Die Gartenlaube (1859)/Heft 18

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 18. 1859.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Auch ein Zopfabschneider.
Keine erfundene Geschichte.

„Der Mensch denkt’s und der Neureiterstephl lenkt’s!“ so pflegten die Dirnen des Grünsteiner Gaues zu sagen; denn der Stephl war weitum der flotteste Bub’, brav und reich, sauber und flink. Der schöne große Hof am Roßanger war das Erbe, das ihm nicht entgehen konnte, weil er der einzige Sohn des alten Neureiter war. Aller Wald am Berg’ hinauf gleich hinter der großen Hauswiese, wohl 200 Joch, und was für Holz! – Leut’, sag’ ich Euch, ein schöneres steht nirgends mehr –, und eine Hochalm und eine Niederalm für 60 Kühe und 40 Geisen, und acht Rosse, und dazu noch aller Boden auf eine Stund’ herum, am Berg’ und im Thal, – es könnt’ ein frischer Bub’ sich müd’ laufen und er lief noch immer auf Neureitergrund, – das Alles erbte einmal der Stephl. Nun kann’s Niemand mehr wundern, daß der Stephl viel galt bei den Dirnen und daß sie sich um ihn rissen, wenn auf der Tenne des Gasthofs „zum lieben Lamm“ von Hagmair, wie der Wirth hieß, die Schwöglpfeife, die Trompete und Geige ertönten und die beflügelten Bergschuhe der frischen Gebirgssöhne in kernigem Taktsprung den dieligen Tanzboden bearbeiteten, daß das ganze Haus bebte.

So flott, wie der Neureiterstephl, zog kein Anderer auf, denn sein Wuchs war eichenmäßig, und blühende Gesundheit saß ihm auf den Wangen und leuchtete ihm aus den blauen Augen. Man hielt ihn für einen Vierundzwanziger und doch streifte er schon an’s Dreißigste. Sein Kamisol von dunkelgrünem Tuch strotzte von Halbkronenknöpfen, der spitze Hut mit den schweren Goldtroddeln und dem üppigen Strauß von brennender Lieb’ oder Almrauschblüthe und dem reichen Federschmucke saß ihm immer keck auf dem viellockigen Blondkopfe. Ein mächtiger blonder Schnauzbart ließ einen Zaun von blendendweißen Zähnen durchblicken. Sein Leibstück[1] von grünem Seidenstoffe war mit Frauenzwanzigern besetzt, an den kurzen ausgenähten gemsledernen Hosen hing ein schweres Uhrgehäng’ mit Geiergewaff’ und Hirschkrönln, ein silbernes Tischbesteck stak in der Tasche und in den grünen Zwickelstrümpfen ein kernfestes Wadenpaar. Den kleinen Finger der Rechten zierte ein schwerer silberner „Fotzring“.[2] Seine Erscheinung zeigte den Sprossen eines urkräftigen Stammes. Dazu sang er wie eine Drossel, und im Juchheruf übertraf den Stephl kein Anderer.

Jetzt begreifst Du, daß er die Seele jeder Tanzbelustigung war, daß die Dirnen mit Eifersucht auf ihn schauten und daß er auch seinen Cameraden Gegenstand der Bewunderung oder des Neides wurde. Oefter, als jeder Andere, bestellte er eine Schaar,[3] und die Spielleute entsprachen seinen Wünschen gern, denn er war kein Knauser und er sparte die Thaler nicht; zum Tanze, den Stephl bestellte, wurde sogleich aufgespielt und wären drei andere vor ihm von Anderen bestellt gewesen.

„Der Mensch denkt’s und der Stephl lenkt’s!“ hieß es also mit Recht.

Sein alter Vater hatte die größte Freud’ am frischen Buben und wehrte ihm nicht, wenn er bei solchen Anlässen ’was Richtiges aufgehen ließ, sondern war stolz auf seinen Stephl und auf sein Geld. Seine Mutter lag seit fünf Jahren im Grabe; er war auch ihr Liebling gewesen.

Heute saß der alte Neureiter daheim hinter’m eichenen Tisch, rauchte seinen Knaster und sann hin und her, wie er noch das und jenes richten werde, ehe er in den Austrag gehe,[4] damit der Stephl nicht einmal sagen könne: „Mein Vater hätt’ das auch besser machen können.“

Erst jüngst war vom fürstlichen Forstamt ein Schreiben an ihn gelangt, welches unter Androhung dreifacher Strafe den Weidetrieb von des Neureiter’s Hochalm in einige fürstliche Waldtheile verbot. Nun verhielt es sich mit jenem Weidetriebe also. Seit Menschengedenken hatte man in jedem Sommer das Almvieh in den jetzt untersagten Forsttheil getrieben, wo eine prächtige Weide war, und nie hatte man einen Schaden für das Holz bemerkt und Jung- und Altholz befanden sich fürtrefflich. Auch war die Holzabfuhr ungemein schwer und sogar sogenannte Holzrutschen konnte man schwer anbringen und erhalten; selbst in schneereichen Wintern war der Schlitten hier nicht anwendbar, weil die Ueberbrückungen von den vielen Schnee- und Sandlanen[5] und Gießbächen alljährlich vernichtet wurden. Hunderte von Tannen und Fichten, mächtiges Schnittholz, welche der Sturm entwurzelt, konnten deshalb nicht weggeführt werden und mußten verfaulen. Die Holzabfuhr erschien, um es kurz zu sagen, als nicht lohnend, ja fast unmöglich.

Trotzdem hatte schon im vorigen Sommer der Neureiter das nämliche Verbot, wie heuer, empfangen, er war ihm aber, auf sein verjährtes Recht sich stützend, nicht nachgekommen und für jedes auf der verbotenen Weide betroffenes Stück Rind oder Geis um einen Reichsthaler gepfändet worden, that in Summa zwanzig Reichsthaler, – für den alten Neureiter eine Kleinigkeit, aber er mochte sie nicht zahlen und hatte sie bis heute nicht gezahlt.

„Sie sollen sich ’s Geld bei mir selber holen,“ sprach er, „das Sünden- und Blutgeld!“

[254] Das aber war bis heute nicht geschehen, und die Leute meinten, man wisse schon, warum.

Vor etlichen Tagen waren des Neureiters Dirnen zu Berg gefahren[6] und der Alte hatte ihnen und dem Stotzen[7] dringend an’s Herz gelegt, auch heuer fleißig überall hinzuhüten, wohin es sonst und eh’ geschehen. Er sah wohl ein, daß es über kurz zu einem gewaltsamen Streite mit den Jägern kommen werde, in welchem er aber nicht nachzugeben dachte, möge es gehen, wie es wolle. Nie hatte er seine Pflicht als Unterthan verletzt, nie Jemandem das Mindeste weggestritten; aber um sein eigen Recht zu schützen, setzte er lieber den ganzen Hof daran.

„Gibt’s für uns gemeine Leut’ kein Recht mehr,“ sprach er öfter, „dann helfen wir uns selbst! Sollen’s probiren, mich um die Straf’ zu pfänden, dann geht kein Jägerknecht mehr über meinen Grund und Boden mit gesunden Füßen, so wahr ich der Neureiter bin!“

So was schien ihm auch jetzt durch den Sinn zu gehen, denn er murmelte unwillig vor sich hin. Dann stieg er die Leiter hinan, die von der Stube in die ober ihr befindliche Kammer führte, hob an der Decke die Klappthüre empor, lehnte sie um, und bald kam er mit einer weitbauchigen, buntbemalten Flasche und einem Stück Geselchten wieder herab, nahm den vorigen Platz ein und schenkte vom wasserhellen Getränk in ein kleines Gläschen, das er auf einen Zug leerte, und dann trank er noch eins und wieder eins, und sein verwittertes Gesicht verzog er, als ob ihn was bisse.

Das war zwanzigjähriges Kirschwasser, das nur sehr selten auf den Tisch kam, nur dann nämlich, wenn er viel Freude oder viel Zorn hatte, um sich gut Gemüth zu machen. So lange sein Eheweib am Leben gewesen, saß sie bei solchen Anlässen bei ihm im Kriegsrathe; aber nie hatte sie ihre Stelle mißbraucht und nach manchem „ich hätte halt gemeint, so könnt’ es“ – oder „wie wär’s denn“ – „wär’s nit möglich“ u. s. w. sich allemal in des Mannes Willen ergeben, indem sie zu sagen pflegte: „Du bist ein Mannets[8] und verstehst also Alles besser!“ Die alte Burgei[9] war ein Weib nach den Worten der Schrift, sie war dem Manne unterthan.

„Wenn die Burgl das wüßt’,“ murmelte er, „sie würde sich im Grab’ umkehren!“

Er war mit seinem Unmuthe allein im Hause, denn der Stephl und das ganze Gesind’ waren Gehnacht[10] gegangen, bis auf die Senndirnen; die Einsamkeit, die er sonst liebte, schien ihn heut’ zu drücken, und schon dachte er, ob er nicht zu einem Nachbar Heimgarten[11] gehen solle, da klopft’ es am Fenster, und als der Neureiter aufblickte, stund in der anbrechenden Dämmerung der Jäger Franz draußen, welcher den Bauer aufforderte, die Thüre zu öffnen, da er ihm was zu sagen habe. In der Brust des Angeredeten erhob sich beim Anblick des verhaßten Jägers aller Groll, den der neue forstämtliche Auftrag in ihm erregt hatte, und deshalb rief er, ohne das Fenster zu öffnen oder sich nur vom Sitz’ zu erheben:

„Geh’ zu, Franzl, unsere Freundschaft ist nit so groß, daß ich Deinen Blitzkopf gern’ säh’. Bei Euch sind die Großen, wie die Kleinen, die Herren, wie die Knecht’, ’s Leut’ drücken ist Eure größte Kunst. Drum, Franzl, geh’ mir aus’m G’sicht, so lang’ ’s gut ist; und bin ich Dir für einen Rath gut genug, so laß Du ’s Pfänden auf meiner Alm bleiben. Oder thu’, was D’ magst, das Andere thu’ dann schon ich selb.“

Ueber diese Rede lachte der Jägerbursche laut auf, und dann sagte er spöttisch: „Neureiter, ich hab’ Dir einen Braten von Deiner Geis mitgebracht, die ich erschossen hab’; laß Dir’s gut schmecken, ich denk’, Du kriegst schon noch öfter so’n Braten von mir!“

Unter diesen Worten fuhr der Jäger mit dem braunen Schwänzlein einer Ziege am Fenster hin und her, als ob er’s fegen wollte, und dann eilte er davon, was er nur konnte.

Der Neureiter aber ward plötzlich elastisch, er sprang vom Tische auf, schlug mit der Faust auf denselben und im Nu rannte er aus dem Hause. Der Jäger hatte es vorgezogen, das Weite zu suchen, was auch sein Glück war. Denn die Erbitterung des Alten hätte für ihn schlimme Folgen gehabt; was Franz vom Geis-Erschießen erzählt hatte, kam ihm gar nicht unglaublich vor. Das braune Schwänzlein hatte Franz in der Eile auf dem Fenstersimse liegen gelassen. Der Alte tobte vor Wuth; es war ihm mehr der Frevel und Uebermuth des Jägers zu Gemüth gegangen, als der Verlust der Ziege selbst. In seiner Aufregung aber mochte er sich vor keinem Menschen sehen lassen, darum ging er in die Stube zurück und trank ein Gläschen Kirschwasser nach dem andern so lange, bis er in einen den Sturm beschwichtigenden Dusel verfiel.

Im Wirthshause „zum lieben Lamm“ ging’s diesen Abend ungemein lebhaft zu. Seit dem Fasching hatten die Grünsteiner keine Tanzmusik mehr gehabt; heut’ wollten sie das Versäumte hereinbringen. Schon am hellen Mittag sah man tanzlustige Schaaren aus allen Winkeln, aus allen Thälern und von allen Höhen Grünstein zuströmen. Die Durstigsten und Muthwilligsten der Burschen hatten sich schon Morgens eingefunden, um beim kräftigen Klange der Dorfmusik Lieder und Schnaderhüpfle zu singen und recht lustiger Dinge zu sein.

Nach dem mittäglichen Gebetläuten wurde der starkgedielte Tanzboden eröffnet, und sobald die Töne durch die Lücken der breternen Salonwände zu quieken begannen, trippelten auch die ersten Dirnen an die Stätte der ersehnten Freude. Allmählich füllten sich die schwülen, staubigen Räume, und bald kreisten die Paare im bunten Wirbel durcheinander.

Neureiter’s Stephl hatte gegen sechs Uhr Abends den väterlichen Hof verlassen. Heute schien er noch schöner aufgeputzt, als sonst, und manche Dirne, an der er vorbeischritt, ward unwillkürlich roth, wenn er sie grüßte, und das that er immer.

Heute hoffte er, Kuni[12] zu treffen, die Schwester des Jagdgehülfen Franz. Seit einem halben Jahre war sie aus ihrer Heimath, einer fernen Gebirgsgegend, gekommen und in des Försters Dienst getreten. Die Kuni, ja, war freilich ein Wundermädl, wie in der Gegend kein anderes war. Gewachsen, wie ein Lärchbaum, groß und schlank, blond, blauäugig, voll Frische, Humor und Verstand; ihre reichen Haarzöpfe konnte Keine so flott um die Stirn winden, und die Tracht der Gegend mit dem spitzen Hütlein und Schnürmieder stund ihr wunderlieb an. Sie zählte 22 Sommer. Wäre Kuni nicht in des Försters Haus und nicht des Jägers Franz Schwester gewesen, so hätt’ sie den Stephl noch verrückter gemacht; aber im Grund’ war die Kundl[13] doch gar zu liebesam, als daß er sie hätte fahren lassen sollen. Konnte sie denn dafür, daß der Franz ihr Bruder war, und war sie denn an den Försterdienst angehängt? Gewiß durfte er, meinte der Bub’, nur eine Sylbe fallen lassen, und sie verließ das Försterhaus sogleich; andererseits aber schmeichelte es seiner Eitelkeit, daß die Kuni nicht im Dienste von gemeinen Leuten, sondern in Herrendienst stund. Der Förster selbst und seine Knechte, wie man die Gehülfen schlechtweg nannte, waren dem Stephl, wie den meisten Bauern, herzlich zuwider und der Franz schon gar sehr, wir wissen’s schon, wegen der noch nicht bezahlten Weidestraf’; denn der Franz hatte das Vieh auf der Alm gepfändet. Wilderer war Stephl keiner, er hatte also keinen Jäger zu scheuen, trat ihnen keck und mit gutem Gewissen unter die Augen und, wie er keinen fürchtete, so ästimirte er auch keinen und nannte sie nur die grünen Hungerleider.

Die Kuni wollt’ er heut’ treffen; sie hatt’ es ihm am vorigen Sonntag, wo er hinter dem Friedhofe mit ihr geredet hatte, versprochen, daß sie bis um sieben Uhr Abends zum lieben Lamm käme. Denn der Stephl ging nicht zu ihr in des Försters Haus. Schon war’s bald acht Uhr, die Schatten stiegen zu Berg; Stephl hatte das Wirthshaus und den Garten hinter demselben schon zehn Mal durchforscht, war auch im Dorf’ auf- und abgegangen bis in die Nähe des Forsthauses, aber er sah das Mädel mit keinem Sterbensblick’. Zuvor war er so fröhlich gewesen und nun wurde er von Secund’ zu Secund’ wehleidiger und es wurde ihm, als ob er weinen möcht’. Ohne die Kundl mocht’ er nicht tanzen, und die Kundl ließ ihn im Stich. Das Försterhaus ist gleich, etwa funfzig Schritt, vor dem Dorfe, und noch ein kleines Bischen weiter draußen ist ein kleiner Buchenhain. Auf einem Umwege ging der Stephl dorthin, denn von dort sah er ungesehen auf die Thüre des Hauses und konnte gleich beim Mädl sein, wenn es herauskam. Die Dämmerung gab der Nacht die schwesterliche Hand, nur einzelne Vöglein flatterten durch das dichte Laub und zwitscherten sich eine gute Nacht zu, die Sterne zogen auf die Wache, vom Hagmair her drang das Gejauchze der fröhlichen Schaar. Dem Stephl wurde aber gar übel zu Muthe.

„Was das sein muß?“ frug er sich, und wenn er sich Dutzend [255] Mal gefragt hatte, so frug er nochmals. „Gelogen hat sie nicht, denn die Kundl lügt nicht! Sie kann mir doch nicht abspenstig worden sein seit Sonntag! Hat mich so lieb angeschaut und mir die Hand gedrückt und hat gesagt: schau, Stephl, Du bist mein Leben! und ich hab’ drauf zu ihr gesagt: Kundl, und Du das meine! – Und z’ Gehnacht, hab’ ich gesagt, lassen wir uns ’s erste Mal bei der Musik sehen; da werden s’ schauen! Ist zwar dem Vater nit ganz recht, aber haben muß Dich ich, Kuni, nit der Vater! – Und darauf hat sie mir die Hand wieder drückt und hat mich g’fragt, ob’s mein Ernst ist, und ich hab’ g’sagt, ja freili! und nachher sind wir auseinander gangen, und ich hab’ mich die ganz’ Woche gefreut, und heut’ kimmt sie nit, die spaßige G’sellin!“

Es wollte sich das Gefühl verschmähter Liebe und gekränkten Stolzes in ihm regen; der Gedanke, daß er, der von allen Mädeln Gefeierte, schnöde behandelt werden könne, machte ihm das Blut ganz heiß. Mißmuthig verließ er sein Versteck und ging den Fußpfad auf dem Wiesengrunde vorwärts dem Dorfe zu. Er mußte am Forsthause vorbei. Auf einmal geht die Hausthüre auf und Stephl gab’s einen Riß durch alle Glieder. Er horchte und suchte mit seinen Falkenaugen die Dunkelheit zu durchdringen. Man flüsterte. „Ist das nicht Kuni’s Stimme? – Und mit wem schwätzt sie, während ich Stunden lang auf sie warte?“ – Vorsichtig schlich er vorwärts und kam unbemerkt bis an das Stachelbeergesträuch’, welches den Gemüsegarten des Försters umzäunte. Hier kniete er nieder mitten in einem Gebüsche von Giftlattich, welcher dort üppig wucherte und dessen Geruch ihm schier den Athem raubte. Er strengte alle Sinne an, um durch die Lücken des Laubes Alles zu sehen und zu hören. Hätte man ihn nach einer Weile gesehen, so ballte er die Fäuste krampfhaft und machte ein gar grimmiges Gesicht. Die Flüsternden waren Kuni und ihr Bruder Franz; sie saßen auf der Bank vor dem Hause, und durch Lachen sich selbst häufig unterbrechend, erzählte Franz der Schwester, er habe heute auf Neureiter’s Hochalm dem groben Bauer eine Geis’ erschossen und beim Heimgehen dem Alten das abgeschnittene Schwänzchen derselben gezeigt, worüber er schrecklich zornig geworden sei. Kuni meinte, dem reichen Bauer, der vor keinem Jäger Respect habe, schade das nicht; aber Franz möge sich vor dem Stephl, dem groben Lümmel, in Acht nehmen, denn dieser sei verwegen und hochmüthig zugleich. „Heut’, denk’ Dir’s nur,“ fuhr sie fort, „heut’ wollt’ mich der grobe Klotz zum Tanz führen; er hat am letzten Kirchentag so verliebt gethan, wie eine Turteltaube!“

„Du hast’s ihm doch nicht versprochen?“ sagte Franz.

„Das wohl, aber ich hab’ gleich im Sinn’ gehabt, nicht hinzugehen!“

„Brav, Kuni! Da wird der junge Bär brummen, wenn Du nicht kommst. So ist’s recht! Die Bauernfünfer bildeten sich am End’ noch gar ein, sie seien Unsereinem gleich und dürften unsere Schwestern zu Geliebten haben!“ – Und er gab der Kuni aus Freude einen Kuß, daß es klatschte.

Der Stephl biß bei diesem Laut die Zähne übereinander, daß sie knirschten. Zugleich erhob er sich aus dem Giftbette; er hatte genug gehört, um vernichtet zu sein. Unbemerkt wollte er sich entfernen, aber das mißlang ihm. Die Hunde des Försters hatten ihn bereits gewittert, schlugen nun heftig an und begannen, umher zu schnuppern. Stephl fing an zu laufen, denn um keinen Preis mochte er sich ertappen lassen; er schämte sich auch, gelauscht zu haben. Der Jägerbursche aber machte sich den Spaß, den schönen großen braunen Hühnerhund des Försters auf den wegeilenden Unbekannten zu hetzen und das Thier setzte ihm nach; aber nach ein paar Minuten drang ein Wehegeheul desselben durch die Nacht.

Franz rief den Hund herein, als er aber nicht kam, eilte der Bursche mit einer Laterne fort, um ihn zu suchen. Ohne Mühe fand er den schönen Kastor, mit einer klaffenden Wunde in der Brust, verendet. Franz wollte um jeden Preis den frevelhaften Thäter kennen lernen und erbittert rannte er deshalb dem Wirthshause zu, um dort Umschau zu halten. Schlau genug aber sprach er von dem geschehenen Frevel kein Wort; denn er wußte gut, daß außerdem jede Entdeckung vereitelt sei, weil die Burschen zusammenhalten, zumal gegenüber einem verhaßten Jäger. Er trat in alle Stuben und betrachtete Den und Jenen, ob er keine besondere Aufregung oder etwa auch Blutspuren an Einem bemerke. Wie zufällig frug er um den Neureiterstephl.

„Oh, der Stephl,“ rief Einer, „der sieht sich heut’ nimmer gleich, er ist ganz vertattert, weil der verliebte Loder[14] sein Dierndl nit gekriegt hat, die Kundl, Deine Schwester, und ’n Stoßring zum Schlag’n, und ’n Dierndl zum Lieben, muß jeder Bua hab’n!“ – „Trink, Jager, wo hast denn heut’ die Kundl? Hast sie doch sonst an Kirchtagen allemal bei Dir im Bierhäusl!“ – „Die Kundl wird heut’ dem Förster die Flöh’ hüten!“ rief jetzt eine kräftige Baßstimme, und eine breite Hand schlug auf des Jägers rechte Schulter, daß er sich unter dem Streiche bog. Als er sich umschaute, ließ er die zur freundlichen Erwiderung schon erhobene Faust wieder sinken, denn zornglühend und hoch in die Brust geworfen stund der Stephl leibhaftig vor ihm, ein Gegner, vor dem Jeder Respect hatte.

Während Franz so dreinschaute, unschlüssig, was er thun und sagen sollte, fiel Stephl’s Rechte auch auf die andere Schulter, und ihm den gefüllten mächtigen Zechkrug[15] vor die Nase haltend, schrie er ihm in’s Ohr: „Nur, damit Du nit einseitig wirst! Trink’, Jagerknecht!“ – Dabei lachte er hell auf und die umstehenden Buben lachten alle mit; der Franz aber mußte zum schlimmen Spiel’ ein gutes Gesicht machen und trinken. Sonst gab’s heut’ Schläge genug, das merkte der in solchen Dingen nicht unerfahrene Waidmann wohl. – „Spielleut’, Spielleut’!“ rief der Stephl, „hierher!“ – Und ohne Zaudern kamen drei Musikanten mit Trompeten und Schwöglpfeife vom Orchester, und nach einer lärmenden Einleitung begann der Neureiterstephl zu singen:

Die Gams auf’n Bergen
Und ’s G’wild umanand,
Die g’hör’n alle Menschen,
’s ist ja bekannt.

Aber ’s sell Evangeli,
Wo man lesen dös ko,
Zieh’n d’ Herrn nimmer füri,
Das wissen wir scho!

Die Jager fürwahrli
Seind prächtige Herrn,
Weil ihnen nit ’s G’wild nur, –
Die Geisen auch g’hör’n.

Und wenn sie kein Gamsbock
Können derjag’n,
So thuen sie um’s Zizzelfleisch[16]
Fleißig umfrag’n.

Ja, d’ Jager, ös Buab’n,
Seind fürnehme Leut’, –
Sie schinden uns Bauern,
Das ist ihre Freud’!

Nach jedem Gesetzl machten die Spielleute einen höllenmäßigen Tusch und jauchzten die Buben durcheinander und der Jägerfranz mußte aus dem dargereichten Kruge trinken, und dazu stieß ihn bald der Eine, bald der Andere, so daß er am ganzen Leibe von Bier triefte. Der kalte Schweiß stund ihm auf der Stirn, er wechselte oft die Farbe und zitterte vor Wuth am ganzen Körper. Und doch mußte er ruhig bleiben, nein, so arg, wie heute, war er sein Lebtag noch nicht eingegangen. Vergebens suchte er wegzukommen, sie umringten ihn immer enger, vergeblich auch spähte er nach Jemand, den er mit der Meldung von seiner Gefahr in’s Forsthaus schicken könnte.

Sonst war Stephl ein zwar lustiger, aber friedlicher Bub’; Jedermann konnte es merken, daß seiner heutigen Aufregung etwas Besonderes zu Grunde liege. Er wurde gar nicht satt, dem Franz Spottreden zu geben, und da er der Angesehenste in der Zeche war, so unterstützten ihn die Andern fleißig in dem Bemühen, den Franz zum Losplatzen zu reizen. Aber alle directen und indirecten Bemühungen, seine Geduld zu schöpfen, wollten nicht verfangen.

Wer die schlichten Gebirgsbuben für Leute geringer Fassungskraft hielte, würde bei solchen Anlässen enttäuscht werden. Sie wußten recht gut, daß Franz nur deshalb ruhig bleibe, weil er sich ohne Gefährten sah. Plötzlich nun ging die falsche Nachricht von Mund zu Mund, der Förster mit vier dasigen und benachbarten Jägern träte eben in’s Bierhaus und würde gleich da sein, auch die Kuni sei bei ihnen. Der Stephl rief: „So macht noch geschwind einen Extrafeinen auf, Spielleut’, frisch!“ Und dann sang er:

„Sag’, Jager, wie thut’s denn Dir da bei uns schmeck’n,
Wie ist Dir, Du geisiger Schütz’[17]
Hast trunk’n schon viel und noch will’s Dir nit kleck’n,
Was macht D’r denn gar so viel Hitz’? –
Die Jager auf d’ Geis’ und auf Dierndln hab’n Schneid,
Ein’m schneidigen Buab’n doch geh’n s’ aus’m Weg weit!“

Wildes Jauchzen folgte der trotzigen Herausforderung, für Franz jedoch war’s nun zu viel, denn schon lang’ hatte er mehr verschluckt, als ein gesunder Jägermazen sonst verträgt. Er hielt es auch wohl für möglich, daß der Förster mit anderen Jägern zum Hagmair gekommen sei. Das half dem sonst trotzigen Muth’ desselben wieder auf die Beine, und so schleuderte er den Zechkrug zu [256] Boden, schrie den Spielleuten ein „Ruhig!“ zu und sang mit vor Wuth bebender Stimme:

„Zwanz’g Schneider auf ein Loth,
Viel Hund’ sind Hasentod.
Ein und Zwei fürcht’ i nit,
Laßt mir ’n Fried!“

Nun erscholl es von allen Selten: „’n Jagerfranz außilupf’n!“ Die Musikanten ließen ihre Pfeifen und Trompeten schmettern, der Kreis öffnete sich wie auf einen Wink, der Neureiterstephl ergriff den Franz an Brust und Bauch mit den Worten: „jetzt gehst D’, Jagerbüberl!“, trug ihn trotz seiner heftigen Gegenwehr wie ein Kind aus dem Tanzboden zur Tennenstiege und warf ihn hinab, daß die Treppen krachten.

Der Franz raffte sich, drunten auf beschleunigte Weise angelangt, mit zerquetschtem Leibe und gelähmten Gliedern auf, und so hart es ihm auch ankam, hinkte er durch die Nacht, zähneknirschend vor Wuth, dem Forsthause zu, wo bereits lange die Lichter ausgelöscht waren. Er suchte sein Nachtlager.

Es mochte etwa um elf Uhr sein, als eine weibliche Gestalt vorsichtig die Thüre des Försterhauses öffnete, das Haus verließ und, von den Hunden freundlich angewinselt, durch den Garten in’s Freie eilte. Das war die schöne Kuni. Sie wußte nichts von dem, was dem Franz erst begegnet war; sie war bald nach der Unterredung mit demselben, welche der Stephl mit angehört hatte, in ihre Kammer gegangen, aber nicht um zu schlafen, sondern sich tanzmäßig zu kleiden und dann im Dunkeln auf die Heimkehr Franzens zu harren. Daß derselbe in’s Wirthshaus gegangen sei, vermuthete sie; aber so lange er dort war, mochte sie nach dem, was sie zu ihm über den Stephl gesagt hatte, begreiflich nicht hingehen. Als sie nun den Franz heimkommen gehört hatte und Alles wieder stille war, eilte sie dem Hagmair zu. Denn sie war gegen die Liebe Stephls nicht so gleichgültig und kalt, als der Stephl glaubte und als wir auch meinen könnten; zu Franz schimpfte sie nur deshalb über Stephl und über die Bauern, damit sie in ihrer Bekanntschaft mit Stephl von dem Bruder nicht belästigt werden möge. O, die Weibsleute sind gar schlau!

Kuni kam vor dem lieben Lamme an und traf unter der Hausthüre mehrere Buben, welche in die Nacht hinauslauschten. Sie hielten es nämlich für möglich, daß der Franz mit Verstärkung zurückkehren werde, um die erlittene Schmach zu rächen, und in diesem Falle wollten sie den Strauß mit den Jägern sogleich im Dunkeln und im Freien ausmachen. Der Franz aber dehnte die zerworfenen Glieder im Federbett und nur seine Schwester führte ihr Unstern des Wegs. Der Stephl befand sich selbst unter den Horchern, und so traf die Kundl ihn früher, als sie gehofft hatte. Der Bub’ war noch ganz wild von der Aufregung der vorigen Stunde. Als aber jetzt Kuni, auf die er auch fuchswild war, in aller ihrer Holdseligkeit, die ihr Wesen zierte, auf einmal wie aus den Wolken gefallen vor ihm stund, zerfloß ihm schier das ganze Herz in Schmerz und Wonne, und er kämpfte einen harten Kampf der Liebe mit der Rache. Er nahm sich aber fest zusammen und ließ sie hart an:

„Warum bist bei Tag nit kummen, hoffärtige Dirn Du? Hast etwan Dich geschämt, Dich mit dem Bauerlümmel und groben Klotz beim ehrlichen Sonnenlicht schauen zu lassen, Du – –“, er stockte einen Augenblick, aber er vergegenwärtigte sich die schwere Kränkung, die ihm Abends widerfahren, und dann brachte er’s über die Lippen – „Du leichtfertige Jägerkatz!“

Er hatte Kuni, die bald blaß, bald roth wurde, am Arm ergriffen, sie aber riß sich gewaltsam los, denn nun war die Reihe an ihr, die Gekränkte zu spielen.

„Ja, ja! ’s ist richtig so, ein Lümmel bist Du!“ erwiderte sie, „und b’hüt Dich Gott, und wenn Du Lust hast, der Wegnarr[18] zu sein, so such’ mich bald wieder auf!“

Mit dieser bissigen Rede verschwand sie im Freien. Dem Stephl fuhr das wie der Blitz durch den Leib, erbittert sprang er der Kuni nach, dann hörte man einen langen Schrei und dann ein großes Gelächter, und Stephl kam zu den Cameraden zurück und zeigte ihnen heimlich etwas, ich weiß nicht was, und Alle lachten mit.


Es brach schon der Morgen an, als der Neureiterstephl den Heimweg antrat; die steinernen Häupter der Gebirge leuchteten in den ersten Strahlen der Morgensonne. Zu jeder andern Zeit war dieser liebliche Anblick dem frischen Natursohne eine Augenweide gewesen, heut’ aber hatte er bald Verdruß darüber gehabt, denn er hätt’ lieber Alles schwarz und finster oder grau in grau gesehen, weil’s in seinem Herzen auch so aussah. Seine Liebe sah er verrathen und zerbrochen, seinen Stand beschmutzt, sein Haus verhöhnt, das war für sein Herz doch gar zu viel auf einmal. Nebenbei schwebte es ihm so vor, als könne sein gestriges Verfahren gegen den Jägerfranz und die Geschicht’ mit dem erstochenen Hühnerhund, wenn sie aufkäme, doch auch schlimme Folgen für ihn haben.

Daheim angekommen, war sein Erstes, dem Vater zu erzählen, was geschehen war. Da der alte Neureiter sah, daß Stephls Zorn noch größer sei, als sein eigener, wurde er ruhiger und ermahnte den Sohn, vorsichtig und klug zu sein. Was zwischen der Kuni und ihm vorgefallen, darüber erzählte der Stephl keine Sylbe. Für’s Erste mußte er gen Alm steigen, um nachzuschauen, wie viel Geisen der Franz eigentlich erschossen habe. Ohnehin war’s heut’ dem Buben zu eng’ im Hause, und deshalb sehen wir ihn schon bald darauf in Hemdärmeln und mit dem Wettermantel über die Schulter und den Bergstock in der Rechten den Fußsteig hinangehen, welcher über dem Roßanger hinter dem Hofe und über die Berghalden zum Fichtenwald führt, durch den man längs eines nun leeren Gießbachbettes zur Hochweide und endlich zur Neureiteralm gelangt.

Je höher hinan der Stephl kam, desto geringer war seine Schwermuth und endlich schien sie ganz verschwunden. Er hörte den Kuckuck rufen, und eine Drossel sang recht lieb, und da fiel’s ihm ein, daß er auch eine Stimme habe, und er sang, daß es rings aus dem Wald und von den Wänden wiederhallte, und darauf jauchzte er, daß sich die Luft bog unter diesen hell klingenden Tönen. Und die Senndirnen droben vernahmen ihn und entgegneten ihm, grüßend. In der thauigen frischen Morgennatur war er ganz munter geworden. Er staunte sehr, als er von den Sennerinnen hörte, daß kein Rind und keine Geis fehle, daß seit acht Tagen kein Schuß gefallen sei auf den Höhen, und daß sich noch kein Jäger habe blicken lassen und der Franz auch nicht.

„Also hat uns der Franz nur zum Besten gehabt, und ich bin heut’ der Wegnarr. Doch wart’ nur, Jäger, ich will Dir das Ziegenschwänzl noch um Dein Geierheft[19] schlagen!“

Einer Sennerin fiel die Vermuthung bei, das Schwänzlein könne von der Geis herrühren, die im vorigen Sommer von der Geierwand gestürzt, und dort zerschmettert liegen gelassen worden sei. „Richtig, das war ja eine braune Geis’ und das Schwänzl ist auch braun, sicher hat’s gestern der Franz gefunden.“ Der alte Neureiter war mit dem erstatteten Bericht zufrieden. Für den Muthwillen, meinte er, sei der Franz vom Stephl hinreichend gestraft, und die Sache sei hübsch ausgeglichen.

Anders dachte der Franz. Nach langem Hin- und Herwälzen im Federbett war er in bitteren Rachegedanken eingeschlafen und mit denselben am andern Morgen auch wieder aufgewacht. Er gedachte bei guter Gelegenheit dem Stephl die erlittene Unbill reich heimzuzahlen.

Die Sonne stund schon hoch am Himmel, als er die Schlafstube verließ. In der Hausflur begegnete ihm die Kuni. Sie hatte rothgeweinte Augen und – nun, was ist denn das mit Dir? gar ein Kopftuch um den Kopf gewunden und es sitzt so fest um denselben, als wäre er nackt.

„Gar ein Kopftuch?“ fragte der Franz.

Doch was hatte er mit dieser Frage Schreckliches angerichtet! Die Kuni brach in lautes Wehklagen aus und konnte schier nicht erzählen, was ihr geschehen war. Einer ihrer beiden Haarzöpfe – und was für schöne Zöpf hatte sie, es war eine Pracht! – war ihr von einem Buben, sie könne, sagte sie, es nicht sagen, war’s der Stephl oder ein Anderer, wurzweg geschnitten worden, und den andern mußte sie in der Nacht selber abschneiden, schon wegen der nothwendigen Gleichheit des Kopfs.

„Das hab’ ich Dir zu danken, Bruder Wildfang! Hättest Du dem Neureiter die Geis nicht erschossen, so hättest Du mir das nicht erzählen können, und wir hätten den Stephl nicht geschmäht und alles Andere wäre auch nicht geschehen. Die Zöpf’ sind hin, und der Stephl ist auch hin, und wenn er auch ein Bauerlümmel ist, so ist er doch ’n rechtschaffener Mensch und hat einen großen Hof, und gar so übel war’ er denn doch nicht!“ – Neue Klagen, neue Thränenbäche! – „Wenn das nicht passirt wär’, ich würd’ mich vor Dir wegen der Bekanntschaft jetzt nimmer scheuen!“ fuhr sie fort. Was half’s, daß Franz betheuerte, er habe in der That dem

[257]

Die Gemse auf der Vorhut.

Neureiter keine Geis erschossen, sondern nur aus Scherz gelogen: er hatte zerstoßene Rippen, der Förster keinen Hühnerhund mehr, zwei treue Herzen waren zerrissen, und die Haarzöpf’ der Kundl auch; einen hob die Kuni in ihrem Kasten auf als Andenken an den schönen Jugendschmuck, und den andern hatte der Stephl mit heimgenommen und in seiner Bettstätte verborgen. Gar so ein gefühlloser Klotz war der Stephl nicht! Von wehmüthigen Gefühlen bestürmt, zog der Bub’ den Zopf öfter hervor und machte sich überhaupt oft in seiner Kammer zu thun. Dann betrachtete und betastete er den vollen, weichen Zopf, und der arme Schelm konnte es sich nicht verbergen, wie angenehm es wäre, wenn am Zopf in dieser Nähe die Kundl selber hinge.

Der Förster war sehr erbittert über den Tod seines unübertrefflichen Kastor und betheuerte, die nächsten drei Bauernhunde, die ihm heute begegneten, werde er den Manen seines Kastors hinopfern. Ob er Wort gehalten, weiß ich nicht.

Es war Herbst, von den Gipfeln der Gebirge erglänzte frischer Schnee, die Almen waren längst verlassen, die Kühe mit ihrem traulichen Glockengeläute weideten an den Thalhängen oder auf den Wiesen neben den Häusern unter den Bäumen mit den reifen Aepfeln und Birnen. Ueberall rauschelte es schon von den Bäumen, welche ihr Laub der Mutter Erde zurückgaben, vergilbt sah das grüne Sommerkleid der Buchen von den Höhen in das Thal herab, dessen Wiesplan ebenfalls eine abgeschossene Farbe zeigte und von der reichen Sommerflora nur noch die Kelche der Herbstzeitlosen übrig hatte. Frisch strich der Ostwind über die Fluren, reicher flossen die Quellen wieder und die Gießbäche, es waren so freundliche Tage, an denen die Natur segensmüde in sich lächelte. Der Sommer war auf der Alm glücklich vorbeigegangen, abgesehen davon, daß die Jäger häufig in die Hochreviere kamen, und mehreres Vieh Neureiters auf der untersagten Weide gepfändet hatten. An Neureiters Hof ging aber kein Jäger vorbei, lieber machten sie einen Umweg; sie wichen den heftigen Leuten aus, welche voll Groll gegen sie waren. Der Bauer pflegt den ganzen Haß und Zorn über Maßregeln, deren Ausführung von hohen Aemtern anbefohlen ist, den executirenden Individuen auf den Hals zu laden. Die Beschränkung des Weiderechtes gilt ihm als ein Rütteln am Wohlstande, den er den Nachkommen hinterlassen will und welcher unveräußerlich ist, und keiner möchte es sich im Grabe nachsagen lassen, daß unter seiner Wirthschaft irgend ein Unrecht am Besitzthum ruhig hingenommen werden sei. Der Neureiter hatte gegen die neue Pfändung appellirt, aber ohne Erfolg, und er sah der Auspfändung entgegen.

[258] Die Dienstleute Neureiters waren mit Stephl im Walde oder auf den Wiesen, und der alte Bauer saß wieder allein in seiner Stube. Da rollten zwei vornehme Wagen in den Hof, Bediente in fürstlicher Livree sprangen vom Bocke und öffneten den Schlag, und es stiegen mehrere Männer aus, und mit ihnen der Pfleger des Bezirks. Der Landesfürst hatte in dem Gebirge eine Jagd abgehalten, und um ihn von dem Wohlstand der Landleute zu überzeugen, lud ihn der Pfleger zum Besuche des Neureiterguts ein. Der alte Bauer war als Patriot bekannt, wenn man auch wußte, daß er etwas brummig sei; daß er über den heutigen Besuch die höchste Freude haben werde, davon hielten sich die Beamten für überzeugt. Eben blies der Neureiter aus seinem Pfeifenstummel dichte Rauchwolken; als er die Herren mit dem Pfleger kommen sah, meinte er, es sei eine Commission, die ihn um Geld bringen werde, und er legte seine Stirn in düstere Falten.

Die Stubenthür flog aus, ein Herr in Jagdkleidung, gütig grüßend, trat ein, und der nachfolgende Pfleger wendete sich an den Bauer mit den feierlichen Worten:

„Du hast die unendliche Ehre, hier Deinen allergnädigsten Landesfürsten in Deinem Hause zu sehen!“

Der Bauer betrachtete einige Minuten lang, sitzen bleibend, die Herren, dann erhub er sich mit den Worten:

„So, Du bist der Kini?[20] Und ich bin der alte Neureiter! Wart, ich hab’ was!“ stieg die Leiter zur Bodenkammer hinan und erschien mit einer Flasche und Holzteller, auf dem Käse war. Das stellte er auf den Tisch, schenkte in ein Gläschen aus der Flasche Schnaps und lud die Gesellschaft ein, Platz zu nehmen und Bescheid zu thun. Der Fürst ergriff das Gläschen und nippte, aber rasch stellte er es wieder weg, machte ein bitteres Gesicht und räusperte, denn die Flüssigkeit war der herbe, aber heilsame Enzian- oder Schwarzwurzelbranntwein. Der Alte lachte nunmehr und sprach: „Gelt, ’s schmeckt Dir nit? Schmeckt uns Unterthanen auch Manches nit!“ Und er begann mit großer Beredsamkeit seine Klagen über erlittene Bedrückungen zu erheben und besonders das Forstamt anzuklagen, obgleich der Forstmeister sich gleichfalls im Gefolge des Fürsten befand. Vergebens zwinkerte der Pfleger mit den Augen und winkte mit Händen und Füßen dem ungebetenen Redner ab, vergeblich legte er die Hand auf den Mund, öfters hintereinander. Der Neureiter wurde immer lebhafter, und indem er der Treue seiner Ahnen und seiner eigenen Treue in Zeit jeder Gefahr für Fürst und Land erwähnte, geißelte er die Schädlichkeit vieler Anordnungen der Federfuchser, wie er die Beamten nannte, und bat am Ende:

„Gelt, König Kini, so genau hast’s nit gewußt, aber jetzt leid’st Du’s nimmer, daß man den Unterthanen fortwährend plagt und ihm die Lieb’ zu Dir nehmen will!“

Lebhaft bewegt hatte der Fürst zugehört, auch war ihm die Verlegenheit des Pflegers und Forstmeisters nicht entgangen; nun sprach er: „Ich werde Alles genau untersuchen lassen, und so es sich also, wie Du sagst, verhält, soll’s anders werden! Ich will, daß Ihr Euch wohl befindet, ich weiß, daß Ihr brave Unterthanen seid!“

Der Neureiter war darüber hoch erfreut, und jetzt lud er den Fürsten ein, seinen Hausstand zu betrachten; lieber hätte er ihn auf den Armen herumgetragen. Noch frug ihn der Fürst über allerlei Boden- und Waldverhältnisse, der verständige Bauer berichtete ihm über Alles genau, und der Fürst war erstaunt, daß gar Vieles den Berichten seiner gelehrten Räthe zuwider war und klarer lautete; man sollte gar nicht glauben, daß dies möglich sei. Als der Fürst den Hof verließ und den alten Neureiter seines Wohlwollens versicherte und ihm auftrug, auch den Nachbarn zu sagen, wie ihm das Wohl der Unterthanen zu Herzen gehe, da ergriff der Bauer gar dessen Hand und sie bewegt küssend, sagte er:

„Herr Kini, wenn Du Geld brauchst, der alte Neureiter hat alte Thaler und gibt sie Dir mit Freude; aber von Deinen Federfuchsern mag er sich nit so mir nichts dir nichts die Haut abziehen lassen. Und jetzt b’hüt Dich Gott und grüß’ mir die Frau Kinigin!“

Schon in den nächsten Tagen erschien eine gemischte Commission im Gebirge, um die streitigen Interessen zu untersuchen, und siehe da, der Neureiter behielt Recht. Das versöhnte den erbitterten, aber sonst gutmüthigen Mann wieder mit dem Amt und mit den Jägern, die gar großen Respect vor dem Neureiter bekamen. Der Jagerfranz, meinte er, hätte für das Ziegenschwänzlein genug gebüßt.

Der Stephl aber hatte, seitdem er den verhängnißvollen Haarzopf in geheimer Haft hielt, öfter, als man von dem vierschrötigen Burschen glauben sollte, an die ehemalige Besitzerin desselben gedacht, und als er sah, daß der Vater mit den Jägern ausgesöhnt war und mit ihnen verkehrte, wollte es ihm vorkommen, das könne er eigentlich mit der Kundl auch thun. Denn ein heftiges Herzdrücken plagte ihn seit lange. Wie aber sollte er es anstellen, daß ihm die Kuni wieder gut würde und, was auch eine Hauptsache war, daß der Vater seine Zustimmung zu ihrer Verbindung gab? denn es lag ihm nichts Geringeres im Kopf als dies.

Auch die Kuni beschaute oft den einsamen Zopf, der ihr geblieben war. Sie mußte seit jenem Abende Kopftücher tragen, und den Verlust der Haare schob sie auf Rechnung heftiger Kopfschmerzen; doch wußten alle Leute, wie weit dies Kopftuch her war. Wenn auch ihr Unmuth über den kecken Zopfräuber groß war, so war sie doch sehr neugierig, einmal zu erfahren, was er mit dem Zopf begonnen habe, und gerecht genug, zu bedenken, daß sie selbst viel Schuld trage an dem tragischen Ausgang jener Sommernacht.

„Hätte ich dortmals,“ sagte sie sich, „als der Franz über die Bauern und über den Stephl schimpfte, nicht mitgeschimpft und mich nicht angestellt, als wollte ich den Stephl zum Besten haben, – Alles nur um meinem Bruder zu gefallen, der keinen Bauer leiden kann – so hätt’ der Stephl keinen Zorn über mich gehabt, und hätt’ ich den mit Recht erzürnten Stephl bei der Hausthüre des Hagmair durch meine schnippischen Antworten nicht gereizt, so hätt’ ich meine schönen Zöpf’ noch, und Alles wäre anders gegangen. O, wenn der Stephl das wüßte! Er hat mich ja für falsch halten müssen, und ich hab’ ihn doch so gern gemöcht; warum hab’ ich dumme Närrin mich gescheut, meine Lieb’ zu ihm zu bekennen!“

Die frische Dirne war ganz melancholisch geworden und ging häufiger als sonst in die Kirche. Ja, endlich faßte sie ihr ganzes Vertrauen zur heiligen Mutter Anna, welcher in der Pfarrkirche ein eigener Altar gewidmet war, und sie entschloß sich, der Annastatue mit dem Kinde den verwaisten Zopf als Zierde umzuhängen und zugleich ihr ganzes Lebensglück der mit ihrem Vertrauen beehrten Heiligen an’s Herz zu legen. Noch in der Dämmerstunde des nämlichen Tages hing Kuni’s flächserner Zopf um den Hals der Heiligen.

Um diese Zeit suchte den gebrechlich werdenden alten Neureiter eine kleine Krankheit heim, und bei diesem Anlaß kam’s ihm lebhaft vor, es sei Zeit, dem Stephl den Hof zu übergeben und ihn ein Weib nehmen zu lassen. Alter und Erfahrungen hatten den Mann milder gemacht, und er gedachte, der Wahl Stephls freie Hand zu lassen. Einen prächtigen Hof und Geld gab er dem Sohne selbst, die Erkorene sollte vorab die Besitzerin guter Eigenschaften sein. Dies eröffnete er seinem Stephl, welcher darob freudig erschrak; noch mehr erschrak er, als er auf die Liste der Heirathscandidatinnen auch die Kuni gesetzt hatte, und der Vater sogleich begann:

„Die Kundl wär’ ein richtiges Leut’,[21] hab’ Allerlei von ihr gehört, was mir gefällt, sie ist arbeitsam, sparsam, brav, fromm, schön und hat sogar etliche Batzen, ist eine Bäckerstochter von Golding. Hab’ sie früher nit so gut gekannt, wär’ mir nit zuwider, aber Du hast’s ja bei ihr verschüttet, die Leut’ sagen, Du hätt’st ihr die Zöpf’ abgeschnitten!“

Welche Gelegenheit für Stephl war schöner, ein vollkommenes Bekenntniß abzulegen? Dann holte er den Zopf aus der Kammer und zeigte ihn dem Vater gerührten Herzens. Dieser brach in ein Gelächter aus und rieth ihm, den Zopf der Kuni selbst hinzutragen und nach dem Befinden seines Cameraden und nach dem Wohlsein der Besitzerin zu fragen; da würde es sich herausstellen, wie das Mädl gesonnen sei.

Die lange unter der Asche glimmende Gluth Stephls loderte jetzt offen empor, und noch desselben Abends war er in Feierkleidern und Kundl’s Zopf in der Tasche auf dem Wege nach Grünstein. Er wollte gerade zum Forsthause gehen, den beleidigten Bruder Franz um Verzeihung und um Fürsprache bei Kuni bitten.

Sein Weg führte ihn an der Pfarrkirche vorüber, die Thüre war noch offen und, von einem frommen Gedanken erfaßt, trat er hinein. Wen sah er da?! Die Kundl kniet am Mutterannaaltar in eifrigem Gebete, der Stephl schaut und schaut, sieht er recht oder nicht? Da hängt richtig der andere Zopf Kundl’s an der Statue, er kannte ihn sogleich, weil ein Zopf dem andern glich, und weil er den einen Zopf lange und oft genug gesehen hatte. Leise schleicht [259] der Stephl vorwärts, und nun rührt sich die Kundl und nun schaut sie um, wer sich herbeischleicht. Der Stephl steht vor ihr wie ein armer Sünder, ganz abgeblaßt, mit dem zweiten Zopf in der Linken, die Rechte ihr entgegenstreckend, bittenden Auges. Dann tritt er zum Altar und hängt den einen Zopf zum andern. Das Mädl hatte diese Sprache verstanden, denn die Liebe hat ein helles Aug’. Dann kniete der Stephl neben der Kundl auf das Pflaster, und bald darauf ergriff er sie bei der Rechten, welche sie ihm willig ließ. Und nun zog er sie mit sich aus der Kirche. Rings um diese sind die Gräber der Todten, und der Stephl ging mit der Kundl schnurstracks zum Grabhügel seiner Mutter. Hier reichte er der Kuni wieder die Hand und sie gab ihm ihre Hand, es bedurfte nimmer der Bitte um Verzeihung und Liebe.

Nach wenigen Wochen war beim Hagmair Hochzeitfest, und die Forstleute waren alle dabei zugegen. Der alte Neureiter rieb sich vergnügt die Hände und schnalzte einmal über das andere mit den Fingern, denn sein Stephl und die junge Neureiterin waren das schönste, stattlichste Paar, was man sehen konnt’ im ganzen Lande.

J. Sch–r.




Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Von Guido Hammer. (S. Gartenl. Nr. 4.)
Nr. 8. Auf der Gemsjagd. – (Mit Abbildung.)

Neues Leben war mit der Frau Herzogin in das stille Thal der Hinterriß eingezogen. Ausgezeichnete Gäste, wie Prinz v. L., Graf E., der von seinen Streifereien im herzoglichen Jagdgebiete niedergestiegen war, um der edeln Dame zu huldigen, Mstr. B. u. A. hatten sich eingefunden. Auch der weltbekannte und allbeliebte Friedrich Gerstäcker befand sich im Gefolge der Herzogin, um an den bevorstehenden Gemsjagden Theil zu nehmen, nachdem er solchen eben erst bei einem der kaiserlichen Erzherzöge in Steiermark beigewohnt und sich als glücklichen und tüchtigen Jäger bewährt hatte.

Wohl zwölf Jahre mochten vergangen sein, seit ich ihn nicht gesehen, diesen geistvollen und liebenswürdigen Schriftsteller, mit dem ich zu jener Zeit manche frohe Stunde verlebt – durch ihn erlebt habe, indem er mit der ihm eigenthümlichen lebendig poetischen Sprache und seinem köstlichen Humor die Erlebnisse seines amerikanischen Waldlebens schilderte, aus dem er nur erst zurückgekehrt war. Mit wahrem Herzklopfen begab ich mich eines schönen Sonntag-Morgens nach dem Schlosse, um den wackern – im Herzen sagt’ ich Freund – wieder zu begrüßen. War er noch der frühere herzliche, frische, wahre Mensch, wie ihn die Urwälder gebildet hatten? Oder hatte auch ihn „die Cultur beleckt“? Die beste Antwort ließ nicht auf sich warten, und rasch laß ich sie wiederklingen; selten habe ich einen Menschen nach einem solchen Zeitraume geistig und körperlich so unverändert gefunden, als Gerstäcker.

An demselben Tage wurde ich durch den Haushofmeister zur herzoglichen Tafel geladen, wobei ich das Glück hatte, vom Herzoge einer der edelsten Frauen vorgestellt zu werden, der Herzogin. Gleich ihrem hohen Gemahle ist sie für Wissenschaft, Kunst und Natur lebendig beseelt, und namentlich die Botanik ihr Lieblingsstudium.

Diese Tage und Abende, die in dem hirschgeweihgeschmückten, alterthümlichen Saale mit zauberhafter Schnelle dahinflossen, waren für mich von außerordentlichem Reiz. Die Pürschgänge auf den Hirsch waren, wie ich schon im vorigen Artikel erwähnte, beendigt und die Gemsjagden begannen. Auch ich hatte das Vergnügen, mich betheiligen zu dürfen. War ich auch nicht so glücklich, auf den zwei Gemstreibjagden, denen ich beiwohnte, zu Schuß zu kommen, so fühlte ich mich doch nichtsdestoweniger glücklich dabei. Hatte ich doch eine Büchse in der Hand und die Anwartschaft, Gemsen zu schießen!

Wie herrlich war schon der Auszug zur Jagd! Der Jagdherr, in seinem der Oertlichkeit angepaßten und landesüblichen Costüme, zu Pferd, um bis zu einer gewissen Höhe zu reiten; die anderen Schützen mit den Jägern und Treibern in malerischen, durch die Hunde noch mehr belebten Gruppen den Gebieter umgebend, – es war ein herrliches Bild! Ein frischer, lebendiger, heiterer Geist beseelte Alle – von oben bis zum unverdrossenen Treiber herab. Unverdrossen muß man die Letzteren in der That nennen, denn nie habe ich Menschen dieser Gattung kennen gelernt, welche mit einer solchen Ausdauer und Freudigkeit die fabelhaftesten Anstrengungen ertrugen, wenn es galt, dem Herrn zu dienen, der aber auch mit der gewinnendsten Art diese von ehrfurchtsvoll dankbaren Empfindungen erfüllten Leute behandelte.

Hinaus ging’s in die Alpen, die der geneigte Leser bereits kennen gelernt. Manch’ wilder Weg wurde, nachdem der Herzog das Pferd zurückgeschickt hatte, beschritten, bis man ein sogenanntes Kar, das heißt, einen Einschnitt in die Gebirge, erreichte. Hier nun wurden die Schützen vom Wildmeister angestellt, der mir zu meinem Erstaunen die Versicherung gab, daß das Treiben unter drei bis vier Stunden nicht gut herankommen dürfte. Ich hatte also auf meinem Stande hinlänglich Muße zu Naturbetrachtungen. Nachdem ich mir einen Punkt, der mir möglichst viel Spielraum zum Schießen bot, ausgesucht hatte, machte ich mich so weit fertig, um nöthigenfalls jeden Augenblick schußbereit zu sein. Bei ununterbrochener Aufmerksamkeit auf möglicher Weise vorkommende Fälle, in welchen das Wild zeitiger rege werden könnte, gab ich mich demungeachtet dem vollen Genusse an der wunderbar schönen Umgebung hin. Durch meinen Beruf bin ich schon daran gewöhnt, meine Aufmerksamkeit zu theilen. Ich hatte mich hinter einen alten, verknorrten, mit Moos und Flechten üppig überwucherten Ahorn gestellt. Zur Seite starrten silberbärtig geschmückte, alte Tannen empor, unter mir dergleichen Wipfel. Vielleicht hundert Schritte vor mir deckte tiefer, stiller Wald das Gebirge, bis es oben kahl darüber in die Luft ragte. Ein Gießbach stürzte sich aus dem mir gegenüberliegenden Hange hinab und zwängte sich durch gewaltige Felsblöcke oder schäumte über Geröll unter meinem Stande dahin. Verspätetes Vergißmeinnicht, blaues und rosig angehauchtes, nickte in den sprudelnden Bach hinein. Zu meinen Füßen äugten auch noch munter Erdbeeren mit ihrem schalkhaften Roth und Genzianen mit ihrem wunderbaren Blau vom Boden auf; hier und da guckte wohl auch ein nachblühendes Alpenröslein schelmisch aus dem dunklen Knieholzgebüsch herab. Stille herrschte überall, nur der Gießbach rauschte in seinem felsigen Bette dahin, und seltsam angezogen lauschte ich diesen immer gleichen und doch so beredten Tönen, die die Phantasie in förmliche Sprache und verständliche Laute übersetzte. Wer hätte einsam an einem lebendigen Wasser gestanden und nicht Worte zu vernehmen geglaubt, – vielleicht gar sich rufen hören, und zwar bei hellem Sonnenschein, als gehörte dieser zur Geisterstunde des Waldes? Auch mir ging es hier so. Dazu brauste es zuweilen, wenn ein rascher Luftzug sich erhob, orgelartig durch die Wipfel der Bäume und verhallte in leisem, wehmüthigem Flüstern, das die knarrenden Seufzer der alten Stämme begleitete. Wieder wurde es still, daß man es vor Ruhe im eigenen Ohre singen hörte. Jetzt ließ mich ein leiser, prickelnder Ton hoch aufhorchen, und in der Spannung glaubte ich schon, eine Beute zu hören – doch es war nur ein gelöstes Blatt des alten Ahorns, das hin- und herkreuzend zuletzt in den Bach fiel und, von dessen Wellen erfaßt, schaukelnd wie ein steuerloser Kahn dahinschoß, bis es in reißender Schnelle dem Auge entschwand.

Vielleicht eine Stunde war verflossen, da dröhnte der Schuß eines über mir stehenden Schützen herab und setzte sich, vielfach wiederhallend, ist den Gebirgen fort. Dann kehrte die heilige Waldesstille zurück, die nur vom Rauschen der Wässer und vom melodisch-melancholischen Klingen der luftdurchhauchten alten Bäume unterbrochen ward. Mich aber hatte der donnernde Schall fieberhaft aufgeregt, denn ich konnte ja ebenfalls jeden Moment so glücklich sein, zu Schuß zu kommen. Die Augen bestrichen fortwährend ihren Sehkreis, doch kein lebendes Wesen wollte sich blicken lassen. So waren, ohne daß ich etwas gesehen und gehört, wohl zwei Stunden vergangen, als einer von den Treibern aus dem Walde über den Gießbach geklettert kam. Ich stieg nun am Flügel des Treibens mit empor bis zum oberstem Schützen, Freund Gerstäcker. Er war der einzige Glückliche, der überhaupt zu Schuß gekommen war und durch denselben seine Beute niedergestreckt hatte. Theils durch Schwierigkeiten im Terrain, theils durch andere Hindernisse war das Treiben nicht erfolgreicher gewesen; die meisten Gemsen waren flüchtig auf einer Ecke hinaus in die höheren Regionen gewechselt, gerade da, wie das häufig zu gehen pflegt, wo keine Schützen gestanden.

[260] Die Zeit war unterdessen so weit vorgeschritten, das an ein zweites Treiben nicht gedacht werden konnte, und der Jagdtroß, den Gebieter an der Spitze, stieg rüstig hinab in’s Thal. Der Weg, der auf Befehl des Herzogs gewählt wurde, war zwar näher als der, den wir emporgestiegen, aber von einer solchen Beschaffenheit, daß selbst eine Gemse den Kopf dazu geschüttelt haben würde. Dennoch ging’s lustig darauf fort, denn die Schauerlichkeit dieses Steges bestand nicht etwa in großer Gefährlichkeit, sondern in einem wahrhaft boshaft ungeregelten Naturzustand. Der baumlange „Jackel“, ein Treiber, hatte ihn dem Herzoge mit ziemlich verlockenden Farben geschildert, und seine Strafe war die, daß sich der Jagdherr in humoristischster Weise des Gebirgssohnes Ansichten über die Frage: „Weg oder nicht Weg“ zergliederte. So wurden die Drangsale unter Lachen überwunden, und als man unten angekommen war, ließ das die Jagdgesellschaft in dem schon früher näher bezeichneten Saale des Schlosses vereinigende Mahl, das durch heitere und geistvolle Gespräche mannichfaltig gewürzt und durch die Frau Herzogin anmuthsvoll belebt ward, jede ausgestandene Mühseligkeit bald vergessen.

Das Wetter hatte sich unterdessen geändert und durch die hohen Bogenfenster sah man dichte Schneeflocken lustig herabwirbeln, als wäre es im vollsten Winter. Manche Besorgniß für die kommenden Pürschgange auf das Gemswild knüpften sich an diesen Schnee, denn da er ganz respectabel fiel, so lag es nicht außerhalb der Möglichkeit, daß er zu lange liegen bleiben oder gar das Zeichen zum Einwintern sein werde, obgleich es erst Anfang October war. Obwohl die Gemsen sich während des Schneefalles mehr herabziehen, so steigen sie doch sofort wieder in die höchsten Regionen, wenn das Wetter hell und klar wird; die Sonne nämlich macht dann zuerst die am höchsten liegenden Grasfleckchen frei, indem der thauende Schnee wie von einem Dache massenweise herabrutscht, und so bieten solche schneefreie Matten dem Wilde Aeßung. In diesen Regionen und unter diesen Umständen aber pürschen zu gehen, würde fast unmöglich sein.

Des anderen Morgens lag im Thale eine Achtel-Elle Schnee, Es war ein wunderbarer Anblick, auf dem Goldgrunde der noch in üppigster Fülle prangenden Laube der Buchen den ungewohnten Schmuck liegen zu sehen. Noch breitete sich über die ganze Natur eine Schneeatmosphäre aus, diese wurde jedoch bald von der siegreichen Sonne durchlichtet, die nun plötzlich die schneebedeckten Gipfel der Gebirge mit einem zauberischen Schimmer übergoß. Und als die Sonne nun höher und höher stieg, so daß das Licht tiefer und tiefer in das Thal herabdrang, von Felsen zu Klippe sprang und dann den ersten schneebedeckten Wipfel der alten himmelanstrebenden Tannen hellleuchtend überstrahlte und so weiter die winterlich bekleideten Buchen durchwob, daß die blendenden Strahlen im bunten Laube und Schnee wie Gold und Edelgestein erglänzten: da sehnte sich das Herz hinauf in die Alpen, solche Pracht in ihrem ganzen Umfange zu überschauen. Die Sehnsucht sollte nicht unbefriedigt bleiben; es war Jagd angesetzt. Nicht lange ließ der Herr auf sich warten und den Jagdzug nahm der stille Wald auf, durch den sich der Pfad nach oben wand. Da standen die riesigen Baumrecken und vereinigten ihr mächtiges Gezweig, um die herrliche Decke gemeinsam zu bilden und zu tragen, Ein magisches Dämmerlicht und unendliche Ruhe herrschten in diesem hohen Gottesdome. Lautlos glitt der Schritt über den flaumbedeckten Moosboden dahin und selbst die Unterhaltung hörte eine Zeit lang auf, weil Jeder sich unwillkürlich in seine Betrachtungen versenkte. Erst als man wieder durch die Lücken des Waldes die sonnenumgossenen Bergeshäupter erschaute, machte der feierlichen Stimmung, die sich Aller bemächtigt hatte, die frohe Lust die Herrschaft streitig, und freudigen Herzens verfolgte Jeder sein Ziel. So erreichten wir den Ort, wo das Treiben auf Gemsen stattfinden sollte. Ehe noch alle Schützen ihren Stand eingenommen hatten, entdeckte das scharfe und geübte Auge des Gebieters eine Gemse an einem Laatschendickicht, in das sie hineinzog, Auch hörte man deutlich das eigenthümliche Pfeifen, den Warnungsruf derer, die das Auge nicht finden konnte, die aber längst ihren Feind, den Menschen, gewahr geworden waren, An solche heranzupürschen würde natürlich vergebliche Mühe gewesen sein, da es aber ein Treiben galt, lag es nahe, daß sie auf den Wechseln, die hier sehr gezwungen waren, mit zu Schuß kommen mußten. Ich meinerseits bekam an einem Laatschengebüsch, vor mir Wände mit Schluchten, in denen die Gemsen gern wechseln sollten, meinen Stand. Rechts von mir stand Mstr. B,. links der Prinz von L., und von da ab in einem höher gelegenen Kar der Herzog mit Graf E., und ganz oben Freund Gerstäcker.

Den Gebirgssack unter die Füße nehmend, schützte ich diese vor Schnee und Kälte; im Uebrigen war es, da ich in der Sonne stand, so warm, daß ich mit größtem Wohlbehagen abwarten konnte, was da kommen werde, – aber nicht kam, wenigstens bei mir nicht – nämlich die Gemsen. Fast schneeblind von der weißen, sonnenbeschienenen Umgebung, stand ich so unbeweglich, daß ein Grenzpfahl mich Bruder genannt haben würde, wenn er mich so hätte sehen können, Von großem Vortheil waren mir hier die an demselben Morgen erst aufgetriebenen, für drei Gulden käuflich an mich gebrachten, funkelnagelneuen Sonntagsschuhe meiner Frau Wirthin, die sie mir mit wehmuthsvollem Blicke überantwortet hatte, ahnend, welch rücksichtsloser Behandlung sie bei mir anheimfallen würden. Da meine Füße diese hornartigen, eisenbeschlagenen Geschöpfe in Form kleiner Kähne nicht auszufüllen im Stande waren, so hatte ich die Lücken mit einigen Händen voll Heu ausgestopft, und gerade dieses erhöhte wesentlich die Behaglichkeit auf meinem Stande. Damit der Schnee nicht oben in die Schuhe hineinfallen konnte, hatte mir Gerstäcker freundlichst ein Paar von einer dort gebräuchlichen Art kurzer Ueberstrümpfe, die über den Rand der Schuhe zurückgeschlagen werden, geborgt und mit Hülfe dieser und meiner Beinkleider, die ich tricotartig in erstere hineingesteckt, hatte ich mich gleichsam zu einem Tyroler umgewandelt, der freilich nicht allen ästhetischen Anforderungen entsprach und eigentlich mehr der Kreuzung eines sächsisch-erzgebirgischen Buttermannes mit einem Jäger glich. Praktisch aber war die Aushülfe für die Verhältnisse, und das war das Beste.

So gab ich mich bei aller Aufmerksamkeit auch hier meinen Naturbeobachtungen hin.

Die warme Sonne schien hell aus südlich tiefblauem Himmel auf die winterlich geschmückte Erde herab und löste den auf den alten Tannen lastenden Schnee in Tausende von schimmernden Tropfen auf, die zitternd an den grünen Zweigen hingen und, von neu sich bildenden herabgedrängt, wie ein immerwährender Edelsteinregen niederfielen, Das war, da die Sonne hinter den Bäumen stand, ein farbig glänzendes Spiel von reizender Schönheit. Durch die Brechungen der Strahlen in diesen Wasserkrystallen erschienen die Bäume wie von Heiligenscheinen umleuchtet. Dazu klang dumpf dröhnend, wenn Schneemassen von Fels oder Baum herabglitten, die dann oft in beträchtliche Tiefe fielen und deshalb, obgleich sie nur klein waren, ein so bedeutendes Geräusch verursachte. Man wurde nicht müde, so Wundervolles zu genießen. Zwei Stunden mochten dahin sein, da war es wiederum ein scheinbar ganz ferner Schuß, der alle meine Aufmerksamkeit auf das Treiben lenkte, Das Echo, das donnerähnlich rollend, dann knatternd und scharf und zuletzt wieder dumpf in den Bergen verhallend, dem kaum hörbaren Schuß folgte, gab mir Gewißheit, daß bereits Gemsen die Schützenlinie passirt waren, Mehrere Schüsse fielen nun hintereinander, denen jedesmal die Echo’s in den verschiedensten Brechungen antworteten. Mit Spannung beobachtete ich mein vor mir liegendes Terrain, in der Hoffnung, doch auch vielleicht einmal Anlauf zu haben, was sich leider bis auf die Erscheinung eines im Kleide der Unschuld hinhüpfenden Hasen, nämlich eines weißen, nicht verwirklichte. Diese Hülle der Reinheit möchte bei uns zu Hause im Herbst auf grauem Sturzacker sehr praktisch für den Jäger leuchten, hier aber auf dem Schnee war sie für Lampe ein Vortheil, denn – nun, ich will nur es gestehen, daß ich auf Hasemann zwar schoß, aber – fehlte.

Nicht lange darauf kamen die Treiber an den Wänden heruntergeklettert, so daß ich sie, wenn Gemsen Jupen trügen, für dergleichen gehalten haben würde, an so scheinbar völlig ungangbaren Orten krochen sie herum. Davon könnten unsere Treiber etwas lernen, die, wenn sie nur ein halbwegs unangenehm werdendes Dickicht zu durchkriechen haben, jeden irgend vielleicht günstig durchlaufenden Graben oder sonstige Lücken benutzen, um Gänsemarsch zu gehen, und erst kurz vor der Schützenlinie wieder Front machen, um geregelt herauszukommen.

Das Treiben war zu Ende, und beim Zusammenkommen der Schützen ergab sich’s, daß Graf E. zwei Gemsen und Gerstäcker eine geschossen hatte, daß aber die eine des Grafen angeschossen weiter gegangen war und von einem der Jäger verfolgt wurde. Rasch ging’s nun zu einer der Sennhütten, wo die hohe Frau mit Gefolge den Jagdherrn erwartete. Bald folgten Jäger und Treiber nach und brachten in ihren Gebirgssäcken die erlegten Gemsen [261] mit herunter. Die wettergebräunten Gestalten der Jäger und Treiber in ihren so malerischen Costümen mit Hunden und erlegtem Wilde, um ihren Herrn gruppirt, wiederholten in noch lebendigerer Weise das Bild des Auszugs. Nach genossener Rast und willkommener Erquickung, die die Dienerschaft umherreichte, begab man sich hinab in’s Thal, und hierbei bekundeten die Damen nicht minder den frischen, regen Geist, der eine Jagdgesellschaft stets so vortheilhaft auszeichnet.

Wieder versammelte das Mahl die Gesellschaft im Schlosse und gab, wie immer, Gelegenheit zur Besprechung früher erlebter Jagdabenteuer, von denen der Jagdherr nicht wenige der interessantesten, so wie der ergötzlichsten Art erzählte. Spät kehrte ein Jäger, Namens Michel, von der Nachsuche des angeschossenen Gemsbockes mit demselben zurück. Auf des Herzogs Befehl erschien er im Saale, um die näheren Umstände zu berichten, und es war ein wahrhafter Genuß, diesen so bescheiden und doch so ungezwungen natürlich auftretenden Gebirgsjäger seinem Herrn mittheilen zu hören, wie er dem Bock in die zerklüfteten Wände gefolgt sei, noch zweimal auf ihn geschossen habe, ihm endlich beigekommen und bereits im Finstern mit seiner Beute im Gebirgssacke die unwegsamsten Gebirge herabgeklettert sei. Man fühlte deutlich heraus, ohne daß der kühne und doch so sinnig schauende Jäger nur daran dachte darauf Werth zu legen, daß er, um seinen Zweck zu erreichen, sein Leben in die Schanze geschlagen. Zur näheren Charakteristik dieses prächtigen Menschen lasse ich das unvergleichliche Portrait desselben folgen, welches Gerstäcker in seiner Gemsjagd in Tyrol gegeben.

Nach einer Schilderung mehrerer Gestalten fährt er fort: „Ein anderer ist Michel, unstreitig der hübscheste von allen, ein junger Bursche von sechsundzwanzig Jahren, mit einem gar so offenen, ehrlichen und guten Gesicht, und so treuen, blauen Augen, denen das freundliche Lächeln prächtig steht. Ein guter Jäger und kecker Steiger wie Alle, hat er eine besondere Vorliebe, einen besondern Blick für Blumen, und vom Edelweiß, das oben in den schroffen Nordwänden der steinigen Gebirge steht, bis zum blau und rothen Vergißmeinnicht, das an den Bächen der hochgelegenen und geschützten Thäler keimt, sucht und findet er die einzelnen Blüthen, die der einbrechende Herbst bis dahin noch verschont. War sein Weg den Tag über noch so rauh und wild, prangt sein Hut gewiß, kehrt er Abends zurück, von einem Blumenflor.“

Ich kann mir hierbei nicht versagen, Diejenigen, die Gerstäcker’s „Gemsjagd in Tyrol“ noch nicht kennen sollten, auf das ganze höchst anziehende Buch, worin er mit einer Wahrheitsfrische, Poesie und Tiefe die Alpen, ihre Menschen und ihr Wild schildert, und seine Erzählung mit so köstlichem Humor durchwebt, besonders aufmerksam zu machen, wobei ich ungleich der herrlichen Holzschnitte gedenke, welche, nach Originalzeichnungen von Trost, das Buch würdig erläutern und schmücken.

Durch die weiten Bogenfenster des Saales sah man über der großartigen in nächtlichem Dunkel liegenden Landschaft den strahlenden Kometen seinen nebelhaften gespenstigen Schweif über die schneeigen Gebirge ausbreiten. Dazu tönte das Abendläuten des Klosterglöckleins friedlich durch die Stille des Thales und rief die frommen Mönche in ihr dämmrig erleuchtetes Kirchlein zur Andacht. Angeregt durch solche Momente, beschrieb der Herzog begeistert das Mondleuchten der Alpen, das demnach von wunderbarer Schönheit sein muß. Azurbläulichumflossen strahlen die Alpen im sanften Lichte, und dabei sei die Atmosphäre so hell und rein, daß man das Wild vom Thale aus auf den höchsten Gipfeln der Berge in deutlichen Umrissen stehen sehen könne. Wahrhaft zauberisch, märchenartig wirke dieser seltene Anblick auf den Beschauer.

Meine Zeit war gemessen, es war der letzte glückliche Abend, den ich in der Hinterriß verbrachte, – für den andern Morgen war meine Abreise bestimmt. Als nach dem Thee die hohe Dame des Hauses das Zeichen zum Aufbruch gab, sagte ich mit dankbarer Ergebenheit dem edlen Fürsten und seiner Gemahlin, die mich so huldvoll ihrer Aufmerksamkeit gewürdigt, Lebewohl, sowie allen edlen Jagdgenossen und besonders Freund Gerstäcker, da ich frühzeitig aufbrechen wollte.

Mit Wehmuth verließ ich am Morgen den wundervollen Aufenthalt, und nicht wenig bebte mir das Herz, als ich den vielgeliebten Ton der Büchse im Gebirge hallen hörte; der unermüdliche fürstliche Waidmann befand sich mit Genossen bereits wieder auf der Jagd. Langsam schritt ich in dem Thale hin, mit Absicht zögernd, um nicht allzuschnell von dem liebgewordenen Terrain zu scheiden. Noch hatte ich das Jagdgebiet des Herzogs nicht im Rücken, als dreißig Schritt von mir aus dem Gebüsch ein altes Thier heraustrat. Augenblicklich blieb ich ruhig, athemlos stehen. Auch das Stück Wild machte Halt und äugte nach mir, ohne jedoch, da ich guten Wind hatte, davon beunruhigt zu werden. Still zog es weiter, quer über den Weg durch die Riß, und nun folgten nach und nach zu meiner Freude erst noch ein Stück Wild mit Kälbchen, dann wieder eines, abermals mit Kälbchen und einem Schmalthiere, und dann zuletzt ein Hirsch von zehn Enden. Alle blieben, so wie sie aus dem Gebüsch traten, minutenlang auf dem Wege stehen und gingen dann ruhig dem Truppthiere durch die Riß nach auf das jenseitige Ufer, wo sie in einem Laatschendickichte den Waldhang emporstiegen, so daß ich sie noch lange mit den Augen verfolgen konnte. Aber noch immer stand ich, als schon längst das Wild in den Bergen dem Blicke entschwunden war. So ruhig und still und so nah waren sie an mir vorübergezogen, daß es mir wenige Minuten darauf wie ein wacher Traum der aufgeregten Phantasie erschien. Es war das würdige Schlußthierbild, welches sich dicht an der herzoglichen Jagdgrenze meinen Augen geboten.

Ich schritt jetzt eiliger weiter und kam bald in der Vorderriß an. Hier verweilte ich jedoch nur kurze Zeit; dann nahm ich von der freundlichen Försterfamilie Abschied und steuerte über die Joche dem Walchensee zu. Es war ein unbeschreiblicher Eindruck, als ich von der Höhe diesen düstern, schauerlich-melancholischen See unter mir erblickte. Ja, so mächtig, unheimlich und dämonisch wirkte er auf mich, daß mir eine bis dahin überwundene Eigenheit meiner Knabenjahre wiederkam; auf keinen größeren ruhigen Wasserspiegel, z. B. auch nur auf einen Teich, ohne die größte Beängstigung sehen zu können. Unwillkürlich mußte ich mich, wie früher, abwenden. Erst am Anblick der nahen Waldesumgebung konnte ich mich sammeln und meines unerklärlichen Gefühles Meister werden. Dann betrachtete ich mit obwohl noch scheuem Blicke und gezwungenem Willen die Erhabenheit dieses wunderbar tiefernsten See’s mit seiner starren Umgebung. Da lag er, schwarzviolet, die Ufer grünwellig anspülend und von zackigen Gebirgen ringsherum eingeschlossen, die von meinem Standpunkte aus unmittelbar aus dem Wasser zu steigen schienen. Von unten herauf schwarz bewaldet, ragten sie mit den zerklüfteten Häuptern kahl und dunkel, wie der See, in die Luft hinein; denn eben war am wolkenlosen Himmel die Sonne hinter ihnen verschwunden, so daß Alles in tiefe Schatten gehüllt war. Kein Zeichen des Lebens gab sich kund, kein Kahn glitt dahin, kein Vogel strich über die finstere Fläche – wie ausgestorben schien die Natur um diesen nächtlichen See. Noch nie habe ich mich von einer Erscheinung gleichzeitig so unheimlich berührt und doch wieder mit wahrhaft dämonischen Banden hingezogen gefühlt. – Es war wie der Zauber, den man der Klapperschlange nachsagt, die mit ihrem Blick das geängstigte, fluchtbereite Opfer fesseln soll. Ja, dieses Gefühl steigerte sich noch, als ich, unten angekommen, in einem schmalen Kahne, den ein schweigsamer, düsterer Bursche mit kräftigem Arme ruderte, mich dem grundlosen Wasser anvertraute, um hinüber an das jenseitige Ufer nach Walchau zu fahren. Lautlos fuhr mich mein Fährmann, nur leise plätscherten die Ruder, in die ruhige, spiegelglatte Oberfläche tauchend, Als glänzende Perlen fielen die Tropfen vom Ruder herab in den langen leuchtenden Streifen, den der dahingleitende Kahn in das schwarze Wasser furchte und in dem sich das helle Mondlicht silbernglitzernd spiegelte. Unwillkürlich schöpfte ich mit der Hand Wasser, um mich von der Dunkelheit desselben zu überzeugen, – und es war klar, wie Krystall.

An wundervollen Stellen des Ufers kam ich vorüber. Kirchlein standen unter Buchen und Linden dort und das Abendläuten tönte friedlich aus ihnen herüber, so daß es die feierliche Stimmung dieser ernsten Umgebung erhöhte und gleichzeitig wohlthuend milderte. Bei alle dem wurde ich ein banges Gefühl nicht los, und obwohl ich, an meinem Bestimmungsorte angekommen, noch Stunden lang nachher am Fenster meines Stübchens mich dem magischen Zauber des mondbeschienenen See’s hingab, wollte der Bann nicht weichen, den er beim ersten Anblick auf mich ausgeübt. Wie anders wirkte der liebliche, anmuthige laubwald- und villenumkränzte Starnberger See, an dem ich, von Walchau über das wundervoll gelegene, malerische Partenkirchen mit seiner edeln, großartigen, wenn auch weniger wilden und urmächtigen Umgebung gehend, vom Hochgebirge Abschied nahm. Im golddurchwobenen Glanze der Abendsonne ruhte er leuchtend, im Hintergrunde die fernen schneebedeckten Gebirge, die so duftig, wie aufsteigendes, weißgesäumtes Gewölk, [262] die Ferne begrenzten. Massen von anmuthigen Kähnchen durchkreuzten die luftspiegelnde Blänke des Seen und Alles athmete Lust und Freude. Nur daß ich so Schönes verlassen mußte, das war die einzige verstimmte Saite meines Herzens. Der gelle Pfiff des dampfgeschwollenen Drachen, der Locomotive, riß mich aus meinem wehmuthsvollen Schauen und entzog mir in wenigen Minuten den letzten Blick auf die Alpen.

Nach einer Stunde befand ich mich mitten unter Häusern, mitten im Getümmel der großen Stadt, in München, nicht, um hier zu verweilen. Mit Sehnsucht in der Brust rückwärts nach dem Verlassenen blickend, doch stärker mit Sehnsucht nach des Heimath, nach den Meinen verlangend, beschleunigte ich meine Rückreise zum häuslichen Heerd, an welchem liebe Erinnerungen doch am trautesten zu uns sprechen, weil wir sie den Geliebtesten mittheilen können.




Was ist Krankheit?

Krank oder unwohl“ nennt man sich, wenn widernatürliche, unangenehme oder schmerzhafte Empfindungen irgendwo im oder am Körper fühlbar werden, oder wenn die Thätigkeit irgend eines Theiles oder Organes sich in auffälliger und störender Weise verändert zeigt, oder auch, wenn an dieser oder jener Stelle des Körpers sinnlich wahrnehmbare Abweichungen in den (sogen. physikalischen) Eigenschaften, wie in der Größe, Form, Consistenz, Farbe, Temperatur u. s. w., der Gewebe und Organe bemerklich sind.

Man bezeichnet diese widernatürlichen Erscheinungen bei einem Menschen als „Krankheits-Erscheinungen (Krankheits-Symptome)“. Die ersteren, die krankhaften Empfindungen oder Schmerzen, sind natürlich nur vom Patienten allein wahrzunehmen (also subjective Symptome) und werden deshalb gar nicht selten (zumal von Frauen) erheuchelt oder doch übertrieben; sie müssen sich bei verschiedenen Menschen mit verschiedener Empfindlichkeit (Sensibilität) der Nerven ganz verschieden verhalten, und zwar auch bei demselben Leiden. Eine hysterische Dame empfindet anders, als ein robuster Kriegsmann. – Die andern beiden Symptome, nämlich die gestörte Thätigkeit und die physikalischen Veränderungen eines Theiles, sind größtentheils auch für Andere und nicht blos für den Patienten, viele natürlich blos für den Arzt, bemerklich (also objective, entweder functionelle oder physikalische Symptome) und deshalb zum Erkennen einer Krankheit ganz unentbehrlich, wenigstens dem wissenschaftlich gebildeten Arzte.

Manchmal treten bei Krankheiten gleichzeitig alle drei Arten von Erscheinungen auf, z. B. bei Augenlidentzündung schmerzt das Lid nicht nur, sondern es näßt und sondert Eiter ab, ist stark geröthet, geschwollen und schwer beweglich. Nicht selten kündigt sich aber eine Krankheit auch nur durch eins dieser Symptome an, entweder blos durch abnorme Empfindungen oder nur durch eine Störung in der Thätigkeit und im Baue des betheiligten Organes. So ist bisweilen die Leber, ja sogar die Lunge und manches andere Organ nicht unerheblich erkrankt, ohne daß der Inhaber dieses kranken Organes etwas davon empfindet und ohne daß die Thätigkeit desselben auffallend gestört wäre.

Holt man nun beim Kranksein Jemanden (männl. oder weibl. Geschlechts), der homöopathisch curirt, zur Hülfe herbei, so läßt sich dieser Jemand vom Patienten, dem er, beiläufig gesagt, gar nicht nahe zu kommen und ihn mit einer Untersuchung zu incommodiren braucht, alle Krankheits-Erscheinungen, ganz besonders aber die widernatürlichen Empfindungen, haarscharf hererzählen, – was übrigens vielen Patienten, zumal hysterischen Frauenzimmern und hypochondrischen Männern, äußerst wohl thut, – und sucht dann in seinem Gedächtnisse oder in irgend einem homöopathischen Haus-, Familien- oder Arzneischatze nach solchen Mitteln, die nach Hahnemann oder einem seiner Jünger, wenn sie in großer Gabe bei Gesunden angewendet werden, ähnliche Erscheinungen, wie sie eben der Kranke hat, irgend einmal veranlaßt haben sollen. Hat Dich, lieber Leser, z. B. der Schlag gerührt und Du bist auf Deiner ganzen rechten Körperhälfte gelähmt, so mußt Du nach Müller’s Familienarzt schnell einige Gaben Arnica zu Dir nehmen; wärst Du aber alt und Dein Athem wäre rasselnd und schnörchelnd, dann greife zum Baryt; außerdem ist noch Belladonna, Opium, Nux und Lagesis (Schlangengift) gut beim Schlagfluß. Dies müssen sonach alles Mittel sein, durch die man bei Gesunden die Erscheinungen des Schlagflusses erzeugen kann. (An Wem mögen wohl diese Experimente vorgenommen worden sein?) Hr. Dr. Lutze würde bei rechtseitiger Halblähmung die Belladonna, bei linkseitiger die Arnica und Nux verordnen, denn nach diesem großen Heilkünstler gibt es rechts- und linkswirkende homöopathische Arzneimittel.

Hat dagegen ein wissenschaftlich gebildeter Arzt Krankheitserscheinungen vor sich, dann forscht er nach der Ursache derselben und findet diese in den allermeisten (zur Zeit allerdings noch nicht in allen) Fällen in einer von der naturgemäßen abweichenden Beschaffenheit irgend eines Gewebes oder Organes (in einer sogen. organischen oder anatomischen Störung). Er überzeugt sich dabei zugleich, daß sehr oft eine und dieselbe materielle Veränderung bei verschiedenen Personen mit ganz verschiedenen Krankheitserscheinung einhergeht und daß umgekehrt auch gar nicht selten die verschiedenartigsten Störungen ganz dieselben Symptome haben. – Die Erforschung einer solchen Störung ist nun aber nur dann möglich, wenn der Arzt mit derjenigen Untersuchungsmethode gehörig vertraut ist, durch welche die physikalischen Verhältnisse der innern Theile unsers Körpers ergründet werden können, denn nur die physikalischen Symptome können richtigen Aufschluß über die Art der Erkrankung eines Organes geben. Wo jene Verhältnisse nicht zu ergründen sind, und das ist leider noch bei manchem Uebel während des Lebens des Kranken der Fall, da kann der Arzt auch kein sicheres Urtheil über die Krankheit haben. Es heißt diese Untersuchungs-Methode in der Wissenschaft die „physikalische Diagnostik“ und besteht im Besichtigen (Inspection), Befühlen (Palpation), Beklopfen (Percussion) und Behorchen (Auscultation), sowie in chemischer und mikroskopischer Untersuchung des Krankhaften. Einem Arzte, der diese Methode der Untersuchung bei seinen Kranken nicht anwendet, darf durchaus kein Vertrauen geschenkt werden.

Wenn neuerlich auch manche homöopathische Aerzte die physikalische Diagnostik anwenden, so ist das nichts als Charlatanerie, mit der sie dem Kranken Sand in die Augen streuen und glauben machen wollen, als ob sie auch zu uns, d. h. zu den wissenschaftlichen Aerzten, gehörten. Es wird auch jeder Laie ein solches Gebahren sofort als Charlatanerie erkennen müssen, wenn er erfährt, daß durch die physikalische Untersuchung materielle Zustände und Eigenschaften an Organen erforscht werden, welche die Homöopathie an Gesunden noch niemals hervorrief und überhaupt künstlich zu erzeugen gar nicht im Stande ist. Ich möchte das homöopathische Mittel und den Homöopathen wohl sehen, der, um ganz gewöhnliche Krankheiten anzuführen, eine Erweiterung und Schwindsucht der Lunge, einen Klappenfehler im Herzen, eine Vergrößerung und Verhärtung der Leber, ein Geschwür und einen Krebs des Magens etc., hervorzurufen im Stande wäre. Nur gegen einzelne subjective und functionelle Symptome, welche diese, aber auch hundert andere Leiden begleiten und die man vom Kranken recht leicht erfahren kann, nicht aber durch die physikalische Untersuchung mit Mühe aufzusuchen braucht, empfehlen die homöopathischen Arzneischätze Haufen von nichtsnutzigen Mitteln.

Die Wissenschaft bleibt nun aber nicht blos bei der Erforschung der den Krankheitserscheinungen zu Grunde liegenden materiellen (Gewebs-)Störung stehen, sondern sie fragt: wie kommt diese Störung zu Stande? Die Antwort lautet: in Folge eines unrechten Vorsichgehens der Ernährung (des Stoffwechsels) des erkrankten Theiles, und deshalb läßt sich auch Krankheit als ein falsches Vonstattengehen des Stoffwechsels, als eine Ernährungs-Störung bezeichnen. Will man also eine Einsicht in einen Krankheitsproceß haben, so muß man durchaus mit den Bedingungen, unter welchen der Stoffwechsel (s. Gartenl. 1854. Nr. 9) in Ordnung erhalten wird, gehörig bekannt sein. Wie dieser, ist auch die Krankheit ein in stetem Fortschreiten begriffener, nur abnormer Lebensproceß und stets die nothwendige Folge der, jetzt nur unter ungewöhnlichen Bedingung, im menschlichen Körper wirkenden Gesetze. Die in Folge des gestörten Stoffwechsels erzeugten und nicht mehr zu tilgenden, für’s ganze Leben bleibenden Abänderungen der Gewebe und Organe pflegt man, zum Unterschiede von der fortschreitenden Krankheit, „organische Fehler“ zu nennen. – Die Störungen des Stoffwechsels und die daraus hervorgehenden Störungen in der Structur und Thätigkeit eines Theiles finden nun zunächst ihren Grund: entweder in einer falschen Beschaffenheit der alle Gewebe unseres Körpers durchtränkenden Ernährungsflüssigkeit (welche aus dem durch die Haargefäße strömenden Blute stammt), oder in einer veränderten Thätigkeit der Zellen und der aus diesen hervorgegangenen Gewebe, welche unsere Organe aufbauen. Ob das Eine oder das Andere der Fall und wie es [263] veranlaßt worden ist, hat der wissenschaftliche Arzt zu ergründen; der Homöopath braucht sich darum natürlich nicht zu kümmern.

Während des steten Fortschreitens des Krankheitsprocesses treten nun auch in sehr vielen Fällen solche Folgezustände und zwar ganz nothwendiger Weise ein, welche eine vollständige oder theilweise Tilgung der krankhaften Entartung bewerkstelligen, und daher kommt es denn, daß die meisten Krankheiten ganz von selbst, ohne Arzt und Arznei, ja sogar trotz dieser und bei der verschiedenartigsten Behandlungsweise heilen. Man pflegt solche Folgezustände auch „Naturheilungs-Processe“ zu nennen. Sie sind’s ganz allein, denen bei der homöpathischen Curirerei mit Nichts die Genesung des Kranken zu verdanken ist. – Nicht selten führen diese Processe die Krankheit aber auch zu einem andern Ende, nämlich entweder zu bleibenden, organischen Fehlern oder zum Tode entweder des kranken Theiles (Brand) oder des ganzen Körpers (Sterben). In der Regel kann der Arzt nicht im Voraus wissen, welchen Ausgang die Krankheit nehmen wird (in Genesung, organischen Fehler oder Tod), und deshalb darf ein gebildeter Arzt sich auch niemals bestimmt darüber aussprechen, ob und wann ein Kranker gesunden oder sterben wird.

Von selbst entsteht keine Krankheit. Jede Krankheit bedarf zu ihrem Entstehen einer oder mehrerer Veranlassungen (Krankheitsursachen, Schädlichkeiten, Noxen). In den wenigsten Fällen wird die Krankheitsursache, welche den Stoffwechsel in Unordnung brachte und entweder von der Außenwelt kommt oder im Innern unseres Körpers erregt wurde, bekannt, und ebenso selten lassen sich im Voraus die Folgen der Einwirkung dieser Ursachen bemessen. Sehr häufig ziehen ganz dieselben Schädlichkeiten nicht blos bei verschiedenen Personen, sondern auch bei ein und demselben Menschen zu verschiedenen Zeiten, ganz verschiedene Krankheiten nach sich. Und umgekehrt können die verschiedenartigsten Ursachen ein und dieselbe Krankheit erzeugen. Man bezeichnet die größere Geneigtheit des Körpers oder einzelner seiner Theile, durch Schädlichkeiten in Krankheit versetzt zu werden, als Disposition, Anlage zu Krankheiten, und nennt einen Theil, der vorzugsweise gern erkrankt, den locus minoris resistentiae. – Trotzdem nun aber, daß man bei vielen Krankheiten die veranlassende Ursache nicht kennt, ist der Mensch doch im Stande, sehr viele Krankheiten von seinem Körper fern zu halten, und das lehrt ihm die Gesundheitslehre (Hygieine, Diätetik); davon später.
Bock.




Die Meteoriten und die Kometen.
Von F. v. R–ch. – (Schluß.)

Sehen wir nun aber solche Schwärme? Begegnen wir ihnen am Himmel? – Allerdings! Aehnliche Erscheinungen sind da und zeigen sich uns. Es sind die Kometen. Sollten sie, wie es das Ansehen hat, ungeheure Schwärme von kleinsten Partikelchen sein, die in unserem Sonnensysteme kreisen? Das wollen wir ein wenig genauer auf den Prüfstein legen. – Die Kometen bestehen aus einem Kopfe oder Kerne und einem Schweife, der oft zehn und mehr Millionen Meilen lang ist. Beide sind für uns so durchsichtig, daß wir die Sterne hinter ihnen sehen. Das Licht von diesen geht ungebrochen durch den Kometen hindurch. Das eigene Licht des Letzteren zeigt sich polarisirt. Wir wissen, daß die Kometen keine Phasen haben; ferner, daß sie an andern Gestirnen keine Störungen bewirken; daß sie an äußerem Umrisse wie an innerer Gestaltung nicht gleich bleiben, sondern sich fortwährend ändern; daß ihr specifisches und ihr absolutes Gewicht äußerst gering ist, so daß man von sehr kleinen Kometen berechnet hat, daß sie sammt Schweif nur etwa 8 Pfund wiegen. Daraus folgern die Astronomen mit Sicherheit, daß ein Komet, und besonders sein Schweif, weder aus tropfbarflüssigem, noch aus luftförmigem Stoffe bestehen könne; daß seine Theile keinen Zusammenhang haben können, sondern daß er nothwendig aus einem Schwarme ungemein kleiner, aber fester Partikelchen bestehen müsse, also aus Körnchen; daß jedes einzelne Körnchen von jedem anderer in ziemlich weitem Abstande sich befinden müsse und zwar in so großem, daß Lichtstrahlen zwischen ihnen in Menge und mit Leichtigkeit durchgehen können; daß der ganze Komet kein eigenes Licht besitze, sondern nur mit erborgtem, von der Sonne entlehntem leuchte; endlich, daß diese erleuchteten Körnchen, im Weltraume schwebend, sich frei bewegen und dem Einflusse äußerer und innerer Agention ungehindert nachgeben, sofort sich untereinander stellenweise bald anhäufen, verdichten oder ausdehnen können, und daß der Kern der Kometen, wo einer vorhanden ist, nichts Anderes, als eine solche Anhäufung nur aus kleinen Partikelchen bestehender lockerer Substanz sei.

Wir besitzen also in den Kometen, um es in wenige Worte zusammenzufassen, einen lockeren, durchsichtigen, beleuchteten, freibeweglichen Schwarm kleiner fester Körnchen, schwebend im leeren Weltraume. Was wir also oben aus dem physischen Zustande, in welchem wir die vom Himmel zu uns kommenden Meteoriten finden, folgerecht erschlossen haben, das tritt in den Kometen uns thatsächlich vor die Augen. Die Meteoriten müssen früher als Schwärme existirt haben, die Kometen kreisen gegenwärtig als Schwärme am Himmel, beide augenscheinlich von derselben physischen Beschaffenheit; sie fallen also für unsere Erkenntniß in Eins zusammen. Die Schwärme, als welche die Meteoriten früher existirt haben müssen, sind Eins und dasselbe mit den Kometenschwärmen.

Nun sehen wir an den Kometen, daß sie bald einen leeren, einförmigen Schwarm ausmachen, bald, und zwar in der Mehrzahl, einen Kern haben, einen excentrischen Mittelpunkt größerer Dichtigkeit. Er ist bisweilen noch durchsichtig, in anderen Fällen nicht mehr. Es bildet sich dort eine Näherung und Vereinigung der Schwarmpartikeln, ein fester Knotenpunkt schürzt sich aus den lockern Bestandtheilen, Er erscheint uns in einiger Größe, aber dennoch ist er gering an Masse. Und vergleichen wir unsere größten Meteoriten mit den großen Kometen, so zeigt die Rechnung, daß sie einander wenig oder nichts nachgeben. So haben wir denn gegründete Ursache zu der Muthmaßung, daß der Kern der Kometen nichts anderes, als der Beginn der Entstehung eines Aërolithen sei.

Einen unantastbaren Beweis hiervon wird man nie führen können, denn niemals wird ein Mensch einen Kometenkern in die Hand bekommen, so lange er mit seinem Schweife durch den Himmeln wandert. Aber in allen Naturwissenschaften und nicht weniger in der so glücklich rechnenden Astronomie gibt es eine Menge Dinge, die wir nicht auf den Ambos legen können, und selbst die Exactesten müssen sich dann mit Aufzählung von Aehnlichkeiten und daraus hergeleiteten Wahrscheinlichkeiten begnügen. Es kommt dabei nur darauf an, wie groß diese Wahrscheinlichkeit und wie gering die übrig bleibenden Bedenken sind.

Darum wollen wir nicht auf unsere Zweifler warten, sondern wir wollen die Einwürfe uns selbst machen. Der nächste ist beim ersten Anblicke: „Warum sind die Kügelchen rund? Die Natur bildet keine runden, sondern lauter eckige und kantige Krystalle. Und warum ist ein großer Antheil an den meisten Steinmeteoriten erdig?“ – Zunächst sind die Eisenmeteoriten durchaus krystallisirt, und auch dann, wenn dies nicht leicht sichtbar gemacht werden kann, wie bei den Meteoriten bei Hauptmannsdorf, so kommt es beim Bruche zum Vorscheine. Die Sternmeteoriten aber sehen wir zusammengesetzt aus den verschiedenartigsten mineralischen Gebilden. Sie machen nicht alle zusammen Einen Krystall aus, wie manche Eisenmeteoriten, sondern sie sind jedes einzeln für sich krystallisirt, und wenn wir sie genau prüfen so sind sie fast alle nicht ganze Krystalle, sondern lauter Trümmer von Krystallen. Die Grundmasse ist keine formlose Erde, sondern sie löst sich unterm Mikroskope auf in einen feinen Sand von Krystalltrümmern. Alle die schön runden Kügelchen, wie die ovalen, knolligen, dann die platten, geschiebartigen Bestandtheile, der eckige, splittrige und zerfetzte Gries, aus welchem die Luftsteine bestehen, sind fast lauter Bruchstücke von früheren ganzen Krystallen.

Nun denn, „wo kommt dieses Haufwerk unordentlichen Zeuges, dieser Gries von Trümmern her? Wo sind die Stampf- und Mahlwerke, die allen diesen Schutt erzeugt haben?“ – Die Antwort kann gegeben werden. Wir sehen an allen Kometen, daß sie nichts weniger als in sich ruhig und unveränderlich sind. Im Gegentheile ist ihr Inhalt in beständiger innerer Bewegung. Bald da, bald dort verdichtet, häuft oder theilt und verdünnt er sich. Vom Kopfe aus scheint der Schweif beständig nach rückwärts zu strömen und muß folglich von andern Seiten wieder vorwärts fließen. Jede Stunde, sagen uns aufmerksame Astronomen, ändert ein Komet mehr oder minder seine Gestalt. Was muß nun die Folge sein von solch einer ununterbrochen fortdauernden inneren und äußeren Bewegung und Strömung einer lockern Masse von unzählbaren kleinen Steinchen in Krystallgestalt? Doch gewiß fortwährendes Aneinanderstoßen, Drücken, Reiben, Quetschen, Abnützen der Spitzen, Kanten und Oberflächen. Wenn dies nicht im ganzen Kometen geschieht, so geschieht es gewiß wenigstens im Kerne. Und das Ergebniß dieser [264] Friction, wenn sie, sei sie auch noch so milde, Millionen Jahre fortdauert? Eben so gewiß Abnutzung, Abstutzung, Abreibung, Erzeugung von Staub, Sand, feinern und gröbern Trümmern, Abrundung der festen, Theile, Bildung von geschiebartigen Resten und endliche Darstellung von Kügelchen, – und nun haben wir Alles geradeso, wie wir es in den Steinmeteoriten vorfinden. Aber auch in den Eisenmeteoriten finden wir genug kugelige, cylindrische und konische Einflüsse von Schwefeleisen mit einem und mit zwei Atomen Schwefel, von Graphit etc., ausgezeichnet z. B. in Zacatecas, Ashville, Bohumiliz, Sevier, Seeläsgen, Cosby. Dieser Einwurf wäre also aus der Natur der Sache behoben.

„Wie aber soll solcher Gries, solches Reibsel, solche Kügelchen zusammenhalten und einen festen Stein ausmachen, da wir kein Bindemittel sehen?“ – Dem ist zunächst die Frage entgegenzustellen: wie halten denn so viele Gneise, Granite, Glimmerschiefer, Chloritschiefer, Talkschiefer, Thonschiefer und eine Menge anderer Gesteine, zwischen deren Theilchen man ebenfalls kein Bindemittel nachweisen kann, oft mit größter Festigkeit zusammen? Sehr viele davon sind mit den Händen zu zerbrechen, andere mit den Fingern zu zerbröckeln, viele nichts weniger als fest; so Alais, Kaba, Bishopville, Anmières, Benares, Loutelax, Mauerkirchen. Aber auch die festen sind meistens leicht zu zerschlagen. Endlich hat man einen schönen Versuch von Brokedon. Er zerpulperte Reißblei ganz fein, schüttete es in eine Röhre, brachte es unter die Luftpumpe und zog die Luft gänzlich aus. Nun ließ er einige schwere Schläge darauf fallen. Als er hierauf seine Gefäße öffnete und das Reißblei herausnahm, fand er das Pulver wieder so fest geworden, als dasselbe vor der Zertheilung gewesen war: es war wieder zu Stein geworden, man konnte es schneiden und sägen. Die bloße Zwischenschicht von Luft hindert die Adhäsion der Körper, die bei unendlich kleinem Abstande unendlich groß und zur Cohäsion der Materie wird. Nun befinden sich aber die Bestandtheile der Meteoriten im luftleeren Raume. Im Schwarmzustande sind sie zwar getrennt von einander, allein im Kerne sehen wir sie einander sich nähern; dort muß die Expansion der Attraction weichen; die Partikelchen, die Kügelchen, der Sand, der Staub kommen zusammen und wenn sie sich vereinigen, so werden sie durch die Kraft der Cohäsion zusammengehalten; sie werden, wenn sie in unsere Atmosphäre eintreten, Stein sein wie Brokedons Graphit, wie unsere Gebirgsbestandtheile durch vieltausendjährigen Druck und Auspressung der Luft. Bei vielen kommt noch das Eisen dazu, das nicht selten in eigenthümlicher Weise die steinige Substanz klammerartig zusammenhält und einem Cemente ähnlich sich eingelagert hat. In der That findet man, daß die Meteoriten um so zerbrechlicher und zerreiblicher sind, je weniger sie Gediegeneisen enthalten. So entsteht aus Trümmern und Staub ein Stein. Und diesem Steine kommt vollständige Analogie mit einem Meteoriten zu.

Wenn auf solche Weise im Kerne der Kometen ein festes Gebilde sich erzeugt, eine Steinmasse entsteht, so kann dies nur auf Kosten des Schweifes geschehen, der den Stoff dazu hergeben müßte; dieser müßte also allmählich kleiner werden. Es kann freilich etwas lange dauern, bis z. B. der zehn Millionen Meilen lange Schweif eines Kometen allen seinen Gries und Staub auf einen Fleck zusammenbringt. Allein in der That haben die Sternkundigen die Beobachtung gemacht, daß wiederkehrende Kometen, z. B. der Halley’sche, mit immer schwächeren Schweifen kommen, und schon Keppler glaubt, daß sie nach und nach verschwinden. Dies Abnehmen und Verschwinden ist aber offenbar nichts anderes, als daß sie sich nach und nach im Kerne aufwickeln und zu festen Gebilden verdichten, d. h. Meteoriten werden. Man gewahrt unter anderem Kometen mit zwei Kernen, ja mit deren drei oder vier. Das kann aber keinen Einwurf gegen unsere Berechnungen abgeben. Denn wir bekommen auch Meteoriten, die mehrzählig kommen und deren äußere Beschaffenheit Zeugniß davon ablegt, daß sie nicht erst jetzt durch Zerplatzen entstanden sind, sondern schon getheilt in die Atmosphäre eintraten. Uroberflächen wissen Meteoritenkenner von spätern Luftbruchflächen sehr wohl zu unterscheiden.

In vielen Meteoriten gewahrt man nicht blos Kügelchen mit ihrem Griese oder kleinere und größere Krystalltrümmer, wie z. B. in dem schönen Meteoriten von Hainholz zolllange Krystalle, sondern man findet ganze Stücke von andern Meteoriten, jedoch von meist ziemlich gleichartiger Beschaffenheit, in den Hauptmeteoriten eingelagert. So bei Stannern, Juvenas, Constantinopel, Dovoninsk, Agen, Lipenas, Weston u. a. m. Dazu muß man freilich etwas größere Exemplare besitzen und kann es an kleinen Fragmenten nicht wohl gewahren. Diese Trümmer zeigen, daß gleichzeitig mehrere Meteoriten erzeugt worden sein müssen, die sich dann während der Bildung mit einander verewigt, in einander hineingewoben, und daß so nicht nur mineralogisch-nähere Bestandtheile, sondern ganze schon zusammengesetzte Meteoriten sich in einander gefügt haben müssen. Aber auch diese Stücke erscheinen hierbei nicht krystallisch eckig, sondern ebenfalls abgerundet und abgerieben, wie die Trümmer, aus denen sie selbst bestehen. Dies zeigt, daß auch sie schon vor der Zusammenfügung zum Ganzen Reibungen erlitten haben müssen. Daraus entsteht dann die völlige Breccie, wie sie die meisten Meteoriten darstellen. Ja, es gibt solche, deren Trümmer ganz in dem Hauptmeteoriten gleichsam zerfließen und marmorige Zeichnungen darstellen, dergleichen Okaninach, Mainz, L’Aigle, Tipperary u. a. m. Es sind lauter offenbare Gewaltsamkeiten, die bei ihrer Erzeugung obgewaltet haben.

Den lautesten Beweis hiervon liefern endlich gewisse breite Streifen im Innern der Meteoriten, die fast allverbreitet in ihnen vorkommen. Es sind dies gewaltsam abgeriebene, unregelmäßige, meist krumme Flächen, die nach allen Richtungen in den Steinen vorkommen. Sie haben vollkommen das Ansehen, als ob ein Meteoritenstück am andern mit großer Gewalt sich langsam hingerieben hätte. Die Eisenpartikel erscheinen dabei gefletscht und flach hingetrieben. Beispiele hiervon geben besonders Lixna, Barbotan, Limerik, Ensisheim, Okaninach und viele andere. Alles dies sind greifbare Folgen der sichtbaren innern Bewegungen in den Kometen und ihren Kernen. Man hat gesagt, daß, wenn die Kometen mit den Meteoriten Verwandtschaft haben sollten, sie bei uns nur als geschmolzene Schlacken ankommen könnten. Denn bei ihrem Umlaufe um die Sonne kommen viele Kometen in ihrem Perihel dieser so nahe, daß, wenn sie feste Steine enthielten, diese in der Sonnennähe zusammenschmelzen müßten. Dies ist aber physikalisch nicht richtig. Sie bewegen sich im Weltraume bei einer Temperatur von 50 negativen Graden, also in einer fürchterlichen Kälte. Wenn sie nun auch von sehr heißen Sonnenstrahlen getroffen werden, so sind sie so klein und der umgebende Raum so kalt, daß man nachgewiesen hat, daß sie kaum Wassersiedhitze erlangen können und dies beschädigt die Constitution eines Aërolithen auf keine Weise.

Andererseits hat man gesagt, unsere Erde sei schon, und zwar vor wenigen Jahrzehnten, in der That durch einen Kometenschweif gegangen und zwar, ehe man den Kometen sah, der mehrere Zeit durch Wolken verdeckt war. Bestände nun der Schweif aus Staub, Gries und Kügelchen, so möchten diese keine geringe Unordnung bei uns hervorgebracht haben; kein Mensch habe aber von diesem Durchgange das Geringste gemerkt. Zum Glücke für die Astronomen habe man dies nicht vorher gewußt, sonst wäre schreckliche Angst vor Weltuntergang entstanden und die Sternenberechner nachher zum größten Gelächter geworden. Das ist Alles unrichtig. Die Durchsichtigkeit der Kometenschweife beweist genug, wie äußerst dünn und sparsam ihre Substanz sein muß, zumal in größerer Entfernung vom Kerne. Da müssen die Körperchen weit von einander abstehen und sehr klein sein. Gesetzt, sie wären noch immer so groß, als Mohnsamen, und es fiele da und dort ein solches Körnchen Jemandem auf den Hut oder unter die Gesellschaft in einer „Gartenlaube“, woran würde man dabei denken? Etwa an eine Störung im Sternenplane? Gewiß an gar nichts würde man dabei denken, man würde gar nicht darauf achten.

Es gebe aber auch Kometen ohne Schweif, wirft man ein. Darauf ist zu antworten, daß es auch Meteoriten ohne Kügelchen und ohne Gries gibt, und zwar sind dies die meisten Eisenmeteoriten. Dagegen gibt es auch Kometen ohne Kern. In diesen hat die Bildung des festen Meteoriten einfach noch gar nicht begonnen, sie sind noch leere Schwärme. Wenn ein Meteorit zur Erde niederkommt, so erscheint er am Boden ganz allein, und niemals hat man einen Schweif an einem wahrgenommen. Aber während ihres Durchzuges durch die obere Atmosphäre führen sie einen langen feurigen Schweif mit sich. Diesen hält man jedoch für nichts Anderes, als für die Schmelzproducte seines heftigen Brandes. Es können aber auch noch andere lockere Bestandtheile darunter sein, die in der Luft zurückbleiben, das wissen wir nicht.

Sieht man die Glanzerscheinung eines Kometen am Himmel, wie der jüngst gegenwärtig gewesene, mit seinem Schweife von vielen Millionen Meilen, so lang, als der Abstand der Erde von der Sonne weit ist, und vergleicht so ein kleines Ding damit, wie gewöhnlich die Meteoriten sind, so schrickt man vor der Vergleichung zurück. Aber auch das ist grundlos. So prachtvolle Gestirne, wie der Donatische Komet, sind eine große Seltenheit, gerade so selten, wie Meteoriten von einigen hundert Centnern Gewicht. Dagegen gibt es eine Menge sehr kleiner Kometen, täglich ziehen sie über den Himmelsbogen hin, sie sind aber häufig so winzig, daß man selbst mit Teleskopen sie nur mühsam entdeckt. Wie unzählig viele mögen so klein sein, daß man sie gar nie gewahr wird! So winzig zuletzt, daß sie auch mit unseren kleinen Meteoriten der Größe nach zusammenfallen. Die Verschiedenheiten, die man an den Kometen wahrnimmt, entsprechen vollkommen den Verschiedenheiten der Meteoriten unter sich. Von einer reinen Steinmasse beginnend bis zu einer reinen Metallmasse fortschreitend, gibt es weiße, graue, schwarze, grüne, braune, erdige und metallische Luftsteine, und wie ihre Farbe, so wechselt ihr Kern, ihre Härte, ihre Festigkeit, ihr Glanz, ihr Gemenge. So wenig ein Komet dem andern vollkommen gleich ist, ebenso stimmt von 150 Meteoriten, die wir haben, einer mit dem andern überein. Und ist er ihm auch im äußeren Ansehen zum Verwechseln ähnlich, so zeigt er doch gewiß in der chemischen Zerlegung noch erhebliche Unterschiede. Ueberraschend ist es aber gewiß, daß bis zur Stunde auch die schärfsten Nachforschungen in den Meteoriten keinen Grundstoff aufzufinden im Stande gewesen, der nicht auch schon bei uns auf der Erde vorräthig wäre. Sie bringen uns also aus der Schöpfung unermeßlichen Räumen nichts Neues, nichts Anderes, nichts Edleres mit, als bekannten alten Erdenkloß, und zeigen uns also bis zum Greifen mit der Hand, daß wir weithin nichts Anderes zu erwarten haben, als die irdischen Vollkommenheiten unserer besten Welt.

Nichtsdestoweniger bleibt ein Meteorit ein interessantes Wesen. Seine Mutter ist das Chaos. Seine Bestandtheile waren Zeuge des ersten Werdens der Dinge aus der Hand der Allmacht. Die Stoffatome in ihrem Urzustande, in weiter Verbreitung in unendlichen leeren Räumen schwebend, fügten sich zu der ersten Bildung, dem Triebe zur Krystallisation folgend. Sie vollzogen den ersten Act der Zuneigung, der Vereinigung, sie verbanden sich zu Molekeln, dann zu kleinsten Krystallen. So ein Körperchen, so ein kleines Kügelchen vom Durchmesser einer Linie – man kann es nicht betrachten, ohne von Schauer durchbebt zu werden – es ist ein Embryo zu einem Planeten, ein Weltenei. Aber nun fängt auch gleich der Weltschmerz an. Der Schwarm tritt in Bewegung, in Umlauf, in innere Umwälzungen, die nie endigen. Da reiben, stoßen und schädigen sich die feinen Gebilde, aus glänzenden Krystallgestalten werden Trümmer, Geschiebe, Knollen, Kügelchen, Gries und Staub. Auch diese streben zur Vereinigung, es schaaren sich Millionen kleine Individuen zu einem Kerne, es entsteht ein Kopf in dem Schwarme und ein Komet ist es, der am Firmamente dahinbraust. Der Schweif schwindet, der Kopf wächst, endlich haben Millionen Jahre Alles aufgerollt zu einem Meteoriten, der nun seinen Kreislauf im Sonnensystem in der Weise jedes andern Planeten fort und fort vollzieht, seinen ewigen Gesetzen gehorchend. Und wie die kleinen Partikelchen im Schwarme sich begegneten und sich vereinigten, so begegneten sich die Unzahl der Meteoriten in den Sonnenweiten und schaarten sich langsam, indem sie sich zu Planeten aufwickelten, erst zu kleinen Asteroiden, allmählich zu Mercuren, Erden, Marsen, Jupitern und zu deren Trabanten. Dieses Aufwickeln sehen wir noch heute fortgehen, und die jeden Tag fallenden Meteoriten sind nichts Anderes, als die Fortsetzung, der schwache Nachhall des großen Herganges der Planetenbildung aus diesen kleineren planetarischen Körpern. Unsere Kügelchen sind also die Elemente der Kometen; ein Komet ist ein im Werden begriffener Meteorit; ein Meteorit ist ein Weltsplitter zu einem Planeten; und wie die Planeten den Fixsternen gegenüber selbst wieder nur Splitter sind, so ist ihnen hierin ihr endliches Schicksal und damit das aller unserer Herrlichkeit deutlich genug vorgezeichnet.


  1. Weste.
  2. Schlagring.
  3. Eine Tour.
  4. Das Anwesen übergeben.
  5. Lawinen.
  6. Mit dem Vieh auf die Alme gezogen.
  7. Hirtenbube.
  8. Ein Mann.
  9. Walburga.
  10. Die erste Tanzmusik nach Ostern.
  11. Auf Besuch.
  12. Kunigunde.
  13. Dasselbe.
  14. Bube.
  15. Ein eigenes Trinkgeschirr für die in näherer Verbindung miteinander stehenden Buben.
  16. Ziegenfleisch.
  17. Ziegentödter.
  18. Der Erdmolch.
  19. Adlernase.
  20. König.
  21. Ein empfehlenswerthes Mädchen.