in Zukunft frei einzulassen, eben so wie die „Fremden und reisenden Passagiers.“

Unter den außerordentlichen Mitgliedern des Concerts befanden sich damals die zwei Prinzen von Fürstenberg, der Minister Graf von Manteuffel und viele andere gräfliche und adelige Personen.

Drei Jahre später ward das Große Concert durch Signor Carini und Signora Forcellini, welche Beide mit ungemeinem Beifall auftraten, verherrlicht. In demselben Jahre wurden nach einem gedruckt vorliegenden Circular in Bezug auf die ökonomischen Bestimmungen des Concertinstituts einige Abänderungen getroffen. „Da“ – so heißt es in diesem Circular – „die Gesellschaft des Leipziger Großen Concerts den mit den Billets getriebenen Mißbrauch wahrgenommen, so zeigt sie an, daß künftighin gar keine Billets mehr umsonst ausgegeben werden sollen.“ Für die Zukunft solle mit drei Ducaten auf das ganze Jahr pränumerirt werden, was aber blos von den Einheimischen zu verstehen sei. Fremde Cavaliere und auswärtige Studirende sollten vier Ducaten zahlen. Niemand sollte ohne Vorzeigung eines authentischen Billets passiren, ausgenommen durchreisende Fremde, welche nach geschehener Anzeige beim Director oder dessen Assistenten freien Eintritt haben sollten. Auch Damen sollten keines aparten Billetes bedürfen, aber nur in Begleitung eines mit einem Billet versehenen Führers zugelassen werden. Jeder Abonnent konnte sonach damals den weiblichen Theil seiner Familie frei mit in das Concert bringen. Das Concert wurde jedes Mal vom ersten Juni eines jeden Jahres an berechnet und fand im Sommer alle vierzehn Tage, im Winter aber von Michaelis bis Ostern alle acht Tage und zwar Donnerstags um fünf Uhr statt.

Das fortwährende Gedeihen und immer erfreulichere Emporblühen dieses Kunstinstituts hatte seinen Grund in der Thätigkeit nicht blos vieler begeisterter Kunstfreunde, z. B. des verdienstvollen Gottlieb Benedict Zehmisch, Besitzers der drei Schwanen, in späterer Zeit des Baumeisters Limburger und Anderer, sondern auch einer fast ununterbrochenen Reihe tüchtiger Dirigenten, namentlich eines Hiller, Schicht, Polenz, Mendelssohn-Bartholdy u. s. w.

Aus dem Gasthause zu den drei Schwanen siedelte das Große Concert in das Thomä’sche Haus am Markte über, wo es unter Hiller bis 1781 blieb und dann in den jetzigen großen Concertsaal auf dem Zeug- oder Gewandhause verlegt ward.

Die einfache, aber dennoch berühmte Ausschmückung dieses Saales ward dem Künstler Oeser anvertraut, der hier ein Deckengemälde ausführte, welches bis zum Jahre 1833 zu den Sehenswürdigkeiten Leipzigs gehörte. Es versinnbildlichte die Vertreibung der älteren Musik durch die neuere. Im eben erwähnten Jahre aber kam die Concertdirection auf den heute noch unbegreiflichen Einfall, dieses herrliche Gemälde mit rother Farbe überpinseln zu lassen.

Im Jahre 1831 feierte das Gewandhausconcert sein funfzigjähriges Jubiläum und der Contrabassist Wach figurirte auf demselben als besonderes Curiosum, weil er auch schon bei jener ersten Eröffnung des Concerts in dem neuen Saale mitgewirkt hatte und sonach seit länger als fünfzig Jahren diesem Orchester angehörte.

Daß auch der gegenwärtige Dirigent der Gewandhausconcerte, der als ausübender Künstler sowohl als auch als tüchtiger Componist rühmlich bekannte Concertmeister Rietz, ganz der Mann ist, um dieses Kunstinstitut auf seiner Höhe zu erhalten und zeitgemäß weiter zu entwickeln, ist anerkannte Sache.




Rosa Heisterberg.


Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“


(Fortsetzung.)


Ich hatte oft Verhöre mit Angeschuldigten aus den höheren Ständen gehabt. Sie hatten stets einen peinlichen Eindruck in mir zurückgelassen. Personen aus jenen Ständen werden als Angeklagte, zumal als Verhaftete, äußerst selten unschuldig vor Gericht gestellt. In der Regel sind die schon vom Beginn der Untersuchung an gegen sie vorhandenen Beweise so überzeugend, daß sie entweder gar nicht mehr wagen dürfen, das System des Leugnens aufzustellen, oder daß sie dieses System nur noch mit ohnmächtigem Trotze ergreifen können. In jenem ersten Falle wirkte das mit jedem aufrichtigen Geständnisse verbundene Gefühl der Reue, der Zerknirschung, das Bewußtsein der Vernichtung der Existenz an Ehre, an Stellung für sich und für die Familie um so peinlicher auf mich ein, je höher an Ehre, Stellung und Bildung der Schuldige im Leben da stand, je tiefer und erschütternder mithin sein Sturz war. In dem letzten Falle trat das Empörende, Ekelhafte des gemeinen Trotzes in dem gebildeten und hochstehenden, bisher so hochgeachteten Verbrecher hinzu.

In dem mir jetzt vorliegenden Falle hatte ich von Schuld oder Unschuld keine Ueberzeugung gewinnen können. Ich hatte nur die eine, aber desto festere Ueberzeugung, daß ich es mit einer sehr gewandten Person zu thun habe, gegen die ich, wenn sie schuldig sei, sehr auf meiner Hut sein müsse, deren Unschuld aber, wenn wirklich vorhanden, sicher sehr leicht an den Tag kommen werde. Ueber alles Andere war ich bei ihr noch im Unklaren. Ich konnte nicht einmal eine Ahnung davon haben, ob die Feststellung ihrer Schuld sie besonders unglücklich machen werde. Sie konnte vermöge ihrer großen Ruhe und Kälte gar eine schon bestrafte, verhärtete Verbrecherin sein. Zeugte dafür nicht am Ende auch ihr hartnäckiges Schweigen über ihr früheres Leben? Ja, vielleicht selbst ihre Kenntniß des gerichtlichen Untersuchungsverfahrens? Hatte sie dagegen nicht andererseits mehrfach plötzlich, aber desto wahrer und tiefer und inniger hervorbrechende Züge eines warm, fein, ja weich fühlenden Herzens gezeigt?

Sie war mir ein Räthsel. Ich war begierig auf die Lösung des Räthsels. Sie mußte mir zunächst werden durch die Vernehmung der Bestohlenen, Frau von Waldheim, und des Polizeicommissarius.

Die Frau von Waldheim war schon vor Beendigung des Verhörs der Gefangenen an der Gerichtsstelle erschienen. Sie hatte sich ohne Vorladung eingefunden. Ein Beweis, daß die Sache für sie von großer Wichtigkeit war.

Ich ließ sie sofort eintreten.

Ich wußte wenig mehr von ihr, als was ich schon oben angegeben habe: daß sie der höchsten Gesellschaft der Residenz angehöre, ein angenehmes Haus mache und selbst am Hofe gern gesehen sei. Sie war Wittwe. Ihr Mann war ein sehr braver Officier gewesen. Sie bezog eine anständige Wittwenpension und sollte auch außerdem noch Vermögen besitzen. Sie war noch jung und hatte keine Kinder. Das war Alles, was ich von ihr wußte.

Eine schöne stolze Dame trat in mein Verhörzimmer. Sie war nicht mehr so jung, wie die Gefangene Rosa Heisterberg; sie konnte dreißig oder einige Jahre darüber zählen, aber sie war schöner; die Farbe ihres Gesichtes war lebhafter; die Formen ihres Körpers zeigten wunderbar reizende, üppige Rundungen. Dennoch fehlte ihr [98] die eigentliche Frische und Jugend, die gerade der Gefangenen eine so eigenthümliche Anmuth verlieh. Dann auch waren sowohl der Ausdruck ihres Gesichts, wie ihre Haltung stolzer, als die ihrer gewesenen Gesellschafterin. Ihr Gesicht hatte sogar den Ausdruck eines harten Hochmuths. Eine Coquetterie, deren sie sich vielleicht kaum noch bewußt war, die ihr also schon längst zur Gewohnheit geworden sein mußte, sprach sich in ihrem ganzen Wesen aus.

Die Dame der höchsten Gesellschaft der Residenz machte keinen angenehmen Eindruck auf mich. Sie trat mit einiger Heftigkeit in das Zimmer. So auch begann sie gleich zu sprechen, ohne eine Anrede und Frage meinerseits abzuwarten, und was sie sprach, war nicht geeignet, jenen unangenehmen Eindruck ihrer Erscheinung zu verwischen oder nur zu mildern.

„Die Person hat noch kein Geständniß abgelegt?“ fragte sie rasch und dringend.

„Nein,“ antwortete ich sehr kurz und kalt.

„Ich dachte es. O, mein Herr, sie wird Ihnen noch viel zu schaffen machen; sie ist eine sehr freche und verschmitzte Verbrecherin, die sich in mein Haus, in mein Vertrauen, in meine Liebe einzuschleichen gewußt hatte und die zum Danke nun mich bestiehlt. Aber sie wird hoffentlich ihrer Strafe nicht entgehen; sie wird überführt werden.“

Ich antwortete ihr nicht.

„Gnädige Frau,“ sagte ich, „nach dem vorschriftsmäßigen Gange der Untersuchung ist vor Allem Ihre Vernehmung über die erlittenen Diebstähle und dabei zugleich über das gesammte Verhältniß erforderlich, in welchem die Beschuldigte zu Ihnen und zu Ihrem Hause gestanden hat. Darf ich bitten, über die Fragen, die ich deshalb an Sie richten muß, mir vollständige Auskunft zu geben? Nach Vorschrift des Gesetzes habe ich Sie noch darauf aufmerksam zu machen, daß Sie Ihre Aussage mit einem Eide bekräftigen müssen.“

„Ich werde Ihnen nur die Wahrheit sagen, mein Herr.“

„Die Angeschuldigte war in Ihrem Hause als Gesellschafterin?“

„Ja, mein Herr.“

„Seit wann?“

„Sie war drei Monate bei mir. Seit drei Wochen hat sie den Dienst verlassen.“

Die Dame betonte das Wort Dienst.

„Auf welche Weise kam sie zu Ihnen?“

„Schon gleich durch einen Betrug. Sie stellte sich mir vor, als empfohlen durch den holländischen Gesandten. Sie sei hierher gekommen, um eine Stellung als Gesellschafterin oder Erzieherin in einem guten Hause zu suchen. Sie habe erfahren, daß ich einer Gesellschafterin bedürfe. Der holländische Gesandte, der ihr wohlwolle, habe auf ihre Anfrage ihr gestattet, bei ihrer Bewerbung um den Dienst bei mir sich auf ihn zu berufen.“

„Diese Angabe fand sich später unwahr?“

„Der Gesandte hat sie nicht gerade dementirt. Ich bin aber jetzt überzeugt, daß die Person gelogen hat.“

„Warum jetzt erst?“

„Ich hatte früher, ehe ich ihre Verbrechen kannte, keine Veranlassung, darüber nachzudenken. Dann habe ich auch jetzt erst erfahren, daß sie sogar ihren Paß gefälscht hatte.“

„Davon enthält der Bericht des Polizeibeamten nichts.“

„Der Beamte hat auch erst heute die Entdeckung gemacht. Er war vor einer Stunde bei mir; er ist noch mit Recherchen beschäftigt.“

„In welcher Art war der Paß gefälscht?“

„Sie hat sich darin als eine Adlige aufgeführt. Sie ist gar nicht von Adel.“

„Sie kennen ihre Herkunft?“

„Die kennt eben Niemand. Auch der verstorbene Gesandte wollte nie damit heraus. Er beobachtete ein eigenthümliches Stillschweigen darüber.“

„Sprach sich die Angeschuldigte selbst darüber aus?“

„Sie sprach oft davon, aber sie sprach sich nie darüber aus.“

„Das heißt?“

„Die Person liebte es, ihre Herkunft, ihre Heimath, ihr früheres Leben, Alles, was sie betraf, in ein geheimnißvolles Dunkel zu hüllen. Sie sprach oft davon, besonders wenn hohe Personen bei mir waren, deren Aufmerksamkeit sie auf sich lenken wollte. Eitelkeit und Coquetterie sind die Hauptzüge ihres Charakters. Sich in das Dunkel ihrer vornehmen Abkunft, eigenthümlicher Familienschicksale, einer künftigen glänzenden Lage einzuhüllen und dadurch besonders das Interesse der Männer zu erregen, das war bei ihr fast zur Leidenschaft geworden.“

„Können Sie mir Einzelnes aus ihren Erzählungen mittheilen?“

„Sie erzählte nicht, sie deutete nur dunkel an.“

„Aus ihren Andeutungen denn?“

„Sie hat viel gesprochen. Ich für meine Person habe ihr nie große Beachtung geschenkt.“

„Sie sprachen von Herren, denen sie besonders gern erzählt habe. Darf ich bitten, mir einige von ihnen zu nennen?“

Durch das Gesicht der Dame zog eine schnelle Röthe; sie wurde, wenn auch nur auf einen Augenblick, verlegen.

„Wäre es nothwendig?“ fragte sie.

„Gewiß. Die früheren Verhältnisse eines jeden Angeschuldigten müssen von Amtswegen erforscht werden. Bei dieser erscheint es mir doppelt nöthig.“

„Die Herren werden ihr noch weniger Aufmerksamkeit oder Gedächtniß geschenkt haben, als ich. Und mitgetheilt hat sie auch ihnen nicht mehr, als mir. Das Hauptsächliche davon könnte ich Ihnen wiederholen.“

„Ich bitte darum.“

„Sie wollte eine Holländerin oder wenigstens in Holland geboren sein. Zweifelhaft ließ sie dabei, ob in dem europäischen oder in dem amerikanischen Holland. Eben so konnte man aus ihren Mittheilungen völlig so gut entnehmen, daß ihr Vater entweder ein vornehmer Beamter oder ein reicher Pflanzer war. Ihre Mutter schilderte sie als einer sehr vornehmen Familie entsprossen; aber sie hatte von ihrem Gatten sich trennen müssen, einzelnen Andeutungen nach, um einer niedrigen Intrigantin willen, die ihren Vater umstrickt hielt. Wenn man diesen in Amerika suchen mußte, so war es gar eine Sclavin des Hauses. Sie, die diesen Roman erzählte, sie selbst war ihrer Mutter gefolgt, hatte mehrere Jahre lang Elend und Kummer mit ihr getragen und auch nach dem Tode der Armen nicht zu ihrem Vater und der gemeinen Person, die ihn noch immer beherrschte, zurückkehren wollen. Diesen Roman wußte die Betrügerin vielfach auszuschmücken, aber immer nur, um durch einen dichten Schleier eine hohe Geburt, eine frühere bessere, glänzende Lebensstellung und eine gewisse Rückkehr derselben hindurchschimmern, hindurch ahnen zu lassen.“

„Etwas Bestimmtes,“ fragte ich die Dame, „woran man weitere Nachforschungen nach ihrem früheren Leben anknüpfen könnte, hat sie also nie angegeben?“

„Nie. Sie hütete sich geflissentlich davor.“

„Und der holländische Gesandte? Haben Sie nie mit ihm über die Angeschuldigte näher gesprochen?“

„Nein. Er war ein wenig zugänglicher Mann. Das Personal seiner Gesandtschaft wußte nichts von ihr.“

„Warum hat die Angeschuldigte ihre Stellung bei Ihnen verlassen?“

Die Dame wurde über diese Frage wieder ein wenig verlegen.

„Mir wurde,“ antwortete sie dann, „ihr coquettes Wesen immer mehr unangenehm. Auch jenes prahlerische Geheimthun. So machte ich, daß ich von ihr loskam.“

„Sie entließen sie also?“

„Ja.“

„Welchen Grund der Entlassung gaben Sie ihr an?“

„Ich wolle mein Hauswesen einschränken.“

„Sie schieden also in Freundschaft von ihr?“

„Ohne einen Bruch, mein Herr,“ verbesserte vornehm die Dame.

„Blieben Sie später in Beziehung zu ihr?“

„Wie man zu einer Gesellschafterin bleibt, die man ohne einen Bruch entlassen hat.“

„Das heißt?“

„Ich hatte sie gebeten, mich dann und wann zu besuchen; dies hat sie gethan.“

„Sie haben sie wieder besucht?“

„In den letzten Tagen nur, und dann aus besonderer Veranlassung.“

„Aus welcher?“

„Ich hatte die Diebstähle entdeckt, die mich betroffen hatten, und Verdacht gegen sie geschöpft. Ich wollte mir mögliche Gewißheit [99] über diesen Verdacht verschaffen. Dazu wollte ich die Besuche bei ihr benutzen.“

„Ich bitte jetzt, mir diese Diebstähle zu erzählen.“

„Schon einige Wochen, nachdem die Heisterberg zu mir gekommen war, verschwanden mir öfters Kleinigkeiten, dann eine feine Scheere, dann ein seidenes Nadelkissen mit einer kunstvollen Stickerei, Taschentücher von besonders feiner Leinwand, Spitzenkragen und dergleichen. Sie hatten keinen großen Werth; aber jedes einzelne Stück hatte etwas Besonderes, durch das es sich auszeichnete, durch seine Seltenheit, Feinheit, kunstvolle Bearbeitung oder Anderes. Auf die Heisterberg warf ich damals noch keinen Verdacht.“

„Hatten Sie Jemand Anderes in Verdacht?“ unterbrach ich die Dame.

„Im Grunde nicht. Ich dachte, die Sachen könnten verloren, zerbrochen oder zerrissen sein und man habe sie deshalb ganz beseitigt und leugne nun, von ihnen zu wissen. Die Putz- und Wäschgegenstände konnten die Wäscherinnen und Näherinnen verloren, verdorben, am Ende auch unterschlagen haben.“

„Hatten Sie schon früher, vor der Anwesenheit der Angeschuldigten, ähnliche Verluste gehabt?“

„Mitunter. Sie kamen immer vor; nur waren sie nicht so häufig gewesen.“

„Aus welchen Personen bestand Ihr Haushalt, während die Angeschuldigte bei Ihnen war?“

„Außer ihr selbst hatte ich einen Kutscher, einen Bedienten, eine Kammerjungfer und eine Köchin. Sie sind noch jetzt sämmtlich in meinen Diensten.“

„Dieselben Personen?“

„Dieselben Personen.“

„Schon seit längerer Zeit?“

„Der Kutscher und der Bediente waren schon im Dienste meines verstorbenen Mannes; die Kammerjungfer ist schon seit zwei Jahren bei mir; die Köchin seit beinahe einem Jahre.“

„Halten Sie Ihre Dienstboten für treu und redlich?“

„Ich habe nie eine Untreue oder Unredlichkeit an ihnen bemerkt; sie würden sonst nicht mehr bei mir sein.“

„Sie sprachen so eben selbst von Ableugnen, sogar von kleinen Unterschlagungen?“

„Ich sprach nur Vermuthungen aus, und auch diese nur meist gegen Leute außerhalb meines Hauses, Wäscherinnen und so weiter.“

„Ich bitte, fortzufahren.“

„Einen bedeutenden Diebstahl,“ fuhr die Dame fort, „entdeckte ich erst kurz vorher, ehe die Heisterberg mein Haus verließ. Durch ihn wurde zugleich mein Verdacht über die früheren Diebstähle gegen sie rege gemacht. Ich war vor sechs Wochen nach Louisenhof verreist, wo sich damals der Hof aufhielt.

„Ich hatte die Heisterberg mit der Köchin allein in meiner Wohnung zurückgelassen. Ich hatte ihr die Schlüssel zu der ganzen Wohnung anvertraut, auch zu den Schränken, mit Ausnahme derjenigen in meinem Wohnzimmer und in meiner Schlafstube, in denen ich mein Geld, meine Kostbarkeiten und die bessere, nicht im täglichen Gebrauche befindliche Leinwand verwahrte. Unter diesen Schränken befand sich ein Wandspinde in einer Ecke meiner Schlafstube. Ich verwahrte darin mein Silberzeug, meine Juwelen, und mein nicht für laufende Ausgaben bestimmtes Geld. Meine Juwelen und mein Silberzeug nahm ich nach Louisenhof mit mir. Das Geld aber ließ ich zurück, und zwar in folgender Art. Das unterste Schubfach des Spindes hatte in seinem Boden ein Loch, durch welches man in den darunter befindlichen Boden des Spindes selbst hineinreichen konnte. Durch das Loch nun versteckte ich einen Beutel mit 180 oder, was ich nicht genau mehr weiß, mit 200 Gulden in Kronenthalern, dergestalt, daß der Beutel zwischen dem Boden des Faches und dem des Spindes verborgen war; ein Dieb mithin, wenn er auch das Spinde geöffnet hätte, so leicht das Geld nicht hätte entdecken können. Das Spinde verschloß ich sorgfältig, den Schlüssel nahm ich mit den übrigen der Heisterberg nicht anvertrauten Schlüsseln mit mir. Nach acht Tagen kehrte ich zurück. Ich fand im Hause Alles in Ordnung. Nirgends fehlte mir etwas. Nur an das Spinde hatte ich in den ersten Tagen nicht gedacht. Als ich es nach acht Tagen öffnete und nach dem Beutel mit dem Gelde suchte, war er verschwunden. Aeußerliche Spuren von Gewalt oder sonst des stattgehabten Diebstahls waren weder an noch in dem Spinde zu bemerken. Ich hatte es verschlossen und bis auf den Verlust des Geldes Alles darin in derselben Ordnung gefunden, wie ich es bei meiner Abreise verlassen hatte.

„Der Diebstahl war mir ein Räthsel. Von einem Fremden konnte er nicht verübt sein. Die zurückgebliebenen Bewohner des Hauses hätten in irgend einer Weise bemerken müssen, daß ein Dieb dagewesen sei. Er konnte also nur von einem dieser Bewohner herrühren, mithin entweder nur von meiner Gesellschafterin oder von der Köchin verübt sein. Von welcher von Beiden? Die Köchin war seit zehn Monaten bei mir, und hatte sich immer treu bewährt. Die Gesellschafterin? Sie war eine gebildete Dame; sie hatte, wenn sie auch in Betreff ihrer Herkunft nicht immer bei der Wahrheit geblieben sein mochte, doch jedenfalls in der höheren Gesellschaft bisher gelebt. Konnte ich sie eines so gemeinen Verbrechens fähig halten? Und dennoch! Gerade jene Uebertreibungen und Heimlichkeiten über ihr früheres Leben, konnten sie mich nicht am Ende zu dem Schlusse berechtigen, daß ich eine Abenteurerin bei mir aufgenommen habe? Und andererseits waren seit der Anwesenheit der Heisterberg jene vielen, wenn auch immer nur unbedeutenden Gegenstände mir entkommen. Ich leugne nicht, mein Verdacht fiel auf sie. Aber ich hatte keinen Beweis. Ich äußerte, wie ich überhaupt den Diebstahl verschwieg, meinen Verdacht auch gegen Niemanden. Ich suchte manchmal sogar mich seiner ganz zu erwehren. Doch beobachtete ich sie. Ich entdeckte nun zwar nichts, was meinen Verdacht hätte vermehren oder nur bestätigen können. Allein er mochte dazu beitragen, daß ich ihr Benehmen im Ganzen mit ungünstigern Augen ansah, als bisher, und so entließ ich sie. Ich setzte ein äußerlich freundschaftliches Verhältniß mit ihr fort, um sie fortwährend beobachten zu können. Ich entdeckte jedoch auch jetzt nichts, was sie mehr hätte verdächtigen können. Nur fand ich einmal, als ich sie in ihrer jetzigen Wohnung besuchte, in ihrem Nähtische zufällig eine jener früher vermißten Kleinigkeiten wieder, ein Scheerchen, das ich bei meinen Stickereien gebraucht hatte.

„So blieb der Stand der Sache bis gestern.

„Am gestrigen Vormittage war die Heisterberg zu mir gekommen. Ich ladete sie ein, zu Mittag bei mir zu bleiben und mir Gesellschaft zu leisten, bis ich zum Besuch bei einer Freundin auf dem Lande ausfahren werde. Sie that das. Um drei Uhr Nachmittags fuhr ich aus, um gegen acht Uhr Abends zurückzukehren. Meiner Kammerjungfer theilte ich diese Zeit meiner Rückkehr mit und zwar in Gegenwart der Heisterberg, die sich gleichzeitig, von mir verabschiedete. Kurz vor acht Uhr Abends kehrte ich zurück. Unterdeß hatte sich Folgendes bei mir zugetragen:

„In meiner Wohnung waren die Kammerjungfer, der Bediente und die Köchin zurückgeblieben.

„Meine Wohnung liegt im ersten Stock des Hauses. Sie hat einen doppelten Ausgang; nach vorn durch einen Flur, der stets verschlossen gehalten wird; nach hinten durch die gleichfalls immer verschlossene Thür der Küche. An jenem Flur liegt gleich rechts von der Eingangsthür die Stube des Bedienten, mit einem Fenster, das auf den Hof führt. Am Ende des Flurs befindet sich die Thür zu meinem Wohnzimmer, mit den Fenstern nach der Straße hin. Unmittelbar an das Wohnzimmer, gleichfalls nach der Straße hin, stößt meine Schlafstube.

„Die Köchin war während meiner Abwesenheit in der Küche beschäftigt gewesen, und hatte diese nicht verlassen. Die Kammerjungfer hatte sich in der Bedientenstube bei dem Diener aufgehalten. Beide waren mit Arbeiten beschäftigt gewesen, und hatten sich dabei unterhalten.

„In ihrer Arbeit und Unterhaltung werden sie plötzlich durch ein lautes Geräusch gestört. Sie hören deutlich, wie die Flurthür stark zugeworfen wird. Es mußte ihnen dies unbegreiflich vorkommen. Die Flurthür, außer jener Küchenthür die einzige Thür, durch die man in die Wohnung gelangen kann, wird zwar, wie gesagt, immer verschlossen gehalten, aber, wenn Jemand im Hause ist, des Tages über nur durch das neben dem Hauptschlosse befindliche sogenannte Drückerschloß. Dieses Schloß wird von innen ohne Schlüssel, blos durch Aufheben der Klinke geöffnet, von außen aber mit dem sogenannten Drücker, einem Schlüssel ohne Bart. Dieser Drücker ist blos zum Aufheben jener Klinke, mithin nur zum Oeffnen bestimmt. Jemand also, der die Wohnung verläßt, kann die Thür nur durch Zuwerfen, und zwar durch ziemlich starkes Zuwerfen, wieder in Verschluß bringen.

„Nun existirte, wenigstens nach dem Wissen des ganzen Hauses, zu jener Thür nur ein einziger Drücker, und diesen trug damals [100] der Bediente bei sich. Andererseits waren die Domestiken fest überzeugt, daß sie nach meiner Entfernung die Thür verschlossen und daß keiner von ihnen die Wohnung verlassen hatte. Gleichwohl hatten sie das Zuschlagen der Thür zu deutlich gehört, als daß von einem Irrthum die Rede sein konnte. Sie eilten sofort nach der Thür. Sie fanden sie unverändert verschlossen.

„Der Bediente sprang die Treppe hinunter. Er sah Niemanden, er hörte nichts. Er begab sich auf die Straße. Es war schon lange dunkel, aber die Gaslaternen brannten; er sah indeß auch auf der Straße nichts, namentlich keinen sich entfernenden Menschen. Die Kammerjungfer war unterdeß in mein Wohnzimmer und in die dahinter gelegene Schlafstube geeilt, deren beide Thüren nicht verschlossen waren. Sie hatte darin nichts verändert, nichts Verdächtiges, keine Spur gefunden, daß Jemand dagewesen sei. Die gleichfalls noch an dem Flurgange befindliche Salonthüre war verschlossen. Beide Dienstboten waren durch den Vorfall um so mehr erschrocken, je unbegreiflicher er ihnen erscheinen mußte. Sie besprachen sich noch darüber, als ich, fast in demselben Augenblicke, zurückkehrte. Sie theilten ihn mir auf der Stelle bei meinem Eintritte in das Haus mit.

„Mein erster Gedanke war der eines Diebstahls. Ich eilte in meine Wohnstube. Auch ich fand hier keine Veränderung. Ebenso konnte ich mit den Augen nichts Verdächtiges in meiner Schlafstube wahrnehmen. Ich kehrte in mein Wohnzimmer zurück, und hier entdeckte ich denn bald, daß ich in der That bestohlen war. In dem Zimmer steht mein Schreibsecretair. Ich hatte ihn vor meinem Ausfahren verschlossen und den Schlüssel zu mir gesteckt. Ich fand ihn auch jetzt noch verschlossen. Aber als ich ihn öffnen wollte, konnte ich zuerst gar nicht und nach wiederholten Versuchen nur mit Mühe den Schlüssel umdrehen. Bisher hatte der Schlüssel immer mit Leichtigkeit geschlossen.

„Mir blieb fast kein Zweifel, daß hier ein Dieb mit Nachschlüsseln operirt habe. Dies bestätigte sich bald. Der Schreibsecretair hat in der Mitte ein Fach, das zwar wieder eine besondere, aber nicht verschlossene Thür hat. Zu dessen beiden Seiten befinden sich gleichfalls unverschlossene Schubfächer. Ich untersuchte zuerst diese letzteren. In einem derselben hatte ich das zu den laufenden Ausgaben bestimmte Geld liegen. Ich hatte am Morgen gerade dreißig Gulden hineingelegt. Sie waren fort. Ich war also bestohlen. Die dreißig Gulden waren nur eine Kleinigkeit; aber wie weit mehr konnte mir gestohlen sein!

„Ich öffnete rasch das mittlere Fach; dort lag der Schlüssel zu dem Wandspinde in meiner Schlafstube verwahrt. Ich hatte dieses kurz vor meinem Ausfahren verschlossen und den Schlüssel in das Fach gelegt. Und in dem Spinde hatte ich mein sämmtliches Silberzeug, meine Juwelen und ungefähr fünfhundert Gulden baares Geld. Der Schlüssel lag noch in dem Fache. Ich stürzte damit zu dem Spinde, und öffnete es. Es öffnete sich leicht, wie immer. Ich sah zuerst nach meinen Juwelen; sie waren in einer Chatoulle verwahrt. Die Chatoulle stand auf ihrem Platze. Sie war dem Anscheine nach unberührt. Ich öffnete sie, es fehlte nichts darin. Auch das Silberzeug war vollständig da, und an dem offen daliegenden Gelde fehlte ebenfalls nichts. Ich athmete leichter. Aber es wurde mir wieder schwerer, wenn ich daran dachte, wer der Dieb sein könne, wer es nach Allem sein müsse. Der Diebstahl konnte nur von Jemandem verübt sein, der genaue Kenntniß von der Einrichtung der Wohnung, von meinen Gewohnheiten und auch von meiner gestrigen Abwesenheit hatte, also fast nur von Jemandem, der zu meinen Hausbewohnern gehörte oder gehört hatte. Meine Domestiken waren mir immer treu gewesen; sie hatten mir zu keinem Verdachte Veranlassung gegeben. Wer anders mithin, als die Heisterberg, meine vormalige Gesellschafterin, konnte der Dieb sein?

„Sie kannte die Wohnung, meine Lebensweise, sie wußte, daß mein Geld für die gewöhnlichen Ausgaben in jenem Schubfache des Schreibsecretairs lag. Sie war bei meinem Ausfahren zugegen gewesen und wußte, daß ich vor Abends acht Uhr nicht zurückkehrte. Ich hatte sie schon wegen früherer Diebstähle dringend verdächtig halten müssen. Dazu kam die Mittheilung meiner Dienstboten über das Zuwerfen der Flurthür. Die Heisterberg hatte sich während meiner Abwesenheit in Louisenhof acht Tage lang allein im Besitze des Drückers zu der Thür befunden. Wie leicht war es ihr gewesen, sich einen zweiten machen zu lassen!

„Ich hatte nur noch einen einzigen Zweifel. Die Heisterberg, mochte sie den früheren Diebstahl verübt haben oder nicht, wußte, daß in dem Wandspinde mein übriges Geld, mein Silber und mein Schmuck sich befand. Sie wußte, daß der Schlüssel zu dem Spinde in dem Fache des Schreibsecretairs lag. War sie nun die Diebin, warum hatte sie sich mit jenen dreißig Gulden begnügt, da sie doch ohne alle Mühe auch zu dem Andern gelangen konnte?

„Allein gerade dieser Umstand mußte bei näherem Nachdenken meinen Verdacht wieder bestärken. Ein gewöhnlicher Dieb, namentlich ein frecher und gewandter, und nur ein solcher konnte, wenn ein Fremder den Diebstahl begangen hatte, diesen verübt haben, ein anderer Dieb hätte unstreitig mit dem in dem Secretair gefundenen Schlüssel weitere Versuche gemacht und namentlich auch an dem Spinde in der nebenan befindlichen unverschlossenen Schlafstube. Die Heisterberg dagegen konnte eben nur in einer augenblicklichen Geldverlegenheit, über den Betrag der entwendeten unbedeutenden Summe nicht hinaus, sich befunden haben.

„Endlich, wie oft hatten die geheimnißvollen Erzählungen der Person in mir den Verdacht erwecken müssen, daß sie eine Abenteurerin sei?

„Ich faßte einen raschen Entschluß. Ich mußte mit einem Male darüber in’s Klare kommen, ob die Person die Diebin war oder nicht; dies konnte ich nur durch Ueberraschung.

„Mein Wagen stand noch angespannt; ich stieg sofort wieder hinein, um zu der Wohnung der Heisterberg zu fahren.

„Ich fuhr zuerst bei dem Polizeicommissarius vor, der auf mein Ersuchen mit mir fuhr. Ich theilte ihm unterwegs die Diebstähle und meinen Verdacht mit. Er fand diesen nicht hinreichend zu einem sofortigen polizeilichen Einschreiten gegen die Heisterberg, er wollte sich nur dazu verstehen, in ihrer Wohnung Erkundigungen über ihr Leben überhaupt und besonders darüber einzuziehen, wo sie den Abend zugebracht habe; ich mußte mich damit begnügen. Ich ließ ihn unten in der Wohnung der Generalin, bei der die Heisterberg wohnte, und begab mich allein in ihr Zimmer.

„Sie war zu Hause.

„Sie empfing mich überrascht, aber, ich muß es gestehen, nicht verwirrt, ganz natürlich überrascht, wie sie über den völlig unerwarteten Besuch einer bekannten Dame sein konnte. Sie war entweder unschuldig oder eine vollendete Schauspielerin und dann auch Verbrecherin. Ihre Unbefangenheit brachte mich ein wenig außer Fassung. Wäre sie verlegen, verwirrt gewesen, so hätte ich ihr den Diebstahl auf den Kopf zugesagt und sie, wenn sie leugnete, aufgefordert, mir, um sich von dem Verdachte zu reinigen, alle ihre Behältnisse zu öffnen und vorzuzeigen. Konnte ich das jetzt?“

(Fortsetzung folgt.)

Bei Ernst Keil in Leipzig ist erschienen:

Goethe und die lustige Zeit in Weimar.
Von

August Diezmann.
Mit einem Plane vom damaligen Weimar und mit einer bisher noch ungedruckten Abhandlung von Goethe.

19 Bogen. eleg. broch. 11/3 Thaler.

Der Verfasser hat es versucht, Goethe’s und seines fürstlichen Freundes Karl August stürmische Jugend ausführlich zu schildern, und legt nun, da beiden in Weimar, an der Stätte ihrer Wirksamkeit, eherne Denkmale errichtet werden, die Frucht seiner Studien nebst Mittheilungen von Zeitgenossen und bisher unbekannten Documenten vor, die Mancherlei aufklären werden. – Es zerfällt diese Schrift in sieben Capitel:0 1. Goethes Reise von Frankfurt nach Weimar; 2. Weimar zur Zeit seiner Ankunft daselbst; 3. Der Kreis, in den er eintrat, nebst Schilderungen von Karl August, den Herzoginnen Louise und Amalie, der Sängerin Corona Schröter etc.; 4. Das heitere Leben am Hofe und Goethe’s Betheiligung daran: 5. das fürstliche Privattheater und Goethe’s Thätigkeit für und auf dieser merkwürdigen Bühne; 6. Goethe’s Liebe zu der Frau von Stein; 7. Seine amtliche Thätigkeit in seiner Stellung als Minister Karl August’s bis zu seiner Reise nach Italien.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Vorstehendes ist mit Bewilligung des Verfassers und Verlegers dem mit Lithografien in Tondruck und mit Holzschnitten reich ausgestatteten Werke: „Das Wasser. Eine Darstellung für gebildete Leser von E. A. Roßmäßler.“ (Leipzig, Brandstetter.) entnommen. Es verdient dasselbe die wärmste Empfehlung als wohlgelungene erste ausführliche wissenschaftliche und doch allgemein verständliche Darlegung des Wesens und der gewaltigen Wirkungen jener „Großmacht“ in der Natur, des Wassers, von dem Alle täglich reden und hören, während doch die Wenigsten mehr von ihm wissen, als daß es naß ist und keine Balken hat.
    D. R.
  2. Oder Lawine. In der Schweiz hört man jedoch stets Lauine sprechen; auch Tschudi schreibt im „Thierleben in der Alpenwelt“ Lauine.
  3. Tschudi, Thierleben der Alpenwelt S. 228.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Directon