Die Gartenlaube (1859)/Heft 39

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 39. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Theater und Schule.
Von L. R.
(Schluß.)

Der Schauspieldirector kannte Rauschenbach’s Wohnung. Sie eilten dahin. Rauschenbach war nicht zu Hause, sein Zimmer verschlossen, Niemand wußte, wohin er gegangen oder wann er wiederkommen werde. Verstimmt stiegen Beide die Treppe herab.

„Warten Sie, warten Sie,“ rief plötzlich der Director, als sie eben aus der Hausthür treten wollten, „dort läuft sein Stiefelwichser, ein lumpiger Bursche, der aber Rauschenbach’s ganzes Vertrauen besitzt, – mit dem will ich sprechen!“

„Bringen Sie den Burschen hierher,“ bestimmte Theodor, indem der Director auf die Straße trat und dem Stiefelwichser nacheilte.

Der Director brachte den Burschen. Theodor fragte und forschte. In den ersten Augenblicken schon merkte er, daß der Bursche mehr wußte, als derselbe sagen wollte. Ein Zweithalerstück, welches Theodor ihm in die Hand drückte, machte die Zunge des Burschen flotter.

„Nun ja,“ fuhr derselbe leise und verschmitzt fort, „wenn es durchaus nothwendig ist, daß Sie ihn sprechen, – ich denke mir freilich, daß er erst gegen Abend oder des Nachts zurückkehren wird – zu Ihnen gesagt, er ist verreist.“

„Er kann aber doch,“ entgegnete Theodor, „da er auf Handgelöbniß entlassen ist und noch in Untersuchung steht, die Stadt nicht verlassen! Hat er Erlaubniß vom Gericht dazu erhalten?“

„Bewahre, bewahre!“ versicherte heimlich der Bursche, „er war zwar gestern vor Gericht, aber da stand er nur im Verhör. Und gerade das gestrige Verhör muß ihn zu dieser Reise veranlaßt haben. Er kam unruhig zurück, sehr unruhig und äußerte, er müsse verreisen.“

„Auch Sie, Herr Director, erwähnten schon gegen mich, daß er gestern im Verhör gewesen,“ sprach Theodor, „und wissen Sie nicht, um was sich’s da etwa gehandelt hat?“

Der Director verneinte es. Theodor fragte nun den Burschen, ob Rauschenbach gar keine Aeußerung über das Verhör gethan.

„Nein,“ antwortete der Stiefelwichser, „da kann ich mich durchaus nicht erinnern, er war nur unruhig, stieß einmal einen Fluch aus und sagte so halblaut, aber wild vor sich hin: „das verdammte Buch könnte mir doch noch einen Streich spielen – ich war sehr dumm – ich muß vorbeugen – jedenfalls lebt sie bei dem Oheim – ist das Zeug vernichtet, gut – hat sie’s noch, desto besser, dann will ich mir es schon verschaffen.““

„Und? – und weiter?“ fragte Theodor erregt.

„Weiter nichts – weiter hat er durchaus nichts geäußert – ich würde es Ihnen gern mittheilen,“ versicherte der Bursche.

„Und auf welchen Bahnhof begab sich Herr Rauschenbach?“ versetzte Theodor, „und wann ungefähr?“

„Ich habe ihn vor Abgang des Abendzuges auf den Magdeburger Bahnhof begleitet,“ antwortete der Stiefelwichser.

„Kommen Sie, Herr Director!“ rief Theodor gepreßt, und nahm den Director an die Hand, „wir müssen fort.“

„Nun,“ fragte dieser verwundert, indem sie den Stiefelwichser verließen und in das Straßengewühl traten, „was wissen Sie?“

„Ich weiß, wo Rauschenbach ist!“ entgegnete Theodor ruhig. „O, ich weiß nun auch, daß – daß,“ setzte er schmerzlich hinzu, „daß Rosa jedenfalls Mitwisserin ist!“

„Nein, nein, und tausend Mal nein,“ versicherte ruhig Jener, „ich glaube das nicht! Ich kann mir das nicht denken! Behalten Sie aber Recht, dann weiß ich, daß auch die Engel im Himmel lügen!“

Theodor trank Trost aus diesen ruhig gesprochenen Worten. Er schwieg eine Weile. So schritten Beide eine Strecke auf der belebten Straße fort.

„Erwähntem Sie nicht, daß Rosa in der Lotterie gewonnen habe?“ hob Theodor dann sinnend an.

„So ging das Gerücht,“ antwortete der Director, „ich weiß nicht, ob es auf Wahrheit beruhte.“

„Gegen Schnurr hat Rosa das doch ebenfalls geäußert,“ fuhr Theodor langsam fort. „Als sie ihm das Geld gab, und er sie fragte, ob sie vielleicht Pharo – – ganz recht, ich besinne mich, Schnurr hatte noch den Ausdruck das „heillose Pharo“ gebraucht, worauf sie dann lächelnd geantwortet: „nein, nur Lotterie,“ – – Ja, ja,“ sprach er combinirend und langsam weiter, „das wäre ein entwirrender Gedanke, – hätte sie wirklich in der Lotterie gewonnen, hätte Rauschenbach das Geld verthan – hätte sie es bei dem Bruche mit ihm wieder verlangt – hätte er dann gestohlen – von dem Gestohlenen die Rückzahlung geleistet – – Gott, Gott!“ brach er in Wärme aus, und faßte im schnellen Weiterschreiten des Directors Arm, „über die Unbesonnenheit, daß er das Geld gerade in die zwei mitgestohlenen Blätter packte, wäre schon wegzukommen! Derartige Unbesonnenheiten zeigen die Criminalfälle sehr oft, und gerade durch sie kommt gewöhnlich das Verbrechen an den Tag, während der ganze übrige Thatbestand weder zur Ueberzeugung des Richters, noch zum Geständnisse des Angeklagten führt. – O, wenn Sie wüßten, Herr Director, daß Rosa wirklich in der Lotterie gewann! Wenn wir das wenigstens erfahren könnten!“

„Dazu würde viel Zeit gehören, und unsere Bemühung dürfte noch immer vergeblich bleiben,“ bemerkte der Director.

[550] „Und die Umstände drängen,“ fiel Theodor ein, „Sie haben Recht. Wir wollen eilen, – wir müssen fort!“

Der Director machte freilich noch einige Einwendungen, aber Theodor überzeugte ihn, daß durchaus Beide reisen müßten.

Mit dem Mittagszuge fuhren sie ab.



VIII.

Auf demselben Anhaltepunkte, wo Theodor am gestrigen Abend das Billet nach Berlin genommen hatte, stieg er mit dem Director aus. War Rauschenbach in Schnurr’s Dörflein gereist, so hatte auch er hier aussteigen und dann die zwei Wegstunden bis an’s Ziel zu Fuß oder zu Wagen zurücklegen müssen.

Sofort stellte Theodor Erkundigungen an. Er fragte, ob nicht ein stattlich aussehender junger Mann, der mit dem ersten Zuge heute angekommen, hier ausgestiegen sei und nach dem Wohnorte des Schulmeisters Schnurr sich erkundigt habe. Das traf. Der junge Mann hatte in der nahegelegenen Restauration einige Stunden sich aufgehalten und dann einen Einspänner genommen.

Theodor und der Director begaben sich nach der Restauration. Hier hörten sie, daß Rauschenbach bestimmt hatte, er werde nicht zu spät zurückkehren, weil er mit dem Abendzuge nach Berlin müsse.

Um allein zu sein, traten sie heraus in den Garten.

„Wollen wir ihm nicht entgegenfahren oder ganz hin an den Ort, wo Fräulein Rosa bei dem Oheim verweilt?“ fragte der Director.

„Nein, nein,“ versetzte Theodor, „mein Plan ist gefaßt. Kaum zwei Stunden noch und der Zug geht ab. Rauschenbach muß ja drüben längst fertig fein, jeden Augenblick kann er zurückkehren. Ueberhaupt bleibt er viel zu lange. Heute früh schon hin – und nur zwei Stunden weit ist’s – er könnte ja eigentlich schon längst wieder hier sein.“

„Und Ihr Plan?“ fragte der Director.

„Den sollen Sie sofort hören, wenn wir hinauf in unsere Zimmer sind.“

„Brauchen wir zwei Zimmer? Sagten Sie nicht: in unsere Zimmer?“

Theodor bejahete es mit einem Kopfnicken. Er rief dann den Wirth, und bat um zwei aneinanderstoßende Zimmer. Oben angelangt, begaben sich Beide in eins der angewiesenen Gemächer.

Der Wirth entfernte sich.

„Vor der Hand können wir hier in Gemeinschaft uns aufhalten,“ sagte Theodor zum Director, „sobald wir aber den Wagen sehen, in welchem Rauschenbach kommt, müssen Sie hinüber in das anstoßende Gemach.“ Und nun theilte er ihm den Plan mit.

Der Director billigte denselben. Uebrigens blieb er noch immer bei seiner Behauptung, Rosa werde schuldlos erscheinen.

„Selbst daß sie Ihnen nur Einiges, nur das Hauptsächlichste über Rauschenbach mittheilte, befremdet mich nicht,“ sagte er. „Ich kenne ihre noble Gesinnung, ihr Zartgefühl, ich kenne ihr ganzes Wesen. Sie mag von dem Manne nicht sprechen, den sie verachten lernt. Sie will die Erinnerung an ihn aus ihrer Seele werfen, wenigstens von den Fehlern und Gebrechen nicht reden, durch welche er ihr zuwider wurde. Späterhin,“ fuhr er fort, „wird sie schon weniger zurückhaltend sein – aber gestern, bei diesem schnellen Wechsel der Dinge – ja, ich finde es, wenn ich den ganzen Charakter von Fräulein Rosa auffasse, sehr natürlich, daß sie es vermied, Näheres von Rauschenbach gerade mit Ihnen zu sprechen. Und erwähnten Sie nicht, daß sie gegen Ihren Herrn Vater bedeutsame Aeußerungen that?“

„Das erwähnte ich, und es ist wahr,“ antwortete Theodor, der sich durch diese Erklärung, die ja eigentlich seine eigenen Gedanken nur bestätigte, erquickt fühlte; „gegen meinen Vater hat sie im Grunde deutlicher über Rauschenbach gesprochen, als gegen mich. Mit schmerzlichem Lächeln hatte sie erklärt, daß es gegen das Gefühl der Frauen laufe, von den Gebrechen eines Mannes zu reden, der ihnen näher gestanden, – daß Rauschenbach selbst die Schuld trage von der Auflösung ihrer Bekanntschaft mit ihm.“

„Und Sie kennen Rauschenbach nicht, sahen ihn nie?“

„Nie,“ erklärte Theodor, „wie konnte ich sonst auch den Plan ausführen wollen, den ich Ihnen vorhin mittheilte?“

„Wahr, ganz wahr, entschuldigen Sie meine Vergeßlichkeit,“ entgegnete lächelnd der Director; „Sie hörten ja blos von ihm, als Sie in Berlin waren und Fräulein Rosa kennen lernten.“

„Sehen Sie?“ rief jetzt überrascht Theodor, und trat schnell an’s Fenster, „nun werde ich auch ihn kennen lernen. Da kommt der Einspänner!“

Der Director eilte zum Fenster und überzeugte sich.

„Das ist er!“ bestätigte der Director.

„Und nun auf Ihren Posten und ich auf den meinen!“ entgegnete mit klopfendem Herzen Theodor. „Der Himmel mache Ihre Vermuthung wahr, er gebe, daß Rosa schuldlos sei!“

Unter diesen Worten schenkte er schnell die Römer noch voll, die neben den zwei Weinflaschen auf dem Tische standen. Leise stieß er mit dem Director an –- schnell tranken sie aus. – Der Director begab sich in das Nebenzimmer. Auf dem Tische ließ man nur eine Flasche und ein Glas zurück. Theodor ging, als der Wagen etwa noch hundert Schritte vom Hause entfernt war, mit bedecktem Haupte hinab. Er schritt dem Wagen entgegen.

„Sie sind der Schauspieler Herr Rauschenbach?“ fragte er fest und mit amtlicher Höflichkeit, und lüftete den Hut.

Rauschenbach stutzte. Er erhob sich, erwiderte höflich den Gruß und stieg aus dem Wagen.

„Sie entfernten sich aus Berlin?“ setzte Theodor seine Frage fort und gab dem Kutscher durch Handbewegung einen Wink, mit dem Wagen in das Gehöfte zu lenken. „Sie hatten nicht die erforderliche Erlaubniß dazu!“ sprach er weiter, während er bemerkte, wie Rauschenbach erblaßte.

„Mein Herr, wenn Sie Beamter – –“

„Sie haben nicht nöthig, zu erschrecken, so wenig als Sie zu leugnen brauchen,“ fiel Theodor ein, „ich habe Ihnen Mittheilungen zu machen, Herr Rauschenbach, folgen Sie mir auf mein Zimmer.“

Düpirt, aber mit sicherm Anstande schritt Rauschenbach an Theodor’s Seite hinauf in das Zimmer.

„Setzen Sie sich,“ sprach Theodor und präsentirte ihm einen Stuhl. Rauschenbach verbeugte sich und blieb stehen.

„Darf ich fragen, wer Sie sind, mein Herr?“ hob er gefaßter an.

„Das sollen Sie erfahren. Sie kommen soeben vom Schulmeister Schnurr?“

„Nein.“

„Nun ja, ich hätte sagen können, von Fräulein Rosa?“

„Nein, mein Herr.“

„Herr Rauschenbach!“

„So eben komme ich von Magdeburg – bei dem Schulmeister Schnurr war ich heute früh.“

„Wen suchten Sie in Magdeburg?“

„Den Schulrath Werner – ich traf ihn nicht, er war verreist. Dann suchte ich seinen Sohn daselbst, auch er war verreist.“

„Beide verreist?“

„Beide.“

„Und was wollten Sie bei dem Schulrathe und dessen Sohn?“

„Mein Herr, haben Sie wirklich ein Recht zu solchen Fragen?“ entgegnete verlegen und ausweichend Rauschenbach.

„Ich werde Ihnen sagen, was Sie suchten, ich werde Ihnen zeigen, was Sie suchten,“ versetzte langsam und betont Theodor, „und dadurch werde ich beweisen, daß ich allerdings zu solchen Fragen ein Recht habe!“

Er trat einen Schritt zurück, und hielt die bekannten zwei Blätter empor.

„Ha! – die Elende! So hat sie mich verrathen!“ rief gellend Rauschenbach und bedeckte fein Gesicht. „Sie hat die Blätter eingesendet, – und doch hat sie behauptet, der Schulrath Werner besitze dieselben! O Verrath, scheußlicher Verrath!“

„Wußte Rosa von Ihrer Schuld?“ fragte erschrocken Theodor. Rauschenbach schwieg einige Augenblicke. Dann durchschritt er rasch das Zimmer, streckte die Hände empor und versicherte, Rosa wisse davon – Rosa sei schuldig.

Theodor’s Lippen entfärbten sich – er schöpfte tief Athem – er stand wie vernichtet.

Aber in demselben Augenblicke stand auch Rauschenbach wie vernichtet. Aus dem Nebenzimmer hörte er plötzlich eine sonore Stimme, die ihm so bekannt vorkam.

„Ich muß den Plan durchkreuzen, kann nicht warten!“ stürmte der Director aus dem Nebenzimmer, „also entschuldigen Sie!“ In raschen Schritten trat er zu Rauschenbach, schüttelte ihn an der Brust und rief: „Elender! Wie können Sie es wagen, Fräulein Rosa zu verdächtigen?“

[551] „Herr Direktor – Sie – Sie hier?“ stammelte Rauschenbach, „Nun ist Alles vorbei! – Herr des Himmels und der Hölle!“ setzte er gepreßt hinzu und drückte die Hände in die Augen. „Jetzt ist Alles verloren, Alles! Nur Zuchthaus!“

„Antworten Sie, wie konnten Sie es wagen, Fräulein Rosa zu beschuldigen? Noch soll nichts verloren sein für Sie! Sie sollen geschont werden, Ihr Vergehen soll zugedeckt bleiben! Alles wird für Sie gewonnen sein –“

„Alles, Alles!“ betheuerte einfallend Theodor und trat wieder näher herzu, „aber reden Sie die Wahrheit! Ist Fräulein Rosa Mitwisserin?“

„Nein doch, nein!“ entgegnete der Director ungeduldig. „Ich sehe ja gerade an dieser Lüge, daß ihr nichts davon bewußt ist! Und warum, Herr Rauschenbach, verdächtigen Sie dieselbe?“

„Hat sie die verrätherischen Blätter nicht eingesandt? Nicht, nicht?“ fragte Rauschenbach erschüttert.

„Diese zwei Blätter habe ich vom Schulrath Werner, und dieser fand sie in der Schule bei Schnurr, Ich aber gehöre weder der Polizei in Berlin, noch Ihrem Untersuchungsgerichte an. Fräulein Rosa hat nichts gegen Sie gethan, keinen Schritt, Herr Rauschenbach! Das Fräulein hat Sie mit Schonung behandelt! Aber auch Sie, Herr Rauschenbach, sollen von mir und dem Director geschont, Ihre Untersuchung soll abgebrochen werden, ich will Ersatz leisten – ich gebe Ihnen mein Wort darauf! Reden Sie also die Wahrheit! Wußte Rosa von der Entwendung?“

„Nein, nein!“ betheuerte Rauschenbach weich, und helle Thränen standen in seinen Augen. „Rosa wußte nichts, Rosa ahnte nichts! Als ich das Kästchen entwendet hatte, verging kaum eine Stunde, und ich sendete ihr das Geld nach Hamburg, wohin sie zwei Tage früher abgereist war. Ich schuldete ihr hundert Stuck Louisd’or. Sie hatte in der Lotterie gewonnen, mir den größeren Theil des Gewinnes anvertraut, und ich verbrauchte, ich verspielte das Geld. Meine Herren,“ fuhr er gerührt fort, „ich weiß es, ich war der Liebe, der Freundschaft dieses Engels nicht würdig. Dennoch ergriff mich, als Rosa abreiste und mir ihre vollkommene Verachtung auch dadurch bewies, daß sie an eine Zahlung oder an eine Sicherstellung mit keinem Worte mich erinnern ließ, ein gewisser Stolz. Der Gedanke, ihr durch Rückzahlung des Geldes wenigstens in einer Hinsicht noch Achtung abzwingen zu können, war ein Triumph in meiner Seele, und so schritt ich bald nach Rosa’s Abreise zu der That, die Sie kennen.“

„Sonst würden Sie nicht dazu geschritten sein?“ fragte Theodor sinnend, als wolle er tiefer in Rauschenbach’s leidenschaftliche Seele schauen. „Es war nur dieses Ehrgefühl, dieser Stolz, dieser innere Trotz, der Sie zur That verleitete?“

„Nein,“ antwortete nach einer Pause Rauschenbach, „ich gestehe es, ich würde es gethan haben auch ohne diesen Umstand. Ich glaube es wenigstens. Die Gelegenheit war zu günstig, mein Bedarf zu vielfach, mein Leichtsinn zu groß. Der erste Gedanke aber, als ich zur That schritt, galt allerdings der Rückzahlung jenes Geldes. Ich erwähnte bereits, daß ich die Rückzahlung sofort auch vollzog. Ich that es freudig, ja triumphirend, daher überhurtig, unvorsichtig, nicht bedenkend, daß die Verpackung, die ja nur die innere war, mir verderblich werden könne. Das Bilderbuch warf ich, als ich Haussuchung befürchtete, von mir, bedachte aber nicht, daß ich zwei Blätter herausgerissen hatte. Jetzt wissen Sie Alles.“

„Und schrieben Sie mit an Fräulein Rosa, als Sie das Geld sendeten?“ hob Theodor von Neuem an.

„Nur wenige, stolze Worte.“

„Und Rosa – schrieb sie Ihnen wieder?“

„Nein. Das wußte ich auch im Voraus, sie verachtet mich.“

„Und heute, wie standen Sie ihr gegenüber?“

„Mit tiefem Schmerz, den ich zu verbergen wußte.“

„Hätten Sie sich besser gehalten!“ tadelte der Director. „Sie brauchten wenigstens die andere Hälfte meines Geldes nicht zu verthun! Aber Sie spielten, Sie tranken! Sie treiben es noch! Bessern Sie sich, Herr Rauschenbach! Ist’s denn nicht möglich, daß Sie sich bessern?“

„Konnte mich der Engel nicht bessern, wer wird es können?“ antwortete lächelnd Rauschenbach, und eine helle Röthe zog über sein Gesicht, „Wissen Sie, was Leidenschaft ist, wenn sie zur Gewohnheit wird?“

„Herr Rauschenbach,“ nahm Theodor, den in der Freude, welche in ihm jauchzte, zugleich ein tiefes Mitleid bewegte, abermals das Wort, „es beginnt jetzt ein neuer Lebensabschnitt für Sie! Ihre Untersuchung wird niedergeschlagen, ich leiste dem Director vollen Ersatz, Niemand weiß das, Sie gehen an ein fernes Theater, werden ein guter Mensch!“

„Ihre Sprache bleibt mir räthselhaft, so lange ich nicht weiß, wer Sie sind,“ antwortete mit Sicherheit Rauschenbach.

„Wohl denn! Sie haben die Wahrheit geredet, Herr Rauschenbach, und ich bin Ihnen nun ebenfalls die Wahrheit schuldig. Herr Director,“ wendete er sich an diesen, „darf ich bitten?“

Der Director verstand das Schonende dieses Benehmens und erklärte ruhig: „Ich stelle Ihnen den Herrn Assessor Theodor Werner vor, seit gestern Bräutigam von Fräulein Rosa.“

„Bräutigam? seit gestern Bräutigam von Rosa?“ rief heftig Rauschenbach, und trat einige Schritte zurück. „Also wirklich? und so schnell? Man hat mir im Schulhause nichts davon gesagt. O, nun sehe ich, warum Sie mich schonen, warum Sie Ersatz leisten! nun verstehe ich Alles, Alles!“ setzte er schmerzlich hinzu.

„Danken Sie dem Herrn Assessor dadurch, Herr Rauschenbach,“ sprach ruhig der Director, „daß Sie vollziehen, was er Ihnen vorhin anrieth. Auch ich rathe Ihnen das.“

Mit vornehmer, fast höhnender Eleganz, die Arme in einander schlagend, trat Rauschenbach einen Schritt vorwärts.

„Nicht mein Wohl, nicht meine Besserung war der Beweggrund zu Ihrer Handlungsweise,“ sagte er, „aber es ist mir lieb, daß ich nicht öffentlich als Dieb stehen werde, daß Sie – – und dennoch, dennoch!“ fuhr er fort, und sein Ton wurde plötzlich ein anderer, und die verschränkten Arme ließ er herabgleiten, „was ist doch Alles, wenn sie es weiß? O sagen Sie mir,“ wendete er sich an den Assessor, und faßte mit Innigkeit dessen Hand, „weiß Rosa schon Alles?“

„Nichts, gar nichts! nicht einmal, daß Sie in Untersuchung sind!“ versicherte Theodor, „auch Herr Schnurr weiß nichts.“

„Und wollen Sie dafür sorgen, daß es so bleibt? daß Rosa nichts erfährt? Wollen Sie das? wollen Sie mir das zuschwören? zuschwören bei Ihrer Liebe zu –“

Noch weicher wurde Rauschenbach’s Stimme, er stockte, er schwieg, tief senkte er den Blick zu Boden.

„Ich schwöre es Ihnen zu!“ versetzte Theodor, „mein Lebensglück soll verloren gehen, wenn ich dieses Wort nicht halte!“

Rauschenbach schwieg. Noch immer stand er gebückt und blickte zu Boden. „Sind Sie zufrieden damit?“ fuhr Theodor fort.

Ohne seine Stellung zu verändern, nickte Rauschenbach mit dem Kopfe.

„So befolgen Sie denn unsern Rath,“ mahnte der Director, „nehmen Sie, sobald Ihr Proceß beseitigt ist, in der Ferne Engagement, bessern Sie sich, Rauschenbach, bessern Sie sich! Ohne Besserung sind Sie verloren!“

„Bei solcher Demüthigung auch noch Vorschriften? auch noch Bedingungen?“ fragte mit bitterm Lächeln Rauschenbach, indem er sich empor richtete. „Die Menschen sind verschieden organisirt, doch will ich sehen, wie es geht, will mir Mühe geben, mit der Leidenschaft zu brechen.“

Er ging mit diesen Worten nach der Thüre und zog die Klingel. Dem herauseilenden Kellner rief er zu, daß er ihm Wein bringen möge.

Da war es, als rassele draußen ein Wagen. Theodor trat an’s Fenster. Der Wagen hatte bereits das Gehöfte erreicht, und man konnte daher nichts weiter sehen.

Der Kellner brachte den Wein. Rauschenbach stürzte gierig Glas auf Glas hinunter. Dabei ging er, ohne sich um die zwei Andern zu kümmern, schweigend im Zimmer auf und ab.

Draußen auf der Treppe erklangen Stimmen, unter welche sich die Stimme des Kellners mischte.

„Ist’s Täuschung?“ rief Theodor überrascht, und eilte vom Fenster nach der Thüre hin.

Auch Rauschenbach stutzte, stellte heftig das wieder geleerte Glas auf den Tisch.

„Wie leidenschaftlich Sie trinken!“ sprach der Director, der jetzt ebenfalls horchte und nach der Thüre blickte, welche Theodor schon erreicht hatte und nun schnell öffnete.

„Wahrhaftig!“ rief Theodor laut und stürzte hinaus, „Ihr seid es!“

„Wir sind’s!“ antwortete der Schulrath, während Theodor [552] freudetrunken seine Arme ausbreitete und hineilte zu seiner Braut und sie an sein Herz drückte mit dem Rufe: „Rosa! meine Rosa!“

„Deinen Brief, Theodor, erhielt ich,“ fuhr der Schulrath fort, während er mit Theodor und Rosa noch auf dem Vorsaale stand, „aber es ließ mir keine Ruhe. Wahre Liebe muß auf gegenseitigem Vertrauen beruhen. Das sagte ich Dir schon früher. Das ist die sicherste Basis. Also fuhr ich heute früh zu Fräulein Rosa. Ich habe mit ihr geredet, wie ein Vater redet mit seinem Kinde, offen und wahr. Da ich übrigens denken konnte, daß Du heute mit dem vorletzten oder letzten Zuge zurückkommen würdest, so fuhr ich hierher, um Dich zu erwarten. Du siehst, wer mich begleitet hat. Fräulein Rosa weiß Alles.“

„Weiß Alles!“ rief es im Zimmer laut und schmerzlich. Dann folgte dem Ausrufe ein bitteres Lachen. Rauschenbach trat auf die Schwelle. Er verbeugte sich, schlug die Arme in einander und sah unverwandt nach Rosa, die ihr Gesicht nun fest an Theodor’s Brust drückte.

„Theodor, wer ist dieser Herr?“ fragte der Schulrath befremdet.

„Das ist Herr Rauschenbach,“ antwortete Theodor, „es ruhte Verdacht auf ihm, aber er ist unschuldig, völlig unschuldig! Es war ein Irrthum, das Geld hat sich wiedergefunden, Vater!“

„Herr Director Liebing!“ rief er mit unsicherer Stimme, „treten Sie doch näher! bezeugen Sie meinem Vater das Nöthige!“

„Es ist so, wie Sie es jetzt gehört,“ versicherte der Director, indem er grüßend an die Thüre sich stellte.

„Also das Geld war gar nicht gestohlen worden?“ fragte verwundert der Schulrath. „Und da habe ich vielleicht wehe gethan?“ wendete er sich an Rosa und trat hin zu ihr. „Ist es so, liebe Rosa? habe ich wehgethan? habe ich ein verletzendes Wort gesagt? Rosa, Du bist ja nun mein Kind, mein liebes, liebes Kind! ich weiß nicht, ob ich Dich verletzte; wenn es wäre, vergibst Du mir?“

Rosa blieb gelehnt an Theodor’s Brust, aber sie streckte schweigend dem Schulrathe ihre rechte Hand entgegen.

„Rosa! und habe ich Dir wehgethan?“ flüsterte Theodor mit bebender Stimme, „o vergib auch mir, theuere Rosa!“

Sie schwieg fort, aber inniger drückte sie ihr Angesicht an sein Herz.

„Habe ich’s nicht behauptet, daß auch die Engel im Himmel lügen, wenn nur ein Körnlein von Schuld auf ihr ruhte? O ich wußte es!“ sprach der Director.

„Du bist rein wie ein Sonnenstrahl!“ sagte leise Theodor und drückte leise seine Lippen auf ihr Haupt.

Es entstand eine feierliche Pause.

„Aber ich! ich!“ rief plötzlich, wie aus wüstem Traum erwachend, Rauschenbach und ging rasch in Rosa’s Nähe, „Fräulein Rosa! o geben Sie auch mir eine Hand! Es ist die Hand zum Abschied! Rosa, Sie sind Braut, eine reine, eine schuldlose, glückliche Braut! Noch ein Mal, zum letzten Mal geben Sie mir die Hand, die mich von sich stieß, von sich stoßen mußte! deren ich unwürdig war!“

Rosa regte sich nicht, fester schloß sie sich an Theodor.

„Thun Sie es, Rosa! Ihre Hand! Ihre Hand!“ klang es lauter und schmerzlicher noch als vorher aus Rauschenbach’s Munde,

Und sie reichte ihm die Hand, ohne das Gesicht nach ihm zu wenden.

Rauschenbach beugte sich, drückte seine Lippen auf die Hand. Dann richtete er sich empor.

„Und nun die Wahrheit!“ rief er mit glänzenden Augen „ich bin der Schuldige! ich bin der Dieb!“

„Rauschenbach!“ versetzte Theodor erschrocken.

„Was thun Sie?“ fragte verwundert der Director.

„Staunen Sie nicht!“ entgegnete in höchster Aufregung Rauschenbach, „Auch für Sie Beide, die Sie mich schonen wollten, ist es besser so! Das Schweigen würde für Sie eine Qual, eine unheilbare Krankheit werden! Und ich? ich?“ sprach er bitter lächelnd weiter, „soll ich besser stehen in Rosa’s Nähe, als ich bin? Soll ich die Schonung annehmen, und doch fürchten, daß Sie späterhin ihr sagen, ich sei ein Dieb? Nein! nein! Rosa gab mir ihre Hand, und so gab ich das Einzige, was ich hatte, die Wahrheit! Nun stehe ich nicht vermummt, nicht im Schein, ich stehe als der, der ich bin, stehe als Dieb!“

„Gib mir Aufschluß, mein Sohn! ich begreife das nicht!“ mahnte der Schulrath und schritt, indem er andeutete, daß man ihm nachfolgen möchte, aus dem Vorsaale in’s Zimmer.

Rosa ging mit Theodor. Auf einen Pfeilertisch, der im Vorsaale stand, warf sie die Mantille, und neben diese setzte sie den zierlichen, kleinen Arbeitskorb, den sie bei ihrer Ankunft auf ein Fensterbret gestellt hatte. Den kleinen Korb öffnete sie noch schnell. In ihm lagen Blumen, ein Buch, Häkelzeug, ein seidner Knaul. Die Blumen nahm sie schnell heraus, küßte Theodor’s Lippen, drückte die Blumen in seine Hand. Auf Rauschenbach richtete sie nur einen einzigen Blick, einen Blick voll Mitleid. Rauschenbach bemerkte es, und ein schmerzliches Lächeln ging über sein Gesicht.

„Und wollen Sie nicht auch eintreten?“ fragte Theodor, als die Uebrigen hinein waren in’s Zimmer.

„Sie werden ruhiger und richtiger erzählen, wenn ich nicht dabei bin,“ entgegnete Rauschenbach, warf noch sein glühendes Auge auf die reizende Rosa und drückte dann die Thüre in’s Schloß. So war er nun allein.

Unten wurde Lärm. Der Kellner rief aus dem Hause herauf, daß nach wenigen Minuten der Zug nach Berlin gehe.

Der Director öffnete die Zimmerthüre und sagte: „Herr Rauschenbach, wir reisen doch zusammen erst mit dem Nachtzuge?“

„Mit dem Nachtzuge! richtig, ich wenigstens!“ entgegnete Dieser fast heiter, während er die Thüre wieder schloß.

Er trat dann einige Schritte zurück und griff in die Seitentasche seines Rockes, aus welcher er einen Gegenstand hervorzog, den er einen Augenblick lang betrachtete und dabei leise, aber entschieden sagte: „So brauche ich dich also doch noch, armseliges Ding, das ich für alle Fälle zu mir nahm! Nein, nein, nicht armselig, du arbeitest rasch und gut!“

Nach diesen Worten begab er sich an den Pfeilertisch, auf welchem Rosa’s kleiner Korb stand. Er griff darin herum. Eine Blume, die er noch fand, nahm er lächelnd heraus und drückte sie an’s Herz. Dann schritt er leise im Vorsaal auf und ab, ohne sich um das zu kümmern, was drinnen im Zimmer vorging.

Drinnen aber gab nun theils der Director, theils Theodor die nöthige Aufklärung über das Geschehene. Auch schrieb Theodor eine Anweisung auf zweihundert Louisd’or.

„Es geht von meinem Vermögen, Vater,“ sagte er lächelnd zum Schulrath, indem er das Papier ihm hinwies.

„Ist nicht nöthig, mein Sohn!“ erwiderte Dieser. „Da Alles einen so glücklichen Ausgang genommen, so laß es getrost auf meine Rechnung zahlen! Vielleicht gelingt es auch noch, den jungen Mann zu bessern. Ich werde nachher selbst mit ihm sprechen. Also das Papier auf meine Rechnung, Theodor!“ erinnerte er treuherzig nochmals, und setzte lächelnd hinzu: „Habe ich doch auch noch überdies für das Geld einen Zuwachs für meine Revisionscuriositäten bekommen! Wo sind die zwei Blätter?“

„Die liegen wohl im Vorsaal, ich nahm sie vorhin mit hinaus, sie sollen Dir nicht entgehen. Und hier, Herr Director, ist die Anweisung!“

„So laß uns wenigstens das Ganze gemeinschaftlich tragen!“ versetzte der Schulrath.

„Nicht doch, lieber Vater, o ich zahle die Summe ja so gern!“ rief mit Wärme der Sohn.

Mit tiefsinnigem Blicke, mit heiterm Lächeln sah Rosa ihn an. „Mein Theodor!“ sprach sie leise und küßte den Geliebten.

Der Director trat näher. Er dankte, dankte herzlich und gerührt.

„So sind wir ja Alle nun glücklich geworden!“ rief Theodor froh.

„Möge auch der es noch werden, der dort draußen verweilt!“ sprach der Schulrath; „ich werde mein Werk dann beginnen mit ihm!“

Da krachte im Vorsaal ein Schuß.

„Gott im Himmel!“ rief der Schulrath und floh schnell an’s Fenster.

Theodor und Rosa standen erschrocken, aber fest und getrost und liebend schlossen sie sich in die Arme.

Der Director, der herausgestürzt war, kam zurück und sprach:

„Auch er ist nun glücklich!“

Rauschenbach war todt. Mit einer Kugel hatte er sich das Haupt zerschmettert. Neben ihm lag ein Pistol, an seiner Brust [553] befestigt war die eine Blume, die er noch aufgefunden. In kleine Stücke zerrissen und auf den Boden gestreut, fand man die ABC-Buchblätter.

Nun Lärm und Verwirrung im Hause. Nun gerichtliche Aufhebung. Nun abermals schöne Merkzeichen von der Gesinnung der guten Menschen, die wir kennen lernten. Ein halbes Jahr verging, es kam der Winter.

Der todte Rauschenbach stand gerechtfertigt, der Director erklärte vor Gericht, er habe das Geld wiedergefunden.

Erst als die Herzen Aller sich beruhigt und erholt hatten von dem Eindrucke des Ereignisses, wurde Hochzeit gefeiert.

Schnurr war froh, daß weder er, noch sein Geld in’s Gedränge kamen. Bei der Hochzeit ragte er unter den Lustigen als der Lustigste hervor.

Theodor und Rosa lebten glücklich. Der Schulrath kaufte ein Haus, welches sie dann vereint bewohnten.

Der Wirth vom „schwarzen Bär“ erzählte es noch oft seinen Gästen vor, daß gerade bei ihm die ganze Geschichte begonnen habe. War dann Schnurr zugegen, so kam wohl auch das Gespräch auf alte ABC-Bücher, auf die weit besseren Unterrichtsmittel in der Gegenwart.

Niemals aber ertönte aus der bekannten Schulstube das Verslein wieder:

„Ein toller Wolf in Polen fraß
Den Tischler sammt dem Winkelmaß!“

nur geplaudert wurde noch oft davon, besonders zwischen Schnurr und dem Schulrath.




Thier- und Landschaftsbild aus dem Norden Amerika’s. 0 Von H. Leutemann.

[554]
Charakteristisches Thier- und Landschaftsbild
aus dem Norden Amerika’s.[1]

Man ist gern geneigt, sich die unermeßlichen Waldungen Nordamerikas den Urwäldern der Länder innerhalb der Wendekreise ähnlich zu denken; die besten Landschaftsbeschreiber der Neuzeit haben uns jedoch von der Unrichtigkeit solcher Vorstellungen belehrt. Alle Waldungen des Nordens der neuen Welt zeichnen sich, den Urwäldern Südamerika’s gegenüber, durch Einfachheit aus, obwohl sie (wenigstens an den meisten Orten) unsere unter gleicher Breite gelegenen Wälder noch immer durch die Abwechslung ihrer Baumarten überbieten. So kennt man unter den Waldbäumen Nordamerika’s allein einige zwanzig verschiedene Eichenarten, Eschen, Ulmen, Buchen, Platanen, Eisenholz- und Maulbeerbäume, gegen zwanzig verschiedene Wallnuß- und noch mehrere andere fruchttragende Bäume, z. B. den Persimon- und den Papawbaum etc. Die wichtigsten aller Waldbäume des Nordens dürften jedoch die herrlichen Nadelbäume und die Ahorne sein, von denen unsere Abbildung die canadische Fichte und den Zuckerahorn zeigt. Erstere wird an Schönheit unbedingt von der Weymuthskiefer übertroffen, von welcher man häufig einzelne Exemplare findet, die mehr als tausend Jahresringe zeigen und gegen 200 Fuß hoch sind. Der Zuckerahorn bildet am Missouri hin und wieder selbstständig ganze Wälder, und wird dann zu einer sehr ergiebigen Erwerbsquelle für die Ansiedler der Nachbarschaft.

Sonst ist es im nordamerikanischen Walde gar still, in manchen Gegenden sogar unbeschreiblich öde. Namentlich sollen die „Fichtengründe“ (pine barrens) wahrhaft schauerlich öde sein.

Man wandelt im Walde wie in einem Säulengewölbe; auf Hunderte von Meilen hin findet der Sonnenstrahl keinen Wipfel des Laubdaches, den er mit seinem belebenden Lichte zu durchbrechen vermöchte; nur in den höchsten Kronen vermag er zu schaffen nach Herzenslust und jene unbeschreiblichen Farbenmischungen in Licht- und Hellgrün, Gelb und Roth hervorzuzaubern. An Farben ist Reichthum, an Tönen aber große Armuth. Von Singvögeln lassen sich fast nur Drosseln, Fliegenfänger und Sänger hören; aber zwei von ihnen, zu klein für die hier gegebene bildliche Darstellung, verdienen wenigstens einer Erwähnung: der eine ist die einsame, der andere die Spottdrossel.

„Die einsame Drossel,“ sagt Audubon, „liebe ich ganz besonders; ich bin ihr großen Dank schuldig. Wie oft hat ihr heller Gesang, wenn er nach einer ruhelosen Nacht mitten im Walde sich hören ließ, meine Lebensgeister ermuntert! Schlecht geschützt gegen die Gewalt des Sturmes unter meiner hastig aus Zweigen errichteten Hütte, gezwungen, das kaum angezündete Feuer wieder verlöschen zu lassen, wenn der Regen in Strömen niedergoß, habe ich lange und schreckliche Nächte verlebt, in denen ich weder Himmel noch Erde sah. Fern von den Meinen, abgeschnitten von allen Menschen, glaubte ich manchmal dem Untergange nahe zu sein, und verwünschte schon die Stunde, in der ich mich zu meinem abenteuerlichen Leben entschlossen hatte. Aber früher als ich hatte bereits die Drossel die ersten Zeichen des anbrechenden Morgens erspäht, und ihr starker, ansprechender Ton machte auch mein Herz wieder lebendiger schlagen; mit heißer Andacht vernahm ich ihr Lied. Selten täuscht sich die Drossel; unmittelbar auf ihren Gesang folgt nicht blos der Anbruch des Tages, auch eine friedliche Ruhe nach dem Kampf der Elemente.“

Die Spottdrossel ist freilich nicht fähig, ihrem Zuhörer eine erhabene Stimmung einzuflößen; aber sie erfreut ihn dafür durch ihre unübertroffene Fertigkeit, anderer Vögel Lieder nachzuahmen. „Keine Stimme, vom eigentlichen melodischen Gesang bis zum heiseren Krächzen, ist ihr unnachahmbar; sie sucht ihren Vorrath von fremden Klängen zu vermehren, studirt sie und freut sich, wenn irgend ein noch nie gehörter Ton in ihrer Nähe laut wird, weil sie Gelegenheit erhält, sich an ihm zu üben. Unterstützt von einem wunderbar biegsamen Organ, gibt sie das Gehörte nicht nur bald zurück, sondern verbessert sogar das fremde Lied, indem sie die früher vielleicht blos gezwitscherte Weise flötend absingt, ohne jedoch die Intervallen und den Rhythmus derselben zu ändern. Sie allein vertritt eine Menge anderer Sänger, denn sie läßt, ruhig auf einem Busche sitzend, die verschiedensten Gesänge aufeinander folgen. Durch sie getäuscht, lauert der Jäger auf einen Vogel, der vielleicht manche Meile in der Umgegend nicht anzutreffen ist; selbst viele Vögel lassen sich betrügen und eilen entweder herbei, wenn sie einen Lockton vernehmen, den sie ihrem Gatten zuschreiben, oder sie fliehen und verbergen sich, wenn sie den Schrei des Sperlingsfalken täuschend nachgeahmt hören.[2] Sie bringt an Orten, wo sie sich bleibend niedergelassen hat, hierdurch bald alle andern Singvögel in solche Verwirrung, daß sie zuletzt gar nicht mehr singen.“

So hat also der öde Wald noch einige anziehende Bewohner, welche sich selbst verkündigen. Sein eigentliches Stillleben aber wird uns offenbar, wenn wir einem der Flüsse in die tieferen versteckteren Gründe folgen, wie unser Künstler einen in dem umstehenden Bilde darstellt. Hier können wir, wenn wir Glück haben, die geeignetsten Vertreter seiner Thierwelt beisammen finden – den lüsternen schwarzen Bären, den geschäftigen Biber, Hochwild und Truthühner, wie auf unserm Bilde.

Als gemüthlicher Bursch greift der Bär nur im Nothfalle zur Fleischnahrung, und zieht ihr die durch Beeren, Waldfrüchte, Wurzeln und Eier entschieden vor; namentlich soll er die Eicheln sehr lieben und ihnen zu Liebe höchst geschickt die Eichen erklettern. Schade nur, daß die Verfolgungen der Trappers das gute Thier gezwungen haben, von einer Bergkette zur andern und bis in den fernsten Westen zu entfliehen. Vor Zeiten hatte er es viel besser. Die Ureinwohner betrieben zwar seine Jagd mit großem Eifer, beobachteten aber dabei manche Gebräuche, welche Petz nothwendig mit ihrer Verfolgung aussöhnen mußten. Sie baten den im gereizten Zustande sehr gefährlichen Gesellen um Verzeihung, ehe sie sich zum Kampf mit ihm und seiner Erlegung anschickten, suchten diese als Folge der Noth darzustellen, zu entschuldigen und versäumten nicht, den beleidigten Geist des getödteten Thieres durch mancherlei Faxen sich wieder zu befreunden. Die Trappers kennen so zarte Rücksichten nicht, sondern verfolgen ihn ohne Unterlaß, zumal seine Jagd nicht eben gefährlich ist, und er nur dann den Menschen angreift, wenn er verwundet wurde.

Mehr noch als auf Bären haben es die Trappers auf die Biber abgesehen, auf deren anziehendes Leben und Wirken auch wir jetzt einen Blick werfen wollen. In unserem Vaterlande dürften wir uns vergeblich nach einer eigentlichen Biberansiedlung umsehen, da sie eine sogenannte Burg nur an solchen Orten anlegen, wo sie gesellig leben. Dies ist in Europa gegenwärtig nirgends mehr der Fall.

Während sie vor Zeiten in unserem heimathlichen Erdtheil vom Guadalquivir an bis zur Petschora in allen größeren Flüssen lebten und schon von den ältesten Schriftstellern als wohlbekannte Thiere aufgeführt werden, sind sie gegenwärtig nur noch in der Rhone, der Elbe, Oder, Havel und Weichsel, in Schweden und Rußland, und zwar sehr einzeln, zu finden. Anders ist es in Nordamerika. Hier leben sie vom atlantischen bis zum großen Meere vom 68. Grad nördl. Breite an bis zum Meerbusen von Mexico in allen größeren Flüssen, welche wenig von Menschen besucht werden und nicht bis auf den Grund ausfrieren.

Blos die in größeren Gesellschaften zusammenwohnenden legen die berühmten großartigen und künstlichen Bauten an: Dämme, um das Wasser aufzustauen, und Wohnungen, Burgen, genannt. Sie nagen mit ihren meißelförmigen scharfen Zähnen dicht am Ufer stehende, wo möglich überhängende Bäume von Armstärke an bis zu zwei Fuß Durchmesser ab, immer aber von der Landseite her, damit sie in das Wasser fallen müssen, entfernen die kleineren Zweige [555] und flößen die Stämme zu einem Damme zusammen, welcher nicht selten über hundert Schritt lang gebaut und durch dazwischen geschobene Pfähle und Zweige, aufgeschüttete Steine, Erdklöße, Schlamm und Sand ziemlich wasserdicht und so fest gearbeitet wird, daß Cartwright, dem wir die beste Beschreibung dieser Bauten verdanken, sie öfters als Stege benutzen konnte. Mit der Zeit wird ein solcher Damm namentlich auch aus dem Grunde immer fester, weil die zu ihm verwendeten Holzarten großentheils solche sind, welche im Wasser wurzeln und ausschlagen.

Gewöhnlich beginnen die Biber Anfangs August den Bau ihrer Wohnung. Haben sie eine felsenfreie Uferstelle gefunden, so machen sie unter dem Wasser am Grunde des Ufers ein Loch, welches sie nach und nach schief bis an die Oberfläche des Bodens durcharbeiten. Aus der Erde, welche sie aus dem Loche nehmen und mit kleinen Holzstücken und Steinen vermischen, bilden sie einen oft 7–8 Fuß über die Oberfläche sich erhebenden eirunden kuppelförmigen Hügel von 8–12 Fuß Durchmesser, und in diesem legen sie ihre geräumige Wohnung an. Sie besteht aus einer backofenförmigen geschlossenen Kammer mit fußdicken Wänden, einem festen Dache und einem oder häufiger mehreren Gängen, welche tief unten im Flußbette endigen, sodaß sie immer unter dem Wasser aus- und eingehen. Der Boden der Kammer ist mit feinen Spänen bedeckt, welche als Ruhekissen dienen. Neben dem Mund- oder Eingangsloche befindet sich der Speicher, in welchem sie Wurzeln und Astwerk bewahren, oft in erstaunlicher Menge. Sie arbeiten bis zum Gefrieren des Wassers ununterbrochen an der Vervollkommnung ihrer Wohnung und der Einsammlung in den Speicher, und schlüpfen auch im Winter aus und ein, weshalb sie die Hauptröhre stets mindestens 8 Fuß unter der Oberfläche des Wassers münden lassen; der Damm quer durch den Fluß dient hauptsächlich dazu, dem Wasserbecken um die Burgen herum den erforderlichen Hochstand zu erhalten. Oft liegen mehrere Kammern neben einander unter derselben Kuppel; sie stehen jedoch unter sich nicht in Verbindung und jede hat ihre eignen Ausgänge. In einer Kammer führen vier, seltner acht Biber mit der doppelten Zahl von Jungen ihr höchst gemüthliches, durchaus friedliches Stillleben. Bisweilen bleiben sie drei bis vier Jahre an einer Stelle wohnen; oft aber bauen sie sich alljährlich neue Burgen. Außer ihnen besitzt jede Ansiedlung noch ihre besonderen Fluchtröhren in der Uferwand des ganzen Raumes, den sie eingenommen hat.

Im Sommer spazieren diese prächtigen Thiere auch gemächlich auf dem Lande herum, um sich die zartesten und leckersten Baumrinden frisch vom Stamme weg zu holen. Sie fressen nämlich nur Pflanzenstoffe und niemals Thiere; ein abgebissenes Aststück wird gar allerliebst zwischen den Vorderpfoten gehalten und zierlich zum Munde geführt. Nach der Mahlzeit wird wohl auch ein Schläfchen außerhalb der Burg, in einem verborgenen Busche gehalten; bei Gefahr geht es aber schleunigst dem Wasser zu. Und das schützt die drolligen Burschen hinlänglich vor den sie bedrohenden Feinden aus ihrer Classe – nur nicht vor dem Menschen. Denn dieser verfolgt den Biber des köstlichen Bibergeils und des trefflichen Pelzes wegen mit aller nur ihm möglichen Grausamkeit. Der Gewinn der Biberjagd ist so lohnend, daß sie jeder anderen vorgezogen wird.

Die Jäger haben aber nur diesen einen Gewinn im Auge. Sie übersehen den unschätzbaren, Tausende von Millionen enthaltenden Zug der Wandertauben, jener „Heringe des Luftmeeres,“ welche hoch über den Wipfeln des Waldes dahinziehen, um in einem fernen Theile desselben mehrere Millionen Scheffel Bucheckern und Eicheln zur Nahrung eines Tages einzusammeln; sie übersehen vielleicht auch die hübsche Gruppe von Truthühnern, welche auf und unter den Aesten der einen Fichte ruht. Es sind wirkliche Truthühner, die Stammeltern der unsrigen, deren Vorfahren um’s Jahr 1525 gezähmt zu uns herüber gekommen sind. Noch finden sie sich hier in ebenso großen Gesellschaften, als die Pfauen in Bengalen oder die Perlhühner in Afrika; noch sieht man allein Heerden von 10–100 „Kollerern“, alten bramarbasirenden Hähnen, zusammen und Ketten von 80–150 Stück Hennen mit ihren Jungen. Ihr Leben in der Wildniß ist sehr anziehend und spaßhaft; denn die wilden Truthähne verstehen noch besser als die zahmen die schwere Kunst, wichtig zu thun und durch leeres Poltern und Sich-Aufblasen eine gewisse, wenn auch sehr zweifelhafte Achtung sich zu erringen. Audubon gibt eine reizende Beschreibung von dem Leben dieser Prahler der allerärgsten Art. Ein Flußübergang, oder besser Ueberflug z. B. gibt tagelangen Stoff zu höchst wichtigen Berathungen und Großthuereien der alten Hähne, ihrem jungen unerfahrenen Volke gegenüber; sie kollern und schreien fast noch ärger, als die friedlichen Landleute mancher Gegenden bei ihren durch Faustschläge geregelten Versammlungen, blasen sich auf und thun, als gälte es eine Welt zu erobern, lassen aber auch wieder ein fürchterlich ernstes, beängstigendes Schweigen als wirksames Zwischenspiel eintreten und schwingen sich dann endlich auf die höchsten Bäume, um von dort aus in die neue Welt jenseits des Flusses überzuschiffen. Die jungen Laffen purzeln dabei allerdings oft in’s Wasser und müssen sich durch Schwimmen forthelfen. Die alten Herrn aber, welche wieder festes Land unter sich haben, wissen dann ihren Sieg gar nicht genug auszuposaunen. Nun darf sich aber ein schwacher Falke zeigen! O Jammer! – wie rasch verschwindet da das Selbstgefühl, der Muth, das Bewußtsein, das bramarbasirende Wesen, das Poltern etc.! Alles, Alles hat mit einem Male aufgehört, und mit Angst suchen sie das Dickicht, um sich zu verbergen.




Aus dem Leben eines genialen Prinzen.

Es war im Jahre 1792; das monarchische Europa hatte der französischen Revolution den Krieg erklärt, und Preußen dabei die Hauptrolle übernommen. Damals war Prinz Louis Ferdinand, der Neffe Friedrich des Großen, ein junger Mann von zwanzig Jahren, der den berüchtigten Feldzug oder vielmehr Rückzug aus der Champagne als Obrist eines Regiments zu Fuß mitmachte. Zufällig begegnete ihm Goethe, der im Gefolge des Herzogs von Weimar sich befand.

„Wir trafen auf einen Husarenposten“ – erzählt der Dichter – „und sprachen mit dem Officier, einem hübschen jungen Mann. Die Kanonade war weit über Grandpré hinaus und er hatte Ordre, nicht vorwärts zu gehen, um nicht ohne Noth eine Bewegung zu verursachen. Wir hatten uns lange besprochen, als Prinz Louis Ferdinand mit einigem Gefolge ankam, nach kurzer Begrüßung und Hin- und Wiederreden von dem Officier verlangte, daß er vorwärts gehen solle. Dieser that dringende Vorstellungen, worauf der Prinz nicht achtete, sondern vorwärts ritt, dem wir dann Alle folgen mußten. Wir waren nicht weit gekommen, als ein französischer Jäger sich von fern sehen ließ, an uns bis auf Büchsenschußweite heransprengte und sodann umkehrend wieder verschwand. Ihm folgte der zweite, dann der dritte, welche ebenfalls wieder verschwanden. Der vierte aber, wahrscheinlich der erste, schoß die Büchse ganz ernstlich auf uns ab, man konnte die Kugel deutlich pfeifen hören. Der Prinz ließ sich nicht irren, und jene trieben auch ihr Handwerk, so daß mehrere Schüsse fielen, indem wir unsern Weg verfolgten. Ich hatte den Officier manchmal angesehen, der zwischen Pflicht und zwischen dem Respect vor einem königlichen Prinzen in der größten Verlegenheit schwankte. Er glaubte wohl in meinen Blicken etwas Teilnehmendes zu lesen, ritt auf mich zu und sagte: „Wenn Sie irgend etwas auf den Prinzen vermögen, so ersuchen Sie ihn, zurückzugehen, er setzt mich der größten Verantwortung aus; ich habe den strengsten Befehl, meinen angewiesenen Posten nicht zu verlassen, und es ist nichts vernünftiger, als daß wir den Feind nicht reizen, der hinter Grandpré in einer festen Stellung gelagert ist. Kehrt der Prinz nicht um, so ist in Kurzem die ganze Vorpostenkette allarmirt, man weiß im Hauptquartier nicht, was es heißen soll, und der erste Verdruß ergeht über mich ganz ohne meine Schuld.“

„Ich ritt an den Prinzen heran und sagte: „Man erzeigt mir soeben die Ehre, mir einigen Einfluß auf Ihre Hoheit zuzutrauen, deshalb ich um geneigtes Ohr bitte.“ Ich brachte ihm darauf die Sache mit Klarheit vor, welches kaum nöthig gewesen wäre, denn er sah selbst Alles vor sich und war freundlich genug, mit einigen guten Worten umzukehren, worauf denn auch die Jäger verschwanden und zu schießen aufhörten. Der Officier dankte mir auf’s [556] Verbindlichste, und man sieht, daß ein Vermittler überall willkommen ist.“

Der Rückzug führte den Prinzen nach Frankfurt a. Main, wo er sich für die Strapazen des Krieges in seiner gewohnten Weise schadlos hielt, bald ein interessantes Liebesabenteuer verfolgend, bald am Spieltisch das Glück und seine Launen herausfordernd. Mitten in diesem Taumel von Zerstreuungen und Vergnügen brach aber immer wieder seine edlere, künstlerisch geniale Natur hervor. Viele Stunden widmete er vorzugsweise der Musik; er selbst war ein vollendeter Virtuose auf dem Clavier, und seine Compositionen tragen den Stempel der höheren Weihe und eines nicht gewöhnlichen Talents. Musiker, Liebhaber und Virtuosen drängten sich an ihn, suchten und fanden bei ihm Aufmunterung und Unterstützung in einem Maße, das seine Humanität oft in überraschender Weise bekundete. Ein heruntergekommener Virtuose wandte sich in Frankfurt an ihn; der Prinz konnte ihm nicht ausreichend helfen, da fiel er plötzlich auf einen Ausweg.

„Kündigen Sie an, daß ich eine Claviersonate in Ihrem Concerte spielen werde,“ rief er, und der Erfolg überstieg jede Erwartung, da die ganze Stadt natürlich voll Neugierde herbei strömte, um das seltsame Schauspiel zu genießen, einen preußischen Prinzen in einem öffentlichen Concerte zu bewundern.

Im folgenden Jahre wurde der Feldzug gegen die Franzosen fortgesetzt. Der Prinz war bei dem Heere und seine Anwesenheit wurde durch zwei Thaten der edelsten Menschlichkeit bezeichnet. Bei der Belagerung von Mainz war ein Vorspannsbauer im Gedränge vom Pferde gesunken, und ein Packwagen ihm über den Fuß gefahren. Die Leute umstanden zwar den Unglücklichen, ohne ihm jedoch die dringend nöthige Hülfe zu bringen. Da eilte der Prinz, welcher an seinem Fenster den Vorfall beobachtete, schnell hinab, hob den armen Bauer auf seine Schultern, trug ihn auf sein Bett und ließ ihn bis zu seiner Wiederherstellung verpflegen.

Zwei Monate später fand ein Gefecht zwischen österreichischen Plänklern und dem Feinde statt, der diesen scharf zusetzte. Prinz Louis war zugegen, und sah durch die wohlgezielten Schüsse der Franzosen manchen wackeren Kämpfer fallen. Ein Soldat vom Regimente Pellegrini wurde im Zurückweichen getroffen und sank; im Fallen bat er seine Cameraden flehentlich, ihn doch mitzunehmen. Keiner hörte ihn, da der Feind immer näher rückte, der Prinz ermunterte die Nächsten, den Verwundeten zu retten, und bot sogar eine ansehnliche Summe, aber Niemand wollte sich der Gefahr aussetzen, sein Leben oder im besten Falle seine Freiheit zu verlieren. Da entschließt sich Louis, schreitet kühn im Kugelregen bis zu dem Verwundeten, packt ihn im Angesicht des Feindes mit seinen starken Armen auf und bringt ihn glücklich herüber, obgleich alle Schüsse auf ihn gerichtet wurden. Die That erregte das größte Aufsehen, die Oesterreicher nannten mit Begeisterung den Namen des Prinzen, und der gemeine Soldat jauchzte ihm zu, wo er sich zeigte.

Der Krieg nahm für die Verbündeten bekanntlich eine unglückliche Wendung und Preußen sah sich genöthigt, den Frieden zu Basel mit Frankreich zu schließen. Der Prinz war mit diesem Ausgange im höchsten Grade unzufrieden und sprach in diesem Sinne unverhohlen und oft in starken Ausdrücken seine Meinung aus. Der Frieden wirkte nicht vortheilhaft auf seine feurige Natur, welche ohne Beschäftigung nur allzuleicht auf Abwege gerieth und von dem Strudel der damals herrschenden Frivolität sich hinreißen ließ. Er trug alle Keime eines großen Mannes in sich, aber die Zeit und der Boden waren nicht zu ihrer Entwickelung günstig. Die gehemmte Thatkraft des Prinzen machte sich in Ausschweifungen aller Art, besonders in sinnlichen Zerstreuungen Luft, aber selbst in seinen Leidenschaften behielt seine bessere Natur stets die Oberhand. Nach einer durchschwelgten Nacht kehrte er zu seinen wissenschaftlichen Studien, am liebsten zur Musik zurück. Alle edlen Gefühle und tiefen Empfindungen, deren er vollkommen fähig war, drückte er in freien und kühnen Phantasien aus, eine stille Einkehr in seine Seele haltend.

Die ungeordnete Lebensweise des Prinzen mußte um so mehr auffallen, da das junge Königspaar, Friedrich Wilhelm der Dritte und die unvergeßliche Louise, als das Vorbild häuslicher Tugend und reinster Sitte erschien. Zu allerlei ärgerlichen Geschichten, die von der geschäftigen Fama noch schlimmer gemacht wurden, als sie an und für sich schon waren, kamen noch Schulden, und zwar in einer kaum zu bewältigenden Höhe, hinzu. Der Prinz war von Natur freigebig, großmüthig, sorglos, zum Aufwande geneigt, weder voraus- noch nachrechnend. Seine Gläubiger drängten ihn, und der haushälterische Vater gab nur eine verhältnißmäßig geringe Zulage; außerdem überließ diesem der Sohn die ihm zugefallene bedeutende Erbschaft seines Oheims, des Prinzen Heinrich, zur lebenslänglichen Verwaltung, als er gesehn, daß der ihm dadurch bewiesene Vorzug den Vater kränke. Da das Beispiel des Prinzen verführerisch auf den Kreis der jüngeren, ohnehin zum Uebermuth und zur Verschwendung geneigten Officiere wirkte, die sich ihm anschlossen und in ihm ihr glänzendes Vorbild verehrten, so empfing Louis den Befehl, Berlin zu verlassen und bei seinem Regimente in Magdeburg zu bleiben. Hier besuchte er einmal mit einer ganzen Gesellschaft die Vorstellung englischer Reiter und gab, als der Teller zum Sammeln umherging, für sich und seine Begleitung ein Goldstück, was den Umständen nach weder zu viel noch zu wenig sein mochte. Ein kleiner elegant gekleideter Kaufmann, der dicht dabei stand, wollte die Gelegenheit, den königlichen Prinzen zu überbieten, nicht vorüberlassen und legte mit auffallender Art zwei Goldstücke auf den Teller. Ein Begleiter des Prinzen machte diesen auf das Benehmen des kleinen Kaufmanns aufmerksam; der Prinz aber zog den Hut sehr höflich ab und sagte mit einem lachenden Blick auf das Gold, gleichsam betroffen: „O, davor habe ich den größten Respect!“

Dieser unfreiwillige Aufenthalt in Magdeburg hielt indeß den Prinzen nicht ab, von Zeit zu Zeit wieder nach Berlin zurückzukehren. Dort war ein neues geistiges Leben und eine Geselligkeit im höheren Sinne aufgeblüht. Männer wie Gentz, die Brüder Friedrich und August Schlegel, Schleiermacher, Fichte, Bernhardi traten mit den kühnsten Meinungen über Kunst und Wissenschaft hervor. Der Prinz nahm an ihren Bestrebungen den lebhaftesten Antheil, lernte sie meist persönlich kennen und fühlte sich mächtig von dieser geistigen Bewegung angezogen. Später kam noch der berühmte Geschichtsschreiber Johannes von Müller hinzu, der in einem Briefe an eine Dame folgendes Urtheil über den Prinzen fällt: „Ich habe ein langes Gespräch mit dem Prinzen Louis gehabt. Ich war überhaupt sehr davon bezaubert: er ist einer der schönsten Männer; er weiß mehr, als ich erwartete; er hat viel Geist und Energie, ganz gewiß. Er ist ein Mann, der in Zeiten der Noth dem Könige und dem Staate solche Dienste leisten wird, wie der große Friedrich sie von Heinrich erfuhr; er hat unendliche Hülfsmittel in sich; möchte er nur stets von Leuten umgeben sein, die für den König und das Vaterland wie ich denken; dies ist ein wichtiger Punkt bei einem Charakter wie der seine; Wissen und Geist haben großes Gewicht bei ihm, und ich würde nie glauben, daß er irgend etwas unternähme, was er von Personen mißbilligt sähe, deren Zustimmung ihm Werth wäre.“ Auch mit Schiller trat der Prinz bei der Anwesenheit des Dichters in Berlin in ein näheres Verhältniß; er behandelte ihn mit Auszeichnung und zog ihn zu Tisch.

Gern verweilte der Prinz auf seinem ihm zugehörigen Gute Schricke, unweit Magdeburg an der Elbe gelegen, wo er sich mit der Jagd belustigte. Diese betrieb er nicht, wie manche große Herren, als eine vornehme Beschäftigung, als eine fürstliche Reservatfreude, sondern mit freiem Behagen, wie eine heitere Anstrengung, wobei an Geschicklichkeit im Rennen, Reiten und allen dazu gehörigen Fertigkeiten es ihm der Geübteste und Fertigste nicht vorthat. Hier wurden Säue abgefangen und der edle Hirsch gehetzt. Nach der Jagd versammelten sich Freunde und Bekannte zum frohen, geistreichen Mahle, wobei auch die Frauen nicht fehlen durften. Das Mahl wurde im antiken Sinne durch geistreiche Gespräche und Musik gewürzt und oft bis in die späte Nacht verlängert. Neben dem Prinzen stand ein Piano. Eine Wendung, und er fiel in die Unterhaltung mit Tonaccorden ein, die dann der Capellmeister Dussek, der immer in seiner Umgebung lebte, auf einem andern Instrumente weiter fortführte. So entstand oft zwischen Beiden ein musikalischer Wettkampf, ein musikalisches Gespräch konnte man es nennen, das alle durch Worte angeregte Empfindungen der Seele in bezaubernden Tönen lebhafter fortklingen ließ.

Im Frühjahr 1804 kam Frau von Staël, die berühmte Schriftstellerin, nach Berlin. Prinz Louis war täglich mit ihr zusammen und Beide zogen sich gegenseitig an. Beide fanden vielfache Berührungspunkte, besonders in ihrem Urtheil über Napoleon, der damals zwar die Welt mit seinem Ruhm erfüllte, aber auch bereits seinen herrschsüchtig egoistischen Charakter immer offener entwickelte. Der Prinz sagte einst von ihm:

[557] „Ich erlaube ihm, zu tadeln, aber moralisch zu meuchelmorden, das empört mich.“

Die Staël wohnte auf dem Kai der Spree, und ihre Zimmer lagen zur ebenen Erde. Eines Morgens um acht Uhr wurde sie von ihren Leuten mit der Meldung geweckt, daß der Prinz zu Pferde unter ihrem Fenster halte und sie zu sprechen wünsche. Sehr erstaunt über diesen frühen Besuch, eilte sie aufzustehen und sich anzuziehen. Sie fand ihn, das edle Gesicht voll Schmerz und Entrüstung.

„Wissen Sie,“ rief er ihr vom Pferde zu, „daß der Herzog von Enghien im badischen Gebiete aufgehoben, einem Kriegsgerichte übergeben und vierundzwanzig Stunden nach seiner Ankunft in Paris erschossen worden ist?“

„Welche Thorheit!“ erwiderte sie ungläubig. „Sehen Sie nicht, daß nur die Feinde Frankreichs ein solches Gerücht ausstreuen?“

„Da Sie zweifeln,“ versetzte der Prinz, „so werde ich Ihnen den Moniteur schicken, wo Sie das Urtheil lesen werden.“

Mit diesen Worten sprengte er fort, und der Ausdruck verkündete Tod und Rache dem verhaßten Usurpator.

Immer ernster wurden die Zeiten und die Lage Preußens immer verwickelter; der König konnte sich seinem bedächtigen Charakter gemäß zu keinem kühnen Schritt entschließen und neigte, von seiner ganzen Umgebung mehr oder minder bestärkt, zum Frieden, während Prinz Louis vor Allem ein entschiedenes Handeln forderte.

„Aus Liebe zum Frieden,“ sagte er in einem Gespräche mit Friedrich Wilhelm dem Dritten, „nimmt Preußen gegen alle Mächte eine feindliche Stellung ein und wird einmal in derselben von einer Macht schonungslos überflügelt werden, wenn dieser der Krieg gerade recht ist. Dann fallen wir ohne Hülfe und vielleicht auch gar noch ohne Ehre.“

Er hatte nur zu wahr gesprochen, aber dem Propheten glaubte man nicht. Derartige Reden waren nur dazu angethan, die Kluft zwischen diesen beiden ohnehin so verschiedenen Naturen zu erweitern. Die Feinde des Prinzen beschuldigten ihn wegen seiner oft unüberlegten Worte geradezu der Rebellion und bestärkten nur die Abneigung und das Mißtrauen des Königs, welches dieser ohnehin gegen alles „Genialische“ empfand.

Unterdeß trat Napoleon auch Preußen gegenüber in einer Weise auf, die früher oder später einen Zusammenstoß befürchten ließ. Die Gelegenheit war günstig; Rußland, Oesterreich und England hatten ein neues Bündniß im Frühjahr 1805 gegen die drohende Macht des Welteroberers geschlossen und Preußen zur Theilnahme aufgefordert. Die Verletzung des preußischen Gebietes durch französische Truppen in Franken wurde vom Könige, so wie von dem ganzen Volke mit allgemeiner Entrüstung aufgenommen. Die Kriegspartei, an deren Spitze der Prinz Louis stand, jubelte; das Heer wurde auf den Kriegsfuß gesetzt und mobil gemacht; aber der König und besonders seine Umgebung hofften noch immer, die Ehre Preußens auf diplomatischem Wege durch Verhandlungen und Zögern mühsam zu wahren. Der charakterlose Graf Haugwitz, der zu Frankreich neigte und besonders von Napoleon sich durch einige wohlangebrachte Schmeicheleien bestechen ließ, wurde in das Hauptquartier des Kaisers abgesendet. Beim Abschiede fragte er den Prinzen hämisch triumphirend: „Haben Ew. Königliche Hoheit keine Befehle für mich nach Wien?“ Mit Würde antwortete der Prinz: „Herr Graf, hätte ich Befehle zu geben, Sie würden sie nicht überbringen.“

Das preußische Heer rückte ins Feld, doch hielten die siegreichen Fortschritte Napoleon’s in Oesterreich dasselbe in seinem Laufe auf. Prinz Louis Ferdinand war bei den Truppen in Sachsen und traf hier mit dem Herzog von Weimar und auch mit Goethe wieder zusammen. Diesmal kam er dem Dichter näher und er schrieb darüber an seine Geliebte aus Gera nach Berlin: „Ich habe nun Goethen wirklich kennen gelernt; er ging gestern noch spät mit mir nach Hause, und saß dann vor meinem Bette, wir tranken Champagner und Punsch, und er sprach ganz vortrefflich! Endlich deboutonnirte sich seine Seele; er ließ seinem Geiste freien Lauf; er sagte viel, ich lernte viel, und fand ihn ganz natürlich und liebenswürdig.“ Der Herzog von Weimar erzählte viele Jahre später noch gern diese Zusammenkunft; er selber hatte sich früh zurückgezogen, „die Andern aber tranken die ganze Nacht ungeheuer viel,“ sagte er, „um die Wette, und Goethe blieb nichts schuldig, er konnte fürchterlich trinken!“

Unterdeß hatte Graf Haugwitz im französischen Hauptquartiere mit Napoleon neue Verträge geschlossen, welche der zum Kriege geneigten Partei alle Hoffnung darauf benahmen und außerdem einen für Preußen höchst bedenklichen Ländertausch enthielten. Die Armee kehrte ohne einen Schwertstreich zurück; Scham und Ingrimm erfüllte die Gemüther. Niemand war jedoch mehr über diesen Ausgang empört, als Prinz Louis. Aus diesem vereitelten Feldzuge kam er nach Halle und aß bei dem Capellmeister Reichardt in Giebichenstein, der, wie er selber, Napoleon von ganzer Seele haßte. Um recht auszudrücken, wie schmachvoll für die Deutschen die Allgewalt des Usurpators sei, that der Prinz bei Tisch die charakteristische Aeußerung: „Ja, wenn Bonaparte einmal ein Gericht Prinzenohren haben will, so sind meine“ – und er faßte sich an beide – „in Gefahr, denn bekommen wird er sie!“

In Berlin war die Verstimmung am heftigsten und lautesten. Dem zurückgekehrten Haugwitz wurden die Fenster eingeworfen, dagegen dem Minister Hardenberg, welcher entgegengesetzten Ansichten folgte und darum für einige Zeit aus dem Staatsdienste scheiden mußte, von der kriegerisch gesinnten Jugend und besonders von den tonangebenden Officieren des Regiments Gensd’armen fast jeden Abend in auffallender Weise Ständchen durch Militairmusik gebracht. Der Prinz lebte seit seiner Rückkunft von der Armee zurückgezogen, er schien weit ernster geworden zu sein. Er schloß sich jetzt vorzugsweise enger an Männer einer festen Richtung an. Dazu gehörte vor Allen der Minister Stein, den der Prinz öfters sah. Was in jener Zeit den Geist des Prinzen beschäftigte, traf in Stein auf anklingende Saiten; bei Gleichheit der Ansichten und Gefühle fehlte es an wohlthuenden Berührungspunkten nicht, und bald erwachte in ihm eine Achtung und ein Zutrauen für den Minister, die der eines Jüngers gegen den Meister zu vergleichen war. Auch zu dem Könige trat er wieder in ein minder gespanntes Verhältniß; durch die Bemühungen der Königin Louise, welche ihre Blicke auf die äußere Lage Preußens richtete, war es gelungen, eine Versöhnung zwischen diesen sich schroff gegenüberstehenden Charakteren herbeizuführen. Der Prinz bezog eine Sommerwohnung in Moabit bei Berlin. In dieser Villa waren Johannes von Müller und Humboldt sehr oft gesehene Gäste; auch an Frauen fehlte es nicht, welche die Geliebte des Prinzen, Madame Wiesel, eben so schön als originell, um sich versammelte. Hier traf man auch die geistreiche Rahel, welche der Prinz überaus hochschätzte und die ihm trotz ihrer jüdischen Abkunft und ohne hervorstechende körperliche Reize die innigste Freundschaft abzugewinnen wußte, welche Beiden in gleicher Weise zur Ehre gereichte. Trotz seiner Sinnlichkeit vermochte der Prinz die wahre Weiblichkeit mit echt ritterlichem Sinne zu ehren, wo er sie auch immer finden mochte. Dafür legte seine wahrhaft poetische Liebe Zeugniß ab, die ihn an Emilie von Rauch, ein liebenswürdiges Mädchen in Berlin, kettete. Wären die Briefe vorhanden, die er ihr geschrieben, man würde die Rosenjahre der Liebe aus den Zeiten des Mittelalters darin finden; leider wurden sie alle der armen Emilie, die bald nach dem Tode des Prinzen starb, auf die flehende Bitte der Verscheidenden in das frühe Grab gelegt.

Durch die geschlossenen Verträge wurde Preußens Lage nur noch bedenklicher, Napoleon verfuhr mit einer Willkür und Hinterlist, welche nothwendiger Weise den bis dahin verschobenen Krieg zum Ausbruch bringen mußte; er traf diesmal Preußen allein, ohne Bundesgenossen, ohne Vorbereitung. Man pochte aber auf den alten Ruhm der preußischen Waffen, auf den Namen des großen Friedrich, nachdem sein Geist längst mit ihm verschwunden war. Altersmüde, unfähige Feldherren oder Führer, welche auf der Parade ihre Lorbeern und ihren Rang erworben hatten, standen dem Genie eines Napoleon gegenüber, der in unzähligen Schlachten sein Uebergewicht den ältesten und mächtigsten Monarchien bewiesen hatte. Das preußische Heer war trefflich ausgerüstet und dressirt, aber keineswegs den Soldaten der Revolution gewachsen, welche in jugendlicher Kraft und Begeisterung unter einem solchen Genius von Sieg zu Siege flogen. Dazu kam die größte Selbstüberschätzung, Sorglosigkeit und Nichtachtung des gewaltigen Feindes von Seiten der preußischen höheren und unteren Officiere. Prinz Louis, wenn auch von gleicher Kampfbegier wie früher beseelt, war doch weit entfernt, den blinden Wahn der Seinigen zu theilen.

„Ich wünsche den Krieg,“ sagte er bei dieser Gelegenheit, „weil er das Einzige ist, was uns übrig bleibt, weil die Ehre ihn fordert; aber ich weiß sehr gut, daß wir auch unterliegen können.“

Zu denen, welche eine allzu große Zuversicht in den Ausgang [558] des bevorstehenden Krieges setzten, gehörte seine eigene Mutter, Prinzessin Ferdinand, welche alles Preußische für unerschütterlich hielt.

„Liebe Mutter,“ erwiderte er bei einer ähnlichen Aeußerung, „denken Sie denn, das könne niemals anders sein, es werde immer getrommelt werden, wenn Sie aus dem Thore fahren? Sie fahren einmal spazieren, und es wird nicht getrommelt, glauben Sie mir’s!“

Solche Befürchtungen sprach er mehrfach unumwunden aus; auch sorgte er, bevor er in das Feld rückte, für seine Kinder Louis und Blanche und deren Mutter, eine Demoiselle Fromm, ein sanftes Mädchen, das ihm mit wahrer Liebe ergeben war, obgleich sie in geistiger Beziehung ihm nicht genügen konnte. Auch auf seine zahllosen Gläubiger war er bedacht, und suchte wenigstens die Berechtigung ihrer Ansprüche festzustellen.

Er hatte die Bestimmung erhalten, auf dem linken Flügel des Heeres die Vortruppen anzuführen. In Leipzig traf er mit den Generalen Blücher und Rüchel zusammen, den tüchtigsten und ruhmvollsten des ganzen Heeres, mit denen er einen Todesbund einging, der sich für ihn nur allzuschnell erfüllen sollte. Von seiner damaligen Stimmung legt ein Brief an Rahel von Varnhagen aus Leipzig vom 11. September 1806 das beste Zeugniß ab.

„Heute,“ schreibt ihr der Prinz, „haben wir hier ein Rendezvous der verschiedenen Avantgarde-Chefs gehabt, der Generale Blücher und Rüchel und mir, der die des linken Armeecorps commandirt; morgen geht Jeder zu seiner Bestimmung ab. Ein Wort gaben wir uns Alle, ein feierliches, männliches Wort, und gewiß soll es gehalten werden – bestimmt das Leben daran zu setzen, und diesen Kampf, wo Ruhm und hohe Ehre uns erwartet, oder politische Freiheit und liberale Idee auf lange erstickt und vernichtet werden, wenn er unglücklich wäre, nicht zu überleben! Es soll so gewiß sein! Der Geist der Armee ist trefflich und würde es noch mehr sein, wenn mehr Bestimmtheit und erregende Kraft in der Politik wäre, und mehr fester Wille die schwachen und schwankenden Menschen bestimmte! – Was ist dieses erbärmliche Leben? Nichts, auch gar nichts! – Alles Schöne und Gute verschwindet, erhaben ist das Schlechte, und die traurige Erfahrung reißt unbarmherzig alle schönen Hoffnungen von unseren Herzen! So muß es in diesem Zeitalter sein, denn so erstarken auch alle schönen und menschenbeglückenden Ideen! Nur das Erbärmliche blieb, nur dies siegt – warum also beklagen, wenn im Kleinen geschieht, woran ein ganzes Zeitalter leidet!“

Auch mit Goethe traf der Prinz noch einmal zusammen, der ihn „nach seiner Art tüchtig und freundlich“ fand, und in seinen Schriften dieser Begegnung gedenkt. Das Hauptquartier des Fürsten Hohenlohe, zu dessen Heeresabtheilung der Prinz gehörte, befand sich in Jena. Hier mußte er die Entscheidung des Kriegsrathes, der in Erfurt abgehalten wurde, mit banger Ungeduld erwarten. Der Fürst kam in der Nacht von Erfurt zurück, und hatte eine zweistündige Unterredung mit dem Prinzen, worin diesem die vollkommene Planlosigkeit des ganzen Feldzuges und die Rathlosigkeit der Führer klar wurde. Seitdem war alle seine Munterkeit dahin, seine Hoffnung und sein Vertrauen verschwanden, seine einzige Furcht war, die Gelegenheit zum Kampf und zum Tode zu versäumen. Er hatte festen Sinnes die Würfel über sich geworfen. Er ging zu seinen Truppen nach Rudolstadt, wo die fürstliche Familie seine Ankunft mit einem Ball und Mahle im Schlosse feierte. Zum letzten Male überließ sich der Prinz seiner Lebenslust; er war heiter und liebenswürdig. Die geistreiche Fürstin forderte ihn auf, eine Probe seines musikalischen Talents zu geben; er setzte sich an das Clavier und spielte noch zum Entzücken und zur Bewunderung seiner Zuhörer über eine Stunde im freien Laufe der Gedanken auf dem Piano. Das war sein Schwanengesang!

Drei Tage später drängten die französischen Vortruppen unter Marschall Lannes die preußischen Posten bei Saalfeld. Bei der ersten Nachricht eilte der Prinz mit sechstausend Mann auf den Kampfplatz. Er führte die Reiter in’s Gefecht, gesellte sich zum Fußvolke, ritt unter den Schützen umher, entwickelte eine eben so große Thätigkeit als Besonnenheit, die man ihm nicht zugetraut hatte. Seine Reiterei konnte die immer stärker andringenden feindlichen Massen nicht abhalten; die vom Fürsten Hohenlohe erwartete Unterstützung kam nicht. Der Prinz wollte nicht zurück, und ordnete auf einer Wiese die versprengten Jäger zum neuen Kampfe, während die Franzosen heranrückten. Vergeblich stemmte sich der Prinz der Flucht entgegen; er ward zuletzt mit hineingerissen.

Um nicht in Gefangenschaft zu gerathen, wandte auch er sein sonst treffliches Roß, das diesmal versagte und beim Uebersetzen über einen Zaun, unweit des Einganges von Wöhlsdorf, an einem Fuße hängen blieb. Ein ansprengender französischer Husar versetzte in diesem Augenblick dem Prinzen einen tiefen Hieb in den Hinterkopf; zugleich stürzte ein französischer Wachtmeister vom zehnten Husarenregiment, Namens Guindé, auf ihn los, und, rief ihm zu, sich zu ergeben. Der Prinz antwortete durch einen Säbelhieb, empfing aber dafür einen tödtlichen Stich in die Brust. Noch hielt er sich einen Augenblick zu Pferde, gestützt von seinen herbeigeeilten Adjutanten, dem Hauptmann von Valentini und dem tapferen Nostiz, der auch schon einen Hieb in den Arm erhalten hatte. Der Feind drängte immer heftiger nach. Der Prinz schwankte, sank; Nostiz fing ihn auf, aber schon verhauchte er sein Leben. Jetzt galt es die eigene Rettung, dem Todten war nicht mehr zu helfen. Gegen den Leichnam wütheten indeß noch die feindlichen Husaren, und man fand ihn nackt, ausgeplündert, von dreizehn Hieb- und Stichwunden zerfetzt. Seine Leiche wurde von den Franzosen nach Saalfeld gebracht und daselbst in der Fürstengruft beigesetzt. Die Herzogin von Coburg schmückte den Sarg mit einem Lorbeerkranz.

So starb der Prinz, ohne den Tag von Jena und die darauf folgende Schmach zu sehen, aber eben so wenig durfte er die Erhebung seines Vaterlandes und den großen Kampf der Deutschen gegen Napoleon mit erleben. Er hätte sicher in den Befreiungskriegen eine hervorragende Stellung eingenommen. Durch Geburt, Geist und körperliche Schönheit erinnert er an den göttergleichen Achill, der, ebenfalls von dem Ungestüm der Leidenschaften beherrscht, nicht den Tag erlebte, wo die hohe Feste Priam’s fiel, während der besonnene Odysseus, freilich erst nach manchen Kämpfen und Leiden, glücklich und geläutert als Sieger heimkehrte in das theure Vaterland.

M. R. 




Die Prairien.
Erlebnisse eines deutschen Flüchtlings von C. B.
(Schluß.)


„Um Gottes Willen, Harry, gib her! Zu Pferde, Harry!“

Diese Worten rissen ihn aus seiner Entzückung. Im Nu saß die Arme vor mir im Sattel und Harry zu Pferde.

Harry mußte dem Mädchen wie ein Engel, vom Himmel zu ihrer Rettung gesandt, erschienen sein. Sie streckte noch immer die Arme nach ihm aus.

„Ist noch Jemand in der Hütte?“ fragte ich Harry.

Sie hatte meine Frage verstanden und schüttelte mit dem Kopfe.

Nun hieß es, alle Aufmerksamkeit auf unsere Umgebung richten. Unsere Aufgabe war um Vieles leichter geworden. Schon stürmten die Wilden heran. Ben und Dick hatten nach beiden Seiten hin Kehrt gemacht, ihr donnerndes „Zurück!“, ihre Büchsen im Anschlage machten die Vordersten stutzen. Aber die zottigen wilden Hunde der Comanches stürmten voran. Ein Pfiff brachte unsere Hunde ihnen gegenüber, und diese hatten sich schon so bei ihnen in Respect gesetzt, daß sie in gehöriger Entfernung blieben. Später deckten uns unsere klugen Thiere den Rücken.

Die Fluth der Krieger rechts und links staute immer höher, schon erschienen einige im Hintergrunde zu Pferde.

„Fertig!“ rief Harry.

„Vorwärts! Wir folgen!“ antwortete Ben, und unsere Pferde, dicht geschlossen, sprengten gerade zwischen Ben und Dick hindurch, die uns unmittelbar folgten.

Die Wilden hatten einen Angriff thalauf- oder thalabwärts erwartet, denn es war eine Unmöglichkeit für uns, die Thalwand zu erklimmen, oder gar sie zu erreiten. Als sie uns geradeaus sprengen sahen, kam Leben in beide Haufen. In ihrer Wuth eilten sie vorwärts, stießen auf diese Weise aufeinander, und wir erhielten [559] einen neuen Vorsprung. Wir waren schon im Gebüsch verschwunden, als Conanha erschien und die Führung übernahm. Nur wenige Augenblicke hielt die Furcht vor einem Hinterhalte sie ab, in das Gebüsch zu dringen. Wir hörten sie uns folgen, als wir den Abhang hinauf ritten. Vielleicht wäre es uns möglich gewesen, den Weg in das Thal zu gewinnen, denn erst jetzt hörten wir die Befehle, das Thal zu besetzen. Wir eilten in die Höhle hinein. Bald folgten Dick und Ben, die rasch von den Pferden sprangen. Kaum daß unsere Hunde hinein konnten, so war der Eingang schon mit Baumstämmen, die zur Seite lagen, verwahrt, und der zuerst erscheinende Indianer kollerte nach einem Stoße vor die Brust den Abhang hinunter und belehrte die andern, wo wir waren und was ihrer wartete. Ein Wuthgeschrei war die Antwort.

Wir hatten die Pferde in die zweite Höhle geführt, die im Winkel an die erste anstieß, so daß wir vor den Kugeln, die vielleicht in die erste Höhle sich verirren konnten, vollkommen gesichert waren, und hatten Ben und Dick die Sorge für unsere Vertheidigung überlassen.

In Sicherheit waren wir, aber wir waren gefangen. Ein unbehagliches Gefühl überschlich mich. Ich ging zur Ben und Dick; Harry war mit dem jungen Mädchen beschäftigt. Er bereitete für sie ein Lager von unsern Decken, und sie half ihm.

Ben legte den letzten Balken auf, und Dick schob Querriegel vor. Obgleich man es den Balken nicht ansah, waren sie genau aufeinander gepaßt und zubereitet.

„Wärst Du im Winter gekommen, mein Junge,“ sagte Dick, „Du hättest nach der Höhle suchen sollen. Nun noch ein Steinhaufen davor, und keine Rothhaut spürt uns. Dies ist genug zur Abwehr.“

Wir gingen zurück.

„Nun sollt ihr auch den Dachsbau kennen lernen!“ sagte Dick. Er ging in den Hintergrund der Höhle und räumte dort die Steinmassen bei Seite. Die Strahlen der scheidenden Sonne leuchteten uns entgegen, und bald hatte er eine so große Oeffnung klar gemacht, daß bequem ein Pferd durchschreiten konnte. Wir gingen durch sie abwärts in eine dritte Höhle, die uns durch eine Oeffnung eine freie Aussicht in das Thal gewährte.

„Dies ist unser Staatszimmer!“ sagte lächelnd Ben, und auf die bequemen Bänke von Büffelhaut deutend, fügte er hinzu: „Für unsere Dame!“

„Geht nicht zu nahe an das Loch!“ warnte Dick. „Es kann keine Rothhaut hinein, denn hier geht es steil wie eine Mauer hinab, aber eine Kugel könnte doch ihren Weg hinein finden. Dies ist Ben’s Arbeit! Und nun kommt weiter, noch greifen die Wilden nicht an, und ihre Ankunft melden die Hunde. Wir müssen auch die Pferde versorgen!“

Wir folgten ihm in den Hintergrund. Ein neuer bequemer Gang führte uns bergab. In der Ferne hörten wir leise Töne.

„Nun still!“ flüsterte Dick. „Vorsicht ist immer gut. Wir sind sogleich am Boden.“

Der Gang öffnete sich, und wir traten in einen matt erleuchteten Raum. Vom Boden aufwärts kam die Beleuchtung, und an den zitternden Strahlen bemerkte ich, daß sie durch Wasser ging. Als sich unser Auge gewöhnt hatte, erkannten wir, daß wir in einer jener merkwürdigen Höhlen waren, die sich im Kalkgebirge finden. Leise tröpfelte das Wasser hier und da auf die wunderlichsten Tropfsteingebilde und vereinigte sich mit einer ziemlich starken Quelle, die sich in ein mächtiges Becken ergoß und bei ihrem Abflusse einen ziemlich breiten Canal ausfüllte.

„Ihr denkt, wir sind gefangen?“ sagte Dick lachelnd, „wir könnten’s aushalten, dann an getrocknetem Fleisch ist Vorrath da schon für den Winter, aber seht!“ er fuhr mit einem Stabe in das Wasser, „der Canal ist tief genug, um einen Weg abzugeben für Roß und Reiter. Und hier,“ fuhr er fort, „mit diesem Balken öffne ich den Canal, durch den das Wasser abfließt. Es ist Ben's Meisterstück!“

Harry hatte mit großem Interesse Alles beobachtet.

„Wenn nur kein Blut geflossen wäre, so hätte ich noch Hoffnung, daß wir in Frieden scheiden könnten!“ sagte er. „Jetzt müssen wir uns schon in Geduld fassen; und lange können uns die Comanches nicht belagern, wollen sie nicht ihren ganzen Raub gefährdet sehen.

„Blut geflossen?“ fragte Ben. „Die Bisse unserer Hunde haben kaum die Haut geritzt! Ich fürchte die Eitelkeit des Häuptlings. Seine Ehre steht auf dem Spiele, und er will das Mädchen gern haben!“ fügte er leise hinzu, denn wir waren schon wieder aufwärts gestiegen, und in der dritten Höhle kam uns die Fremde entgegen.

„Aber der Indianer, den Dick erschoß?“ fragte Harry.

„Ich habe ihm nur den Tomahawk aus der Hand geschleudert!“ lachte Dick.

„Gott sei Dank, dann habe ich noch Hoffnung!“ rief Harry. „Nun überlaßt Alles mir!“

Ich hatte nur Augen für die Fremde. Sie hatte die Zeit unserer Abwesenheit benutzt, um ihren Anzug in Ordnung zu bringen. Ihre dunkeln Locken ließen die zarte weiße Farbe ihrer Haut um so lieblicher hervortreten. Auf den Wangen wechselte das leichte Roth, ein Zeuge ihrer inneren Erregung. Ihre großen Augen hingen an Harry’s Lippen, der sie jetzt kaum beachtete. Ich kann nicht umhin, hier eine kleine Empfindlichkeit einzugestehen. War ich doch eigentlich ihr Ritter und Retter, aber wie jetzt, so späterhin hatte sie nur Augen für Harry.

Harry wandte sich jetzt zu der Geretteten und sagte, indem er ihr die Hand reichte. „Willst Du mit uns, mia cara?“

O, mio caro, wohin Du willst, folgt Dir Dolores! Du hast sie aus der Hand der Wilden gerettet, Du wirst sie nicht verlassen, sie ist Dein eigen!“

Harry war tief ergriffen von dem einfachen Geständnisse.

„Ich werde Dein Schützer sein!“ sagte er ernst. „Aber es ist keine Zeit zu verlieren. Der Abend ist da, und was geschehen soll, hat Eile. Kann Dolores die Nacht durch reiten?“

„Ich habe vier Tage geruht!“ erwiderte sie.

„Gut, dann ruhe auch jetzt. – Stärkt Euch und besorgt die Pferde, daß sie kräftig sind,“ wandte er sich zu uns, „wir reiten noch diese Nacht!“

Aus Behältnissen der dritten Höhle holten nun Ben und Dick ihre Vorräthe an Fleisch und Mais, und wir besorgten die Thiere. Harry war an das Loch getreten, durch welches das Licht in die Höhle fiel. Die Sonne war untergegangen, und es war keine Gefahr, entdeckt zu werden.

„Conanha!“ rief er hinunter. „Conanha, höre ein Wort von Deinem Freunde!“

„Conanha hat keinen Freund. Er brachte einen Panther in sein Lager, und dieser raubte ihm sein junges Füllen!“ erwiderte dieser.

„Conanha hat Recht, uns zu zürnen,“ sagte Harry, „wir haben ihm Unrecht gethan, aber er sollte sich versöhnen lassen!“

„Wenn ich Euer Blut getrunken, Euch zerrissen habe, bin ich versöhnt!“

„Conanha weiß, daß wir sein Blut nicht wollen. Er hat uns zwei Mal angegriffen, wir haben seinen Angriff nur abgewehrt. Wollten wir Blut, wir hätten ihn und seine Krieger getödtet. Wir konnten seit einer Stunde mit unseren Büchsen die Erde mit dem Blute Conanha’s und seiner Krieger färben, wir haben es nicht gethan. Wir sahen sie im Gebüsche schleichen, wir sahen sie zu Pferde steigen, aber unsere Büchsen schwiegen. Sind wir etwa Weiber, die kein Blut sehen können, oder deren Büchsen eingerostet sind? Weiß Conanha nicht, daß unsere Kugeln seinen Kriegern den Tomahawk aus der Hand schleudern?“

Diese Thatsache frappirte die Häuptlinge, die sich um Conanha gesammelt hatten, und die von unserer Kühnheit zur Bewunderung hingerissen waren.

„Die Worte der Weißen sind Wahrheit und Lüge, wer kann ihnen trauen?“ rief Conanha. „Was willst Du von mir?“

„Ich will mit Conanha allein sprechen und mit ihm Frieden schließen, wenn er will. Die Thür unserer Höhle wird sich öffnen, und ich werde zu Conanha hinaus treten. Conanha wird unbewaffnet vor die Höhle kommen. Er kann auch seine Waffen mitbringen, aber er befehle seinen Kriegern, den Frieden zu halten, bis ich in die Höhle zurückgekehrt bist, denn die Büchsen meiner Freunde kennen kein Mitleid mehr, ist unser Blut geflossen.“

Conanha berieth sich erst eine Weile, dann rief er. „Ich werde kommen!“

Wir räumten mit Bangen einige Balken weg, und bald stieg Conanha langsam die Anhöhe hinauf. Seine Brandwunden mochten ihn hindern, aber er ließ es sich nicht merken. Harry ging ihm entgegen.

„Hat Conanha vergessen, daß sein Vater am Fieber leidet?“ fragte Harry. „Ich werde ihn heilen. Theile dies in sieben Theile, und laß ihn jeden Tag einen Theil in wenig Wasser nehmen, und [560] am siebenten Tage wird er das Fieber verloren haben,“ sagte Harry, indem er ihm ein Päckchen Chinin reichte. „Sieh, ich halte mein Versprechen, und werde Conanha größer machen.“

„Die Worte sind Honig, aber die Thaten sind Galle!“ erwiderte der Comanche bitter.

Harry hatte einen harten Stand. Der Comanche wollte uns zu Gefangenen machen und war weder mit Versprechungen noch mit Geldanerbieten zufrieden zu stellen. Ja seine Habsucht wurde durch die letzteren noch erhöht. Alle seine Leidenschaften waren erregt, seine Häuptlingsehre stand auf dem Spiele. Harry blieb nichts übrig, als ihm die Unmöglichkeit einer Eroberung unseres Baues zu zeigen. Er führte ihn in alle drei Höhlen und zeigte ihm unsere Vorräthe, ließ ihn unser Wasser kosten. Das half endlich. Er sah ein, daß er Alles auf das Spiel setzte, und fing an, nachgibiger zu werden. Nur Dolores wollte er nicht aufgeben.

„Was will denn Conanha mit der weißen Rose in seinem Wigwam?“ sagte Harry mit unerschütterlicher Ruhe. „Die Frauen von seinem Stamme werden ihn verspotten, sein eigen Weib, auf dessen sanfte Stimme er bis jetzt hörte, wird vergehen vor Gram, und ihre Verwandten werden seine Feinde.“ So setzte er ihm lange zu und stellte den Nachtheilen nun die Vortheile gegenüber. „Was will Conanha für die weiße Rose? Weiß er nicht, daß ich ein mächtiger Häuptling bin? Meine Schiffe sollen ihm die Ladung hinbringen, wohin er will, meine Jäger sollen seinen Kriegern die schönsten Pferde und Waffen zuführen. Ueberlege Conanha, und seine Forderung stelle er hoch, ich will sie erfüllen.“

Das war zu viel für den habsüchtigen Indianer. Er ward nachgebend. Harry fuhr fort: „Conanha sollte als Häuptling denken und nicht als Krieger, der im Haufen läuft. Wenn Conanha hier seine besten Krieger verloren hat, dann ist auch seine Rückkehr gefährdet. Schon sind die Krieger der Osagen, Shanees, Panis, mit den Jägern verbunden, aufgebrochen, um ihm den Rückweg abzuschneiden. Vielleicht sind ihre Späher schon in der Nähe und hören unsere Büchsen. Dann hat Conanha durch seinen Starrsinn Alles verloren. Ohne Krieger kehrt er vielleicht heim, und die Weiber werden ihre Männer von ihm fordern, die Häuptlinge werden ihn zu den Weibern rechnen – und Alles um ein Weib! Conanha soll Morgen aufbrechen, er soll mit dem Morgen die Höhle durchsuchen lassen und seinen Kriegern unsere Vorräthe zeigen; er kann ihnen sagen, was er alles von uns erhalten wird, und sie werden seine Klugheit loben. Wenn aber Conanha mit seiner Beute sicher ankommt, dann werden ihn die Männer bewundern, kommen aber meine Geschenke an, so wird er der Erste im Rathe sein, denn so viel Reichthum hat sein Stamm in keinem Raubzug erworben. Ich will aber dann meine Boten mitsenden, und hört Conanha ihre Stimmen, so soll der Wohlstand seines Stammes sich mehren ohne Rauben, und wir wollen einen Frieden schließen, und Conanha wird der Freund eines großen Häuptlings der Weißen sein, dessen Schiffe die großen Meere befahren und der die Wege durch die Prairien legt, daß sein Dampfroß bis zu den Felsengebirgen braust. – Will Conanha nun seine Forderung machen?“

„Und was soll Conanha thun?“

„Er soll uns den Weg thalaufwärts frei halten. Wir ziehen nach Norden, er mag eilig gen Süden ziehen, denn er weiß, daß die Krieger der andern Stämme und die Jäger ihm folgen. Seine Krieger dürfen es nicht sehen. Wir werden ausreiten, wenn Du selbst diesen Auszug bewachen läßt, und Deine Leute sollen kaum ahnen, wie wir entkamen. Aber sie dürfen uns nicht verfolgen.“

Conanha sah, daß er am klügsten that, seine Bedingungen zu stellen. Er griff hoch, aber er ward von Harry’s Freigebigkeit überrascht.

Harry versprach ihm sogar, eine Kanone vor seinem Wigwam aufzupflanzen. Pferde, Büchsen und wollne Decken waren der Kaufpreis, daß wir diese Indianer nicht zusammenschießen durften, aber wichtiger war, daß Harry einen Agenten zu diesem Stamme schicken durfte. Dieser wohnt jetzt bei dem Stamme, und Harry hat so klug gewählt, daß er nicht allein die wichtigsten Handelsbeziehungen mit allen anderen Stämmen von hier aus unterhält, sondern durch den Einfluß auf Conanha den Räubereien steuert.

Nun zeigte sich Conanha gefügiger. Wir erhielten die Sachen Dolores’, kauften ihm das Pferd, welches ich ihm abgenommen, wegen seiner Gelehrigkeit für Dolores ab und schieden in Frieden.

Bald hielt ein Indianer mit einem Pack-Maulthiere, das Dolores’ Sachen tug, und dem Pferde vor dem Eingange der Höhle. Mit aller Vorsicht ließen wir sie ein, aber Conanha meinte es ehrlich, es zeigte sich nichts Verdächtiges. Wir verrammelten nochmals die Thüre und ließen die Hunde als Wachen oben, dann machten wir uns daran, die Pferde herunter zu führen. Dick hatte schon die Schleuße geöffnet, und das Wasser war so weit gesunken, daß ein Mensch bequem den Canal passiren konnte. Ben ging voraus und kam bald mit der Nachricht zurück, daß Conanha sein Wort gehalten habe, daß alle Krieger thalabwärts aufgestellt und theilweise mit Vorbereitungen zur Abreise beschäftigt seien. Auf dem Grunde des Canals rieselte nur noch ein kleines Bächlein. Wir führten die Pferde hinnuter, und während Ben dieselben hielt, Harry Dolores durch das Wasser trug, eilten Dick und ich hinauf, um die Verrammlung theilweise fortzunehmen und die Hunde zu holen. Wir schoben nun die Querriegel zur Seite, sodaß bei einem Drucke von außen die Balken zusammenfallen mußten, und eilten dann unseren Gefährten nach. Diese saßen schon zu Pferde und bald ritten wir ohne Aufenthalt das Thal hinauf. Vorher hatte Dick noch die Schleuße vollständig geschlossen und die Verbindung nach innen zerstört.

„Morgen ist die Höhle voll Wasser, und sie werden sich den Kopf zerbrechen, wie wir entkommen sind!“ flüsterte er mir zu. Ich merkte ihm aber an, wie schwer es ihm ward, sich von seinem langjährigen Winterquartiere zu trennen.

Wir ritten langsam und vorsichtig in die Nacht hinein. Eine Biegung des Thales sicherte uns vollständig; bald war die Prairie erreicht, und nun jagten wir ohne Aufenthalt in die Nacht hinein.

Conanha hatte sich als verschlagener Häuptling gezeigt, nachdem er sich überwunden. Er wußte die Vortheile seiner Lage gut auszubeuten. Am Morgen führte er die Häuptlinge in die Höhle, zeigte ihnen ihre Uneinnehmbarkeit, die ihm selbst nun erst recht klar wurde. Jeder von seinen Kriegern wollte die Höhle in ihren Einzelheiten sehen, und lange Zeit wurden Geschichten von ihr erzählt und von den Weißen, die in der Erde verschwunden waren. Conanha selbst ließ sich aber nicht täuschen. Er folgte der Spur im Thale und fand den Canal, nur blieb ihm ein Räthsel wie wir durch das Wasser gekommen waren. Seinen Kriegern ließ er keine Zeit zu Untersuchungen. Er brach auf und entging glücklich den Verfolgungen und brachte seinen Raub in Sicherheit, ohne einen Mann zu verlieren. Sein Ansehen stieg, als er seinen Vater heilte. Jetzt ist er durch den Agenten Harry’s mit Chinin versorgt, und wie schon erwähnt, genießt er durch die Geschenke Harry’s wegen seines Reichthums und seiner Klugheit eines unbeschränkten Ansehens!




Unsere Abenteuer in der Prairie sind nun zu Ende. An unserem ersten Ruhepunkte breiteten wir Dick’s Büffelhaut aus und steckten uns den nächsten Weg nach Kansas ab. Wir hatten die Wahl, diesen Weg zu nehmen, oder über die verbrannte und nun von den Thieren verlassene Prairie zu reiten. Wir überschritten den Nord-Canadian und Cimerone und kamen bald in das Gebiet der Osages, bei denen wir Dolores’ wegen ruheten. Dolores’ Schicksal ist bald erzählt. Eine reiche Waise, war sie im Kloster erzogen und von ihrem Vormunde auf diese gefährliche Reise geschickt, vielleicht mit Absicht, denn nur mit vieler Mühe wurde er durch Harry’s Einfluß aus dem Besitz ihrer Güter getrieben, die er sich schon zu eigen gemacht hatte. Rührend war ihre Zärtlichkeit für Harry und konnte nur von dessen Sorge um sie übertroffen werden. Es ist jetzt noch ebenso wie in der Prairie, davon können wir, Ella und ich, am besten Zeugniß ablegen, denn wir wohnen neben einander, wenn wir in New-York leben, wenn wir unsere Landgüter besuchen oder in die Bäder reisen. Das ginge auch gar nicht anders, weil Ben bei Harry, und Dick, der aber Master Dietrich Friedemann heißt, bei mir lebt; und diese sind schwer zu trennen.

Bei den Osagen war es, wo ich durch einen angeschossenen Büffelstier in große Lebensgefahr gerieth. Das machte mich vorsichtiger. In Kansas trafen wir die Freibodenmänner und die Sclavereivertheidiger hart an einander. Harry hat hier seinen Einfluß entschieden zu Gunsten der Ersteren geltend gemacht, aber nur, wie es seine Art war, im Stillen. Wir knüpften auch hier Verbindungen an, die ihre Früchte tragen werden, gleich unsern Verbindungen mit den Comanches. Ich sage gleich „wir“, denn der Leser wird leicht errathen haben, daß Harry und Dolores, Willy

[561] 

Mantua.

[562] und Ella sich bald nach unserer Rückkehr vereinigten, und daß Harry und Comp. jetzt auch heißen könnte Harry und Willy; aber der Comp. ist der unsichtbare Geist, der unsern Namen trägt und unsern Willen durchsetzt, nicht gleich dem Willen eines abendländischen Eroberers, wie wir sagen – der alten Welt – sondern der neuen Welt, die auf friedliche, unmerkliche Eroberungen ausgeht.

Langsam, aber sicher, mit Pflug und Hacke, mit freiem Wort und freier Presse – oft auch feiler, aber wer kann die Menschen umschaffen? sagt Harry – schreiten wir vorwärts und gründen unmerklich Reiche.

Ich bin ein ganzer Amerikaner geworden, aber meine größte Freude ist, wenn Marie Wolf – ich habe sie gleich herüber kommen lassen; und sie führt mit deutschen Dienstboten mein Hauswesen; Dick beaufsichtigt die Irländer und Amerikaner, ist aber nicht mit ihr verheirathet, da sie meinte, sie wären zu alt – wenn Marie Wolf in unsern Kreisen von der Heimath erzählt. Ella und Dolores horchen aufmerksam zu. Wir haben uns vorgenommen, sobald die Kriegsunruhen schweigen, nach Europa zu kommen und es zu durchreisen.

Ob es uns amerikamüde oder Amerika uns lieb machen wird?




Mantua.
(Mit Abbildung.)

Vor drei Monaten blickte man noch mit Besorgniß auf das Festungsviereck, das den andringenden Franzosen gegenüber Oesterreichs Herrschaft in Italien vertheidigen sollte. Es war eine harte Fügung, daß die Oesterreicher, welche mit so viel Zuversicht über den Ticino gegangen waren, im Laufe von zwei Monaten gezwungen wurden, über jenen Fluß zurückzugehen, Mailand, Piacenza und Pizzighettone zu räumen und endlich sich hinter den Mincio zurückzuziehen. Was sollte aus Oesterreich werden? Aber die Kanonen von Mantua und Peschiera streckten noch ihre hungrigen Schlünde dem Feinde gegenüber, und Mantua war es hauptsächlich, das Napoleon für seinen Ruf als Feldherr fürchtete, Was bedeuteten alle diese Erfolge der franco-sardischen Waffen, wenn die Keckheit der Zuaven, die Tapferkeit der Garden und die Begeisterung der Italiener an den Wällen Mantua’s sich brechen sollten? Mantua ist dadurch wieder weltgeschichtlich geworden, ihm haben wir es wesentlich mit zu danken, daß wir jetzt Frieden haben.

Mantua ist die Hauptstadt des gleichnamigen Gebietes, das mit den Fürstenthümern Castiglione und Solferino vor dem Kriege eine Provinz der österreichischen Lombardei bildete. Das Gebiet umfaßte ungefähr 43 Quadratmeilen und zählte etwa 300,000 Einwohner. Die Stadt liegt auf einer Insel im Mincio und ist auf der Nord- und Ostseite durch einen Landsee geschützt, den der Fluß hier bildet. Im Westen und Süden fluthet der Mincio, und außerdem ist die Stadt hier durch eine breite Sumpfstrecke umgeben, welche wesentlich mit zu ihrem Schutze dient. Zu den Befestigungswerken Mantua’s gehört im Norden die Citadelle di Porto. Diese deckt die Vorstadt Borgo di Fortezza, die mit der innern Stadt durch einen 1380 Fuß langen starken Damm in Verbindung steht. Zum Schutz der Ostseite oder der Vorstadt Borgo di San-Giorgio, mit der eine lange mit sechs Bastionen und zwei Strandbatterien vertheidigte Steinbrücke die Verbindung vermittelt, dient das Fort San-Giorgio. Auf der Südseite befindet sich die stets befestigte Insel il Te und das Außenwerk Miglioretto. Letzteres deckt ein verschanztes Lager. Zum Schutze des gewaltigen Schleußenwerkes, das im Falle einer Belagerung die Gegend ringsum unter Wasser setzen kann, dient das Fort Pietole. Auf der Westseite endlich liegt das abgesonderte Hornwerk Pradella, welches diese an sich schon gefährliche Sumpfgegend noch unzugänglicher macht. Mit Verona ist es durch die Zweigbahn der lomberdisch-venetianischen Ferdinandsbahn verbunden. Wegen der sumpfigen Lage und der unschönen Bauart ist Mantua keineswegs ein angenehmer Aufenthalt; indessen als Festung ist es äußerst wichtig und unstreitig ist es eine der stärksten Festungen in ganz Europa. Zugleich ist es Sitz eines Bischofs, eines Landesgerichts, eines Festungscommandos, einer Handels- und Gewerbekammer etc. Unter den Gebäuden zeichnet sich besonders der Kaiserpalast aus, einer der größten Paläste in Europa, in dem sich das sogen. Appartemento di Troja mit Gemälden von Mantegna und Giulio Romano befindet.

Bemerkenswerth sind ferner der Justizpalast, das Zeughaus, das Theater, das Amphitheater und der größtentheils von Guilio Romano in Gestalt eines T erbaute Palast del Te. Unter den Kirchen verdient vor allen die Kathedrale Erwähnung, sodann die Kirche San Andrea mit schöner Souterrainkirche und mit Statuen von Canova, die Kirche San Barnaba mit bleigedeckter Kuppel und die San Egidikirche mit den irdischen Ueberresten Tasso’s. Von den Plätzen muß noch der Piazza del Virgilio und der ehernen Statue Virgils gedacht werden.

Wenn auch die Stadt als Festung erst unter der österreichischen Herrschaft ihre höchste Bedeutung erlangt hat, so reicht ihre geschichtliche Vergangenheit doch bis in die Zeit des weströmischen Reiches zurück. Nach Auflösung desselben kam sie zunächst an Odoaker, dann wurde sie von den Ostgothen erobert, diesen entrissen sie von Neuem die Griechen. Dann nahmen die Longobarden davon Besitz, und mit dem Longobardenreiche kam sie unter fränkische Herrschaft und später an die deutschen Kaiser. Von Karl dem Großen soll die Stadt befestigt worden sein. Als kaiserliches Lehn enthielten es die Este und die Markgräfin Mathilde von Toscana. Später usurpirte ein Visconti die höchste Gewalt in Mantua; indessen nach seinem Tode erwählte es wieder zwei Consuln, von denen der eine, Pinamonte Bonacorsi, sehr bald wieder die Herrschaft an sich riß. Später bemächtigte sich die Familie Gonzagza der Gewalt und erhielt sich auch darin bis 1708. Die Gonzaga’s waren erst Capitanos und Podestas, dann wurden sie Markgrafen und kaiserliche Reichsvicare und endlich Herzöge. Von den Gonzaga’s kam Mantua in die Hände des Kaisers, und Oesterreich behauptete es nun auch bis zum Jahre 1796. Da kam General Bonaparte nach Italien und unter ihm begann jene denkwürdige Belagerung Mantua’s, welche, nachdem vier Entsatzversuche von Seiten Oesterreichs gemacht worden waren, endlich mit der Uebergabe der Festung durch Wurmser am 2. Februar 1797 endigte. Die Herrschaft der Franzosen dauerte nur zwei Jahre, denn 1799 wurde der General Feissac Latour nach wiederholten Siegen der Oesterreicher und Suwarows genöthigt, es wieder zu übergeben. Aber nach den Tagen von Marengo und Hohenlinden kam es abermals in den Besitz der Franzosen, bis es 1814 ohne weiteren Kampf wieder an Oesterreich überging. Karl Albert machte 1848 einen Versuch, es durch Bestechung in seine Gewalt zu bekommen, indeß der Versuch mißlang.

Ueber das Schicksal Mantua’s in neuester Zeit war man getheilter Ansicht; indessen der Friede von Villafranca hat alle weiteren Discussionen abgeschnitten, und so schauen denn die österreichischen Kanonen immer wieder drohend auf ein Land, das jetzt im Taumel befreiter Nationalität schwelgt.




Blätter und Blüthen.

Das Office der Times. England hatte bisher zwei Staaten im Staate, zwei Wuchergewächse gesonderter Macht: – die ostindische Compagnie und die „Times.“ Die erstere herrschte über eines der größten Länder der Welt mit unbeschränkter Macht; sie hatte ihre Armee, ihre Marine, ihre Officiere, ihre Beamten, ihre Gouverneure und – ihr Regierungs-Centrum in Leadenhall-Street, City, London. Die zweite hat ihre Abgesandten in allen Winkeln der Welt, ihre Officiere marschiren mit den Armeen, ihre Abgesandten haben Zutritt in die Cabinete der Staatsmänner, sie sind überall, und das Centrum dieser Macht ist – in einem schmutzigen Winkel der City, m Printing House Square. Was war die Hansa im Vergleiche mit der ostindischen Compagnie? Was ist die Macht eines kleinen Fürstenthums im Vergleiche mit dem Welteinflusse der Times?

Die Herrschaft der ostindischen Compagnie ist nicht mehr. Sie ist weggeblasen worden von dem heißen Samumsturme, der dahingebraust hat über den unermeßlichen Schauplatz ihrer Erpressungen, Räubereien und Grausamkeiten. Die Kaufmannsgesellschaft hat ihre Macht niederlegen müssen in die Hände der Königin Victoria. Aber die Reichthümer der geplünderten indischen Fürsten liegen in der englischen Bank.

[563] Die Times lebt noch, blüht noch, ist noch im Besitze eines großen Monopoles, das ihr nur langsam aus den Händen gerungen werden kann, des Monopoles der Unverantwortlichkeit und der Unfehlbarkeit. Wie oft auch die Times ihre Farbe gewechselt haben mag, wie oft auch ihre politischen Prognosen Lügen gestraft worden sein mögen, – die Mehrzahl der Engländer schwört doch noch immer bei der Times, man glaubt nur, was in der Times gestanden hat, man fragt noch immer: „Was hat die Times dazu gesagt?“

Allein auch die Times wird hinsinken gleich der Macht der ostindischen Compagnie, auch sie wird ihr Monopol verlieren, nur wird sie ihre Abdicirung nicht in die Hände einer Königin legen. Schon steht der kleine David mit seiner Schleuder bereit, der diesen Goliath der Journalistik fällen wird. Der kleine David mit der Schleuder ist die wohlfeile Presse. Die Penny-Blätter werden den journalistischen Crösus bankerott machen. Freilich wird das nicht morgen geschehen – aber um so gewisser übermorgen.

Was aber auch die Zukunft der Times sein mag, in diesem Augenblicke steht sie noch da in ungeschwächter Kraft. Ihre Macht ist eben so groß, als das Capital an Intelligenz, über welches sie verfügt, außergewöhnlich, als der Mechanismus, den sie in Bewegung setzt, erstaunenswerth ist. Mit vollem Rechte sagt der geistreiche George Sala: „Die Herausgabe der Times ist, was man auch sagen mag, eine große, eine riesige, eine wunderbare Thatsache, – nicht minder wunderbar, weil dreihundertunddreißig Male im Jahre wiederkehrend.“ Die Times ist Londons mächtiger Pulsschlag. Ganz nahe bei der Paulskirche, dieser Kathedrale des Anglikanismus, befindet sich das Office der Times, die Kathedrale des Journalismus. Die Glockenzungen dieser beiden Kathedralen tönen täglich gar mächtig hin über Englands Metropole; aber über die topographische Lage dieser beiden mächtigen Dome muß ich mir einige Bemerkungen erlauben. Während man die Paulskirche schon von Weitem aus dem Häusermeere emporragen sieht, und den Weg zu ihr wohl nicht verfehlen kann, gehört es eben nicht zu den leichten Aufgaben, Printing House Square, die Residenz der Times, zu entdecken, wenn man auch mit einem Plane von London versehen ist, und wenn man auch ganz genau weiß, daß dieser Square sich in der City befindet, in der Pfarrei von St. Anna, Blackfriars. Es ist, als wäre die Times mit Geheimnissen und Räthseln umgeben. So wie man selbst von Leuten, welche der Literatur und der Journalistik angehören, sehr schwer irgend eine Auskunft über den inneren Mechanismus dieses Riesenjournales erhalten kann, eben so schwierig ist es, die Werkstätte desselben aufzufinden, wenn man auch ganz nahe dabei steht. Von dem rechten Themseufer über die Blackfriars-Brücke gekommen, hat man die erste Straße rechts einzuschlagen; soviel konnte man erfahren, – was aber nun weiter kommt, das kann Einem Niemand genau sagen, man muß eben auf Entdeckung ausgehen.

Plötzlich sieht man sich in einen der schmutzigsten Stadttheile versetzt, mit engen, unregelmäßigen, nach allen Richtungen hin sich durchkreuzenden Gassen. Man weiß, daß Printing House Square ganz nahe beim Puddle Dock liegen muß, und nicht weit von der Apothekershalle, kaum einen Pistolenschuß weit von der Paulskirche, ganz nahe von Ludgate Hill, kaum eine Minute von Fleet Street, in der unmittelbaren Nachbarschaft der Blackfriars-Brücke, hart neben Earl-Street und nicht allzuweit vom Chathamplatze – dies Alles weiß man ganz genau – und doch sieht man sich vergebens nach dem „Times-Office“ um, man ist wie im Centrum des cretischen Labyrinthes. Von allen Seiten gehudelt und gepudelt, durch die Handkarren der Gemüsehändler gedrängt, durch zudringliche Orangenverkäuferinnen verfolgt, über spielende, zerlumpte Kinder stolpernd, von vorbeirudernden kräftigen Armen blau geschlagen, durch einen in die enge Straße einbiegenden Bierwagen in einen stinkenden Kerzenladen genöthigt, sucht man vergeblich diese Gelegenheit zu benutzen, um von dem Kerzenverkäufer einige Auskunft zu erlangen. Der Mann der Aufklärung schnauzt Einen kurz und grob an, weil er heute schon zum zweiundvierzigsten Male um den Printing House Square befragt worden ist. In diesem Stadttheile ist keine höfliche Antwort mehr zu erzielen, der lammfrömmste und geduldigste Auskunftertheiler ist durch die immer und immer wiederkehrende eine Frage nach dem „Times-Office“ bereits in einen Tiger verwandelt worden.

Ich kann meinem geneigten Leser nur rathen, wenn er jemals in die Lage kommen sollte, gleich mir, den Printing House Square aufzusuchen, so viel wie möglich immer südwärts einzubiegen, und mit gehöriger Ausdauer, mit ungebrochenem Muthe wird er endlich vielleicht das „Times Office“ erreichen. Es ist in der That wunderbar, daß dieses Riesenunternehmen, dieser Leviathan der Journalistik in solch ein winkeliges, enges, schmutziges Labyrinth von Gassen eingepfercht ist, ja man begreift kaum, wie dieser großartige Organismus dort athmen, wie diese kolossale Maschine dort arbeiten kann. Wenn man nun vollends alle die wunderbaren Mythen gehört hat, mit welchen die Werkstätte der Times umgeben ist, wenn man die Fabel vernommen hat von jener geheimnißvollen Compagnieschaft, die da gebildet sein soll durch den Kaiser Alexander, den Cardinal Wiseman, den Baron Rothschild, den Fürsten Mentschikoff, den Doctor Cumming, die Gebrüder Baring, den Lord Palmerston, den Herrn Disraeli, den Herrn W. J. Fox und die Miß Martineau, wenn man die Sage gehört hat von den Erzbischöfen, welche da Leitartikel schreiben für die Times und täglich nach 9 Uhr Abends in ihren sechsspännigen Equipagen angefahren kommen, um die Correcturen ihrer Artikel zu revidiren, und die Geschichte von dem Editor und von den Subeditoren in ihren verschiedenen Wagen, und von dem City-Correspondenten in seiner breiten gelben Chaise bis herab zu den bescheidenen Broughams der Schriftsetzer, wenn man alle diese Wunder der „Tausend und einen Nacht“ vernommen hat: wie muß man da erst staunen, daß alle diese Wagen sich in diesem Winkelwerk von Gassen ausweichen können und daß die sechsspännigen Equipagen der Bischöfe umwenden können, um ihren Rückweg aus diesem cretischen Labyrinthe zu finden! Doch allen Ernstes: der Weg, auf welchem die Tagespolitik der Times gebildet wird, ist eben so geheimnißvoll und winkelig, als die Lage von Printing House Square. So viel ich auch darnach geforscht, so competente Leute ich auch darnach befragt habe, konnte ich doch nie genügende Auskunft darüber erlangen, welches Räderwerk den Hauptredacteur (Manager), den Herrn Mowbray Morris, in Bewegung setzt und ihm seine Richtung vorschreibt. Wie oft diese Richtung gewechselt wird, das wissen wir Alle, aber welche Interessen diese neue Richtung jederzeit so rasch bestimmen, und in welcher Weise diese Interessen jedesmal unter einen Hut gebracht werden, ob durch ein Comité, ob durch Abstimmung, ob durch ein Triumvirat, ob durch einen bevollmächtigten Dictator, dies konnte mir bisher Niemand mit einiger Bestimmtheit sagen. Die Times ist gleichsam die Polizeipräfectur der öffentlichen Presse, sie hat ihre eigene glatte, geheime, gewandte, dreh- und wendbare, unverantwortliche und überaus mächtige Politik; hinter einem einzelnen ihrer Leitartikel steckt manchmal ein Agglomerat von geheimen Ereignissen, Uebereinkünften, Vorhersagungen und officiellen oder halbofficiellen Einflüsterungen, ja, wie man behauptet, nicht selten der gebietende Einfluß einer mächtigen Summe. „Wird die Zeit jemals kommen,“ sagt George Sala, „wo man seinen Artikel in der Zeitung mit seinem Namen unterzeichnen, wo man vom Publicum seinen Lohn für Ehrlichkeit, seinen Tadel für Zweideutigkeit persönlich in Empfang nehmen wird? Wird sie überhaupt jemals kommen, diese Zeit der Umwälzung, wo jenes mystische „Wir“ sich in das verantwortliche, steuerbezahlende, fühlbare, greifbare, durchprügelbare „Ich“ verwandeln wird?“

Doch überlassen wir diese große Umwandlung einer kommenden Zeit und begnügen wir uns für jetzt damit, die interessante Werkstätte des mächtigsten Zeitungsblattes der Welt in ihrer Thätigkeit zu belauschen.

Der Printing House Square mit Play House Yard[3], das Hauptquartier der Times, ist fast zu allen Stunden des Tages und der Nacht interessant für den denkenden Beobachter, denn der Mechanismus dieses Riesen-Unternehmens ruht fast nie. Die stillste Zeit ist wohl jene kurze Nachmittagsstunde, da die Schriftsetzer fortgegangen und die Subeditoren noch nicht gekommen sind, wenn das letzte Exemplar der ersten Ausgabe der Tagesnummer gedruckt ist und die mächtige Dampfmaschine für kurze Zeit zu keuchen aufgehört hat. Da bemerkt man etwas wie Ruhe. Die Times verdaut, sie hält ihre kurze Siesta.

Mit den Gaslampen, die Nachmittags angezündet werden, hat auch neues Leben, neue Thätigkeit wieder begonnen. Der Editor und die Subeditoren sind schon in voller Arbeit, die geheimnißvollen Leitartikel kommen nach und nach an. Woher sie kommen? ich weiß es nicht, aber sie kommen, und viele Wagen, Cabriolete und Broughams füllen die engen Gassen, und das große Dampfungeheuer schnaubt und keucht wieder mächtig und wird mit unzähligen Papierstreifen gefüttert und ist unersättlich, und die Schriftsetzer können ihre Hände nicht rasch genug rühren, und die Factoren springen von den Subeditoren zu den Schriftsetzern und von diesen zu den Subeditoren, und die Fenster des Times Office erglänzen alle im hellsten Gaslichte.

Am beklagenswerthesten erscheinen mir diejenigen Herren, deren Aufgabe es ist, die zahllosen Correspondenzen zu lesen, welche täglich unter der Adresse: „To the Editor of the Times“ eingehen, und aus der Unmasse derselben die wenigen herauszusuchen, die einer Berücksichtigung werth sind. Durch welchen Schwall von introductorischen Artigkeits-Gemeinplätzen müssen sich diese Unglücklichen nicht durchlesen! Wie müssen sie nicht den Kopf voll haben von diesen Exordien, wie: „Ihr weitverbreitetes Journal“ oder: „Ihre bekannte Unparteilichkeit“ oder: „Ihr allgemein geachtetes Blatt“ oder: „Ihre vielgelesenen Spalten“ etc. etc.! Wie ermüdend muß es für sie nicht sein, die Fluth der eingesandten Beschwerden zu durchwaten, von der Klage über einen zu spät abgegebenen Brief bis zur schlechten Verwaltung Indiens, von den gewissenlos theuren Butterbemmen auf einer Eisenbahnstation bis zu der offenbaren Ungerechtigkeit der Einkommensteuer! Wer sind sie eigentlich, alle diese pseudonymen Correspondenten der Times? Ich würde doch neugierig sein, sie zu sehen, die Herren, wie den „Verax“, oder: „Paterfamilias“, oder: „Ein Mann in den Straßen“, oder: „Indophilus“, oder: „Eine durstige Seele“, oder: „Habitans in Sicco“!

Doch es ist schon sehr spät! Die Times ist nun schon im Besitze ihrer kostbarsten Geheimnisse. Staatsgeheimnisse, literarische Geheimnisse, artistische und dramatische Geheimnisse, die Geheimnisse von allen Feuersbrünsten, Räubereien, Veruntreuungen, Diebstählen, Verführungen, Ehebrüchen, Mordthaten und Gelegenheitsgedichten. Alle diese Geheimnisse behält sie jetzt noch für sich, und Niemandem sind sie zugänglich, als den Auserwählten, den Schriftsetzern und den Druckern. Aber diese Undankbaren kümmern sich wenig um den Coup d’état, der gestern in Paris stattgefunden hat, oder um das türkische Ministerium, das abdanken mußte, oder um die dreißig Köpfe, welche die Montenegriner von ihren respectiven Rümpfen getrennt haben.

Es wird später und später. Der letzte Papierstreifen von dem Berichterstatter des „Hauses der Gemeinen“ ist so eben eingelaufen, der letzte Bericht eines Pfennigzeilenschreibers (Penny-a-liner)[4], die eben in Holborn ausgebrochene Feuersbrunst betreffend, ist in den Briefkasten geworfen worden, die letzte telegraphische Depesche ist schon im Setzkasten, die auserwählten Mitarbeiter der Times, die für morgen ein schauderhaftes Gewitter über das Haupt der Minister heraufbeschworen haben, schlummern bereits sanft auf ihrem weichen Pfühl, als hätten sie nichts gethan, – und nur ein verspäteter Theaterberichterstatter schlüpft noch um die dunkle Straßenecke, um seinen Artikel über das neue Drama im Adelphi- oder Hay-Market-Theater, den er bei einem Glase Brandy and Water in seinem literarischen Club gähnend auf einen Papierstreifen gehudelt hat, noch im letzten Augenblicke in den Briefkasten zu werfen.

Die Times ist nun vollgepfropft und gesättigt wie ein Mann, der gut gegessen hat. Nichts fehlt, die City-Correspondenz, die Marktberichte, [564] die Wettrennen, die Jagden, die Börsenberichte, die Eisenbahnactien, die parlamentarische Uebersicht, das Wetter, der Gesundheitszustand der Stadt, die Gerichts- und Polizeirapporte, die geheimnißvollen und dummen Ankündigungen, die Wettläufer-, Cricketspieler-, Boxer- und Fischangler-Berichte, die Geburten, die Sterbefälle und die Heirathen, – kurz, – Alles ist in bester Ordnung eingelaufen, und die Seele, der Geist, die Intelligenz der Times kann sich jetzt zu Bette begeben. Aber der Körper, der materielle Theil fängt jetzt erst recht an zu leben, zu athmen und zu pulsiren, denn: die – – Typen sind jetzt in der Maschine – und diese fördert 1200 Exemplare pr. Stunde in die Welt.

Um fünf Uhr Morgens beginnt die erste Phase der öffentlichen Ausgabe der „Times.“ In einem großen, ebenerdigen Saale mit einem Comptoir und mehreren Reihen langer Tafeln oder Tische tritt die neugeborne Zeitung zuerst in das Licht der Oeffentlichkeit. Auf diesen langen Tischen sieht man hohe Berge von übereinandergelegten Exemplaren, die dem ganzen ungeheuren Formate nach ausgebreitet sind.

Mit staunenswerther Schnelligkeit werden diese Zeitungsmassen durch Legionen von rüstigen Trägern gefaltet und als schwere Colli auf die verschiedenen Wagen geladen, die auf dem kleinen Platze versammelt sind. Dies ist der Transport nach den verschiedenen Eisenbahnstationen. Diese Papiermassen sind wahrhaft erschreckend, und doch gehören sie allesammt einer einzigen Unternehmung an, nämlich der Zeitungs-Agentie der Herren Smith und Sohn im Strand. Da diese Herren die bedeutendsten Abnehmer der Times sind, so ist ihnen eine bedeutende Priorität vor allen anderen Zeitungsagenten eingeräumt, welche ihre Exemplare erst viel später erhalten.

Die zweite Phase der ersten Ausgabe kündigt sich durch eine beispiellose Verwirrung an. Wagen aller Größen und Gestalten kreuzen und verweben sich auf dem kleinen Printing House Square. Eine Legion von geschäftigen Buben aller Schattirungen belebt diese Scene, und was das Merkwürdigste ist, – es geht dabei ganz anständig und lustig her und es gibt weder Zänkereien, noch setzt es Prügel, mit einem Worte, es herrscht eine gewisse geheime und unsichtbare Ordnung in dieser jeden Morgen wiederkehrenden Unordnung. Um halb acht Uhr ist die ganze Cohorte von Zeitungsverkäufern, Cavallerie wie Infanterie, verschwunden, und der Platz ist gesäubert. Die Times ist nun der Geburt ihrer zweiten Auflage überlassen.

Ich will nicht schließen, ohne des rüstigen und energischen Mannes zu gedenken, der die Times zu dem gemacht hat, was sie jetzt ist, nämlich zum größten und einflußreichsten Journale der Welt. Er hieß John Walter und war Parlamentsglied. Aber er war ein Pionier der Presse. Man erzählt sich, daß er einst – ich glaube, es war im Jahre 1835 –, als ein Expreß von Paris kam mit der Thronrede des Königs in den Kammern, – weil eben weder Editoren noch Schriftsetzer zu finden waren, – seinen Rock abwarf und die Thronrede, die er selbst eilig in’s Englische übertragen hatte, eigenhändig setzte. Die Energie dieses Mannes hat die Times geschaffen.




Die italienische Nationalität. Es ist eine eigenthümliche Erscheinung, daß der Staat, der in der jüngsten Zeit am meisten im Kampfe gegen die Verwirklichung der italienischen Nationalität gelitten, daß Oesterreich zuerst dieses Sehnen nach Unabhängigkeit in Italien angeregt und genährt hat. Als Oesterreich im Jahre 1809 (wie in Deutschland) die nationalen Kräfte zur Fortsetzung seines Feldzugs in die Waffen rief, sandte es auch den Erzherzog Johann, nachmaligen deutschen Reichsverweser, nach Italien, und dieser warf in seinen Proclamationen den Italienern vor: sie wären keine Italiener mehr, nur Sclaven Frankreichs, das Königreich Italien sei nur ein Traum; „darum erhebt euch wie die Spanier und Tyroler und werdet unabhängig vom Auslande! seid von der Wahrheit durchdrungen, daß, wenn ihr in strafbarer Schlaffheit diese letzte Gelegenheit nicht ergreift, welches Heer auch siege, ihr euch damit dem Schicksale aussetzet, nur ein erobertes Volk ohne Namen und Rechte zu sein.“

Man scheint sich dieser Worte neuerdings in Italien wieder erinnert zu haben!




Rudolph Gottschall schließt seine so eben erschienene biographische Studie: „Napoleon III.“ mit den Worten: „Wo sein System in das Spiel kommt, da kennt er nur das große Ziel und scheut kein Mittel, es zu erreichen. Die Füsilladen der Decembertage und die Verbannungen nach Cayenne sind solche „Verirrungen“ eines „excentrischen“ Gemüthes. Man weiß Aehnliches von den römischen Gewaltherrschern, und Marquis Posa sagt zu Philipp:

Zu einem Nero und Burisis wirft
Man Ihren Namen, und das schmerzt mich;
 – denn –
Sie waren gut!

„Die Verbannung nach Cayenne ist der Tod“, sagte man dem Cäsar, und mit apathischer Eiseskälte entgegnete er: „Ich weiß es!“ So mag „die Furcht“ der griechischen und römischen „Tyrannis“ auch über ihn gekommen sein, und das Gefühl: allein – auf einem Thron allein zu sein! In solchen Momenten, wo der offene Haß sich gegen ihn wendete, mag er vielleicht danach gestrebt haben, sich die Dankbarkeit der Völker als Vorkämpfer ihrer Befreiung zu sichern; doch diese persönlichen Anwandlungen und Ausweichungen waren nicht von Dauer und wurden stets wieder nach dem Cours corrigirt, den die napoleonische Idee einmal einhalten muß. Sie ist eine „Mischgeburt“ von Gewaltherrschaft und Freiheit, Despotismus und Volkssouverainetät, eine macchiavellistische Chimäre, die zuletzt an ihrem innern Widerspruch zu Grunde gehen muß.

Es ist eine Art von dämonischem Hohn, mit welchem der Gesetzgeber Europa’s seine Friedensschlüsse dictirt. Meisterhafter Schachspieler, auf immer neue Eröffnungen, Varianten und Endspiele sinnend, wirft er, wenn es ihm beliebt, das ganze Schachspiel über den Haufen – car tel est notre plaisir! Oder er lacht triumphirend über die politischen „Zwickmühlen“, mit denen er seine Gegner überrascht und den Sieg gewinnt. Diese „Willkürherrschaft“ eines Einzigen ist, was man auch sagen mag, nicht nur eine ewige Drohung gegenüber der gesetzmäßigen Entwickelung der Völker, sondern auch in einer Zeit, welche die politische Einsicht und Bildung Aller zu einem Factor des Staatslebens macht, ein auffallender Anachronismus.

Preußen an Deutschlands Spitze ist der gefährlichste Gegner des Cäsarismus! Es ist tiefere Weisheit, das sittliche Princip im Staatsleben aufrecht zu erhalten als innersten, unversehrten Kern des Wollens und Handelns, als dem Macchiavellismus der Cäsaren zu huldigen. Innere Bildung, freie Entwickelung, Wahrheit, Sittlichkeit, Treue schafft echte Volkskraft, welche die höchsten Güter der Menschheit besitzt und schirmt und schon einmal ist an diesem Felsen des preußischen, echt germanischen Volksgeistes der Wogenschlag der Cäsarischen Eroberungslust und Weltbeglückung zerschellt!

Preußen mit der ihm gebührenden Führerschaft in Deutschland und das stammverwandte England – – das sind die bis jetzt noch unbesiegten Sieger von Belle-Alliance, und ihr Bund wird „die Rache für Waterloo“ vereiteln, sollte einmal ihre Stunde geschlagen haben!“




 Feenspeise. Probe aus einem poetischen Kochbuche.

Sonst, wenn in stiller Gärten Schatten,
Um Mitternacht, im Mondenglanz,
Am klaren Quell, aus grünen Matten,
Die Elfen hielten lust’gen Tanz:

5
Nahm oft die Hausfrau zarte Speise

Und schlich sich nach dem duft’gen Reih’n;
Und stellt’ sie hin; sie nahten leise,
Zu naschen bei des Glühwurms Schein.

Man glaubte dann, sie würden bleiben

10
Und Segen bringen in das Haus;

Man hegte gern das stille Treiben
Der guten Geister, ein und aus!

Auch Deinem Hause werde Segen
Durch gute Fee’n, und holder Trost;

15
Damit sie freundlich weilen mögen,

Lehr’ ich Dir ihre Lieblingskost:

 Recept.
Früh, wenn Aurorens Rosenwolken
Erglänzen, laß – nach Feenbrauch –
Rahm, der bei Mondenschein gemolken,

20
Bei Lilienduft und Blüthenhauch,


Im kühlen Morgenthau Dir holen;
Ein ganzes Nösel und ein halb,
Doch kränz’ den Krug mit Nachtviolen,
Das scheucht der Elfen Feind, den Alp!

25
Zwölf Eier, rein und frisch vom Neste,

Laß bringen Dir durch Kindeshand,
Auch sechs Loth Zucker, den man preßte
Aus Rohr, von India’s Zauberstrand.

Laß öffnen der Vanille Schote

30
Durch eine Jungfrau, hold und gut,

Nimm Salz (den kleinsten Theil vom Lothe)
Aus eines Heilquells Wunderfluth.

Nimm auch der Südfrucht goldne Schale,
Misch zu dem Allen frischen Schnee,

35
Und back es schnell – zum süßen Mahle

Für manche holde kleine Fee!




B. Auerbach’s Volkskalender, der, was Inhalt und Ausstattung anlangt, unbestritten unter allen Kalendern den ersten Rang einnimmt, wird von jetzt ab nicht mehr in Stuttgart, sondern in Leipzig bei E. Keil erscheinen. Der Druck des nächsten Jahrgangs ist bereits so weit vorgeschritten, daß die Ausgabe der großen Auflage Ende September bewerkstelligt werden kann. Außer einer längern Erzählung von Auerbach, der Wettpflüger, mit Illustration von Scholz in Dresden, wird das schön ausgestattete Volksbuch noch Beiträge von Dr. Andree, Berth. Siegismund, Fried. Gerstäcker und eine neue Sammlung der beliebten „Geschichten des Gevattersmanns“ von Auerbach enthalten.


Zur Nachricht.

Die geehrten Leser unsers Blattes, welche im regelmäßigen Empfange der Wochennummern keine Unterbrechung erleiden wollen, machen wir wiederholt darauf aufmerksam, daß mit der heutigen Nummer das 3. Quartal schließt, und deshalb Bestellungen auf das 4. Quartal bei den betreffenden Postämtern und Buchhandlungen sofort aufzugeben sind.

Die Verlagshandlung. 

Verlag von Ernst Keil In Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Unser wackerer Künstler eröffnet uns in dem umstehenden Bilde einen Blick in das Innere eines Waldes des „fernen Westens“ mit seinem Leben und Treiben. Es war ihm vorzüglich darum zu thun, an der Stelle willkürlicher und – unmöglicher Zusammenstellungen der verschiedenartigsten Naturerzeugnisse des fremden Erdtheils eine naturgetreue, einhellige, ich möchte sagen wissenschaftliche Darstellung eines Waldtheils mit seinen Pflanzen und Thieren zu geben, etwa in der Weise, welche der eigentliche Begründer eines vernünftigen Unterrichts der Erdkunde, Director Dr. C. Vogel, uns vorgezeichnet hat. Wir haben es hier also nicht mit einer sogenannten „Illustration“, sondern mit einer streng durchgeführten wissenschaftlich-richtigen Darstellung zu thun.
  2. In der Gefangenschaft spielt die Hausdrossel anderen Hausthieren mancherlei Streiche; sie pfeift in der bekannten Weise des Hausherrn, und veranlaßt den schlafenden Hund, eiligst aufzuspringen; sie kreischt wie ein geängstigtes Hühnchen, und bringt alle Bruthennen in Aufruhr; sie ahmt zum Entsetzen der bezüglichen Mütter die Stimmen junger Hunde und Katzen täuschend nach etc.
  3. Der Name Play House Yard (Theaterplatz) rührt von dem Umstände her, daß an diesem Platze einst das Globe-Theater stand.
  4. Der Penny-a-liner ist ein Berichterstatter niedrigsten Ranges, er schreibt nur ganz kurz über Unglücksfälle, öffentliche Scandale, Polizeiverhandlungen etc. und bekömmt einen Penny für die Zeile.