Die Gartenlaube (1861)/Heft 11

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[161]

Der schwarzweiße Storch.

Ein Bild von der Grenze.
Von J. D. H. Temme.

Endlich war die Grenze erreicht. Es war dunkler Abend darüber geworden und ich hatte noch eine halbe Stunde an ihr entlang zu fahren, um an den Ort meiner Bestimmung zu gelangen. Der Weg führte zwischen dichter Waldung zu beiden Seiten. Der Saum des Waldes links bildete die Grenze, er selbst war noch polnisches Gebiet. Rechts war der große preußische Trappöner Domainenforst. Der Weg zog sich eng und schmal hindurch.

Dem Kutscher, welcher stets aufmerksam rechts und links geschaut und auf jedes Geräusch hörte, schien der Weg nicht ganz sicher zu sein. Er lugte mit seinen hellen Augen forschend nach allen Seiten aus und schüttelte mehre Male brummend den Kopf. Plötzlich hielt der Wagen an.

„An der Grenze muß heute etwas los sein,“ sprach er dabei in den Wagen. „Fast alle fünfzig Schritte steht ein Doppelposten, ein Straßnik (Grenzaufseher) und ein Kosak, und man meint die lauernden Augen durch die Dunkelheit leuchten zu sehen. Was mögen die nur vorhaben?“

Er wußte es nicht, und auch ich und mein Secretair, der mit mir im Wagen saß, wußten es nicht. Gutes konnte es nicht sein, was die Russen vorhatten. Wir mußten von der Grenze abbiegen und kamen an dem Orte unserer Bestimmung an. Es war ein lithauisches Dorf, ungefähr eine Viertelmeile von der Grenze entfernt, in welchem wir die Nacht blieben.

An der Grenze war etwa acht Tage vorher einer jener schweren Excesse vorgefallen, die an scharf bewachten Zollgrenzen nicht selten vorkommen, und die an der russischen und polnischen Grenze am allerwenigsten fehlten. Preußische und polnische Schmuggler hatten gemeinschaftlich die russische Grenzwache überfallen; ein Kosak war getödtet, zwei Straßniks schwer verwundet. Das so gemeinschaftlich von preußischen und polnischen Unterthanen verübte Verbrechen mußte gemeinschaftlich von preußischen und russischen Beamten untersucht werden. Ich hatte preußischer Seits die Untersuchung zu führen, und der Thatbestand mußte an Ort und Stelle festgestellt werden. Ich war auf dem Wege dorthin. Am anderen Morgen sollte die gemeinschaftliche Arbeit beginnen.

Sechs Meilen von der Gegend entfernt wohnend, mußte ich schon am Abend vorher in dem nächsten Orte, dem lithauischen Dorfe, eintreffen, dessen Namen ich vergessen habe. In dem Dorfe war nur ein Krug, in dem ich übernachten konnte. In den gewöhnlichen lithauischen Krügen ist Nachts kein Verbleib. Es fehlt eben an Allem, was der Reisende zu seiner Bequemlichkeit bedarf. Gerade an das Allernothwendigste, eine Schlafstube und Betten, ist am seltensten zu denken. In der allgemeinen Krugstube mag man sich auf einer Streu dem Schlafe hingeben, wenn – man kann. Der Krug in jenem Dorfe hatte indeß Kammern und Betten, und ich hatte schon vorher je zwei davon bestellen lassen, für mich und meinen Secretair, der zugleich mein Dolmetscher war.

Der Krugwirth empfing uns mit der Nachricht, daß die Kammern, die den ganzen Winter nicht geheizt worden, noch nicht warm geworden seien, und lud uns ein, vorab in der Krugstube abzusteigen. Es war im April und das Wetter kalt und naß, ein scharfer Wind hatte uns vollends durchgekältet. Wir traten in die Krugstube. Ich ging auch aus einem anderen Grunde gern hinein, denn es mußten sich Leute dort befinden, von welchen ich erfahren konnte, was zu der ungewöhnlich strengen Bewachung der Grenze die Veranlassung gegeben habe.

Ich hatte mich hierin getäuscht. In der Stube befand sich nur ein einzelner Mensch. Er saß auf einer Bank am Ofen, in einen großen blauen Mantel von grobem Tuche, sogenanntem Wand, gehüllt, eine Pelzmütze tief in das Gesicht hineingezogen. Was die Mütze von dem Gesicht freiließ, war von einem großen Schnurrbarte bedeckt. Uns beachtete er nicht. Er schien gleichwohl auf etwas zu warten. Nach einer Weile sprang er ungeduldig auf, an ein Fenster, um hindurch zu horchen und zu schauen. Es wollte mir dabei Allerlei an ihm auffallen. Unter dem groben Mantel und zu der weiten Pelzmütze trug er an den Füßen feine Stiefel und an den Stiefeln kleine, klirrende Sporen. Sein Fuß war elegant geformt, seine Bewegungen waren rasch, gewandt. Der Mann war etwas Anderes, als er wenigstens hier scheinen wollte.

Er warf jetzt fast unverhohlen mißtrauische Seitenblicke auf mich. Was konnte er mit mir, was ich mit ihm zu thun haben? Ich sann darüber nach, als der Krugwirth in die Stube trat. Ich glaubte zu bemerken, daß er mit dem Fremden einen flüchtigen Blick wechselte. Dann kam er auf mich zu. Er hatte mir etwas zu sagen. Aber in dem Augenblicke, als er zu mir sprechen wollte, wurde hastig die Thür aufgerissen.

Zwei Männer stürzten in die Krugstube. Sie trugen gleichfalls weite blaue Wandmäntel und Pelzmützen. Aber wie sehr waren sie im Uebrigen von dem Fremden verschieden, mit ihren großen, derben Gestalten, plumpen Bewegungen, schweren Stiefeln und klappernden Sporen! Sie wollten auf den Fremden zueilen, aber ein gebieterischer Wink seiner Augen hemmte ihren Schritt. Er verließ gleich darauf die Stube, und sie folgten ihm.

Der Krüger brachte vor, was er mir zu sagen hatte.

„Ich hätte eine Bitte an den Herrn Director.“

[162] „Und?“

„Sie haben zwei Stuben bei mir bestellt, welche jetzt beide warm sind. Nun kommen aber so eben Fremde, die mich um eine warme Stube bitten. Wären Sie nicht so gütig, ihnen eine der Stuben abzutreten? Ich habe noch eine dritte, die lasse ich Ihnen dann sofort heizen.“

„Wer sind die Fremden?“ fragte ich.

„Eine Frau mit einem Kinde. Die Frau ist krank und darum kann sie auch nicht hier in der Krugstube bleiben.“

„Geben Sie der Frau die wärmste der beiden Stuben.“

Er ging.

Der Krüger hatte mich, während er mit mir sprach, nicht ansehen können. Sein Gesicht war mir verschlagen, sein Auge falsch vorgekommen. Mir war jetzt Alles verdächtig, daher ging ich ihm nach, denn ich mußte wissen, was es mit den Männern in den blauen Mänteln und mit der fremden Frau und ihrem Kinde war. Ich sollte nur wenig sehen und nichts erfahren. Und doch sah ich so viel und ich meinte, ich hätte mehr als genug erfahren.

In dem Hausflur stand ein ältlicher Mann in grober, fast ärmlicher polnischer Bauernkleidung, welcher ein schlafendes Kind von etwa anderthalb Jahren im Arm trug. Er sprach mit dem Wirth. Hinter ihm lehnte an einer Thürpfoste eine Frau, welche gleichfalls die ärmliche, grobe Kleidung der untersten Stände des armen Landes trug. Aber diese grobe Kleidung umschloß eine hohe, schlanke Gestalt. Der Gestalt entsprach das Gesicht, welches tief blaß, leidend, aber trotzdem von einer wunderbaren, fast erhabenen Schönheit war.

Die Frau war krank. Erschöpft lehnte sie an der Thürpfoste. Ihr Athem und ihre Brust schienen wie im Fieber zu fliegen. Dennoch hörte sie mit Spannung auf das Gespräch des ältlichen Mannes mit dem Wirthe. Einmal warf sie dabei einen plötzlichen und wie dankbaren Blick auf mich. Die Beiden sprachen polnisch mit einander; die Sprache war mir fremd; ich hatte daher nicht verstanden, was sie redeten. Der Blick verrieth mir, daß sie wohl über das Nachtlager sprachen und der Wirth gesagt hatte, ich hätte ihnen eine Stube abgetreten. Sie gingen mit dem Wirthe die Treppe hinauf, die hinten aus dem Flur zu den oben im Hause gelegenen Stuben führte. Der Mann in der bäuerlichen Kleidung mußte die kranke Frau führen und that es mit einer auffallenden Ehrerbietung.

Da war wieder eine Verkleidung, wieder ein Geheimniß. Aber dieses Geheimniß wollte mich drücken. Das Gesicht der Frau hatte so leidend ausgesehen und ihr Blick war ein ängstlicher gewesen. Ich mußte unwillkürlich mit ihr jene ungewöhnliche Bewachung der Grenze in Verbindung bringen, mit dieser wieder die verkleideten Männer in den blauen Wandmänteln und mit diesen dann die Zeit, in der wir lebten. Es war eine traurige, unglückliche Zeit für das arme Polenland.

Wir waren im Jahre 1832. Wenige Monden vorher war jener entsetzliche Kampf beendet, von dessen Ruhme die Geschichte ewig erzählen wird. Eine Reihe von Verfolgungen gegen die Besiegten hatte darauf begonnen. Noch Jahre lang wurden in allen Gegenden des Landes die Betheiligten der Revolution aufgesucht, heimlich oder offen, um dem Tode oder der lebenslänglichen Gefangenschaft zugeführt zu werden. Manchem gelang es wohl zu entfliehen, aber wie Mancher wurde noch an der Grenze wieder eingefangen, und dann war kein Entrinnen mehr möglich.

Mein Kutscher trat an mich heran, mit einer geheimnißvollen, fast ängstlichen Miene.

„Haben der Herr Director die Leute in den blauen Wandmänteln gesehen?“

„Ja.“

„Es sind russische Straßniks. Einer ist Officier.“

„Woher wißt Ihr das?“

„Ich belauschte sie im Stalle, in welchem sie ihre Pferde stehen haben. Der Officier befahl den Beiden, zur Grenze zurück zu reiten. Mehr verstand ich nicht. Sie sprachen sehr eifrig, aber sehr leise mit einander.“

Ich hatte durch die wenigen Worte mehr als genug erfahren. Ich hatte Verfolgte und Verfolger gesehen. Es drückte mich schwerer, unheimlicher. Die armen Verfolgten waren auch in Preußen nicht sicher. Ich wußte es, und die helle Gluth der Scham stieg mir in das Gesicht. Auch sie wußten es, darum die ängstlichen Blicke der Frau.

Ich hatte den Schulzen des Dorfes zu mir rufen lassen, da ich ihn wegen meiner Geschäfte des folgenden Tages sprechen mußte. Ich fragte ihn nach der Unruhe an der Grenze. Er wurde verlegen, aber dann fiel ihm ein, daß ich auch Beamter sei, und da dürfe er mir schon sagen, um was es sich handle. Eine polnische Herrschaft werde von den Russen verfolgt, erzählte er mir darauf. Der Mann sei in die Revolution verwickelt gewesen, und man habe die Leute erst jetzt aufgefunden. Sie seien entkommen und hierher nach der Grenze zu geflüchtet. Dort habe man ihre Spur verloren. Sie hätten aber noch nicht weit sein können, und seit einer halben Stunde wisse man, daß sie wirklich hier im Dorfe seien. Die Frau sei mit ihrem Kinde und einem alten Diener hier im Kruge. Der Mann fehle noch; wahrscheinlich hätten sie sich verabredet, mit ihm hier zusammenzutreffen. Daher habe man die Frau auch noch nicht arretirt; an dem Mann sei das Meiste gelegen, und da müsse man warten, bis der am späten Abend ankomme.

„Und wer soll die Leute arretiren?“ fragte ich, während zu der Gluth der Scham zugleich die des Zorns mir in das Gesicht schlug.

„Nun, ich, Herr Director.“

„Und von wem haben Sie dazu den Befehl, den Auftrag?“

„Es ist ein allgemeiner Befehl von der Regierung in Gumbinnen an alle Schulzen und Gensd’armen, den Requisitionen der russischen Behörden bei Verfolgung von Deserteuren und Ueberläufern Folge zu geben.“

„Sind denn diese Leute Deserteure oder Ueberläufer?“

„Ueberläufer! Der russische Gensd’armeriehauptmann da drinnen in der Krugstube sagt es.“

„Und dem Manne glauben Sie auf sein einfaches Sagen?“

Der Schulze wurde verlegen.

„Schulze,“ fuhr ich fort, „Sie sind auf dem Wege, sich in hohem Grade verantwortlich zu machen. Wenn ein preußischer Beamter, aber aus einem anderen Kreise, zu Ihnen käme, und die Verhaftung eines Menschen von Ihnen forderte, Sie würden eine schriftliche Legitimation von ihm fordern. Und dem ersten besten Russen, der hierher kommt, den Sie nicht einmal kennen, wollen Sie hier Menschen abliefern, von denen Sie auch nicht einmal wissen, ob sie Verbrecher sind oder nicht?“

Verantwortlichkeit! Es ist ein schweres Wort für einen Beamten, vom Minister bis zum Schulzen.

„Was soll ich machen, Herr Director?“ fragte mich der rathlose Schulze.

„Was Sie machen sollen? Erklären Sie dem russischen Gensd’armenhauptmann, wenn er Ihnen nicht einen schriftlichen Befehl des polnischen Grenzgerichts in Marianopel beibringe, so dürften und würden Sie hier Niemanden verfolgen und an ihn ausliefern. Ich nehme die Verantwortung auf mich.“

Es wurde dem guten Mann leichter. Er war bereit, so zu thun. Damit er fest bleibe, begleitete ich ihn in die Krugstube. Der Hauptmann war, nachdem er die beiden Straßniks, wahrscheinlich um noch mehr Mannschaft herbeizuholen, fortgeschickt hatte, in die Krugstube zurückgekehrt. Der Schulze gab ihm rund und klar seine Erklärung. Sie sprachen polnisch, aber mein Dolmetscher übersetzte es mir nachher. Der Russe polterte, schimpfte, warf wüthende Blicke auf mich und drohte dem Schulzen, welcher aber fest blieb. Der Russe stürmte aus der Stube, indem er noch einen boshaften, lächelnden Blick auf mich zurück warf. Zwei Minuten nachher hörte ich ihn im Galopp davon sprengen.

„Gewonnen!“ rief ich. „Die armen Menschen sind gerettet!“

Aber das Gesicht des Schulzen war ängstlich geworden.

„Gerettet, Herr Director?“ schüttelte er den Kopf. „Ja, wenn die Leute noch in der ersten Stunde sich von hier fort machen könnten! Aber die Frau war auf den Tod krank.“

[163] „Was fürchten Sie denn, Schulze?“

„Wir sind hier keine Viertelmeile von der Grenze. Wenn die Russen einen Ueberfall machten und sich die Leute mit Gewalt holten! Es wäre das erste Mal nicht.“

Auch mir wollte die Angst das Herz zuschnüren, und der Zorn wieder dabei. Der Mann hatte Recht. Derartige Einbrüche und Ueberfälle der Russen in preußisches Gebiet geschahen, und sie höhnten die Reklamationen, die von den preußischen Behörden hinterher dagegen erhoben wurden.

„Bieten Sie das Dorf zur Gegenwehr auf, Schulze!“ sagte ich.

„Es käme kein Mensch, Herr Director.“

„Sind Gensd’armen, Grenzaufseher hier?“

„Der nächste Gensd’arm ist zwei Meilen entfernt, und die beiden Grenzaufseher sind auf ihrer nächtlichen Patrouille und kommen vor morgen früh nicht zurück.“

Das war eine verzweifelte Lage. Ich wollte mir den Gedanken an den Ueberfall aus dem Kopfe schlagen.

„Aber der Russe sah Sie so boshaft an,“ sagte der Schulze.

Und daß der Krugwirth, mit dem er Winke gewechselt, ein Schuft sei, mußte ich mir sagen. Es gab mir nur keinen Rath. Der Schulze ging, und ich saß allein mit meinem Dolmetscher, welcher auch keinen Rath wußte. Wir waren unten in der Krugstube geblieben und blieben auch ferner da, denn wir waren dort dem näher, was sich noch ereignen konnte. Dem Kutscher befahl ich, draußen aufzupassen und mir namentlich zu melden, wenn Jemand in das Haus komme. Ich dachte an den Polen, den Mann der kranken Frau, den sie erwartete. Mit ihm wollte ich reden. Vor Mitternacht war eine Rückkehr und ein Ueberfall der Russen nicht zu befürchten. Ich wollte dem Polen meinen Wagen anbieten; so war ja auch die Kranke wohl fortzuschaffen.

Es war neun Uhr Abend geworden. Ich verzehrte mit dem Dolmetscher unser Abendbrod. Draußen hatte der Wind nachgelassen, aber der Regen schlug an die Fenster. Sonst war Alles still. An dem Ende des kleinen Dorfes bewegte sich in der Nacht Niemand. Und Nacht war es für die Dorfbewohner schon. Die meisten waren gewiß längst in ihren Betten. Plötzlich hörte ich durch die Stille einen Wagen heranfahren und nach wenigen Minuten vor dem Kruge halten. Ich war an das Fenster getreten und erkannte trotz der Dunkelheit eine Kutsche, die hielt.

Der Krüger war zu dem Wagen hinausgegangen, und ich hörte ihn deutsch sprechen. Eine fremde Mannsstimme antwortete ihm deutsch, doch konnte ich nur einzelne Worte verstehen, die mir keinen Sinn ihres Gesprächs ergaben. Nur meinen Namen glaubte ich ein paar Mal aussprechen zu hören.

Ein langer, hagerer Mann trat gleich darauf in die Krugstube. Er konnte erst in der Mitte der dreißiger Jahre stehen, aber nie konnte man ein faltenreicheres und in seinen grauen Falten würdevolleres und wichtigeres Gesicht sehen. Es war nur ein so vornehmer und gewichtiger Mann in ganz Litthauen, ein Mann, den jeder Litthauer kannte und nannte. Ich hatte ihn nie gesehen, aber ich kannte ihn, ich hatte von ihm gehört, und wenn das nicht der Assessor Häring war, so war der Assessor Häring eine Fabel, eine Mythe.

Er war ein Berliner Kammergerichts-Assessor gewesen, der Assessor Häring, und hatte als solcher den unwiderstehlichen Drang, den unauslöschlichen Durst in sich verspürt, ein großer Mann zu werden. Ein großer Mann war ihm ein hoher Beamter. Carriere! Das war sein einziger Gedanke. In Berlin hielt sie schwer, denn es war eine Ueberfüllung von jungen Assessoren da, die Alle von demselben großen Gedanken durchglüht waren, und – man wollte seine Talente und Verdienste nicht recht anerkennen. In die Provinz! rief es da in ihm. Berlin ist der Sitz der Intelligenz, aber auch der Verkennung. Die Provinz ist eine Wüste. Ein Mann aus Berlin ist dort Alles. Es kann mir nicht fehlen. Die größte Wüstenei ist Litthauen, da hinten an der russischen Grenze. Nach Litthauen! Er bat um eine Anstellung in Litthauen. Er wurde als Assessor bei dem Kreisgerichte in Tilsit angestellt. Es war wenig für seinen Ehrgeiz und für seine Ueberzeugung von seinem Verdienste. Es wird schon besser werden! Ich werde mich auszeichnen! tröstete er sich und er zeichnete sich aus. Kein höherer Beamter konnte nach Tilsit kommen, ohne sofort von dem Assessor Häring becomplimentirt, geführt, bedient zu werden. Das hilft. Er war nach Jahr und Tag der „ausgezeichnetste Beamte der Provinz“, ein überall gerühmter Mann. Er wurde zum Assessor bei der Regierung der Provinz in Gumbinnen befördert. Er war auf der Stufe zur höchsten Macht. Wiederum nach Jahr und Tag mußte er schon Regierungsrath sein. Es konnte nicht fehlen, zumal da er das Polizeiwesen in der Provinz zu seinem Decernat hatte. Wie sehr kann ein Beamter im Polizeiwesen sich auszeichnen!

Der Mann stand auf einmal vor mir. Es konnte kein Anderer sein. Was konnte er hier wollen, er, der das Polizeiwesen der Provinz, also auch hier an der Grenze, zu seinem Decernat hatte? Er trat würdevoll in die Krugstube ein. Ein feiner Pelz umgab die langen, hageren Glieder. Er legte ihn langsam, vorsichtig ab. Dann stand er untadelhaft gekleidet da, in schwarzem Rock, weißer Weste und weißer Halsbinde.

Die litthauischen Mädchen, für die er ebenfalls, freilich in eigenthümlicher Weise, eine Berühmtheit war, nannten ihn nicht anders, als den „schwarzweißen Storch“, weil er so entsetzlich lange Beine hatte und so gravitätisch ging. Nachdem er den Pelz abgelegt hatte, zog er ein sauberes, seidenes Taschentuch hervor, nahm seine Brille ab, putzte die Gläser mit dem Tuche, setzte die Brille wieder auf und steckte das Tuch wieder in die Tasche. Dann erst sah er sich in der Stube um, langsam, würdevoll, und als er mich erblickte, schritt er feierlich und halb herablassend und halb submiß auf mich zu.

„Herr Criminaldirector –?“

„Mein Name! Und ich habe die Ehre –?“

„Regierungsassessor Häring aus Gumbinnen. Ich bin auf einer Dienstreise hier.“

Soweit hatte ich mich also nicht getäuscht. Und war auch meine Ahnung über seinen besondern Zweck eine richtige, so wollte bei dem nähern Anblick des wichtigen Mannes auf einmal ein großer Theil meiner Sorge schwinden. Es dämmerte ein Licht vor mir auf, ich mußte es nur verfolgen.

„Ich freue mich sehr, Herr Assessor –“ sagte ich.

„Regierungsassessor!“ verbesserte er mich.

„Ich freue mich außerordentlich, Herr Regierungsassessor, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich habe so viel Ausgezeichnetes von Ihnen vernommen –“

„Ich bitte, Sie beschämen mich.“

„Dem Verdienste seine Anerkennung. Sie sind heute auch in einer sehr wichtigen Mission hier?“

Die Falten in seinem grauen Gesicht strahlten. Sie strahlten mir als Licht, nach dem ich suchte. Ich lud ihn ein, sich zu uns zu setzen. Er that es und nun erzählte er. Die Gesellschaft der Krugstube hatte sich unterdeß vermehrt. Eine Harfenistin war noch eingetroffen. Eine große, wie es mir schien, noch ziemlich junge und hübsche Person. Sie hatte sich aber, durchnäßt und durchfroren, hinter den Ofen zurückgezogen, und der vornehme Assessor hatte um so weniger Notiz von ihr genommen.

„Allerdings,“ erwiderte er mir, „bin ich in einer Mission hier, in einer sehr wichtigen.“

„Dürfte ich sie, wenn sie kein Amtsgeheimniß ist, erfahren?“ sagte ich.

„Sie ist durchaus kein Geheimniß. Sie wissen, ich bearbeite das Polizeidepartement bei der königlichen Regierung in Gumbinnen.“

„Gewiß weiß ich es. Die Provinz erkennt es an, daß dieser wichtige Verwaltungszweig in keinen besseren Händen sein könnte.“

„Ich gebe mir wenigstens alle Mühe. Es ist aber ein schwieriges Departement, und die meisten Schwierigkeiten erzeugt die russische und polnische Grenze.“

„Ich bin überzeugt davon.“

„So liegt heute ein Fall vor, der meine persönliche Anwesenheit hier erforderlich machte.“

„Er muß von besonderer Bedeutung sein.“

„Ja, das ist er. Es ist Ihnen unzweifelhaft nicht unbekannt, wie drüben in Polen noch immer die Elemente der Revolution nicht ganz niedergeschlagen sind.“

„Ich denke, es ist die Ruhe des Grabes in dem Lande.“

„Bitte um Verzeihung. Wir haben bei der königlichen Regierung ganz andere Nachrichten. Die Revolution ist nur im Großen und Ganzen besiegt. Die Ruhe herrscht nur äußerlich. Im Verborgenen giebt es der Wühler noch immer leider zu viele, und das Beginnen dieser conspirirenden Umsturzpartei ist um so verwerflicher, empörender und für das im Ganzen und Großen [164] ruhige Volk um so gefährlicher, als sie gegen eine Regierung gerichtet ist, die ihre Milde und ihren versöhnlichen Geist so eclatant auch namentlich jetzt nach Niederwerfung der Revolution bewiesen hat.“

„Sie meinen doch die russische Regierung?“ fragte ich ihn.

„Gewiß. Und ich freue mich, daß auch Sie die väterliche Milde dieser Regierung anerkennen. Sie werden daher auch gewiß nicht jenen elenden Tagesschreiern beistimmen wollen, die von Grausamkeit und dergleichen sprechen, und Sie werden auch unserer Regierung Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn sie, zumal durch feierliche Staatsverträge verpflichtet, solche Verräther, die sich dem Arme der Gerechtigkeit durch die Flucht auf hiesiges Gebiet entziehen wollen, ihrer rechtmäßigen Obrigkeit und dem gesetzmäßigen Richter wieder ausliefert.“

Es stieg ein frivoler Wunsch in mir auf, ein schadenfroher.

Er gab mir zugleich sonderbare Ahnungen ein. Ich mußte nur Alles unterdrücken, um jener armen Menschen willen.

„Ein Fall solcher Art hat Sie hierher geführt?“ fragte ich.

„Ja. Einem der gefährlichsten Empörer und Verschwörer, dem Grafen Tomborski, war es seit Niederwerfung der Revolution gelungen, allen Nachforschungen der Regierung sich zu entziehen. Vor Praga in den letzten Kämpfen schwer verwundet, hatte er nicht flüchten können. Später, als er genesen, war seine Gattin schwer erkrankt, die ihn nicht hatte verlassen wollen. Er wollte jetzt sie nicht verlassen. Darüber waren überall im Lande geordnete Zustände hergestellt, so daß sie zwar lange Zeit noch immer sich verbergen konnten, ein Entkommen aus ihrer Verborgenheit aber und vollends ein Entfliehen über die Grenze ihnen fast zur Unmöglichkeit wurde. Zuletzt wurde auch ihr Aufenthalt entdeckt: die verrätherische Wittwe eines Edelmannes, Freundin der Gräfin, hatte sie über ein halbes Jahr lang in ihrem Schlosse vor Aller Augen zu verbergen gewußt. Sie sollten aufgehoben werden –“

„Ah, in der Stille!“ mußte ich den Erzähler doch unterbrechen, „die Regierung liebt das in Polen. Es giebt das einen heilsamen Schreck.“

Er zuckte die Achseln.

„Was wollen Sie? Uebrigens muß man in manchen Dingen auch den Eclat vermeiden.“

„Besonders die Polizei.“

„Allerdings. Indeß um auf den Grafen Tomborski zurückzukommen –“

„Und seine Gattin,“ unterbrach ich ihn wieder.

„Und sie, und zugleich ein Kind von ungefähr anderthalb Jahren –“

„Wie? Auch ein anderthalbjähriges Kind wird mit verfolgt?“

Der Regierungsassessor lachte.

„Was wollen Sie?“ sagte er wieder. „Solch ein Kind ist eine vortreffliche Geisel. Man hat dadurch die Eltern in der Hand, man kann sie damit zurückrufen -“

„Auch nach Sibirien –“

„Gerechtigkeit muß sein! Allein lassen Sie mich fortfahren.“

„Fahren Sie fort.“

„Die Leute sollten aufgehoben werden, in der That heimlich. Auf einmal waren sie verschwunden, Mann, Frau und Kind, seit vier Tagen jetzt schon, und es ist noch nicht gelungen, ihrer wieder habhaft zu werden. Man hat nicht einmal eine sichere Spur von ihnen entdecken können. Nur haben einzelne Anzeichen darauf schließen lassen, daß die Verfolgten ihre Richtung nach dieser Grenze genommen haben. Das ist der Grund meines Hierseins.“

„Und dessen Zweck ist?“ fragte ich.

„Mein Zweck? Heute Morgen traf bei der Regierung ein Schreiben der russischen Behörde um mögliche Nachforschung auf diesseitigem Gebiete und schleunigste Auslieferung ein. Hierzu die erforderlichen Anordnungen zu treffen und zugleich diese selbst zu leiten, ist der Zweck meines Hierseins.“

„Sie haben gewiß schon die erforderlichen Anordnungen unterwegs getroffen?“

„Allerdings, in allen Dörfern an der Grenze, durch die ich kam. Das hat meine Ankunft hier verspätet. Ich werde indeß sofort zu dem hiesigen Schulzen schicken.“

Er wollte aufstehen, um den Befehl zu ertheilen. Wenn er wirklich zu dem Schulzen schickte und wenn dieser zu ihm kam, so war Alles verloren. Ich mußte es verhindern.

„Der Schulze wird schon schlafen,“ sagte ich ihm.

„O,“ lächelte er stolz, „ich habe das Recht, meine Untergebenen auch um Mitternacht wecken zu lassen, und sie müssen augenblicklich erscheinen.“

„Aber kennen Sie den hiesigen Schulzen, Herr Regierungsassessor?“

„Ich kenne ihn nicht.“

„Sie kennen aber die Litthauer überhaupt?“

„Wie kein anderer Mann in der Provinz.“

„So wissen Sie auch, daß sie den Deutschen nicht sehr zugethan sind.“

„Hm!“

„Sie lieben zum Beispiel nichts mehr, als uns Deutschen allerlei häßliche Spitz- und Schimpfnamen zu geben.“

Er wurde roth. Die litthauischen Mädchen mochten oft genug hinter ihm her gerufen haben: „Da geht der schwarzweiße Storch mit den entsetzlich langen Beinen.“

„Hm, hm!“

„Ein Prachtexemplar von dieser Ausgabe ist der hiesige Schulze. Ich kenne ihn. Und ich stehe Ihnen nicht dafür ein, daß der Mann nicht, sobald Sie mit ihm gesprochen hätten, das halbe Dorf im Geheimen auf die Beine bringen würde, um die Verfolgten in Sicherheit zu schaffen. Denn daß das Volk die Russen nicht liebt, werden Sie gleichfalls zugeben.“

Er war sehr nachdenklich geworden.

„Hm, hm! Ja, ja! Aber was fange ich an?“

„Lassen Sie es uns überlegen, bei einem Glase – Ach, wo denke ich hin? Wie gäbe es hier Wein! Aber Punsch werden wir bekommen können. Und er wäre am Ende besser als Wein. Mich friert. Sie werden in dem schlechten Wetter nicht minder durchfroren sein.“

Die Falten seines Gesichts nahmen wieder einen vergnügteren Ausdruck an. Es war Leben in diesen Falten.

„Ach, ich bin wirklich durchfroren und ich würde mir die Ehre geben, diesen Punsch zu bereiten. Ich verstehe mich darauf.“

„Vortrefflich.“

Der Krüger brachte gerade das Abendbrod des Assessors.

„Sie haben doch Rum und Zucker im Hause, lieber Krüger?“ fragte er ihn wichtig.

„Sehr guten, Herr Regierungsassessor.“

„Und Citronen?“

„Noch drei Stück.“

„Sie reichen aus.“

„So lassen Sie schnell Wasser kochen.“

„Wasser kocht in der Küche immer.“

„Herrlich. So bringen Sie das Alles herein, wovon ich sprach.“

„Der Herr Assessor wollen einen Punsch machen?“

Der Wirth hatte nach drei Minuten Alles hergebracht, und einen großen Suppennapf dazu. Der lange Assessor bereitete mit seinem würdevollsten Eifer den Punsch. Er verstand sich darauf.

(Fortsetzung folgt.)


Friedrich Christoph Dahlmann.

Von Heinrich v. Treitschke.

Unter der großen Zahl guter Männer, welche dieser arge Winter uns entrissen, ist Einer, der wie Wenige eine Untugend unserer rasch lebenden Tage an sich erfahren hat – ihre Fertigkeit, Menschen zu vernutzen und zu vergessen. Nicht gehoben von der Huld der Großen, nicht getragen von der Gunst der Menge, war er dennoch während langer Jahre ein Lehrer und Führer der Freiheitsbestrebungen unseres Volkes. Und heute wird sein Name nur noch selten genannt von einem Geschlechte, dessen politische Ideale zum guten Theile in den Gedanken dieses Mannes wurzeln.

Friedrich Christoph Dahlmann ward am 13. Mai 1765 im Bürgermeisterhause der damals schwedischen Stadt Wismar geboren. So durch die Geburt mitten hineingestellt zwischen die deutsche und die skandinavische Welt, hat er auch, siebzehnjährig, auf der Kopenhagener Hochschule seine gelehrte Bildung begonnen. Die

[165]

Friedrich Christoph Dahlmann.

deutsche Wissenschaft gewann ihn erst, als er seit d. J. 1804 in Halle bei F. A. Wolf und Schleiermacher philologische und schönwissenschaftliche Vorlesungen hörte. Als ein Schatz für das Leben blieb ihm von diesen classischen Studien die Gewöhnung an eine streng wissenschaftliche Methode und ein geläuterter Schönheitssinn. Und ein noch köstlicheres Gut trug er davon. Ihm geschah wie Unzähligen: erst als Deutschland verloren schien, begann man zu erkennen, daß es ein Deutschland gebe. Aus dem Jammer und der Schande der bonapartischen Herrschaft erwuchs dem jungen Manne die fromme, treue Liebe zum Vaterlande. Es waren unstäte Tage; „man wußte in dieser napoleonischen Zeit nichts mit sich anzufangen.“ Umsonst suchte Dahlmann in Deutschland nach einer Stellung im Leben; da führte ihn in Dresden ein glücklicher Zufall mit Heinrich von Kleist zusammen, und der gemeinsame Haß gegen die fremden Zwingherren, die gemeinsame Liebe zur Kunst machte den besonnenen, erwägenden Gelehrten rasch vertraut mit dem leidenschaftlichen, reizbaren Dichter. Dahlmann selbst hat uns geschildert, wie die Beiden selbander nach Böhmen und auf das kaum verlassene Schlachtfeld von Aspern wanderten, wie zu Prag Kleist seine Hermannsschlacht hervorholte, den Freund begeisterte durch die Kraft und Kühnheit des wunderbaren Gedichts, und Beide sich zusammenfanden in der Hoffnung auf einen Befreiungskampf bis zum Ende, „bis das Mordnest ganz zerstört und nur noch eine schwarze Fahne auf seinen öden Trümmerhaufen weht“. Die Hoffnung ward für diesmal zu Schanden. Dem Heinrich Kleist brach das Herz, weil seine stürmische Ungeduld das langsame Reisen des Volksgeistes nicht abwarten mochte. Dahlmann aber erwarb sich zu Wittenberg die Doctorwürde und betrat i. J. 1811 in Kopenhagen die akademische Laufbahn, lehrte und schrieb über das Lustspiel der Athener und machte sich vertraut mit dem Wesen und den Schriften jenes Dänenvolkes, dem er bald ein so unbefangener und darum ein so verhaßter Gegner werden sollte.

Schon nach einem Jahre ward er als Professor der Geschichte nach Kiel gerufen. Sehr schmerzlich empfand er es, daß ihm die Theilnahme an dem nun ausbrechenden Freiheitskriege versagt blieb, denn nach teutscher Weise dachte er groß von dem Kriege und pflegte noch in den politischen Vorlesungen seiner letzten Jahre mit warmer Vorliebe von dem edlen Handwerke des Soldaten zu reden. Er mußte sich begnügen, durch Briefe seiner Mecklenburger Heimath Nachricht zu geben von dem Untergange der Franzosen in Rußland und an seinem Theile die große Erhebung vorbereiten zu helfen. Nach dem Siege ward ihm die Ehre, den Tag von Belle-Alliance in akademischer Festrede zu verherrlichen. „Und wie uns alle Zeichen günstig werden, seit wir einig sind!“ – so freudig, so zukunftssicher blickte Dahlmann in jenen Tagen der jungen Hoffnung auf sein Volk und mahnte schon damals, daß Schleswig, [166] obwohl vom deutschen Bunde ausgeschlossen, trotzdem durch Stammesart und Geschichte zu Deutschland gehöre.

Nur zu bald folgte die schwere Enttäuschung. In den Congreßberathungen über die Bundesacte behielt die Meinung jener Staaten den Sieg, welche den Rheinbund geschlossen hatten; das Geschenk Bonapartes, die Souveränetät der Einzelstaaten, blieb erhalten. Noch eine kurze Frist, und die in übereilter Hast entworfene Bundesacte ward für ein makelloses, unantastbares Werk erklärt. Der vaterländische Sinn, der begeisterte Idealismus unserer Jugend, ohne welche das Werk der Befreiung nie gelungen wäre, wurden den neuen Gewalthabern verdächtig. Der Bundestag begann seinen Kampf gegen das Einzige, was unser Volk noch einte, gegen deutsche Geistesbildung; die Septemberbeschlüsse von 1819 stellten unsere Hochschulen unter polizeiliche Aufsicht, und der Deutsche mußte mit anhören, daß ein französischer Staatsmann uns sagte: „Eure Staatsmänner thun mir leid, sie führen Krieg mit Studenten.“ Das war zu viel für Dahlmann’s Rechtsgefühl und Gelehrtenstolz. Als er ein Jahr darauf den Geburtstag des Herzogs von Schleswig-Holstein feiern sollte, nahm er das Thema: „was der Staat den Hochschulen schuldig sei“. Die lateinische Rede ist gedruckt, natürlich zu Schleswig; denn wie hätte die deutsche Censur die kühnen Worte des Redners ertragen mögen, der die Universitäten durch jenen Bundesbeschluß „unvergeßlich herabgewürdigt und beleidigt“ nannte? Mit bitterem Spotte bezeichnet er das Majestätsverbrechen als „das eigenthümliche und einzige Verbrechen derer, welche nie ein Unrecht gethan;“ er warnt vor der Verfolgung „jener edlen Liebe der Freiheit, welche zugleich die Liebe des Guten und aller Tugenden und edlen Künste ist“. Aber sein streng gewissenhafter Sinn findet in dem erlittenen Unrechte zugleich die Aufforderung an Professoren und Studenten, durch Gesetzlichkeit und Fleiß zu beweisen, wie schwer der Bundestag sich versündigt. Noch immer war er dem Studium der Politik und der modernen Geschichte fern geblieben. Aber längst hatte er begriffen, was ja Preußen, als die Berliner Hochschule gegründet ward, öffentlich anerkannte, daß die heutige Wissenschaft nicht länger die todte Gelehrsamkeit früherer Tage bleiben dürfe, sondern den ganzen Menschen ergreifen, den Charakter veredeln solle. Er war zuerst ein Mensch und ein Bürger, dann erst ein Gelehrter. Als daher unter dem Schutze desselben Bundestages, der die Wissenschaft geknebelt, die große Sammlung deutscher Geschichtsquellen erscheinen sollte, lehnte Dahlmann jede Betheiligung ab; denn „mein guter Name ist mir mehr werth als ein wissenschaftliches Unternehmen,“ und „ich möchte nicht, daß es gelänge, auf dem mit Unterdrückung und Verfolgung – und womit vielleicht bald? – befleckten Boden edle Früchte der Wissenschaft durch gebundene Hände zu ziehen.“

Schleswig-Holstein war ihm bald eine zweite Heimath geworden; seine Mutter stammte aus dem Lande, und seine durchaus niederdeutsche Natur, langsam erwärmend, aber das einmal Liebgewonnene mit Treue und nachhaltiger Kraft festhaltend, fühlte sich wohl unter dem verwandten Menschenschlage. Er beschenkte seine Landsleute mit einer Ausgabe und Erklärung der Chronik des Neocorus, jenes alten Pfarrherrn, der die Heldenkämpfe der Dithmarscher Bauern für „de leve Frieheit“ so köstlich treuherzig zu schildern wußte. Seine Vorlesungen über alte Geschichte wurden der Mittelpunkt für die allgemein-wissenschaftlichen Studien zu Kiel, und in Kopenhagen vergab man es ihm nicht, daß er den zahlreichsten Hörerkreis um sich versammelte. Von dem Ernste und der Vielseitigkeit seiner damaligen Arbeiten geben die „Forschungen auf dem Gebiete der Geschichte“ ein Zeugniß – Abhandlungen über Fragen aus der altnordischen und der griechischen Geschichte, keine darunter für das Wesen des Mannes so bezeichnend wie die Untersuchung über Herodot. An dem „Vater der Geschichte“ preist Dahlmann die erste Tugend des Historikers, die schlichte Wahrhaftigkeit: „die die ganze Welt beherrscht, die Furcht vor dem Lächerlichen, berührt die erhabene Einfalt seines Sinnes nicht.“ Aber auch durch praktische Thätigkeit ward Dahlmann seinen Landsleuten werth: er war ihr Vorkämpfer bei dem Beginne des dänisch-deutschen Streites. Prälaten und Ritterschaft von Schleswig-Holstein ernannten ihn zu ihrem Secretär. Als solcher verlangte er das verbriefte Recht der Steuerbewilligung zurück, das diesen Ständen von Alters her zustand, aber von der dänischen Regierung widerrechtlich vernichtet worden war. Die Stände und ihr unermüdlicher Secretär begnügten sich nicht mit wiederholten Eingaben und Druckschriften aus Dahlmann’s Feder. Sie brachten die Sache vor den Bundestag, der nach seiner löblichen Gewohnheit die Verfechter des deutschen Rechtes dadurch widerlegte, daß er ihre Eingabe confisciren ließ. Durch diese Arbeiten für das Recht seiner Mitbürger ward Dahlmann zuerst auf das Studium der Politik geführt. „Vierzigjährig, also nach spartanischen Begriffen gerade ausgewachsen“, schrieb er zum ersten Male wissenschaftliche Aufsätze über Politik in die Kieler Blätter, und es waren köstliche Früchte, die so langsam und stätig gereift waren. Da führte ihn i. J. 1829 ein Ruf nach Göttingen hinweg. Die Liebe und das Vertrauen der Schleswig Holsteiner hätte ihn gern zurückgehalten, doch das entschiedene Mißwollen der Dänen gegen den unverbesserlichen Unruhestifter versperrten ihm in Kiel jede Aussicht auf eine gesicherte Zukunft.

In Göttingen erschloß sich ihm nicht nur ein größerer akademischer Wirkungskreis, er las jetzt zumeist über Politik und neuere deutsche Geschichte; bald ward er auch berufen, sein politisches Nachdenken praktisch zu verwerthen. Es galt damals, die Adelsherrschaft, welche bisher, nicht gestört von dem fernen Landesherrn, in Hannover geschaltet, zu verdrängen durch ein modernes constitutionelles Regiment. Die Verfassung Hannovers, welche im Jahre 1833 rechtmäßig zu Stande kam, entstand mit wenigen Aenderungen aus den Entwürfen Dahlmann’s, der sich das persönliche Vertrauen des Regenten, des Herzogs von Cambridge, enworben hatte und von der Universität zu der entscheidenden Ständeversammlung abgeordnet wurde. Bei alledem stand Dahlmann den Durchschnittsmeinungen der Gebildeten jener Tage sehr fern. Die lange Mißregierung des Bundestages hatte die Gemüther dem deutschen Staatsleben entfremdet; man blickte mit würdeloser Bewunderung auf das Trugbild des französischen Kammerwesens, meinte auch wohl, eine kleine Revolution mehr könne nicht schaden, wenn sie den liberalen Bestrebungen diene. Wie wenig hatte Dahlmann’s sittlicher Ernst mit solcher Frivolität gemein! Er beurtheilte die Menschen nach ihren Mitteln, weil der guten Zwecke Jedermann sich rühme: „einen Liberalismus von unbedingtem Werthe, d. h. einerlei durch welche Mittel er sich verwirkliche, giebt es nicht.“ Darum war er im Göttinger Senate der Einzige, der den Muth besaß, in den Tagen der tragikomischen „Göttinger Revolution“ ein entschiedenes Einschreiten gegen die Studentenschaft zu fordern, freilich auch der Erste, der nach der Niederschlagung des Aufruhrs Milde gegen die Besiegten verlangte. Jene Jahre, welche über die Gesinnung des Mannes zu entscheiden pflegen, hatte er verlebt unter dem großen Eindrucke der preußischen Reformen von 1807 bis 1813. Zudem war er nicht durch philosophische Speculation, wozu sein auf das Concrete gerichteter Sinn wenig Neigung spürte, sondern durch die harte Arbeit des schleswig-holsteinschen Verfassungskampfes in die politische Thätigkeit eingeführt worden. So verstand es sich ihm von selber, daß es nicht gelte fremdländischen Idealen nachzutrachten, vielmehr „die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände“ – das will sagen: des deutschen Volkslebens – zurückzuführen. Während in dem alternden Freiherrn von Stein die Gewaltigen jener Zeit den heimlichen Jakobiner, die Liberalen der französischen Schule den heimlichen Junker beargwohnten, nannte es Dahlmann zürnend ein böses Zeichen, daß der Tod des größten deutschen Staatsmannes fast spurlos vorübergehe an seinem Volke: „Die Zeit wird kommen, da man ihm seine Tugenden verzeiht.“ Dahlmann war Monarchist; denn wie konnte er von republikanischen Formen unser Heil erwarten, wenn er um sich schaute und es mit Händen griff, daß die edelste demokratische Revolution unsres Jahrhunderts, die Befreiung des deutschen Bauernstandes, ein Werk ist der Monarchie in Preußen? Seine Hoffnung stand auf Preußen; und die Herren in Berlin, dienstbar geworden den Habsburgern und ihrem Metternich, machten es damals den Freunden Preußens gar schwer, die Wahrheit zu verkündigen, daß sich Niemand einen guten Deutschen nennen soll, der sich mit der frevelhaften Hoffnung trägt, das Größte und Herrlichste, was die politischen Kräfte unsres Volkes geschaffen, – den preußischen Staat – zu zerstören. In Berlin am wenigsten freute man sich dieses Bewunderers von Preußen, welcher nicht müde ward auf die Nothwendigkeit eines Reichstags für Preußen hinzuweisen; denn er ist vom Könige feierlich verheißen „und gar nicht wie ein Weihnachtsgeschenk, wie ein Putzhut, den man dem Volke giebt, das sich darein vergafft hat, sondern als eine inhaltsvolle, tiefsinnige Einrichtung, als der Schlußstein einer ehrenwerthen [167] Staatsbildung.“ Und unter der Menge besaßen nur Wenige den beherrschenden historischen Blick Dahlmann’s, welcher durch Preußens augenblickliche Irrthümer sich selber nicht beirren ließ in dem Glauben an Preußens Beruf und Zukunft.

Sehr wohl wußte Dahlmann, wie wenig er sich damals einen Parteimann nennen konnte. Darum schickte er (1835) sein wissenschaftliches Hauptwerk, den ersten Theil der „Politik“, mit dem Wunsche in die Welt, daß es allen politischen Secten mißfallen möge – ein Werk, woran, wie an Allem, was aus dieser Feder floß, nicht blos der Kopf, sondern der ganze Mensch gearbeitet hat. Weitab stand Dahlmann von jenen „rabulistischen Naturen, welche alles in Staatssachen Erlernte nur für die nächsten äußeren Zwecke ausbeuten“; eben diese wollte er „dadurch entwaffnen, daß man die Tiefen dieses Zweiges der Erkenntniß aufdeckt“. Aber mit Vorliebe allerdings verweilte sein Nachdenken bei jenen Staatsfragen, welche das lebende Geschlecht in Noth und Sorgen zu lösen sich abmühte. Daher war damals die wissenschaftliche Darstellung der verfassungsmäßigen Monarchie sein Hauptzweck. Und so entsteht für den oberflächlichen Leser leicht der Schein, als wolle Dahlmann einen „guten Staat“, ein constitutionelles Staatsideal aufbauen – derselbe Dahlmann, welcher dem Aristoteles bewundernd nachrühmt, es gebe eine aristotelische Staatslehre, aber nicht einen aristotelischen Staat.

In Wahrheit bildet den größten Vorzug von Dahlmann’s politischer Auffassung jener echthistorische Sinn, welcher den Staat zwar als „eine ursprüngliche Ordnung, einen nothwendigen Zustand, ein Vermögen der Menschheit“ begreift, die Staatsformen aber in den Fluß der Zeit stellt und auch die entlegensten Bildungen der Staaten aus den gegebenen Volkselementen zu verstehen vermag. Die heutige Gesellschaft wird geschildert mit den schlagenden Worten: „Fast überall im Welttheil bildet ein weitverbreiteter, stets an Gleichartigkeit wachsender Mittelstand den Kern der Bevölkerung; er hat das Wissen der alten Geistlichkeit, das Vermögen des alten Adels zugleich mit seinen Waffen in sich aufgenommen. Ihn hat jede Regierung vornehmlich zu beachten, denn in ihm ruht gegenwärtig der Schwerpunkt des Staates, der ganze Körper folgt seiner Bewegung. Will dieser Mittelstand sich als Masse geltend machen, so hat er die Macht, die ein jeder hat, sich selber umzubringen, sich in einen bildungs- und vermögenslosen Pöbel zu verwandeln.“

Damit ist scharf und ohne Vorbehalt der Grundgedanke ausgesprochen jener gebildeten Demokratie, welcher die Zukunft Europa’s gehört und welche nirgends die Stätte so bereitet findet wie in Deutschland mit seiner humanen Bildung und der sehr gleichmäßigen Vertheilung seines Volksvermögens. Kein Wunder, daß dies Buch, obwohl es des gelehrten Stoffes nicht allzuviel bringt – denn Dahlmann wollte lieber „belehrt als gelehrt“ sein – für die Gebildeten unseres Volks während langer Jahre eine wahre Schule des politischen Denkens wurde. Und giebt es heute Undankbare, welche Dahlmann’s politische Lehren hochmüthig zum alten Eisen werfen, so können wir nicht laut genug versichern, daß auch jetzt noch Niemand in Deutschland ein verständiges Wort über politische Dinge redet, der nicht, bewußt oder unbewußt, bei Dahlmann in die Schule gegangen. Es bleibt tief zu beklagen, daß er den Torso nicht vollendet und der Lesewelt nicht ebenso klar wie seinen Zuhörern bewiesen hat, mit welchem rastlosen Fleiße er bis in sein spätestes Alter seine Gedanken zu läutern und fortzubilden wußte.

(Schluß folgt.)




Mein allerliebstes Hausheilmittel.

Das warme Wasser.

Warmes Wasser als Trank“, so warm wie man den Kaffee oder Thee zu trinken pflegt, meine ich, nicht etwa kochendes, aber auch nicht laues Wasser, denn das letztere macht allerdings mitunter eine Uebelkeit, die sich bei den Meisten, denen man warmes Wasser empfiehlt und die gar keine Idee vom Geschmack recht warmen Wassers haben, schon in der Phantasie durch einen ekligen Zug um Mund und Nase herum ausdrückt. „Warmes Wasser“ sage ich nochmals und meine also Wasser mit Wärme, sonach zwei mit einander verbundene ausgezeichnete Hülfsmittel zur Beseitigung von vielen Krankheitszuständen des menschlichen Körpers. Leider beachten die Meisten (Aerzte und Laien) die Verbindung des Wassers mit Wärme oder Kälte, auf die ganz enorm viel ankommt, so gut wie gar nicht, und daher kommt es denn auch, daß sehr häufig innere und äußere Wassercuren, entweder in Kaltwasseranstalten oder in Heißwasserbädern, nicht nur nichts nützen, sondern geradezu schaden. Und eben deshalb sind mir die meisten Kaltwasseranstalten so gefährlich und verächtlich, weil in ihnen kranken Menschen das unentbehrlichste Material zum Leben, zum Gesundsein und Gesundwerden, das Wasser, mit einem der stärksten Reizmittel für Nerven- und Gefäßsystem, nämlich mit Kälte vereinigt, von außen und innen octroyirt wird; daß ferner durch diese heftige Reizung eine Ueberreizung mit nachfolgender Schwächung hervorgerufen wird, die, wenn auch vom Kaltwasserfanatiker nicht zugestanden, sich doch deutlich an demselben merken läßt.

Ich sollte denken, daß Jeder, auch wenn er nur eine geringe Urtheilskraft und Beobachtungsgabe besitzt, doch die Kälte für ein sehr wirkungsvolles Etwas halten müßte, wenn er hört und sieht: wie in großer Kälte die Lebensthätigkeit bei Pflanze, Thier und Mensch allmählich herabgesetzt wird und sogar erlöschen kann; - wie bei Einwirkung der Kälte auf die Haut diese zuerst bleich (blutarm) wird und zusammenschrumpft (zur Gänsehaut), so daß sich also unterdessen das Blut im Innern des Körpers anhäufen muß -; wie Blutungen durch Kälte, weil diese die blutenden Gefäße zusammenzieht, gestillt werden; - wie bei Ohnmächtigen durch Ansprengen kalten Wassers eine solche Reizung der Hautnerven und durch diese des Gehirns stattfindet, daß das Bewußtsein wiederkehrt; - wie beim Genuß sehr kalten Getränkes oft ziemlich heftiger Magenschmerz entsteht; - wie durch kalte Uebergießungen starkes Herzklopfen und Athembeengung erzeugt wird; wie kalte Bäder (auch Seebäder) bei Bleichsüchtigen Kopfschmerz und große Ermattung, bei Personen mit Nervenschwäche und Krämpfen bedeutende Verschlimmerung der beiden nach sich ziehen; - wie Erkältungen der Haut die schmerzhaftesten und gefährlichsten Krankheiten hervorzubringen im Stande sind u. s. f.

Diese Thatsachen sollen nun aber ja nicht etwa die Wirksamkeit der Kälte und besonders des kalten Wassers verdächtigen und herabsetzen, sondern sie sollen beweisen, wie eingreifend die Kälte auf unsern Körper einwirkt und wie nachtheilig sie bei unpassender Anwendung werden könnte. Mit der Wärme ist es freilich ebenso; auch sie kann schaden, wenn sie angewendet wird, wo es unpassend ist, obschon sie in weit mehr Fällen nützt als die Kälte. Wenn nicht bei Wärme der Lebensproceß besser vor sich ginge, als bei Kälte, würde unser Körper zu seinem ordentlichen Bestehen sicherlich nicht seiner Eigenwärme so benöthigt sein. Kurz Kälte wie Wärme können dem menschlichen Körper ebenso nützen wie schaden; doch soll uns das hier nicht weiter beschäftigen. Bedenken mag aber ein Jeder, der kaltes oder warmes Wasser innerlich oder äußerlich in Anwendung zieht, daß er mit der Wirkung des Wassers auch noch die der Kälte oder der Wärme zu gewärtigen hat.

Trinkt man heißes Wasser, so wird natürlich zunächst der Schlingapparat und der Magen mit seiner Umgebung erwärmt; wie wohl das thut, wird mir Jeder zugeben, der bei Hunger und kalter Witterung einen Teller recht warmer Suppe oder ein Täßchen heißen Kaffees genossen hat. Diese Wärme sagt nun aber vorzugsweise kranken Mägen außerordentlich zu. Schmerzhafte Magenkrämpfe weichen oft nur deshalb nicht, weil der Patient noch manchmal kaltes Wasser oder Bier trank. Beim chronischen, sehr gern in die unheilbare und gefährliche Magenverhärtung ausartenden Magenkatarrh (Stockschnupfen des Magens), wie ihn vorzugsweise die Spirituosenliebhaber und die abführmittelsüchtigen Obstructioner aufzuweisen haben, giebt es geradezu kein anderes Heilmittel, als einfaches heißes Wasser. In den Bädern, wo heißes Mineralwasser getrunken wird und denen allerdings von allen Bädern die meisten Heilungen glücken, würden sicherlich noch weit mehr glückliche Erfolge [168] erzielt werden, wenn hier der Magen das heiße Wasser nicht noch mit salzigen und anderen Bestandtheilen versetzt bekäme. – Nur beim Blutbrechen ist der Genuß heißen Wassers zu vermeiden, weil dieses das Bluten fördert; sonst ist es aber bei allen andern Magenleiden empfehlenswerth.

Die Wärme des genossenen Wassers hat ferner noch den Vortheil, daß sie die Aufnahme des Wassers in die Blutgefäße der Magenwand, also in den Blutstrom beschleunigt. Daher kommt es denn auch, daß heiße Getränke weit schneller durch die Nieren (mit dem Urin) aus dem Körper wieder entfernt werden, als kalte, und daß heißes Getränk sehr bald vermehrte Hauttranspiration und Schweißabsonderung nach sich zieht. – Außerdem dürfte sicherlich heißes Wasser zum Aus- und Abwaschen der innern Fläche des Magens besser dienen, als kaltes, was die Häute und Gefäße des Magens zum Zusammenziehen zwingt und die Magennerven irritirt. Natürlich wird einem gesunden Magen diese Wirkung des kalten Wassers nichts schaden, sie müßte denn übertrieben werden. – Nicht unmöglich ist es sodann noch, daß heißes Wasser, was wie bekannt die meisten löslichen Stoffe schneller und besser löst, als kaltes, auch im Magen bisweilen diese seine lösende Kraft ausübt. Bei Vielen wirkt deshalb wohl auch warmes Getränk bei Tische, heiße Suppe und heißer Kaffee die Magenverdauung unterstützend. Jedenfalls ruft heißes Getränk durch gesteigerte Blutzufuhr zur Magenwand auch eine Steigerung der Magensaftabsonderung und insofern vollkommenere Verdauung des Mageninhaltes hervor. – Bei vielen mit hartem Stuhlgange oder Verstopfung Geplagten befördert der Genuß heißen Wassers die Leibesöffnung, wahrscheinlich durch Anfeuchtung des Darminhaltes.

Nach dieser ersten, auf die Magenwand und den Mageninhalt gerichteten erwärmenden, abwaschenden, auflösenden und verdauungsbefördernden Wirkung des heißen Wassers folgt nun die Wirkung auf den Theil des Blutstroms, in welchen das Wasser, und zwar wegen seines Wärmegehaltes ziemlich schnell eindringt, und das ist das Blut, welches von Magen, Milz und Darmcanal her durch die Pfortader in die Leber einströmt, und, nachdem hier eine große Reinigung und Verjüngung dieses Blutes stattgefunden, aus dieser zum Herzen, zu den Lungen und dem ganzen übrigen Körper läuft. Durch das schnelle Eindringen einer größern Quantität heißen Wassers (was sich freilich im Magen schon etwas abgekühlt hat) in die Pfortader wird das dunkle, dickflüssige, schwerfließende Blut derselben zuvörderst dünnflüssiger und dadurch zum flottern Fließen geschickter gemacht. Es kann deshalb rascher durch die Leber befördert und mit Hülfe der Gallenstoffabsetzung besser gereinigt werden, wozu ohne Zweifel die gutlösende Eigenschaft des heißen Wassers auch etwas mit beiträgt. Sollte übrigens das genossene heiße Wasser durch seine Abkühlung im Magen auch wirklich nicht wärmer in’s Blut kommen als das kalte und im Magen erwärmte, so kann doch eine größere Quantität heißen Wassers den Magen niemals so incommodiren und ihm nachtheilig sein, als eine größere Menge kalten Wassers. Und bei der Verdünnung und Reinigung des Pfortaderblutes (was durch seine Anhäufungen am Verdauungsapparate zu den sogenannten Unterleibs- und Hämorrhoidalbeschwerden Veranlassung giebt) handelt es sich allerdings um die Einfuhr einer größern Quantität Wassers.

Sowie nun zunächst das Pfortaderleberblut durch reichliche Wasserzufuhr dünn und leichtflüssiger gemacht wird, so findet dies auch, nachdem das Wasser die Leber passirt und in den Hohladerblutstrom eingetreten ist, mit dem Gesammtblute des Körpers statt. Diese Verdünnung der ganzen Blutmasse würde natürlich nur da von Vortheil sein, wo das Blut zu dickflüssig oder eingedickt ist. Ein dickflüssiges, an Fett, Blutkörperchen, Faser- oder Eiweißstoff zu reiches Blut besitzen nun aber vorzugsweise Gut- und Vielesser, Fettleibige und Vollblütige, reiche Faulenzer mit gutem Appetite und Hämorrhoiden; ihnen thut eine zeitweilige tüchtige Blutbewässerung stets gut. Eingedickt kann das Blut durch solche Krankheitsprocesse werden, welche demselben schnell eine größere Menge Blutwasser entziehen, wie dies z. B. die Cholera und alle choleraähnliche Zustände, große Verbrennungen mit Blasenbildung, übermäßige Schweiße thun. Hier bewirkt die rasche Ersetzung des Blutwassers durch Genuß viel heißen Wassers ganz Außerordentliches; bei der asiatischen Cholera thut es, selbst wenn es zum Theil immer und immer wieder ausgebrochen wird, geradezu Wunder (so weit nämlich Wunder möglich sind).

Man glaube nun aber ja nicht etwa, daß sich das in großer Menge in den gesammten Blutstrom eingeführte Wasser hier fort und fort anhäuft und das Blut überschwemmt. Nur soviel davon, als unentbehrlich ist, bleibt eine Zeitlang darin, der Ueberschuß wird sehr schnell, hauptsächlich durch die Nieren (mit dem Harn) und die Haut (als Schweiß) wieder entfernt. Nun weiß ich’s zwar nicht gewiß durch Untersuchungen des Blutes, Harns und Schweißes, vermuthe es aber in Folge von Probiren (und Probiren geht manchmal über Studiren), daß bei dem schnellen Durchgange vielen Wassers durch das Blut in den Schweiß und Urin manche unnütze oder gar schädliche Stoffe im Blute aufgelöst oder verdünnt und vielleicht mit Schweiß oder Urin entfernt werden. So läßt sich kaltes Fieber, was seine Entstehung der Aufnahme von Sumpfluft in das Blut verdankt, durch bloßes heißes Wasser (ohne alles Chinin) vertreiben. Beginnendes Nervenfieber, Eitervergiftung des Blutes, Kindbettfieber, Rheumatismus und Gicht durch heißes Wasser curirt zu haben, bilde ich mir ein. Ob’s wahr ist, könnte freilich nur durch unparteiische Aerzte bestimmt werden, die bei einem großen Krankenstande ihre vorgefaßte gute Meinung für die althergebrachten künstlichen Arzneien besiegen und das einfache heiße Wasser in größerer Quantität anwenden wollten. Doch das erlebe ich nicht, da müßte ich meine Herren Collegen nicht kennen, und es bleibt mir deshalb nur noch die Beruhigung, daß mancher Laie einen Versuch damit und dann Propaganda dafür machen wird. Es könnte gewiß nicht schaden, wenn jeder Mensch von Zeit zu Zeit, wie er früher zeitweilig fastete und purgirte, eine energische Blutwäsche mit sich anstellte, um den durch unsere Lebensweise sich so leicht bildenden und im Blute anhäufenden Schmutz zu entfernen. Als Seife möge er dazu gute, reine, frische Luft, als Stärke Milch nehmen. Das wäre eine vernünftige, naturgemäße Blutreinigung und Mauserung, während die durch Holzthee, Kräuter etc. ein Unsinn ist.

Nicht genug, daß das getrunkene heiße Wasser auf den Magen, das Unterleibs- und Gesammtblut vortheilhaft einwirkt, es kann auch noch den Organen nützen, durch welche das überschüssige Wasser aus dem Blute entfernt wird, also vorzugsweise der Haut und den Nieren. Dieser Nutzen zeigt sich recht deutlich nach Erkältungen der heißen, schwitzenden Haut, wo der reichliche Genuß heißen Wassers bei warmer Bedeckung des Körpers lebensgefährliche Entzündungen besonders des Herzens verhüten und die Hautthätigkeit sehr bald wieder herstellen kann, so wie bei Krankheiten der Harnwege, wo durch die Verdünnung des nun wasserreichen, blassen Urins (bei kühlem Verhalten der Haut durch leichte Bekleidung) die kranke Stelle weniger von den reizenden, salzigen und sauern Harnbestandtheilen incommodirt wird und darum leichter heilen kann. Ganz gewiß schwemmt auch nicht selten das Harnwasser unnützes Zeug aus den Harnwegen mit hinweg. Nieren-, Blasen-, Stein- und Harnröhrenkranken ist deshalb anzurathen, ihren Urin durch reichlichen Wassergenuß stets wasserhell zu halten.

Wer soll also heißes Wasser trinken?

1) Wer am Magen, besonders am Magenkrampfe und überhaupt an langdauernden Magenbeschwerden leidet (s. Gartenl. Jahrg. 1853, Nr. 42. Jahrg. 1855, Nr. 31. Jahrg. 1860, Nr. 7.). – 2) Wer von Unterleibsleiden (Leberleiden natürlich mit eingeschlossen), Verstopfung und Hämorrhoiden heimgesucht ist (s. Gartenl. Jahrg. 1854, Nr. 18. Jahrg. 1855, Nr. 1. Jahrg. 1860, Nr. 21.) – 3) Wer zu viel Fett und Fleisch auf seinem Leibe in Folge von vielem, gutem und fettem Essen bei Mangel an Bewegung hat; überhaupt wem ein dickflüssiges Blut in den Adern rinnt, also auch Solche, die bei sogenannter Vollblütigkeit über Kopfschmerz, Schwindel, Ohrensausen und Herzklopfen zu klagen haben. – 4) Wer an der Cholera, die ihn eben abmartert, nicht sterben will (s. Gartenl. Jahrg. 1854, Nr. 35. Jahrg. 1856, Nr. 38.) – 5) Wer ein verunreinigtes Blut auszuwaschen hat, und das kann ebenso bei hitzigen, fieberhaften, wie langwierigen, fieberlosen Leiden der Fall sein, wie bei Wechselfieber, Typhus (s. Gartenl. Jahrg. 1856, Nr. 10.), Rheumatismus (s. Gartenl. Jahrg. 1856, Nr. 47.), Gicht (s. Gartenl. Jahrg. 1861, Nr. 5.) etc. – 6) Wer irgendwo im Harnapparate sich nicht gesund weiß. – 7) Wer den bösen Folgen einer Erkältung zuvorkommen will (s. Gartenl. Jahrg. 1858, Nr. 2.).

Wie soll man das heiße Wasser trinken?

Bei Magenaffectionen reichen kleine Quantitäten hin; man trinke es hierbei tassenweise. Wo aber das Blut angewässert und [169] ausgewaschen oder die Schweißabsonderung vermehrt und der Urin hell und klar gemacht werden soll, da heißt’s: „Viel hilft viel“; da muß es aus großen Krügen in langen Zügen getrunken werden. Daß es dabei den Magen erschlaffe und verlätsche, ist schändliche Verleumdung von Seiten Wasserscheuer. – Will man die Wirkung des Wassers auf die Haut richten, dann muß diese während der Wassercur warm gehalten werden; sie muß dagegen einem kühlen Verhalten unterworfen sein, wenn auf die Nieren und den Urin gewirkt werden soll. Wer abgemagert, bleich und blutarm ist, an starkem Herzklopfen und Athembeschwerden leidet, der lasse aber das Trinken von vielem heißem Wasser, der trinke lieber warme Milch in mäßiger Menge.

Ob man anstatt des reinen warmen Wassers nicht andere Flüssigkeit trinken kann? O ja! nur darf diese nichts wirklich Wirksames enthalten. Das reine Wasser ist freilich immer am längsten, ohne widerwärtig zu werden, zu vertragen; meinetwegen versetze man es aber mit etwas Zucker, Kochsalz, Milch, Kaffee oder dergl. – Daß kaltes Wasser schließlich ebenfalls die guten, eben bezeichneten Wirkungen des warmen Wassers haben kann, soll durchaus nicht abgeleugnet werden, allein die Kälte desselben ist für den Magen denn doch zu nachtheilig, zumal wenn kaltes Wasser, wie’s eben beim warmen empfohlen wurde, oft und in größerer Menge getrunken wird.

Für die allermeisten Kranken ist der beste ärztliche Rath: „abwarten und warmes Wasser trinken“.

Bock.




Thier-Charaktere.
Nr. 2. Der Fischotter.
Von Dr. Ludwig Brehm.

Eine mir vor Kurzem zugegangene anmuthige und belehrende Lebensschilderung eines der merkwürdigsten Säugethiere unseres Vaterlandes veranlaßt mich, die Aufmerksamkeit der Leser dieser weit verbreiteten Blätter für kurze Zeit mir zu erbitten. Ein Stück Naturgeschichte müssen meine Leser freilich mit in den Kauf nehmen und noch dazu im trockenen Lehrtone; ich verspreche aber möglichst kurz zu sein.

Der Fischotter ist ein echtes Amphibium, denn er lebt im Wasser und ruht und schläft auf dem Trockenen. Linné nennt ihn Mustela Lutra, rechnet ihn also unter die Marder, und allerdings hat er in seiner Gestalt und in seinem Zahnbau mit diesen Thieren Aehnlichkeit; allein die Schwimmhäute zwischen den Zehen aller vier Füße unterscheiden ihn hinlänglich, und deshalb haben die Naturforscher der Neuzeit Recht, wenn sie ihn in eine eigene Sippe bringen. Man kennt jetzt ungefähr 12 Arten von Fischottern, und namentlich Amerika ist reich an ihnen. Sie ähneln den unsrigen übrigens mehr oder weniger. Alle liefern ein Pelzwerk, welches wegen seines Glanzes und seiner Weichheit hoch geschätzt und sehr theuer bezahlt wird. Der Pelz dieses Thieres ist auch nicht demselben Wechsel unterworfen, wie der der Marder, sondern im Sommer und Winter fast gleichmäßig; wahrscheinlich in Folge des Aufenthaltes im Wasser. Unser deutscher Otter ist 3–4 Fuß lang und besitzt einen rundlichen Körper mit eben solchem Kopfe, welcher kleine, im Pelze fast versteckte Ohren trägt. Die Füße und der Schwanz sind kurz und erstere durch die Schwimmhäute besonders ausgezeichnet. Der Pelz ist oben glänzend braun, unten aber braungrau und besteht aus sehr dicht stehenden, äußerst feinen Haaren. In der Jugend ist er auf dem Oberkörper dunkelgrau, am Unterkörper braungrau, an der Schwanzspitze blauschwarz.

Dieser Fischotter bewohnt die Flüsse, Seen und Teiche unseres Vaterlandes, wird aber auch in den meisten europäischen Ländern angetroffen und steigt aus den Flüssen in die Bäche und Teiche hinauf. Er besucht im Winter besonders solche Gewässer, welche quellenreich sind und deshalb nicht zufrieren. In unsere Roda kommt er zuweilen von der Saale herauf, selten aber im Sommer. Vor mehreren Jahren wurde einer bei der Forellenfischerei im Hamen gefangen. An seinem eigentlichen Aufenthaltsorte richtet er sich höchst gemüthlich ein. Er gräbt sich nämlich eine Höhle unter dem Ufer, deren Ausgang im Wasser mündet, deren Kessel aber über dem Wasserspiegel liegt. Diese Höhle ist schwer zu entdecken und unser Otter deshalb in ihr geborgen. Hier schläft er am Tage und von unten heraus kommt er Abends herauf, um Fische, Frösche und Krebse, aus denen seine Nahrung besteht, zu fangen. In diesem Fange ist er äußerst geschickt und deswegen den Besitzern der Teiche und den Inhabern von Fischereien im höchsten Grade verhaßt; er ist im Stande, einen Fischteich in kurzer Zeit ganz leer zu machen, und weiß sehr wohl, was gut schmeckt. Die Forellen scheint er besonders zu lieben, ihretwegen verläßt er nicht selten einen Fluß oder Bach und macht einen weiten Spaziergang zu Lande, um zu einem Forellenteiche zu gelangen. Sein Gang ist, wie seine Gestalt erwarten läßt, nicht sehr schnell; er humpelt eben nur dahin. Desto rascher und geschickter ist er im Wasser. Hier schwimmt und taucht er mit außerordentlicher Gewandtheit, natürlich mit offenen Augen. Er kommt nur selten an die Oberfläche, um Luft zu schöpfen, und wenn er fürchtet, daß er bemerkt werden könnte, regelmäßig blos mit der Nase. Seine Klugheit ist überhaupt ziemlich bedeutend, er macht dem Jäger viel zu schaffen, wenn dieser ihn fangen oder schießen will. Doch bietet der Mensch seine ganzen Verstandeskräfte auf, um seiner habhaft zu werden, und namentlich in katholischen Ländern ist unser Thier schlimm daran, weil er hier, aller Naturgeschichte zum Trotz, noch als Fisch angesehen und als Fastenspeise gern gegessen wird. Man erlegt den Otter auf dem Anstand in einer mondhellen Nacht, nachdem man seinen Ausstieg beobachtet hat, oder auch wohl während des Schwimmens im Wasser. In dem Tellereisen fängt man ihn noch leichter, und in manchen Gegenden gehört dieser Fang zu den regelmäßigen Beschäftigungen der Flußanwohner. Das Eisen muß sehr stark und an einer Kette befestigt sein. Man braucht keinen Köder, sondern legt es so tief in’s Wasser, daß es etwa zwei Zoll überspült wird. In Gräben zwischen zwei Teichen, welche die Ottern fischend besuchen, stellt man es zwischen zwei schief zusammenlaufenden Zäunen auf. Im Mai wirft der weibliche Fischotter in Höhlen, welche den oben beschriebenen ganz ähnlich sind und nur einen etwas vergrößerten Kessel besitzen, drei bis vier Junge, welche lange von der Mutter gesäugt und noch länger mit Nahrung versorgt werden, weil sie schon ziemlich groß sein müssen, wenn sie die Fischerei betreiben sollen. Erst gegen den Herbst hin trennen sich die jungen Thiere und verfolgen selbstständig ihren Weg. Obgleich der Fischotter, wenn er alt gefangen wird, ein höchst wüthendes und bissiges Thier ist, läßt er sich doch, wenn man ihn jung in seine Gewalt bekommt, leicht zähmen. Man hat viele Beispiele, daß solche Thiere außerordentlich zahm wurden. Lenz erzählt in seiner vortrefflichen Naturgeschichte davon einige, welche das größte Interesse erwecken. Ich will jene Geschichten um eine vermehren. –

Frl. E. v. S. auf K. gehört zu den wenigen Damen, welche an den Naturwissenschaften große Freude finden und sich sogar an der Forschung betheiligen. Sie hatte die Güte, mir vor Kurzem einen jungen Fischotter für meine Sammlung zu übersenden, und schreibt mir über die Zähmung dieses merkwürdigen Geschöpfes Nachfolgendes, welches mir interessant genug zu sein scheint, um eine größere Verbreitung wünschenswerther erscheinen zu lassen. „Ich erhielt,“ erzählt sie, „von unserm Jäger am 23. September dieses Jahres einen lebendigen jungen Fischotter und beschloß, da ich schon früher einen besaß, ihn aufziehen und zu zähmen. An dem Abende, an welchem mir dieses junge Thierchen gebracht wurde, hatte man es in einen Eimer mit Wasser gethan, in welchem es sich sehr unglücklich fühlte, was es durch sein lautes und oft wiederholtes Pfeifen verrieth. Es war ganz naß und freute sich, als ich es abwischte und in Heu einwickelte; denn es blieb ganz still liegen. Nach ein paar Stunden wurde es, wahrscheinlich aus Hunger, wieder unruhig und pfiff. Viele Versuche, ihm warme Kuhmilch beizubringen, waren fruchtlos. Da schickte ich nach kleinen Fischen, bekam aber keinen lebendigen, sondern nur einen todten, welchen ich in einen kleinen Napf mit Wasser legte. Ich setzte diesen dem kleinen Fischotter vor. Da er den Fisch gar nicht bemerkte, brachte ich das Wasser in Bewegung, um ihm glauben zu machen, daß ein lebendiger Fisch darin sei. Doch bei [170] dem Geräusche des Wassers pfauchte das kleine Thier wie eine wüthende Katze und gab dadurch seinen Abscheu deutlich zu erkennen.

Es war mir sehr peinlich, dem lieben Thierchen, welches ich Hänschen genannt hatte, keine Nahrung beibringen zu können. Da bekam ich von unserm Inspector ein Fläschchen mit einem Gummihütchen, welches seine Frau bei ihrem Kinde benutzt hatte. Ich füllte es mit warmer Milch und hatte die Freude zu sehen, daß Hänschen nach wenigen Versuchen daraus trank, als wäre es bei seiner Mutter. Merkwürdig war mir, daß es nicht die geringste Scheu vor Menschen zeigte und mich sehr bald lieb gewann. Es befand sich unbehaglich, wenn ich es nicht in meiner nächsten Nähe hatte; denn es pfiff dann sogleich, was immer das Zeichen von Unzufriedenheit ist. –

Bald bemerkte ich, daß es gern warm und dunkel schlief, ich gab ihm daher ein Eichhornhäuschen. In dieses kroch es sogleich und schlief mehrere Stunden darin. Es hatte mich, wie oben bemerkt, sehr bald kennen und lieben lernen. Nach kurzer Zeit aber war seine Anhänglichkeit an mich so groß, daß es, sobald ich es rief, aus seinem Häuschen herauskam. – Hatte ich ein anderes Kleid an, so fuhr es pfauchend zusammen, wenn es mich sah; sobald es mich aber sprechen hörte, kam es, wie immer, ganz ohne Scheu zu mir. –

Ich habe ihm ein kleines, mit Steinen gepflastertes Kämmerchen eingeräumt, Da bemerkte ich bald mit Vergnügen, daß es den ganzen Raum desselben, ein kleines bestimmtes Plätzchen ausgenommen, rein erhielt. Wenn ich ihm Milch gegeben hatte, behielt ich es oft längere Zeit in der Stube, während welcher es mich nicht verließ. Ging ich, so war es so nahe bei meinen Füßen, daß es sich unter meinem Kleide befand; setzte ich mich, dann kletterte es mit Hülfe seiner Zehen und Nägel an meinen Kleidern auf meinen Stuhl. Auch wenn ich Klavier spielte, ließ es sich in dieser Gewohnheit nicht stören. War ich aber nicht dabei, dann zeigte es sich schüchtern und unsicher in seinen Bewegungen.

Nach einigen Tagen setzte ich es in mein Cabinet an einen Springbrunnen, in welchem sieh Goldfischchen befinden, allein es beachten weder das Wasser noch die Fischchen. Dies änderte sich jedoch sehr bald, denn es lernte das Wasser sehr bald kennen und lieben. Am dreizehnten Tage seines Hierseins ging es in einen Napf, in welchem sich Wasser für die Hunde befindet, und später war ihm das zwei Zoll hoch in demselben stehende nicht tief genug, deswegen steckte es seinen Kopf, so tief es konnte, in eine kleine in der Stube befindliche Gießkanne. Ich ließ nun ein Wännchen mit Wasser bringen; aber in dieses wagte es sich nicht.

Nach einem Bade trug es Sorge, sich am liebsten an meinen Sachen und, wenn ich das nicht duldete, an etwas Anderem abzuwischen, wodurch es unglaublich schnell trocken wurde. Gewöhnlich legte es sich dazu auf den Boden und wischte sich ab, indem es den Kopf einzog, ausstreckte und wendete. Dies that es auch sehr gern in trocknem Sande, in welchem es sich auch herumwälzte, worauf es den Sand von dem Gesichte mit den Vorderpfoten sorgfältig abstrich. – Da es, wenn auch mit Vorsicht, überall hinkroch und Alles beroch, so nahm ich es nie in die Stube, wenn mein großer Hund darin war, obgleich dieser zu viel Klugheit besitzt, um ihm, da ich es ihm verboten habe, Etwas zu Leide zu thun.

Hänschen war immer sehr vergnügt, wenn ich es aus seinem Kämmerchen rief; dann lief es ganz fröhlich in der Stube herum. Sehr drollig sah es aus, wenn es recht lustig war und mit sich selbst spielte. Es suchte sich einen für diesen Zweck hingelegten Pelz aus, wälzte sich auf demselben und haschte auf dem Rücken liegend nach dem Schwanze oder biß sich in die Vorderpfötchen. Es wurde aber bald müde und schlief dann ein. Ein Lieblingsplätzchen in meiner Schlafstube war ein mit Stroh angefüllter Wäschkorb, welcher die Schlafstätte eines großen Hundes ist. In diesen kletterte es und krümmte sich in ihm so zusammen, daß es nicht mehr Raum als das Innere eines Tellers einnahm. War es noch müde, wenn ich es rief, dann streckte es mir den Kopf entgegen und ließ sich streicheln, legte sich aber dann wieder nieder.

Beim Laufen befindet sich der Leib dicht an dem Boden. Wenn es Etwas hörte, setzte es sich auf die Hinterfüße und richtete den Vorderkörper und den Kopf nach Art der Marder in die Höhe; es hatte auch einen kichernden Ton, wie diese, den es hören ließ, wenn es trotz aller Freude, bei mir zu sein, noch Etwas wollte, was ich ihm nicht gewährte. Später wurde es auch, was es früher gar nicht war, in seinen Bewegungen sehr rasch; denn es lief so schnell, daß ich ihm kaum entkommen konnte, wenn ich es in meine Stube setzte und in größter Eile die Thüre zu gewinnen suchte: gewöhnlich war es mit mir zugleich am Ziele, sodaß ich nicht wußte, wie ich es los werden sollte.

Durch viele Versuche hatte ich es dahin gebracht, daß Hänschen seine Milch aus einem Näpfchen zu sich nahm, doch leckte es erst dann, wenn es die Nase bis auf den Boden hinein gesteckt hatte, wobei von Zeit zu Zeit Blasen in die Höhe stiegen. Sah es einmal auf, dann bemerkte man, daß es bis über die Augen in der Milch gesteckt hatte, welche es, obgleich die Tropfen rings um dieselben standen, ganz offen hatte.[1] In seiner Nahrung war es sehr wählerisch, denn wenn die Milch nicht hinlänglich warm war, nahm es sie nicht zu sich. Dasselbe war auch der Fall, wenn das Gummihütchen nach dem Gebrauche nicht lange genug im Wasser gewesen, also nicht vollkommen ausgewässert war.

Mein Hänschen wurde mit der Zeit immer liebenswürdiger, je älter es wurde. Fast immer hatte ich es bei mir in der Stube, wo es, wenn ich ihm die Aufnahme beharrlich verweigern mußte, sich wie eine Katze hinter den Ofen legte und dort so lange ruhig liegen blieb, bis ich eine Bewegung machte, dann aber war es sogleich wieder bei mir. Bei meinen Gängen in der Wirthschaft begleitete es mich stets und wurde nicht müde, vom Speiseschrank bis zur Küche hin und her zu laufen, was es oft zehn Mal nach einander that. Es hatte gekochtes Fleisch verzehren lernen und genoß mit Vergnügen Suppe von unserm Tische. So sehr ich das liebe Thierchen mit meinen Liebkosungen plagte, so ruhig duldete es dieselben. Ich legte es Minuten lang um meinen Hals, dann auf den Rücken, ergriff es mit beiden Händen und vergrub mein Gesicht in seinem Fellchen; dann hielt ich es unter den Vorderfüßen umfaßt, und drehte es wie einen Quirl herum; Alles dieses ließ es sich geduldig gefallen. – Nur wenn ich es von mir that, bekam es wieder eignen Willen, den es dadurch kund gab, daß es an mir in die Höhe zu klettern suchte. Dadurch hatte es sich einige Male unangenehm gemacht, indem es dann in mein Kleid biß, wodurch sofort Löcher entstanden, welche, weil ich sie nicht sogleich bemerkte, oft zu einer bedeutenden Größe anwuchsen.

Mit diesem Beißen und seinen schmutzigen Pfötchen konnte es mich recht plagen; denn nie blieb ein Unterkleid einen Tag lang sauber. Ich konnte aber doch nicht umhin, das Thierchen schlafen zu lassen, wo es wünschte. So wurde unsere Liebe gegenseitig und immer inniger, je größer und verständiger Hänschen wurde. Allein diese Freude sollte nicht lange dauern: Was man liebt, verliert man am Ersten. So ging es mir mit diesem Thierchen. Es hatte alle Furcht vor den Menschen abgelegt, und dieser Umstand führte seinen Tod herbei; denn Einer unserer Leute ertrat es. – Wie betrübt ich darüber war, brauche ich nicht zu sagen; ich betraure das liebe Geschöpf heute noch.“

So weit das Fräulein; ich glaube nicht nöthig zu haben, zu der Mittheilung dieser schönen und genauen Beobachtungen Etwas hinzuzusetzen, und bemerke nur, daß sie über ein Thier gemacht sind, welches sehr schwer lebendig zu bekommen und, wie wir gesehen haben, noch schwerer aufzuziehen ist, und wichtigen Aufschluß über dessen lange Kindheit und geistige Beschaffenheit geben.

Renthendorf, am 1. November 1860.



Der neue Weg nach Quito und das Innere von Ecuador.
Von Fr. Gerstäcker.
(Fortsetzung.)

Die Brücke bestand aus drei dicken Seilen, jedes aus fünf bis sechs Reben zusammengedreht; das eine und stärkste als eigentlicher Boden, darauf zu gehen, die anderen beiden, etwa zwei und ein halb Fuß darüber und ein wenig mehr rechts und links, das Geländer bildend, das, durch kurze Reben mit dem Hauptseil verbunden, dieses auch wieder stützen und halten konnte. Das Ganze [171] bildete so eine Art von dreikantiger Rinne, in dessen unterster Schneide man hinschritt und sich mit beiden Händen an dem Geländer hielt. Natürlich vertraute sich aber immer nur Einer von uns auf einmal diesem unsicheren Wege an, und die Anderen warteten geduldig, bis er drüben, wo die Reben an starken Bäumen befestigt waren, sicheren Boden betrat. Zwei hätte die Brücke vielleicht nicht getragen; keinenfalls wollten wir den Versuch machen.

Am vierten Tag endlich – wobei der Schlamm und Sumpf in unserer Bahn nicht im Geringsten nachließ, obgleich wir an dem steilen Hang eines Berges hinstiegen – erreichten wir, etwa um drei Uhr Nachmittags, das erste Haus, die äußerste Grenze dieser Wildniß. Es war die noch nicht sehr lange angelegte Plantage Paramba, die mehreren Herren in Ibarra gehörte, und wo sie angefangen hatten, Cacao, Zucker und Kaffee im großartigsten Styl zu pflanzen.

Der Platz sah allerdings noch sehr wild aus. Viel Land war eben nur erst gelichtet, anderes ganz kürzlich urbar gemacht. Die Pflanzungen selber waren meistens auch noch klein, und das Haus selber glich mehr einer unaufgeräumten Scheune, als der Wohnung eines civilisirten Menschen. Dennoch begrüßte ich es mit Jubel, denn es war ja das Ende eines der nichtstwürdigsten Märsche meines Lebens – und Gott weiß es, ich habe andere gemacht, die auch nicht übel waren.

Ein Doctor – aus Quito (ich verschweige seinen Namen nur, weil ich ihn vergessen habe) nahm mich auf das Freundschaftlichste und Gastfreieste auf, und nachdem ich mich unten an dem kleinen Bach ordentlich abgewaschen und Hosen und Hemd, die ich durch den Busch getragen, nur eben in den nächsten Busch hineingeworfen hatte, dampfte drin schon auf dem Tische ein nahrhaftes und reichliches Mahl, das mich für manche Entbehrung entschädigen konnte.

Nach dem Essen wanderten wir, trotzdem daß ich mich eigentlich viel vernünftiger hingelegt und ausgeruht hätte, über die Plantage, und es bedurfte nur kurzer Zeit zu sehen, welch wunderbar fruchtbares und reiches Land dies eigentlich sei, und wie auch geringe Mühe und Arbeit auf das Reichste belohnt werden. Die Cacao- und Kaffeepflanzen waren noch klein, und sie waren etwas zu sehr der Sonne ausgesetzt gewesen, so daß einige von ihnen kränklich aussahen. Die meisten schienen aber frisch und grün, und besonders üppig stand das Zuckerrohr. Dieses bedarf hier zu völliger Reife nur fünfzehn Monate, ich sah hier aber selbst neun Monate altes, das über drei und ein halb Zoll im Durchmesser hatte und voll von Saft war, als ob es seine völlige Reife erlangt hätte.

Außerdem wuchs die Yukawurzel noch besonders üppig, ebenso rother Pfeffer, Bohnen, Orangen, Limonenpflanzen, kurz Alles was man der Erde nur eben anvertraut hatte. Die Banane und der Pisang haben hier ebenfalls ihre eigentliche Heimath, und die Ueppigkeit, mit der ihre Stämme emporschossen, bewies, was aus ihnen werden würde. Jetzt freilich war von alledem noch erst sehr wenig zu haben, denn außer der Yukawurzel und dem Reis und Tabak trug noch gar Nichts Frucht – ich müßte denn das Zuckerrohr rechnen, das die Bewohner von Ecuador mit einer Hartnäckigkeit kauen, die einer besseren Sache würdig wäre.

Cocospalmen fand ich hier keine, nur eine einzige war gepflanzt worden und noch klein; ich glaube auch, daß das Land hier eigentlich schon etwas hoch für die Cocosnuß ist – vielleicht käme es freilich nur darauf an, sie eben heimisch zu machen, wie man ja auch in Java ganz im Innern Massen von Cocospalmen findet; aber der Dattelpalme glaube ich fast, daß dies Klima zuträglich wäre, und einige Kerne, die ich nebst anderen Fruchtsteinen mitgebracht hatte, übergab ich dem Doctor, der versprach, die äußerste Sorge dafür zu tragen. Auch Kerne der caga haïve, jener reizenden rothen Akazienbeere aus Buitenzorg in Java, habe ich hierhergebracht, und spätere Jahre werden zeigen, wie sie gediehen.

Von hier aus war mir nun am Pailon und selbst bis in Cachavi gesagt, daß ich Pferde nach Ibarra bekommen könnte, meinen Weg von da ab leichter fortzusetzen, aber natürlich war kein Pferd in der ganzen Nachbarschaft zu bekommen, und ich mußte von hier noch einmal Leute miethen, die mein Gepäck weiter nach dem sogenannten San Pedro trugen, wo ich – diesmal ganz gewiß – Pferde treffen sollte. Um diese zwei oder drei Stunden Wegs meine beiden Satteltaschen getragen zu bekommen, mußte ich ein paar Indianern jedem 1 Dollar geben, und selbst dann noch schienen sie die Sache als eine Gefälligkeit für mich zu betrachten.

Ueberhaupt sollen Reisende in wilden Ländern um Gottes willen nicht denken, daß sie billig reisen können, selbst wenn sie Willens sind die größten Entbehrungen zu ertragen. So lange sie allerdings zu Fuß gehen, selber tragen, was sie bei sich haben, keinen Führer durch das Land brauchen, durch das sie ziehen, so lange sind sie von allen Menschen unabhängig und werden mit wenig Kostenberechnungen beschwert werden, denn in den meisten solchen Ländern wird man ihnen für Essen und Trinken wenig, wenn etwas, abverlangen. Ganz in die Hände dieser Menschen sind sie aber gegeben, sowie sie die geringste thätige Hülfsleistung von ihnen haben wollen, und sie dürfen sich dann auch darauf gefaßt machen, wenigstens den doppelten Preis von dem zu zahlen, was irgend ein Einheimischer dafür zahlen würde. Ich selber bin geprellt, wohin ich kam, wissentlich geprellt, denn ich wußte es recht gut, während ich es bezahlte, konnte aber auch nichts dagegen machen, wenn ich nicht länger als nöthig zwischen diesen Menschen liegen bleiben wollte, und dem zu entgehen habe ich immer lieber ein paar Thaler Geld geopfert. Meine jetzige Auslage vom Pailon bis hierher lief denn auch schon, obgleich ich die Hälfte des Weges zu Fuß gemacht hatte, gar nicht unbedeutend auf.

Vom Pailon bis Concepcion  5 ½ Dollars.
Provisionen  4 ½
Von Concepcion bis Cachavi  4
Trinkgeld  1
In Cachavi Provisionen  2
Trägerlohn bis Paramba 12 ½
In Paramba für Yuka für die Träger ½
Von Paramba bis San Pedro  2
Summa 32 Dollars,

für die ich weiter nichts hatte, als daß ich mit meinen beiden Satteltaschen eine kurze Strecke in das Land hineinbefördert wurde.

In San Pedro hoffte ich mich ordentlich ausruhen zu können, fand aber auch nur eine traurige Hütte, nicht einmal von der feuchten Erde erhoben, und einen alten würdigen, sehr schmutzigen Greis mit seiner jungen Schwiegertochter, die mir in der diesen Leuten eigenthümlichen Art eine Mahlzeit kochte. Es würde hierbei nichts Besonderes zu erwähnen sein, wären die Stücken Fleisch nicht etwas zu groß und sehr zäh gewesen, sodaß ich genöthigt war sie durchzuschneiden. Dazu hatte ich aber nur mein großes, etwas unbehülfliches Jagdmesser, und die junge niedliche Frau sah kaum, woran es bei mir fehlte, als sie auch schon vor mir niederkauerte, die Stücken Fleisch mit den Fingern aus dem hölzernen Napf nahm, den ich auf den Knieen hielt, sie durchschnitt und dann wieder in meinen Miniaturtrog warf. – Es wäre auch appetitlich gewesen, hätte sie sich nicht, in übertriebener Reinlichkeit, nach jeden zwei oder drei Schnitten die Finger abgeleckt.

Ich fand hier Pferde, mußte aber zwei miethen, damit mein Begleiter mit fort konnte, und für beide bis Ibarra – zwei Tagereisen – sechs Dollars bezahlen. Das war insofern billig, als sich unterwegs nicht die geringste Gelegenheit bot, etwas zu verzehren. Es blieb sogar zweifelhaft, ob wir überhaupt etwas zu essen bekommen konnten.

Am nächsten Morgen brachen wir ziemlich früh auf. Hatte ich aber vorher geglaubt, mich, erst einmal im Sattel, von meinen gehabten Strapazen ausruhen zu können, so sollte ich bald finden, daß ich mich darin schmählich geirrt, denn den Weg zu reiten, ist weder Spaß noch Erholung. Im Anfange ging es noch durch eine Strecke schlammigen Wegs, bald aber erreichten wir wenigstens trockenen Boden, und hier sollte ich auch erfahren, was es heißt, eine Bahn zu reiten, die sich nur eben Maulthiertreiber mit ihren Thieren ausgesucht haben. Der Weg führte an dem rechten Berghang hin, und in jede kleine Schlucht tauchten wir ein – steil hinab, daß man jeden Augenblick in Gefahr war, vornüber, über den Hals des Maulthiers zu stürzen, um die nächsten fünf Minuten wieder an der anderen, dieser ganz ähnlichen Seite in die Höhe zu klettern. An ein ruhiges ordentliches Reiten war auch keine Viertelstunde zu denken, und das Ganze ein ewiger und fast ununterbrochener Versuch weiter nichts zu thun, als einen festen Sitz im Sattel zu wahren.

Dabei lief der Weg keineswegs schräg an dem Berghang hin, an dessen Fuß der Mirafluß der Richtung zubrauste, von der wir hergekommen waren, sondern jetzt stieg er auf, höher und höher, [172] bis man sich ein paar tausend Fuß über dem wie ein Faden darunter hinschießenden Flusse befand, um in der nächsten halben Stunde gerade hinein selbst bis in das wirkliche Bett desselben zu führen. Auffällig hatte sich indessen schon in den ersten drei Stunden die ganze Vegetation, ja der ganze Charakter des Landes selbst verändert.

Mit Paramba schloß eigentlich die wirkliche Palmengrenze ab, und wenn auch San Pedro noch voll zu den Tropen gehörte, lag es doch schon außer diesen schlanken Kindern der heißen Zone. Von hier ab aber nahm selbst der dichte, furchtbare Wald ein Ende, durch den hin ich mich so manche schwere, mühselige Stunde gearbeitet. Die Berge fingen an lichte, mit hohem, gelbem Gras bewachsene Stellen zu zeigen, und wenn auch an der andern Seite des Flusses noch hie und da kleine Ansiedlungen mit breitblätterigen Bananen lagen, zeigten die hohen, steilen Hänge darüber einen vollkommen nördlichen Charakter. Ja, eine Stunde später verließen wir die Bäume ganz, der Regen, der mich bis dahin verfolgt, hatte aufgehört, der Boden war hart, sandig und kahl – kurzes, scharfes Gras ausgenommen, das jetzt einige der Gebirgshänge bis in die höchsten Wipfel hinein bedeckte.

Das Land hier war aber nur sehr schwach besiedelt, und selbst spärlich Vieh sah man an den Hängen, die sicherlich zahlreichen Heerden Nahrung geben könnten. Die Civilisation, wenn man diese Menschen wirklich zur Civilisation gehörig rechnen kann, war noch nicht hierher gedrungen, denn nirgends hin war eine Möglichkeit, das hier Gezogene absetzen zu können, und die wenigen Menschen, die hier wirklich lebten, konnten fast als Einsiedler betrachtet werden.

Höchst interessant war es aber für mich, diese Grenze zwischen tropischem und gemäßigtem Klima zu betrachten, die sich vollkommen deutlich herausstellte, obgleich nicht die geringste gewaltsame Scheidewand zwischen ihnen aufgeworfen wurde. Da war kein steiler, mächtiger Berg, auf dessen hohem Gipfel Weizen gebaut wurde, während unten im Thal die Banane wuchs – wie man das selbst weiter oben in den Cordilleren findet. – Ganz allmählich nur stiegen die Berge auf, kaum bemerkbar, da man fast eben so viel bergab wie bergauf klettern mußte, und doch wurde von hier ab die tropische Welt mit Gewalt in den Hintergrund gedrängt.

Was der Boden aber hier erzeugen konnte, war man natürlich nicht im Stande zu sehen, da nicht der geringste Versuch bis jetzt gemacht worden, das zu erproben. Maulthiere, Pferde und Esel weideten an den Hängen, und tief im Thal, wohin der scharfe Wind nicht dringen konnte, der von den Cordilleren niederwehte, hatte hier und da einer der Eingeborenen sich der gewaltigen Anstrengung unterworfen, ein paar Pisangpflanzen zu stecken und etwas rothen Pfeffer auf die Erde zu werfen – und in welchem Ueberfluß könnten diese Leute leben, wenn sie wirklich arbeiten wollten!

Wir ritten den ganzen Tag, ohne auch nur ein einziges Haus in unserer Bahn zu finden. Einmal sahen wir ein paar Häuser zur Rechten, aber es war nicht das Geringste dort zu bekommen, weder für Pferd noch Mann, und erst Abends, eine halbe Stunde nach Dunkelwerden erreichten wir die Heimath meines Führers, bei dessen Mutter wir übernachten sollten. Dort wenigstens war, wie er behauptete, der einzige Platz, an dem wir Futter für die Pferde finden konnten. – Ich werde diese Nacht im Leben nicht vergessen.

Schon beim Eintritt in das Haus, ja beim Einreiten in den Hof kam mir ein Geruch entgegen, als ob wir uns einer Scharfrichterei näherten, und in dem Hause selber fand ich die traurige Ursache. Die Ueberreste von Gott weiß wie vielen Kühen, denn ich konnte sechs Kinnbacken zählen, hingen darin in Stücken geschnitten und getrocknet, und die zärtliche Mutter ging nach der ersten Begrüßung daran, uns von diesem „Fraß für Raben“ ein leckeres Mahl zu bereiten. Sogar Zeuge mußte ich von der Zubereitung sein, die mir der Leser ersparen mag, denn er glaubt mir doch nicht, was ich mit eigenen Augen sah; kurz, mit kleingeschnittenen grünen Bananen wurde dies Fleisch in einen Topf geworfen, oberflächlich abgekocht und uns dann in kleinen hölzernen, nie gewaschenen Holznäpfen servirt.

Ich war sehr hungrig und fest entschlossen, wenigstens den Versuch zu machen, um zu essen – aber es ging nicht. Mit dem ersten Bissen bekam ich eine halbfaule Sehne in den Mund, biß einmal darauf und mußte dann rasch das Haus verlassen. Ich entschuldigte mich mit Unwohlsein und legte mich auf ein ausgespanntes Kuhfell, dort die Nacht eine Legion von halbverhungerten Flöhen zu füttern. Der gehorsame Sohn aß indessen zwei Näpfe dieser Speise leer, und ich konnte es zuletzt vor lauter Ekel nicht mehr mit ansehen. Am nächsten Morgen das nämliche Frühstück, von dem ich wieder nichts über die Lippen bringen konnte, und mit leerem Magen stieg ich in den Sattel.

Der Weg war hier der nämliche: fortwährend auf und nieder, noch steiler und steiniger womöglich als gestern. Wir passirten ein kleines Städtchen, Guajerre, aber es war nichts darin zu bekommen, nicht einmal eine Banane. Der Boden wurde hier trockener und dürrer, dorniges Gesträuch wechselte mit Aloe und Cactus auf weißlichem Sand – die Berge wurden kahler und höher, und Alles verrieth, daß wir immer weiter in die Gebirge hinaufrückten. Hier betraten wir übrigens auch einen sehr dürren Strich Landes, in dem fast weiter nichts erzeugt wird als Salz. Ein kleines Städtchen Salinas ist hier errichtet, in dem sich fast jeder Bewohner nur vom Salzauskochen nährt. Das Salz wird dann von hier auf Maulthieren nach Ibarra und selbst bis nach Quito hinaufgeschickt.

Salinas erreichten wir etwa um 1 Uhr Mittags, und Alles, was ich hier bekommen konnte, war etwas Chocolade und Brod und reife Bananen – ein wahrhaft lucullisches Mahl, an dem ich mich vollständig wieder erholte. Wir fütterten die Pferde hier, ließen sie ein paar Stunden rasten und setzten um 3 Uhr unseren Weg nach dem nicht mehr fernen Ibarra fort. Es war übrigens gut, daß ich schon in San Pedro die Thiere dorthin accordirt hatte, denn in Salinas hätte ich keine miethen können. Hier zum ersten Male hörten wir die Klage über den Krieg, daß er die Lebensmittel alle so theuer gemacht und fast sämmtliche Pferde aus dem Lande geführt hätte. Ich würde, wie man mir sagte, selbst in Ibarra Schwierigkeit haben, Pferde zu bekommen, und möchte mich nur in Zeiten danach umsehn.

Von dem Schmutz der Bewohner bekam ich hier in Salinas wieder eine Probe, die aber nicht so tragische Folgen für mich hatte. Während ich mit meinem Führer unsere Chocolade verzehrte, kam eine Señora in den kleinen Kaufladen oder das Café – ich weiß nicht wie ich die Lehmbude nennen soll, und brachte ein Kind mit, das wohl in den letzten sechs Monaten keinen Tropfen Wasser gesehen hatte. Das Kind mochte zwei Jahr alt sein und leistete in den wenigen Minuten, die es sich in unserer Gesellschaft befand, das Aeußerste in Sachen, die sich eben nicht wieder erzählen lassen. Die Señora, die ein altes, verblichenes, aber sehr buntfarbiges Seidenkleid trug, schien das Alles zu unserer besonderen Erbauung vorbereitet zu haben, so dicht vor und neben uns und so öffentlich wurde Alles abgemacht. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie mir den Appetit auch verdorben, aber das ging heute nicht; als sie aber die Unverschämtheit hatte, mich zu fragen, ob es in meinem Lande auch solche niedliche Kinder gäbe, gewann der Ingrimm die Oberhand. Es war immer eine „Dame“, die Frage verdiente aber eine Antwort, und ich konnte mir nicht helfen, ich sagte: „So niedliche wohl, aber so schmierige nicht.“ Die Wirkung war zauberschnell und äußerst befriedigend. Die Señora warf mir einen Dolch- und Revolverblick zu, raffte ihr Kind, wie es war – und wie war es! – vom Boden auf und verschwand damit aus dem Hause.

Abends mit Dunkelwerden erreichten wir Ibarra, die größte Stadt der Provinz Imbabarra, in einem herrlichen, fruchtbaren und dicht bevölkerten Thal. Hier war augenscheinlich ein anderes Leben, als ich in dem Wald verlassen hatte; hier war Cultur wie Civilisation, mitten in den Bergen, und freundliche Häuser und Gärten verriethen, daß auch der Luxus schon seinen Wohnsitz hier aufgeschlagen. Ein für den Fremden höchst mißlicher Umstand besteht aber in diesen Städten des Inneren, die auf einen Fremden-Verkehr nicht im Geringsten eingerichtet sind – daß es eben gar keine Gasthäuser (hier posadas genannt) bei ihnen giebt. Von Jedem, der in eine solche Stadt kommt, erwartet man auch, daß er irgend einen Gastfreund hat, bei dem er wohnen kann; unter keiner Bedingung findet er ein Hotel.

Unterwegs war ich nun noch nicht im Stande gewesen, meine schon am Pailon ruinirte und durch den Weg hierher zuletzt noch aufgeriebene Garderobe wieder in Stand zu setzen. Ich war total abgerissen, und von Schmutz und Staub bedeckt, ohne Schuhe und Strümpfe, ohne Hut, denn mein alter Filz hielt kaum noch auf dem Kopfe zusammen. Deshalb war es mir auch vollkommen

[173]

Ansicht von Gaeta.
Gesehen von den Capuccini del Borgo aus.
Während der Belagerung nach der Natur gezeichnet von Konrad Grob.

B. Altes Castell, jetziges Zeughaus und Caserne.     E. Montagna speccata und Kirche della Trinita.
C. Batterie St. Maria.     F. Isthmus von Montesecco.

G. Piemontesische Batterie bei den Capuzinern.     A. Torre d’Orlanda.     D. Porta di Terra.

[174] gleichgültig, als mich mein Führer – als bestes Hotel – in eine dunkle Bude der plaza führte, wo ich mich, als erstes Entree, draußen auf der Straße auf meine Satteltasche setzen und eine Cigarre rauchen wie eine Orange essen mußte. Ich sehnte mich schon nach dem nächsten Morgen und hatte nur einen Boten an einen Herrn Gomez de la Torre geschickt, um zu erfragen, ob Mr. Wilson auf seinem Wege von Quito schon hier eingetroffen wäre oder wann er erwartet würde, als Mr. Wilson’s Dolmetscher, ein junger Franzose, den er statt des trunkenen Amerikaners angenommen hatte, selber kam und mich mit Gewalt dieser posada entführte. Er sagte mir, daß Mr. Wilson morgen erwartet würde, daß Señor Gomez de la Torre aber keinesfalls zugäbe, mich die Zeit in der posada zu lassen, und ich deshalb augenblicklich in seine Wohnung müsse. Ich weigerte mich im Anfang meines entsetzlichen Aussehens wegen, aber es half nichts, und wieder einmal seit langer, langer Zeit, ja seit ich England verlassen, befand ich mich in freundlichen, wohnlichen Räumen und konnte wieder mit Messer und Gabel von einem reinlich gedeckten Tisch essen.

(Schluß folgt.)


Ein Deutscher.

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

Reichardt griff nach seinem Hute und erhob sich. „Lassen Sie das Schimpfen!“ sagte er, „ich hatte Sie für einen andern Menschen genommen, als der Sie sind, Meißner, und es ist nichts weiter nothwendig, als daß wir uns Adieu sagen –“

„Sein Sie meinetwegen böse, ich kann mir nicht helfen!“ unterbrach ihn der Andere, „ich muß mich ärgern, daß mir das Frauenzimmer meine erste Freude im neuen Lande verdirbt. Leben Sie wohl, Professor, denn zu rathen ist Ihnen doch nicht; glauben Sie aber, daß mir die Stunden immer die liebste Erinnerung sein werden, in denen Sie uns auf dem Schiffe die Quartetten einpaukten!“ Er hatte sich erhoben, faßte mit einem lebhaften Drucke Reichardt’s Hand und wandte sich dann dem Hintergrunde des langen Raumes zu, unter den übrigen Gästen verschwindend.

Reichardt hatte ihm mit einem Kopfschütteln nachgesehen und wandte sich dann langsam dem Ausgange zu. Er war sich vollkommen klar, daß der Kupferschmied für die Dauer keine Gesellschaft für ihn gewesen wäre, demohngeachtet that ihm der rasche Abschied fast leid, und je weiter er den Weg nach seiner neuen Wohnung verfolgte, je mehr wollten einzelne Aeußerungen des Reisegefährten einen Schein von absoluter Vernunft annehmen. Seine Baarschaft war auf kaum mehr als zwei Monate Unterhalt berechnet und von Mathildens Verhältnissen kannte er durchaus nichts – demohngeachtet, wenn er sich ihre ganze Haltung zurück rief, erschien es ihm unmöglich, daß sie sich einzig auf seine Sorge für ihren vorläufigen Unterhalt verlassen haben konnte; und je mehr er sich des Mädchens ganzes Wesen vergegenwärtigte, je mehr empfand er auch wieder den Zauber, den sie während der langen Reise auf ihn ausgeübt, und des Kupferschmieds Voraussetzungen begannen sich in wahre Lästerungen zu verwandeln.

Ein Bratenduft, der aus einer der unterirdischen Restaurationen herausdrang, erinnerte ihn endlich, daß er seit dem letzten Schiffsfrühstücke noch nichts genossen habe, und was noch von der Begegnung mit dem Kupferschmied Störendes in ihm zurückgeblieben war, ging in der ersten kräftigen Mahlzeit nach den langen Entbehrungen der Seereise unter.

Als er sein Boardinghaus wieder erreicht, sandte ihn die Wirthin nach dem Zimmer der „Schwester“, die längst auf ihn warte, und den Eintretenden empfing dort bereits der süße Duft, welcher mit jeder eleganten Frau in ihre Wohnung einzuziehen scheint. Mathilde, welche die Straße beobachtet zu haben schien, eilte mit einem klaren Lächeln auf ihn zu und führte ihn nach dem zweiten Stuhl am Fenster. Ihr Gesicht hatte an Frische und Lebendigkeit gewonnen, ihr Auge leuchtete ihm in einem ungewohnten Glanze entgegen, und Reichardt meinte erst jetzt den Reiz, der in ihrer Erscheinung lag, ganz zu empfinden.

„Ich denke, wir sind hier recht gut angekommen,“ begann sie, „wenigstens scheint mir die Wirthin eine so gutmüthige Seele, daß sie Alles thun wird, um mir die Wege für eine künftige Existenz zu zeigen – und jetzt, Bruder Max, wollen wir gleich miteinander voll in’s Klare kommen. Du wirst mich nicht fragen: woher kommst Du, und was bist Du gewesen? Ich habe seit heute Morgen abgeschlossen mit der Vergangenheit und bin nichts als Deine Schwester!“ Sie reichte ihm die Hand, zog sie aber mit einem Lächeln voll leichten Erröthens zurück, als Reichardt fest seine beiden Hände darum schloß. „Brod, sagtest Du, ist vor Allem die Hauptsache,“ fuhr sie fort, „und ich will gleich gestehen, daß mich damals über die Frage, wie es zu erwerben, eine Art Bangigkeit überlaufen hat – ich will arbeiten mit allen Kräften, ich verstehe Mancherlei; aber ich weiß, daß ich bei Beschäftigungen, die aus dem Menschen eine halbe Maschine machen, zu Grunde gehen würde. Ich habe nie mit der Nadel in der Hand auf dem Stuhle aushalten können – es mag das schlimm scheinen in einer Lage, wie meine jetzige, aber ich denke, ich werde darüber hinauskommen. Ich verstehe französisch, ich habe als vorzügliche Vorleserin gegolten, ich habe eine Schulausbildung, die mich wohl zu einer Lehrerin befähigt – wir werden ja sehen, heute will ich mir den Kopf noch nicht damit schwer machen. Es ist, seit ich mir bewußt geworden bin, von keinen Banden beengt in dem großen freien Lande zu stehen, mein eigenes Schicksal ganz in meiner Hand zu haben, ein Hochgefühl über mich gekommen, das ich mir wenigstens den ersten Tag nicht verderben will. – Aber hier eine noch größere Hauptsache,“ fuhr sie aufspringend fort und nach einigen Goldstücken auf der Kommode greifend, „hier ist mein Kostgeld für die ersten vier Wochen, damit sind diese Sachen erledigt – und nun, Bruder Max, dort ist die Violine, die ich habe hersetzen lassen; jetzt noch einmal zum Abschied von Allem, was hinter uns liegt: „Zieh’n die lieben gold’nen Sterne,“ ich möchte mich gern ein einziges Mal dabei so gehen lassen, wie es mir schon lange im Herzen liegt und ich es auf dem Schiffe nicht durfte.“

Für Reichardt war es fast, als sei eine graue Nebelhülle, welche bisher über dem Mädchen gehangen, von ihr gefallen; er gab sich dem Eindrucke, welchen die eigenthümliche Veränderung ihres ganzen Wesens auf ihn machte, hin, ohne lange nach dem Grunde derselben zu forschen, legte das ihm in die Hand gedrückte Geld bei Seite und nahm die Geige aus dem Kasten. Hätte ihn Mathilde nicht dazu aufgefordert, so hätte er es, unter dem Eindrucke seiner augenblicklichen Empfindungen, wahrscheinlich freiwillig in seinem Zimmer gethan. Er begann in der rechten Stimmung die in großartigem Style gehaltene Einleitung; als er aber jetzt in das einfache, reizende Thema überging, erhob sich mit diesem die Stimme des Mädchens als Begleitung, anfänglich wie ein leiser Hall aus der Ferne in wunderbar süßem Klange, bald aber mit jeder Strophe an sonorer Fülle gewinnend und der Vortragsweise in allen Schattirungen sich anschmiegend, als hätten Beide schon wochenlang die Melodie zusammen studirt. Reichardt’s Auge begann mit jedem Takte mehr aufzuglänzen, und wie in lebhafter Spannung begann er jetzt die Durcharbeitung; Mathilde aber schien fast nur darauf gewartet zu haben und nahm jetzt das Thema in Tönen so klar wie Silber auf:

Zieh’n die lieben gold’nen Sterne
Auf am Himmelsrand,
Denk ich dein in weiter Ferne,
Theures Heimathsland.

Wie zwei Lerchen schwangen sich die Töne der Geige und der Stimme nebeneinander auf, einander durchkreuzend, sich fliehend und wieder findend; Reichardt’s Wangen brannten und Mathildens Augen strahlten wie in lichter Verklärung. Als aber im Echo des Schlusses die Stimme wieder zur Begleitung übergegangen und die Klänge leiser und leiser wie in weiter Ferne verhallt waren, als Reichardt, Blick in Blick mit dem Mädchen, sein Instrument sinken ließ, da trat sie langsam auf ihn zu und legte wie in voller Selbstvergessenheit ihre beiden Hände fest an seine Arme. „War es [175] nicht schön?“ sagte sie mit einem Blicke des Glücks, „und geht wohl etwas im Leben über die Kunst?“

Beide wurden aus ihren Empfindungen durch ein Rasseln an der Thür geschreckt, und Mathilde that, wie jetzt erst sich ihrer Stellung bewußt werdend, zwei rasche Schritte zurück.

„Ach was, das sind auch Musiker, da braucht’s nicht die vielen Umstände!“ klang es durch den geöffneten Eingang, in welchem sich jetzt neben der Wirthin eine kleine ältliche Männergestalt mit zwei runden Brillengläsern auf der weit hervorspringenden Nase zeigte und, wie etwas betroffen von der Erscheinung des Paares, abwechselnd den Kopf nach dem jungen Mädchen und dem jungen Manne drehte. „Sind doch Musiker, nicht wahr?“ sagte er endlich, an den letzteren herantretend.

„Nicht ganz, lieber Herr!“ erwiderte dieser, welchen die formlose Unterbrechung unangenehm berührt hatte, „ich gehöre zum Kaufmannsstande, wenn Sie es durchaus wissen müssen, und das hier ist meine Schwester.“

„Kaufmannsstand – sind doch erst von Deutschland gekommen und werden also wohl eine Stelle suchen wollen – Kaufmannsstand bei so einem Striche auf der Geige!“ schüttelte der Alte den Kopf, ohne anscheinend Reichardt’s verdrießliche Miene zu bemerken. „Wegen der Lady habe ich freilich nichts zu sagen; Sie wissen aber wohl noch nicht, wie lange Sie hier laufen können, ehe Sie einmal einen Platz mit ein paar Dollars bekommen? Jedes Schiff bringt deutsche Handlungs-Commis, sie müssen aber fast Alle zu einem andern Geschäfte greifen, und die Klügsten thun es, ehe ihr Geld aufgezehrt wird. Wenn Sie gescheidt sind, so nehmen Sie gleich jetzt mit, wo Sie einen Verdienst finden. Ich habe viele Tanz-Parties zu spielen – nur in reichen Familien, verstehen Sie – und wenn Sie mit mir gehen wollen, so haben Sie für jeden Abend einen Dollar. Wir sind auch jetzt dran, ein ordentliches Corps für Blasmusik zusammenzubringen; das Althorn können Sie geschwind lernen, und bis dahin schlagen Sie beim Ausrücken die Trommel –“

„Ich denke, nicht, lieber Mann!“ unterbrach ihn Reichardt, dessen Unmuth sich vor der sonderbaren Weise des Sprechenden in einen halben Humor verwandelt hatte; um Mathildens Mund aber hatte es bei dem Trommel-Anerbieten zu zucken begonnen, als halte sie nur mühsam ein lautes Lachen zurück.

Der „Musiker“ warf einen neuen Blick in die Gesichter des jungen Paars und zuckte dann mit den Achseln. „’s ist kein Geschäft zu verachten in Amerika, das Geld einbringt; werden’s vielleicht auch erst noch ausfinden müssen wie Andere,“ sagte er, die Nase hebend, „im Uebrigen will ich nichts Böses gesagt haben!“ Er nickte mit dem Kopfe und wandte sich wieder zurück, von der Wirthin gefolgt, deren Gesicht die heitere Laune ihrer jungen Gäste widerzuspiegeln schien.

„Jedenfalls doch eine Aussicht!“ rief Reichardt launig, die Violine wieder in den Kasten bergend, „wollen’s als ein gutes Zeichen nehmen, das uns der erste Tag sogleich entgegenbringt!“

„Mir hat der Mensch, trotz seiner Tollheit, die ganze schöne Stimmung verscheucht,“ erwiderte Mathilde, ohne doch das hervorbrechende Lachen unterdrücken zu können; „er kam mir fast mit seiner langen Nase wie ein Rabe vor, der seine Unglücksprophezeiungen in unsere Freude hineinkrächzen mußte – aber mag’s drum sein, ich habe mir vorgenommen, mich heute nicht zu kümmern! – Laß Dich jetzt in Deiner Bequemlichkeit nicht weiter aufhalten, Bruder Max,“ fuhr sie fort, die zur Seite geschobenen Goldstücke auf seinen Kasten legend, „wie wir es uns überhaupt zur Regel machen wollen, uns niemals gegenseitig zu geniren!“ Sie reichte ihm mit offenem Blicke die Hand, und Reichardt verließ das Zimmer, um nach der Unterbringung seiner eigenen Habseligkeiten zu sehen. – –

Vier Wochen waren verstrichen. Reichardt hatte seine Empfehlungsbriefe an ihre Adressen, unter denen sich Handelshäuser von Bedeutung befanden, abgegeben, war freundlich begrüßt und zu weiterem Besuche eingeladen worden; so hoch sich aber auch seine Hoffnung in der ersten Woche gehalten hatte, so schien doch jeder folgende Tag nur dazu gemacht zu sein, um ein Stück nach dem andern davon wegzubrechen. Er hatte offen seine Verhältnisse, die ihn auf baldige Beschäftigung anwiesen, dargelegt und Versprechungen für Berücksichtigung und Verwendung erhalten; bei seinen spätern Besuchen waren es aber nur dieselben allgemeinen Worte wieder, welche er hörte, und als er endlich sich nach der Möglichkeit einer einigermaßen bestimmten Aussicht erkundigte, wurde ihm hier ein Achselzucken, dort eine Klage über Ueberfüllung an jungen Leuten und am dritten Orte eine Vertröstung auf den Zufall, welcher jeden Tag eine Vacanz herbeiführen könne. In der dritten Woche schienen seine fortgesetzten Besuche schon lästig zu werden; es ward ihm bedeutet, daß man ihm wissen lassen wolle, sobald sich etwas finde, daß er aber jedenfalls gut thue, sich, ehe er sein Geld aufzehre, nach irgend einer andern Beschäftigung umzusehen. Von diesem Augenblicke an hatte er seine täglichen Rundgänge unterlassen, aber seine Dienste durch mehrere Zeitungen unter Namhaftmachung der Häuser, welchen er empfohlen war, angeboten. Acht Tage lang hatte er sich vorgenommen zu warten, ehe er auch diese Hoffnung aufgäbe; aber die vierte Woche war verstrichen, ohne daß es nur schien, als habe Jemand seine sechsmal wiederholte Anzeige gelesen. Oft hatte er während dieser Zeit gewünscht, einen Freund zu haben, gegen den er sich wenigstens aussprechen könne, und er hatte sogar einmal den Versuch gemacht, den Kupferschmied wieder aufzusuchen, ohne indessen eine Spur des Wegs, den dieser beim Verlassen des Shakespeare-Hotels genommen, finden zu können.

Zu Mathilden mochte er nicht reden; sein Verhältniß zu dieser hatte weder an Vertraulichkeit gewonnen, noch an der Eigenthümlichkeit, wie es der erste Tag geschaffen, verloren; in ihrer ganzen Haltung gegen ihn schien sie trotz des äußern geschwisterlichen Tons und einzelner Momente des Sichgehenlassens eine feine Schranke aufrecht erhalten zu wollen, die ihm jede herzliche Annäherung verbot. Auch eine Stunde wie am ersten Tage in ihrem Zimmer war nicht wiedergekommen. Er hatte wohl bisweilen gesehen, wie sie während des allgemeinen Zusammenseins der Kostgänger in dem untern großen Zimmer sein Gesicht und die darin unwillkürlich hervortretende Sorge beobachtete, aber nie hatte sie ihm wieder Gelegenheit zu einem vertraulichen Gespräche geboten. Daneben wußte er in einer andern Weise nicht, wie er das Mädchen zu beurtheilen hatte. Nur selten ward das Haus von Fremden besucht und die abendlichen Zusammenkünfte der Kostgänger in der untern Stube trugen deshalb eine Art Familien-Charakter; so sehr sich auch Mathilde von jeder nähern Berührung mit der übrigen Gesellschaft zurückhielt, deren Aufmerksamkeit sie in ähnlicher Art wie die der Schiffsbevölkerung erregt hatte, so schien das geöffnete Piano sie doch der Gesellschaft, in welcher sie sich befand, ganz vergessen zu lassen, und es bedurfte nur einer Aufforderung, um sie zum Vortrage eines oder auch mehrerer Lieder zu bewegen. Ihre Stimme war immer dieselbe, silberklar, warm und seelenvoll, und fast schien es oft, als singe sie nur zu ihrer eigenen Genugthuung. Demohngeachtet meinte Reichardt, sie werfe ihre Perlen vor die Säue, eine Laune, die er sich in keinem Zusammenhange mit ihrem übrigen Wesen denken konnte, und als ihn die Wirthin eines Abends bat, seine Violine zu holen und das Stück noch einmal zu spielen, was sie am ersten Tage belauscht, stand er mit einer kurzen Ablehnung von seinem Platze aus und verließ das Zimmer. Es wäre ihm gleich einer Profanirung seiner besten Gefühle gewesen.

So war das Ende der vierten Woche herangekommen. Reichardt hatte nach dem Mittagessen das wöchentliche Kostgeld für sich und die „Schwester“ bezahlt und schritt, trübe Gedanken durch sein Gehirn wälzend, nach seiner Wohnung hinauf, als sich die Thür von Mathildens Zimmer öffnete und ein Wink des Mädchens ihn herbeirief. „Komm herein, wir müssen ein paar Minuten mit einander reden!“ sagte sie mit gedämpfter Stimme, sorgfältig hinter dem jungen Manne den Eingang wieder schließend. Sie deutete auf einen Stuhl, zog leicht einen zweiten herbei und setzte sich ihrem Gaste unmittelbar gegenüber.

„Es sind heute vier Wochen vorüber, Max, die erste Frist, die wir uns setzten, seit wir hier ankamen, und wir wissen jetzt wohl, was wir von unsern Aussichten zu halten haben,“ begann sie, ihm wie in stiller Sorge in das umwölkte Auge sehend; „Du hast wenig Glück gehabt, ich konnte es jeden Abend in Deinem Gesicht lesen – hat sich gar nichts geboten?“

„Nichts, Mathilde!“ erwiderte er finster den Kopf senkend, „Versprechungen, die nirgends gehalten wurden, und Vertröstungen, die mir nichts nützen können.“

„Und hast Du Dir jetzt irgend einen andern Plan für die Zukunft gemacht?“

„Einen Plan? O ja!“ erwiderte er bitter lachend. „Es wird mir eben nichts übrig bleiben, als zum Tanze zu geigen, da, [176] wo ich mit wenig ganz gewöhnlichem Glücke selbst hätte tanzen können; dazu Tambour zu werden und so weiter.“

„Und zuletzt wäre das gar so schlimm nicht – ich habe in diesen vier Wochen mancherlei gesehen und gelernt.“ Als Reichardt überrascht aussah, blickte er in ein Auge, das ihm ermuthigend zulächelte und doch den Ueberrest einer herben Empfindung nicht ganz unterdrücken zu können schien. „Vielleicht ist aber das noch nicht einmal nothwendig,“ fuhr sie fort und legte ihre Hand leicht auf seinen Arm. „Ich habe etwas Anderes, das weniger Anstoß bei Dir finden wird.“

„Für mich?“ fragte er lebhaft, den Kopf hebend.

„Für uns Beide – erst aber zwei Worte voraus, damit Du mich verstehst. Ich bin manchen Weg gegangen, seit wir hier im Hause sind, um eine Existenz für mich zu schaffen, ich hatte Tag für Tag Enttäuschungen zu ertragen und mochte doch Deinem sorgenvollen Gesichte gegenüber es zu keiner Erklärung kommen lassen, die uns Beide nur vorzeitig entmuthigt hätte. Ich hatte zuerst an die Stelle irgend einer Lehrerin gedacht – aber was ist bei den Deutschen hier eine Person ohne Empfehlung und ohne jedes Zeugniß? Der Zudrang der Einwanderung mag Vorsicht nöthig machen, ich begriff das, und doch war es mir immer, als müßte ich als Ausnahme gelten, und erst nach manchem vergeblichen Versuche und mancher Demüthigung begann ich die Nutzlosigkeit meiner Bemühungen einzusehen. Da erzählte mir die Wirthin von einer Bekannten, die arm hierher gekommen, jetzt aber ein brillantes Geschäft habe und mich vielleicht gern beschäftige, wenn ich einiges Geschick habe. Ich ging hin – es war eine Kleidermacherin. Da saßen eine Reihe junger Mädchen, bleich eine wie die andere, Stich für Stich sich ihr kärgliches Brod verdienend, und ich wußte, daß ich wohl den Muth haben konnte zu sterben, aber nicht ein solches Leben zu verbringen. An demselben Abende aber erhielt ich ein anderes Anerbieten. In der Bowery ist ein amerikanisches Concertlocal; wahrscheinlich hat irgend Jemand, der damit in Verbindung steht, mich singen hören – ich weiß nur, daß nur die Wirthin einen deutsch sprechenden Mann vorstellte, der mir zehn Dollars die Woche offerirte, wenn ich wöchentlich an drei bestimmten Abenden in dem Locale meine Lieder vortragen wolle. Am nächsten Abend ging ich mit der Wirthin, um mich von den Verhältnissen zu unterrichten. Es war ein sonderbarer Styl von Musik, mit welchem die Amerikaner tractirt wurden, aber das Publicum war trotz seiner heitern Ausbrüche anständig, und ich konnte mir recht gut den Effect vergegenwärtigen, den eine deutsche Composition hier machen mußte. Ich forderte eine Frist zur Ueberlegung, zugleich aber für jeden Fall auch Dein Engagement, das für die Pianobegleitung unumgänglich nothwendig werde. Es wurde mir zugesagt, und das Interesse für Dich schien sich noch zu vermehren, als ich von Deiner Fertigkeit auf der Violine sprach. Jetzt entsteht also nur die Frage, ob Du bereit bist, auf eine derartige Beschäftigung einzugehen.“

Reichardt hatte mit steigender Spannung den Bericht des Mädchens angehört. „Und Du willst wirklich in einem dieser Bowery-Locale öffentlich singen, Mathilde?“ fragte er, als könne er noch kaum die Möglichkeit eines solchen Schrittes glauben.

In des Mädchens Gesicht stieg, sichtlich durch den Ton seiner Frage hervorgerufen, ein helles Roth. „Ich werde es nicht thun, wenn Du für Dich ein passenderes Unterkommen weißt,“ erwiderte sie; „für mich gäbe es wohl noch einen andern annehmbareren Vorschlag, der aber Deine Mitwirkung ausschließt und für mich deshalb ganz außer Frage lag. Im Uebrigen aber denke ich, daß die Kunst jeden Ort, an dem sie ausgeübt werden mag, veredelt, und es lag ein großer Reiz für mich in dem Gedanken, diese Menschen, die noch kaum andere Klänge als Negerlieder und dergleichen gehört zu haben scheinen, aufzuwecken. Sage mir nur jetzt, wenn Du nicht durch die Straßen trommeln willst, was Du zu thun gedenkst, und meine ersten Bedenklichkeiten, die ich hatte, werden sich wohl auch wieder finden.“

Reichardt sprang von seinem Stuhle auf und durchmaß einige Male rasch das Zimmer. „Mein Interesse also ist es,“ sagte er endlich, vor dem Mädchen stehen bleibend und ihre beiden Hände fassend, „das Deinen Entschluß bestimmt hat?“

„Und wenn es sich so verhielte, wäre denn etwas Außerordentliches dabei?“ erwiderte sie, mit einem Blicke zu ihm aufsehend, der ihm warm bis in’s Herz drang. „Hattest Du es denn nicht als Bedingung unserer Geschwisterschaft gesetzt: getheiltes Glück und getheiltes Leid?“

Er sah einige Secunden lang in ihre Augen, die sich voll seinem Blicke hinzugeben schienen, und nahm dann seinen Gang durch das Zimmer wieder auf.

„Und wann soll das Engagement seinen Anfang nehmen?“ fragte er, wie noch immer nicht mit sich einig.

„Morgen Abend schon, Bruder Max; ich habe eben Alles bis zum letzten Termine verschoben, um unserm Schicksale in keiner Weise vorzugreifen,“ erwiderte sie, den Kopf nach dem Wandernden drehend. „Uebrigens will ich Dir, wenn es Dich beruhigen kann, mittheilen, daß ich, nicht unter eigenem Namen, sondern als eine irgend beliebige unbekannte Größe auftreten werde, deren Namen und Qualitäten bis zum morgenden Zetteldruck noch Geheimniß der Concert-Unternehmer sind.“

Reichardt schüttelte den Kopf und blieb wieder stehen. „Ich soll Dich nicht fragen: wer warst Du, und was trieb Dich hierher? Mathilde,“ sagte er, „aber ich darf wohl fragen: wohinaus soll es gehen, wenn Du einmal einen Weg wie den beabsichtigten eingeschlagen hast?“

Sie bog das lächelnde Gesicht über die Lehne des Stuhls nach ihm. „Weißt Du nicht, was der Kupferschmied auf dem Schiffe sagte: immer laufen lassen, was sich nicht halten läßt? Aber,“ fuhr sie fort, sich langsam erhebend und auf ihren Gesellschafter zutretend, „willst Du uns Beiden einen tröstlicheren Weg zeigen – ich folge, wenn er auch vorläufig nur zur Bezahlung des Kostgeldes führt! Hier ist indessen die große Aufgabe, die wir zu erfüllen haben; was darüber hinausliegt, darf uns im Augenblick nicht einmal kümmern!“

Reichardt sah vor sich nieder. „Nur ein Funken ganz ordinäres Glück, und es hätte nicht dahin kommen dürfen,“ sagte er unmuthig; „los denn, in Gottes Namen! Wann werde ich gebraucht?“

„Morgen früh zum Einstudiren, damit wir wenigstens unsere eigene Genugthuung am Abend haben!“

Er nickte und hob dann den Kopf. „Es ist ein Anfang, wie ich ihn mir nicht habe träumen lassen, aber es ist doch ein Anfang, und – hier ist die Bruderhand, Mathilde!“ sagte er, dem Mädchen, das ihm mit dem klaren Lächeln eines frischen Entschlusses in die Augen blickte, die Rechte entgegenstreckend.

Fortsetzung folgt.)


Gaeta. Obwohl das Felsennest, „der letzte Hord des Königthums“, wie unbegreiflicher Weise einige officielle Blätter die Festung zu nennen beliebten, augenblicklich keine Rolle mehr in der Weltgeschichte spielt, so dürfte eine getreue Abbildung derselben doch noch bei den meisten unserer Leser Interesse erregen. Der in Neapel lebende Künstler hat dieselbe noch während der Belagerung aufgenommen; die Aufzeichnung auf Holz, der Schnitt und die dreiwöchentliche Arbeit, welche zur Herstellung einer Nummer nöthig, nahmen die übrige Zeit in Anspruch. Wir hoffen diese Abbildung noch durch weitere Illustrationen aus dem Innern der zerstörten Festung zu ergänzen und mit diesen zugleich dann eine authentische Schilderung der letzten Vorgänge aus der Feder eines dort lebenden Deutschen zu bringen. –




Berichtigung. Dänische Blätter haben mir die außerordentliche Ehre zu Theil werden lassen, den Artikel „Clara Erichs“ in Nr. 4. der Gartenlaube eine schändliche Lüge zu nennen. Den Beweis habe ich ihnen leider selbst erleichtert, indem ich irrthümlicher Weise die holsteinsche Stadt S. als den Ort angegeben, wo der Bräutigam der Frl. Erichs durch dänische Soldaten getödtet worden. „Die Familie Erichs wohnte im Herzogthum Schleswig und nicht in Holstein.“ Es ist dies eine Verwechslung, woraus aber keineswegs die Unwahrheit des Artikels hervor geht. Erklärlich ist es, daß die Herren Dänen gern die von ihnen zu damaliger Zeit in den Herzogthümern verübten Gräuelthaten zu Lügen machen möchten; indeß wahr bleibt wahr, und so bleibt denn auch das Erzählte stehen. Den vorgekommenen Irrthum werden die geehrten Leser freundlichst entschuldigen.
H. Seeger. 


Kleiner Briefkasten.

P. E. in Berlin. Allerdings belegen einige preußische Steuerbehörden nicht alle – auch die Monatsausgabe unserer Zeitschrift mit einer Steuer, doch hoffen wir nunmehr eine baldige Abänderung dieser Maßregel. Mit demselben Rechte würde die preußische Behörde auch die ältern gebundenen Jahrgänge besteuern können.

M. O. H. in M. Wir haben für Ihre Einsendung „Ein Beispiel deutscher Gastfreundschaft“ keine Verwendung. Lassen Sie uns gefälligst wissen, was mit dem Manuscripte werden soll.


  1. Wir haben oben gesehen, daß die Augen des Fischotter, wie die aller tauchenden Thiere, unter dem Wasser offen bleiben.