Die Gartenlaube (1861)/Heft 26

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 26.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ein Deutscher.

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

Eine neue halbe Stunde mochte verflossen sein, als sich rasche Tritte auf der Treppe, welche nach der Office führte, hören ließen. Ein zweiter junger Mann, in der ganzen Eleganz der fashionablen Welt, trat mit gehobenem Kopfe, die Cigarre im Munde und die Reitpeitsche in der Hand, ein, und die Familienähnlichkeit verrieth dem wartenden Reichardt sofort, daß er wieder einen der Johnson’s vor sich hatte.

„Sie werden erledigen, was etwa vorfallen sollte, Mr. Black,“ sagte der Eingetretene nach einem kurzen Morgengruße, „ich habe ein Engagement, das mich bis Nachmittag aus der Stadt hält – hoffentlich wird es hier nichts von besonderer Wichtigkeit geben!“

Der Buchhalter hustete ohne aufzusehen.

„Haben Sie mir sonst irgend etwas zu sagen, Sir? “ fragte der Erste nach einer kurzen Pause und schlug wie in leichter Ungeduld die Reitgerte gegen seine Wade.

„Es ist heute der 14.,“ begann jetzt der Alte, ohne den Kopf zu wenden, „und um elf Uhr ist Termin in der Sache gegen James Miller wegen Unterlassung der contractmäßigen Getreidelieferung. Wenn Sie, Mr. William Johnson, der den Vertrag abgeschlossen, aus der Stadt wollen, so sehe ich keinen andern Weg, als die eingeklagte Forderung gegen den Mann fallen zu lassen.“

Der Fashionable preßte die Lippen auf einander und machte einen raschen Gang durch das Zimmer. „Sie haben Recht,“ sagte er dann stehen bleibend, „ich habe das übersehen. Ich werde also nur den kurzen Ritt nach Frost’s hinaus machen und dann wieder hier sein. Ist sonst noch etwas, Mr. Black?“

Der Genannte wandte sich jetzt langsam um. „Hier ist ein junger Mensch, der als Porter bestellt worden ist – weiß nicht von wem,“ sagte er, die buschigen Augenbrauen zusammenziehend, „wieder ein Deutscher und scheint mir schon mehr Bescheid auf Officen zu wissen, als ich bei solchen Leuten gern habe!“

William Johnson wandte rasch den Kopf nach dem sich erhebenden Reichardt, und die Augen der beiden jungen Männer, die kaum zwei Jahre im Alter auseinander sein konnten, trafen sich und blieben zwei Secunden wie unwillkürlich in einander hängen; dann aber überlief der Blick des Erstern die ganze Erscheinung des Applicanten. Reichardt hatte wohl seinen ältesten Anzug für sein erstes Auftreten gewählt, aber der Sitz der Kleider, die Feinheit seiner Wäsche, das volle, elegant gescheitelte Haar und die ganze Haltung des jungen Mannes verriethen ohne Weiteres den Menschen aus der „guten“ Gesellschaft. Was in der Seele des Musternden vorging, konnte Reichard nicht errathen, aber die Mienen des Ersteren nahmen, als er seine Inspection vollendet und die ersten Fragen an den Deutschen richtete, einen Ausdruck von hochmüthiger Nonchalance an, welcher diesem bis in’s Herz weh that. „Es ist schon richtig.“ wandte er sich dann an den Buchhalter zurück, „Bill garantirt für den Mann, und das ist mir lieber, als jemand von der Straße weg in’s Haus zu nehmen – falls er genügend englisch versteht, kann er hier bleiben, und James mag ihn von dem, was er zu thun hat, unterrichten. In zwei Stunden bin ich wieder zurück.“ Er klatschte mit der Reitpeitsche gegen seine Beinkleider und verließ mit zurückgeworfenem Kopfe den Raum.

Reichardt war bleich geworden; fast wollte ihm diese Behandlungsweise, gegen die er nicht gestählt gewesen war, absichtlich erscheinen, und doch hätte er sich nicht die Spur eines Grundes dafür angeben können. Er hörte nicht, wie der Buchhalter sich mit einem unzufriedenen Brummen wieder abwandte, und erst als dieser ein Stück Papier nach dem äußersten Rande des Pultes schob und ihm mit einem lauten: „Hier schreiben Sie, was ich Ihnen sagen werde!“ eine Feder hinhielt, wurde er seinen Empfindungen entrissen. Er folgte der Aufforderung und warf, ohne einen Zug von Bitterkeit unterdrücken zu können, mit seiner gewöhnlichen Leichtigkeit das ihm dictirte Formular eines Verladungsscheins auf das Papier. Der jüngere Johnson hatte neugierig von seiner Arbeit aufgesehen und beobachtete, als erwarte er ein Amüsement, wie der Alte die Schriftprobe vor sich nahm; dieser indessen schien nach der Länge seiner Prüfung jeden Buchstaben studiren zu wollen, ließ einzelne grunzende Laute hören und schob endlich mit einem: „Können etwas davon lernen!“ das Papier dem jungen Clerk hinüber. Dann wandte er sich mit einem kurzen Husten nach dem Deutschen. „Sie mögen den Besen nehmen und mit Ihrer Arbeit fortfahren; Mr. Johnson ist einverstanden, daß Sie hier verwandt werden, sagen Sie mir aber zuerst Ihren vollen Namen – die Porters werden im Hause bei ihren Taufnamen gerufen – und dann wird Ihnen Mr. James Johnson hier, an den Sie sich wenden mögen, das Weitere über Ihre Arbeit sagen!“

Ein erhöhtes Roth war in Reichardt’s Backen gestiegen, als er von Neuem die Feder ergriff, um seinen Namen niederzuschreiben; er wartete nicht die Versuche des Buchhalters, eine Aussprache dafür zu finden, ab, warf, sobald er das Zimmer verlassen, den Rock von sich und begann, als wolle er sein verletztes Gefühl betäuben, mit Hast das Reinigungswerk der äußeren Räume. Erst als er die Treppe hinab gefegt hatte und eine Art Scheu in sich [402] fühlte, die begonnene Arbeit bis auf die offene Straße fortzusetzen, hielt er inne. „Entweder geh’ ganz von hier weg und gieb auf, was du unternommen,“ sprach er nach einer Pause vor sich hin, „oder schäme dich nicht dessen, was dich nährt; sei das, was du einmal bist, ganz und überlasse das Uebrige der Zukunft!“ und als gehe er daran, eine Heldenthat zu vollbringen, kehrte er den zusammengefegten Schmutz nach der Straße hinaus, machte sich dann an das Reinigen des untern Raumes und fegte sodann gründlich den Seitenweg der Straße, wie er dies oft von den Porters anderer Geschäftshäuser hatte thun sehen. Jetzt fühlte er, daß er den Berg überstiegen hatte und was nun noch kommen mochte, sollte ihn fertig und vorbereitet finden.




Reichardt’s Stellung im Hause hatte sich schon nach Verlauf der ersten Wochen eben so bestimmt herausgebildet, als er selbst einen klaren Einblick in die Verhältnisse seiner Umgebung erhalten hatte. Drei erwachsene Söhne waren in dem Geschäft thätig, von welchen der mittlere die Fabrik und das Lager beaufsichtigte, während der älteste, William, bereits Mitglied der Firma, die allgemeine Oberleitung an Stelle des alten, wenig sichtbaren Vaters versah, und der jüngste, James, als Clerk in der Office arbeitete.

Den controlirenden Geist in dem ganzen Etablissement aber bildete der alte Black, unter dessen Augen die jungen Johnsons herangewachsen, unter dessen Leitung sie ihre ersten Arbeiten begonnen und dessen überwachendem Einfluß sich selbst der junge Chef nicht zu entziehen vermochte. Reichardt’s Arbeitskreis wies ihn zunächst nach der Office. Er hatte die gewöhnlichen Geschäftsausgänge zu besorgen, war bei den Verladungen beschäftigt und für die Sicherheit und Ordnung der vordern Räume verantwortlich. In den ersten Tagen hatte der Buchhalter mit grämlichem Auge jede seiner Arbeiten bewacht und controlirt, während James von weitem das Thun und die ganze Erscheinung des Deutschen mit einem stillen Interesse zu beobachten schien; als aber der Kupferschmied, sobald er wahrgenommen, wie sich Reichardt in seine neue Lage gefunden, erzählt hatte, daß dieser nur Porter geworden sei, um das amerikanische Geschäft von unten auf kennen zu lernen, daß er aus einer der besten Familien in Deutschland stamme und so viel Kenntnisse besitze als nur irgend ein deutscher Buchhalter oder Correspondent – da hatte James hie und da ein Gespräch mit dem Neueingetretenen begonnen, und Reichardt’s freies, herzliches Entgegenkommen hatte bald ein Verhältniß zwischen Beiden geschaffen, das wenigstens, so lange Beide sich im Geschäft neben einander bewegten, den Deutschen oft die Stellung, in welcher er sich befand, vergessen ließ – der Buchhalter aber schien sich bald nur noch mit einzelnen sonderbaren Blicken, welche er auf den jungen Deutschen warf, zu begnügen, und dieser begann mit einem eigenthümlich wohlthuenden Gefühle das aufkeimende Vertrauen des Alten wahrzunehmen. Der Einzige, dessen Benehmen sich völlig gleich blieb, war William Johnson. Er schien entweder den neuen Porter gar nicht zu bemerken, oder wenn er ihm etwas zu sagen hatte, geschah es mit demselben sonderbar musternden Blicke über Reichardt’s Aeußeres und dem vornehm nachlässigen Tone, welche das erste Zusammentreffen Beider bezeichnet hatten; der Letztere aber hatte schon seit dem ersten Tage sich das Wort gegeben, sich durch eine Behandlungsweise, welche seine Stellung mit sich bringen konnte, niemals wieder aufregen zu lassen, und nahm sie als ein Uebel, das vorläufig ertragen werden mußte.

Eine so lebhafte Genugthuung nun auch der Kupferschmied über die Weise empfand, in welcher sich Reichardt in seine Lage und die ungewohnte Arbeit gefunden, so wenig war er doch mit dessen außergeschäftlichem Leben zufrieden. Er schien auf ein stetes Beisammensein, auf eine rechte Cameradschaft gerechnet zu haben; Reichardt aber, bei aller Herzlichkeit, mit welcher er den Freund behandelte, hielt sich doch fern von der Gesellschaft, in welcher der Letztere sich bewegte. Er nahm seine täglichen Mahlzeiten wie am ersten Tage seiner Ankunft mit dem Kupferschmied zusammen; wenn aber dieser dann irgend ein Bierhaus aufsuchte, ging jener nach dem geschlossenen Geschäft zurück, brannte sich in der Office eine Gasflamme an und begann sich hier den Abend auf seine eigene Art zu vertreiben – diese bestand aber in dem Studium der Unterschiede zwischen der englischen und deutschen Buchhaltung, wie er sie in einem der praktischen englischen Lehrbücher, das sich wie gebräuchlich in der Office befand, vorgefunden; sodann in der Durchsicht des Brief-Copirbuchs, welches ihm eine Menge noch unbekannter Wendungen im kaufmännischen Style zeigte, und wenn auch Meißner nicht begreifen konnte, wie ein Mensch nach anstrengender Tagesarbeit so den Abend verbringen könne, mit nichts als dem Hund und einer Cigarre zur Gesellschaft, so durfte er doch kaum etwas gegen ein Streben, wie es sich in des Freundes Beschäftigung aussprach, sagen und er ergab sich darein, wenn auch unmuthig und brummend.

Indessen vergingen zwei Monate in der sich gleichmäßig abspinnenden Arbeit; Reichardt hatte einsehen lernen, daß der Kupferschmied wahr gesprochen, daß trotz aller Anerkennung, die ihm wurde, von einer Aenderung seiner Lage im Geschäfte selbst keine Rede sein könne, und oft, wenn er Nachts, den Hund zu seinen Füßen, wachend im Bette lag, wenn alle die Bilder seiner amerikanischen Erlebnisse an ihm vorüberzogen, begann er sich Phantasien zu machen, auf welche Weise ihm wohl von auswärts ein Glück kommen könne.

Es war ein heller Spätnachmittag zu Anfang des December. Bis Mittag hatte es einen leichten Schnee geworfen, dann war die Sonne durchgebrochen und hatte in den Straßen ein Meer von flüssigem Schlamm geschaffen. Reichardt hatte sich einen starken Besen hervorgesucht, um den Seitenweg, so weit sich das Haus erstreckte, zu reinigen, und begann seine Arbeit mit vollem Eifer. Eine Equipage, die, einem andern Fuhrwerk ausweichend, nahe dem Fußwege herangerollt kam und ihn zu bespritzen drohte, machte ihn zurücktreten und aufsehen; der Wagen war vorüber, aber der Deutsche stand ihm wie gebannt nachstarrend, eine jähe Röthe hatte sein Gesicht übergossen und war einer gleich rasch folgenden Blässe gewichen. Reichardt hatte in ein Paar Augen gesehen, die plötzlich eine Erinnerung wie an einen verschwundenen, glänzenden Stern in ihm wachgerufen – aber die Augen hatten sich bei seinem Anblicke wunderbar belebt, es war ihm fast gewesen, als habe die feine Gestalt, welcher sie gehörten, eine Bewegung der Ueberraschung gemacht – Reichardt hatte von Allem, was der Wagen enthielt, nichts gesehen als dies eine Gesicht, es war vor ihn getreten, wie die Verkörperung seiner süßesten Träume, er hatte den milden Stern wieder erkannt, der ihm an der Seite Harriet’s, die wie ein Meteor in sein Leben geschweift, in Saratoga ausgegangen war, dessen Erinnerung selbst in den verlockendsten Augenblicken seiner letzten Vergangenheit nicht von ihm gewichen – und hier hatte sie ihn, die Straße fegend, wieder gesehen.

Ein halbes Dutzend Häuser etwa mochte die Equipage passirt haben, als sie plötzlich nach dem Seitenweg bog und hier anhielt. Ein junger, eleganter Mann sprang heraus und nahm raschen Schritts seinen Weg zurück, direct auf den jungen Deutschen los, der krampfhaft seinen Besen gefaßt, das Halten des Wagens beobachtet hatte. Ein Lächeln der Befriedigung glitt über das Gesicht des Herankommenden, als er den gespannten Ausdruck in Reichardt’s Mienen bemerkte, zugleich aber schien sein Auge begierig jede Einzelnheit in dem Aeußern des Dastehenden erfassen zu wollen. „Pardon, Sir,“ sagte er herantretend, „ich möchte mir Ihren Namen erbitten!“

„Max Reichardt, Sir!“ erwiderte Jener, während er langsam den Kopf hob und seine Augenbrauen sich wie in einem aufsteigenden Gedanken leicht zusammenzogen.

Very well, Sir! und sagen Sie mir wohl auch mit gleicher Liebenswürdigkeit, wo und in welcher Stellung Sie sich hier befinden?“

„Halloh, was ist denn das?“ klang plötzlich eine Stimme seitwärts, „der elegante Charles Frost zu Fuß bei diesem Schmutze?“ William Johnson war es, der soeben vom Pferde gesprungen war und sich jetzt näherte.

Der Angeredete wandte nur leicht den Kopf zurück. „Ah, Johnson!“ sagte er, „Sie entschuldigen mich, ich habe einige Worte mit dem Gentleman hier zu reden, und meine Schwester erwartet mich mit dem Wagen.“

Der junge Geschäftsherr hob den Kopf, und eine sichtliche Befremdung ging durch seine Züge, als der von ihm Begrüßte seinen Arm vertraulich unter den des Deutschen schob und diesen einige Schritte seitwärts führte.

„Sie verschwenden jedenfalls Ihre Freundlichkeit an mir, Mr. Frost,“ begann jetzt Reichardt stehen bleibend, während ein lebendiges Roth in sein Gesich, trat, „ich bin nichts als gewöhnlicher Porter in dem Geschäft von Johnson und Sohn, also augenblicklich keine Person, die Ihrer Aufmerksamkeit werth ist.“

[403] „Porter – so’?“ erwiderte der Andere mit einem Ausdruck von Laune, während seine Augen sich auf’s Neue der ganzen Erscheinung des vor ihm Stehenden bemächtigen zu wollen schienen, „Porters sind jedenfalls äußerst nützliche Personen, nur weiß ich nicht, welcher Seite des Geschäfts sich so viel Geschmack abgewinnen läßt, daß es möglich wird, sich ihm ganz zu widmen.“

Reichardt’s Augenbrauen zuckten wieder. „Die Noth, Mr. Frost, die Sie allerdings nicht kennen werden, lehrt Geschmack an Manchem finden, das sonst nicht munden will. Ich bin mit Empfehlungsbriefen an mehrere der besten Häuser nach New-York gekommen und glaube, daß ich allen nicht übertriebenen Ansprüchen genügt hätte. Ich habe nirgends einen Platz für mich finden können und ehe ich wieder, wie ich es zu Anfang gethan, mein geringes musikalisches Talent zum Tanzfiedeln oder möglicherweise zur Biermusik verwende, habe ich nach einer Beschäftigung gegriffen, die mich ehrlich nährt und mich wenigstens nicht ganz aus meinem eigentlichen Wirkungskreise bringt. Das ist Alles, Sir!“

Das Gesicht des jungen Frost hatte während der erregten Worte des Sprechenden seinen bisherigen Ausdruck verloren. „Ich habe mich vielleicht zu weit gehen lassen,“ sagte er, mit einem höflichen Ernst seinem Gesellschafter die Hand bietend, „ich habe Ihnen nicht weh thun wollen, Sir! – Und wie lange sind Sie bereits in dieser gezwungenen Stellung?“ fuhr er fort, als Reichardt ihm leicht seine Hand gereicht. „Sie müssen meine Neugierde entschuldigen, der nur das Bedauern über dis Schicksal eines so talentvollen Mannes wie Sie zu Grunde liegt –“

„Ich bin seit zwei Monaten hier, Sir!“ erwiderte der junge Deutsche, als wolle er damit weitere Höflichkeiten abschneiden, und mit einem: „Dank Ihnen, Sir, und nochmals Entschuldigung!“ wandte sich der Andere von ihm, raschen Schrittes nach der wartenden Equipage zurückgehend. Reichardt sah ihm eine Secunde lang nach, dann aber, als wolle er sich für den Augenblick aller Gedanken entschlagen, begann er mit Hast seinen Besen wieder zu rühren und hielt nicht an, bis die begonnene Arbeit gründlich vollendet war.

In dem untern Raume des Hauses stand William Johnson, sich mit dem Hunde beschäftigend, und hob bei Reichardt’s Eintritte den Blick, ihn aufmerksam in dessen Gesicht ruhen lassend. „Sie kennen den jungen Mr. Frost? “ fragte er.

„Ich bin früher mit der Familie in Saratoga zusammengetroffen !“ erwiderte der Eingetretene leichthin und wandte sich nach dem hintern Theile des Raumes. Johnson blickte ihm nach, als sei er unschlüssig, ob er noch weitere Fragen thun solle, stieg dann aber langsam die Treppe nach der Office hinauf.

Reichardt hatte seinen Besen in die Ecke geworfen, setzte sich, als er sich allein sah, hinter den Fässern auf die überlaufenden Lagerbalken nieder und drückte die Augen in seine beiden Hände.

Das war also der junge Frost gewesen, mit dem er gesprochen – Margaret hatte ihn trotz Besen und Schmutz wieder erkannt und den Bruder nach ihm abgeschickt. Aber was konnte der Grund zu dem auffälligen Schritte sein? Hatte er doch in Saratoga kaum zwei Worte mit dem Mädchen gesprochen und, von Harriet in Beschlag genommen, ihr nicht die kleinste Aufmerksamkeit erweisen können, die übrigens seine damaligen Verhältnisse ohnedies verboten haben würden. Worin lag das Interesse für ihn, das sogar den Bruder vermochte, seinetwegen den fashionablen Johnson bei Seite zu lassen? Und der junge Frost schien seine Fragen als so natürlich, selbstverständlich betrachtet zu haben, daß er sich nicht einmal die Mühe gegeben, einen andern Grund dafür anzugeben, als theilnehmende Neugierde. Nun ja, war denn das zuletzt auch nicht Grund genug? Man hatte ihn als fashionablen Menschen, dann als Tanzfiedler mit einigem Talente gesehen, von Harriet war er als Organist weggesandt worden, und nun fand man ihn die Straße fegend. Die Neugierde war jetzt befriedigt, vielleicht folgte ein bedauerndes „schade um ihn!“ und damit war Alles zu Ende. Noch einmal ließ Reichardt Margaret’s feines, kindlichklares Gesicht, in welchem die beiden tiefblauen Augen wie ein paar stille, milde Sterne standen, vor seiner Seele aufsteigen, dann erhob er sich rasch, mit der Hand über das Gesicht fahrend, als wolle er damit jeden Gedanken an das eben stattgefundene Ereigniß hinwegstreichen. „Schaffe Dir keine Bilder, Max, mache Dir keine Hoffnungen, die sich kaum verwirklichen können,“ sprach er halblaut vor sich hin, „Du machst Dir die Gegenwart nur noch schwerer!“ und doch war es ihm, als er an seine weiteren Arbeiten ging, immer und immer wieder, als sei ihm eine neue Hoffnung erblüht – aber als drei, vier Tage vergingen, ohne daß das Geringste die Eintönigkeit seines gewöhnlichen Lebens unterbrach, da erblaßte auch das eigenthümliche Vorgefühl einer bessern Zukunft, das er mit sich herum getragen, und eine trübe Empfindung von Täuschung, die er sich doch selbst nicht gestehen wollte, nahm von seiner Seele Besitz.

Es war am Morgen des fünften Tages, als Reichardt von dem Buchhalter nach der Office gerufen ward. „Es sind da Erkundigungen über Sie bei uns eingezogen worden,“ begann der Alte hustend, „kann nicht sagen, zu welchem Zwecke, vermuthe aber, Sie werden sich nach einer andern Stelle umgethan haben. Sind wir Ihnen nicht gut genug, oder haben Sie sich über etwas zu beklagen?“

Wie ein Lichtstrahl allen stillen Hoffnungen plötzlich ihre frischen Farben wieder gebend, war die Mittheilung in Reichardt’s Seele gedrungen. Sein Auge glänzte auf, der Blick des Buchhalters aber, der des jungen Mannes Gesicht beobachtete, ward nur noch unmuthiger.

„Ich hatte weder Zeit noch Gelegenheit, mich nach einem andern Platze umzusehen,“ erwiderte der letztere, frei in das Gesicht des Alten blickend, „und kann Ihnen auch für die Behandlung in meiner jetzigen Stellung nur danken, Mr. Black. Daß ich aber in dieser Stellung nicht an meinem rechten Platze bin, so sehr ich auch bestrebt war, sie auszufüllen, daß ich, nachdem ich meine frühere Zeit nur hinter dem Comptoirpulte zugebracht, von Herzen gewünscht habe, wieder eine gleiche Beschäftigung zu erhalten, darf ich Ihnen ebenso offen gestehen, und Sie werden nichts Unrechtes darin finden –“

„Weiß nichts von einer Clerkstelle,“ brummte der Buchhalter, sich halb wegkehrend, „es ist nur nach Ihrer Zuverlässigkeit und Ihrem sonstigen Leben gefragt worden, und die Clerks sind nicht so selten, daß man sie unter unsern Porters suchen müßte – aber das geht mich nicht weiter an. Was ich sagen wollte, ist nur, daß ein ordentlicher Mann, wie ich Sie kenne und wie ich Ihnen auch das Zeugniß gegeben habe, nicht ohne Weiteres seinen Platz verläßt, sobald er etwas Besseres zu haben glaubt, und daß ich, der ich allein die Noth bei jedem Wechsel habe, wenigstens drei Tage Kündigung von Ihnen verlange –“

„Ich will Ihnen das gern versprechen, Sir,“ unterbrach ihn Reichardt, seiner innern Spannung nachgebend, „noch weiß ich aber nicht einmal, um was es sich handelt!“

„Sie sollen sich um elf Uhr in der Office von Augustus Frost einfinden, und ich will Ihnen wegen Ihrer Zeit nichts in den Weg legen,“ entgegnete Black, sich mit unzufriedener Miene nach seinen Büchern wendend. „Sie mögen jetzt gehen, aber,“ fuhr er den Kopf wieder zurückdrehend fort, „wenn es nicht gerade ein großes Glück ist, was sich Ihnen bietet, so denken Sie daran, daß Johnson und Sohn ebenso viel thun können, wenn es verlangt wird, als andere Leute. Im Uebrigen habe ich Ihr Wort.“ Mit einer Art Knurren schlug er jetzt das messingbeschlagene Hauptbuch auf und schien von Reichardt’s Anwesenheit keine weitere Notiz nehmen zu wollen.

Dieser hatte rasch die Thür hinter sich; in dem äußern Raum aber blieb er stehen und faßte mit beiden Händen seinen Kopf. „Betrüge Dich nicht, Max, bleibe kalt und hoffe lieber nichts – es ist nirgends ein Grund da, der ein mehr als gewöhnliches Interesse für Dich geweckt haben könnte!“ sprach er mit halblauter gepreßter Stimme vor sich hin. Im nächsten Augenblicke aber streckte er dennoch erregt beide Arme von sich: „Gott, wenn sich trotzdem eine Aussicht für mich eröffnete!“ Er sah nach der Uhr – noch hatte er fast eine Stunde Zeit, und in wenig Sprüngen war er in dem engen Verschlage unter der Treppe, das sein Lager und seine Reisetasche enthielt. Sorgfältig reinigte er sich und kleidete sich um. Der meist für seinen Gebrauch im untern Raume befindliche Wohnungs-Anzeiger wies ihn nach dem Südende der Stadt, dem Viertel der Banken und großen Commission-Häuser, und nach kaum zwanzig Minuten schritt er, auch äußerlich wieder ganz Gentleman, nach der Straße hinaus.

Je näher er der bezeichneten Stadtgegend kam, je weniger konnte er einer nervösen Erregung Herr werden, und als ihm endlich die gesuchte Firma in altehrwürdigen, halb verblichenen goldenen Lettern, die in voller Harmonie mit der verwitterten Außenseite des großen steinernen Hauses standen, entgegenblickte, mußte [404] er einige Minuten stehen bleiben, um die nöthigste Ruhe zu gewinnen. Aber erst als er sich lebhaft vergegenwärtigte, wie er nach Verlauf weniger Minuten wieder hier stehen könne, gänzlich enttäuscht durch irgend eine verhältnißmäßig unbedeutende Ursache, die seine Berufung veranlaßt, begann er die Rückkehr seiner Selbstcontrole zu fühlen und er wandte sich nun raschen Schritts dem breiten, offenen Eingange des Gebäudes zu, welcher zwischen einer Reihe starker geschlossener Thüren des Erdgeschosses nach den obern Stockwerken führte. Eine hohe Glasthüre am obern Ende der Treppe ließ den Ankommenden in einen hellen, eleganten Raum blicken, in welchem hinter einem niedrigen, die ganze Breite der Office durchlaufenden Gitter ein halbes Dutzend Clerks emsig an ihren Pulten arbeitete, und mit einem neuen Herzklopfen öffnete er die Thür. Kein anderer Laut, als ein zeitweises Rauschen von Papier oder das Kritzeln der Federn ließ sich in dem weiten Zimmer hören, kein Auge wandte sich bei dem Klappen der Thür auch nur einen Moment von der Arbeit, und Reichardt meinte in dem sich bietenden Bilde die ganze Bedeutsamkeit eines großen Handlungshauses zu fühlen. Er mußte eine kurze Zeit warten, ehe der nächststehende Clerk nach seinem Begehren fragte.

„Mr. Augustus Frost hat mich um elf zu sprechen verlangt!“ sagte der Eingetretene mit unwillkürlich gedämpfter Stimme; „Max Reichardt, Sir!“

Ohne weiteres Wort schritt der Clerk einer offenen Thür zu, in welcher er verschwand. Nach wenigen Minuten schon kehrte er indessen zurück, öffnete das Gitter und lud den Wartenden ein, ihm zu folgen. Reichardt betrat ein anstoßendes Zimmer, in welchem ein einzelner alter Herr an einem Pulte zwischen zwei großen feuerfesten Geldschränken arbeitete; die Thür zu einem dritten Zimmer öffnete sich, und der junge Mann befand sich in einem kleinen, von dem Dufte einer Havannah durchschwängerten Raume, der seinem Blicke wie das Ideal eleganten Comforts entgegentrat. Vor einem dunkelbraunen, mit reicher Schnitzerei versehenen Pulte saß, nachlässig in einen Armsessel zurückgelehnt, eine kräftige Männergestalt mit vollem, stahlgrauem Haare, im Gespräche mit zwei Personen, welche seitwärts auf einem der beiden Plüsch-Divans Platz genommen hatten. Schwere Damastvorhänge dämpften das einfallende Tageslicht; das dunkele marmorne Kamin zierte eine Pendeluhr in weißem, von vier Statuetten, den vier Jahreszeiten, getragenem Alabaster-Gehäuse. Zwei große Oelgemälde deckten einen Theil der geschmackvoll gefirnißten Wände, und der schwere Fußteppich machte jeden Laut der Schritte unhörbar. Der Eingetretene erkannte in den Zügen des Mannes vor sich sofort dasselbe Gesicht, das er in Saratoga an Margarets Seite bemerkt, und wenn auch in diesem Augenblicke eine tiefe Falte zwischen den Brauen ihm einen Ausdruck von Unmuth verlieh, so konnte doch selbst dieser das eigenthümlich ernste Wohlwollen, welches den Grundcharakter der Züge zu bilden schien, nicht ganz verwischen.

Reichardt war zwei Schritte vorgetreten. „Setzen Sie sich, Sir,“ rief ihm der Hausherr mit einem leichten Kopfnicken entgegen und deutete auf einen der umherstehenden Sessel. Dann aber, als kümmere ihn des jungen Mannes Gegenwart nicht, fuhr er, die Augen noch dichter zusammenziehend, in seiner unterbrochenen Rede fort: „Ich muß Ihnen sagen, Gentlemen, daß ich grundsätzlich mit der Sache nichts zu thun haben mag. Der Mann ist öffentlicher Beamter und hat Unterschleife begangen. Sie sagen, das Geld sei zum Besten der Partei verwandt worden und seine Parteifreunde dürften ihn jetzt nicht stecken lassen. Well, Gentlemen, ich fürchte nicht, daß unsere Partei so weit herabgekommen ist, daß sie dergleichen Mittel zu ihrer Erhaltung sanctioniren müßte. Ich halte es im Gegentheil für eine dringende Nothwendigkeit, daß sie durch gänzliche Desavouirung des Geschehenen ihre Ehre von jedem Verdachte säubere. Ich wenigstens würde mich lieber selbständig außer jeder Partei hinstellen, ehe ich mich auf die von Ihnen vorgeschlagene Weise zum offenen Beförderer und Beschützer der nur schon zu sehr eingerissenen Corruption machte. Wer im Stande ist, anvertrautes Gut zu irgend einem eigenen Zwecke zu verwenden, der existirt für mich nicht mehr, mag er nun ein hochgestellter Beamter ooer der letzte meiner Clerks sein. Vielleicht mögen Ihnen diese Ansichten als ziemlich außer der Mode erscheinen, ich verdanke ähnlichen Grundsätzen aber den ganzen Weg, welchen ich vom armen Gehülfen aufwärts gemacht habe, und will in meinen alten Tagen nicht erst noch von der gewohnten Richtschnur abweichen.“

Ein Blick des Verständnisses ward jetzt zwischen den beiden Dasitzenden gewechselt und Beide erhoben sich zu gleicher Zeit. „Wir können die Angelegenheit nicht ganz in der strengen Weise, wie Sie, Mr. Frost, betrachten, da wir nach unserer genauen Bekanntschaft mit dem Betreffenden von seiner völligen Ehrenhaftigkeit überzeugt sind,“ erwiderte der Eine. „Was er gethan, wurde nur von seinem Eifer für den Erfolg der Partei und im Drange des Augenblicks hervorgerufen. Indessen kann es uns natürlich nicht beikommen, Ihre strengere Anschauungsweise bekämpfen zu wollen, und wir müssen uns eben an einige andere Freunde wenden, welche der Theilnahme für einen unglücklichen Mann auch einmal ihr Recht geben.“

Um den Mund des alten Handelsherrn hatte sich ein bitterer Spott gelegt, als das Wort „Ehrenhaftigkeit“ fiel; jetzt erhob er sich ebenfalls. „Ich kann nichts dagegen haben, Gentlemen, was Andere thun wollen, und Ihnen nur meine Ansicht wiederholen, daß jede falsche Theilnahme für das Verderbniß innerhalb der Partei den Weg zu deren Ruin pflastert.“ Er neigte leicht den Kopf und folgte den Davongehenden bis nach der Thür. Dann kehrie er nach seinem Platze zurück, schlug die Arme in einander und blickte eine lange Weile wie im tiefen Nachdenken durch das hohe Fenster. Erst als Reichardt, der es für Pflicht hielt sich bemerkbar zu machen, ein leichtes Räuspern hören ließ, wandte er den Kopf, und der Zug von stiller Sorge, welcher aus seinem Gesichte gelagert, machte einem ruhigen Lächeln Platz. „Fast hätte ich Sie vergessen, Sir,“ begann er, sich erhebend und einen Sessel in seine Nähe ziehend. „Nehmen Sie hier Platz. – Wir sind ja wohl halbe Bekannte von Saratoga,“ fuhr er fort, als der junge Mann seinem Winke gefolgt war, und ein Zug von Laune spielte um seinen Mund, als in Reichardt’s Gesicht bei der Andeutung seiner damaligen Wirksamkeit ein leichtes Roth stieg. „Sie wurden, so viel ich höre, von der wilden Hummel, der Tochter meines Freundes Burton, nach dem Süden gesprengt und haben es bei Ihrer Rückkehr vorgezogen, lieber Porter zu werden, als zu Ihrem frühern Ernährungszweige zu greifen. Well, Sir, um ohne Umschweife zu reden, es sind einzelne Gründe vorhanden, die mich wünschen lassen, Ihnen nützlich zu sein – Sie selbst werden indessen am besten wissen, in welcher Weise dies geschehen kann. Sie hatten ja wohl den Plan, eine Organistenstelle anzunehmen. Ich habe einigen Einfluß bei einzelnen hiesigen Kirchengemeinden; oder insofern Sie tüchtig genug in Ihrem Fache sind, könnte Ihnen der lohnendere Weg als Musiklehrer unter den besseren Familien hier geöffnet werden, und die nöthigen Mittel für den Anfang würden sich wohl auch finden –“ er hielt inne, als erwarte er eine Rückäußerung.

Auf Reichardt’s Gesicht hatten Röthe und Blässe mit einander gewechselt. „Ich weiß nicht, Mr. Frost, wodurch ich Ihre so freundliche Beachtung verdient habe,“ erwiderte er mit einer Stimme, der er umsonst Festigkeit zu geben versuchte. „Indessen würde sich kaum einer meiner Wünsche in der angegebenen Richtung erstrecken. Ich bin von Haus aus Kaufmann, und mein sehnlichstes Verlangen ist es, wieder in den alten Berufsweg einbiegen zu können.“

„Mein Sohn hat mir etwas davon gesagt,“ nickte Frost, „indessen gestehe ich Ihnen, daß mir Ihre Neigung zur Musik und Ihre Fertigkeit darin sich kaum mit dem kaufmännischen Geschäfte, das, wenn es recht betrieben werden soll, jeden andern Gedanken absorbiren muß, vereinigen lassen will. Ich war zu dem Glauben gekommen, daß sich aus Ihnen etwas Ganzes machen ließe –“

„Ich weiß, wie vollkommen Recht Sie haben, Sir,“ unterbrach ihn Reichardt, ohne in seiner Erregung die Unhöflichkeit zu bemerken, welche er beging, „ich habe aber bereits mit einer Fertigkeit gebrochen, die ich nur ausübte, um den nothwendigsten Unterhalt zu erwerben. Ich habe kein Instrument mehr, und seit ich, wieder in New-York bin, concentriren sich meine heißesten Wünsche nur in der Erlangung eines Platzes, sei es auch vorläufig der unbedeutendste, welcher mir ein Vorwärtskommen in meinem langgewohnten Wirkungskreise ermöglicht.“

(Fortsetzung folgt.)
[405]

Graf Camillo Cavour.

Das Jahr 1861 begann unter beängstigenden Auspicien. Zwar sind die Gewitterwolken, die sich rings an unserem politischen Horizont aufzuthürmen und in vernichtenden Blitzen zu entladen drohten, größtentheils verschwunden, zwar ist kein kostbares Blut in reicher Fülle auf den Schlachtfeldern vergossen worden – ein einziges Märthyrerthum in Polen ausgenommen; dafür aber hat der tückische Tod zwei Opfer gefordert, die in den weitesten Kreisen den tiefsten Schmerz und die aufrichtigste Trauer hervorriefen. Noch ist der Schleier nicht gelüftet, der das freiwillige Lebensende des Grafen Ladislaus Teleki umhüllt, jenes ungarischen Patrioten, den die Besten seines Volkes beweinten, und schon klingt die verhängnißvolle Kunde vom Hinscheiden Cavour’s nicht nur durch ganz Italien, sondern weit über dessen Grenzen hinaus durch alle europäischen Lande. Der Tod Cavour’s ist ein welthistorisches Ereigniß, dessen Folgen wir noch nicht abzusehen vermögen. In Cavour verliert sein Vaterland, das von ihm so heiß geliebt wurde, den edelsten seiner Söhne, den begeistertsten Apostel der Freiheit, den uneigennützigsten, aufopferungsfähigsten Patrioten, der mit rastloser, fast übermenschlicher Thätigkeit dahin strebte, das kleine, beinahe verachtete, mindestens gänzlich unbeachtete Sardinien in kaum einem Jahrzehnt zu einem Großstaat zu erheben; in ihm betrauert ganz Europa den ersten Staatsmann der Neuzeit, der mit ernster Ruhe und Gemessenheit, aber auch mit unerschütterlicher Energie seinem hohen Ziele, der einheitlichen Gestaltung Italiens in Freiheit und nationaler Selbstständigkeit, nachstrebte und dasselbe, so weit es in menschlichen Kräften lag, fast erreichte, als ihm der Tod die Augen schloß und ihn abrief von einer Bahn, auf welcher er so Großes und Herrliches geschaffen; einen Staatsmann endlich, der weltklug genug war, alle Klippen, die sich ihm entgegenthürmten, zu umschiffen, aber auch – und dieses Hauptverdienst kann ihm nicht hoch genug angerechnet werden – es verstand, die Volkssympathien zu studiren, die Bedürfnisse des Volkes in treue Obacht zu nehmen und Hand in Hand mit dem Volke dessen gerechte Forderungen zur Anerkennung zu bringen. Deshalb bleibt Cavour der größte unter allen Diplomaten der Neuzeit.

Es sei uns vergönnt, nur mit wenigen Strichen das äußere Leben dieses berühmten Mannes hinzuzeichnen. Am 1. August 1810 in Turin geboren, war er der Sohn eines reichen Getreidehändlers in der Grafschaft Nizza, den der König Karl Albert in den Adelstand erhoben hatte, während andere Nachrichten ihn den Sprossen eines altadligen Geschlechts nennen. Schon frühzeitig widmete er sich dem Studium der Nationalökonomie und bereicherte die erworbenen Kenntnisse nicht wenig durch Reisen in Frankreich, England, Oesterreich und Spanien. Mitbegründer und Hauptmitarbeiter eines landwirthschaftlichen Journals, der „Associazione Agraria“, in welcher er nationale Tendenzen verfolgte, entschloß er sich bald darauf in Gemeinschaft mit dem Grafen Balbo und unterstützt von den bedeutendsten geistigen Kräften Italiens zur Herausgabe eines constitutionellen Blattes, des „Risorgimento“ (die Auferstehung), in welchem er mit allem Aufwand von Geist und Beredsamkeit die Nothwendigkeit einer sardinischen Verfassung nachwies. Kaum sah er dieses erste Ziel erreicht, kaum war das Statut erschienen, als er seine Bestrebungen für Herbeiführung einer Verfassung dadurch anerkannt fand, daß er zum Mitglied der Kammer erwählt wurde.

Vermochte auch seine damals vorherrschend demokratische Richtung [406] ihm in der gemäßigten Kammer keine große Popularität zu gewinnen, so berief ihn die Achtung seiner Wähler nach dem unglücklichen Ausgange des Krieges gegen Oesterreich im Jahre 1849 doch wieder in die neue Kammer und lenkte die Aufmerksamkeit des seit Victor Emanuel’s Thronbesteigung zum Ministerpräsidenten ernannten d'Azeglio auf seine Person; nach Santa Rosa’s Austritt wurde er in’s Cabinet berufen und mit dem Handelsministerium betraut, das er im Jahr 1851 mit dem der Finanzen verband. Jetzt war ihm die Bahn geöffnet, seine beglückenden Reformen in’s Leben zu rufen. Schienen auch die Zeitverhältnisse eines durch einen unglücklichen Krieg zerrütteten, wie politisch und volkswirthschaftlich seit länger als fünfzig Jahren zu Grunde gerichteten Staates nicht eben zur Durchführung großer Reformen geeignet, so gelang es Cavour doch bald, eine neue volkswirthschaftliche Politik im Geiste des Freihandels anzubahnen, Handelsverträge mit Oesterreich, England, Frankreich, Belgien etc. abzuschließen, Straßen und Eisenbahnen anzulegen und Handel und Verkehr einen neuen, nicht geahnten Aufschwung zu geben. Bald sah sich Marquis d’Azeglio genöthigt, dem einflußreichen Manne zu weichen, der im October 1852 an die Spitze der Geschäfte trat. Es überschreitet den zugemessenen Raum, alle die bedeutsamen Reformen zu nennen, die unter Cavour’s Präsidentschaft Sardinien beglückten. Da er fast immer ein, zwei, selbst drei Portefeuilles mit dem Vorsitz im Ministerium verband, so konnte er helfend und fördernd in alle Zweige des Staatslebens eingreifen. Die offene und ehrliche Durchführung der Verfassung von 1848 brachte ihn in vielfache Streitigkeiten mit der ihm widerstrebenden Geistlichkeit, allein er ließ sich nicht beirren und setzte - was das gewaltige Oesterreich niemals gewagt hat – den Verkauf der Besitzungen zu todter Hand durch und entzog den Klöstern und religiösen Körperschaften das wichtige Monopol des Unterrichts. Der heilige Vater in Rom zürnte gewaltig und bedrohte Cavour wie den König selbst mit dem großen Banne der Kirche; allein auch dieses Schreckmittel schlug nicht an. Neue Schwierigkeiten traten ihm entgegen, als er jetzt neben der freisinnigen innern Politik auch nach außen dieselbe Richtung zu verfolgen beschloß. Unabhängigkeit und Einheit des freien Italiens war das erhabene Ziel, dem er fortan alle seine Kräfte widmete. Um sich dafür die Unterstützung Englands und Frankreichs zu verschaffen, bestimmte er den König und die Kammern, dem westmächtlichen Bündniß gegen Rußland beizutreten und Sardinien selbstthätig am Kriege mit dem moskowitischen Czaren zu betheiligen. Die Tapferkeit der sardinischen Truppen erwarb ihnen die Achtung des Auslandes.

Nach Beendigung des Krieges im Orient trug Cavour Sorge, Rußland wieder zu versöhnen, und bedachte sich nicht lange, den Hafen Villafranca an Rußland zu überlassen, um diese Macht günstig für Sardinien zu stimmen. Auf dem Congreß von Paris trat er mit lauter Anklage gegen die trostlos reactionäre Wirthschaft im österreichischen Italien wie im Kirchenstaate auf; seine Worte zündeten in seinem großen italienischen Vaterlande, das ihm durch feierliche Kundgebungen seine Dankbarkeit darbrachte. Als der Kampf mit dem Kaiserstaat Oesterreich begann, konnte sich Cavour auf die Unterstützung Frankreichs, dem er selbst schwere, kaum zu entschuldigende Opfer in seiner innern Politik brachte, verlassen. Wie er aber jede europäische Situation zur Schaffung eines freien italienischen Gesammtstaats benutzte, so trug er auch kein Bedenken, sich, falls er seinem Lande damit einen wesentlichen Dienst leisten konnte, zurückzuziehen, um sich für bessere Zeiten aufzubewahren, so z. B. nach dem Frieden von Villafranca, wo er sich freiwillig dem Schein einer Niederlage unterwarf. Mit welch unübertrefflicher Meisterschaft er es verstand, die Parteien zu einigen, die störrischen Gemüther zu versöhnen, alle Kräfte des Volkes dem einzigen und alleinigen Ziele, der Herbeiführung eines freien, in volksthümlicher Einheit gesicherten Staatenlebens, zuzuwenden, hat sein Wirken in diesem Jahre glänzend bewiesen. Ihm zunächst – dies mögen seine kleinherzigen Tadler nicht vergessen, verdankt Europa den Frieden dieses Jahres. Allein die rastlose Thätigkeit, der er sich hingab, die Bürde der Arbeiten, die auf seinen Schultern lastete, zog ihm in den ersten Tagen dieses Monats eine Krankheit zu, an welcher er wohl weniger, als an der unvernünftigen Blutdürstigkeit seiner Aerzte, die ihm sechs Aderlässe verordneten, unterlag. Die in unseren Tagen weit vorgerückte medicinische Wissenschaft scheint noch nicht bis Italien vorgedrungen zu sein, und selbst das Königshaus Savoyen hat in dem letzten Säculum der bedauerlichen Ignoranz der dortigen Aerzte zwei Opfer bringen müssen!

Cavour verschied am 6. Juni früh gegen 7 Uhr im rüstigen Mannesalter von 51 Jahren. An seinem Sarge weint Italien. Aber die für Völkerfreiheit und Nationalwohl schlagenden Herzen in ganz Europa trauern nicht minder tief um den Hintritt jenes großen Mannes, der noch in den fernsten Jahrhunderten als der geistige Retter seines Vaterlandes, als der Vorkämpfer für die freiheitlichen Ideen unseres Welttheils, als der größte Staatsmann seiner und aller Zeiten genannt und gepriesen werden wird.




Ankunft der Colibris und der Leuchtkäfer in den nordamerikanischen Städten.
Von K.

Es ist eine merkwürdige Erscheinung in der Naturgeschichte der beiden amerikanischen Continente, daß sie eine Menge Pflanzen und Thiere unter sich gemeinsam haben, die sich weit auf dem ganzen langen Rücken der neuen Welt, sowohl gegen den Südpol, als gegen den Nordpol hin verbreiten, während sie sonst in keiner Zone der anderen Continente gefunden werden. Der Puma oder der amerikanische Löwe findet sich in Canada, wie auch unter dem Aequator und südwärts hinab bis nach Patagonien. Die so fruchtbare wie furchtbare Klapperschlange hat in manchen Strichen Canada’s eben so stark besuchte Brutplätze wie in Venezuela und Brasilien. Eine Menge tropischer Gewächsformen dringen mit verschiedenen ihrer Varietäten im Mississippithale weit höher nordwärts hinauf, als es bei uns der Fall ist. Dasselbe thun einige Gattungen von Papageien und andere Thiere, welche ich hier nicht alle aufzuzählen nöthig habe.

Ich will unter ihnen allen nur eines, das kleine Sonnenkind, den goldigen Colibri hervorheben, weil ich ihm einige sehr genußreiche Augenblicke verdanke, und hoffe dem Leser dieses Blattes ein hübsches Bild davon in seine Gartenlaube bringen zu können. Obgleich jenes zierliche Vögelchen schon im ersten Frühling seine Wanderung in großen Schaaren nach dem Norden antritt und in der Mitte des Sommers sogar an den Ufern der canadischen Seen häufig genug zu finden ist, so hatte ich doch drei Jahre lang in den Vereinigten Staaten gelebt und gereist, ohne daß es mir gelungen wäre, auch nur einen dieser „geflügelten Brillanten“ irgendwo ansichtig zu werden. Ueberall, wohin ich kam, hatte ich den rechten Zeitpunkt verfehlt. Entweder wurden die Colibris erst eben erwartet, und ich hatte keine Zeit, zu verweilen, oder sie waren so eben nach dem Süden heimgekehrt, und ich konnte den Liliputanern, die mir wie Elfchen entschlüpften, nicht nacheilen. Es mag auch bei uns wohl manchem Europäer mit dem berühmten Vöglein Zaunkönig eben so gegangen sein, von dem Jeder viel gehört und den doch nicht Jeder im Busch beobachtet hat. Ja, gesteht doch selbst der berühmte aus Schottland gebürtige Ornithologe Alexander Wilson Band I. Seite 171. seiner „American Ornithology“, daß es ihm nie in seinem Leben gelungen sei, eine lebendige Nachtigall zu sehen oder zu hören. –

Endlich blieb ich einmal in der Congreßstadt Washington einen ganzen Winter und Frühling hindurch auf demselben Platze, und siehe, da kamen denn die hübschen kleinen Wanderer zu mir, und ich bekam nun hinreichende Gelegenheit, mich mit ihnen bekannt zu machen und zu vergnügen.

Es ist den Naturforschern bekannt, daß es nördlich vom mexikanischen Meerbusen in der Hauptsache[1] nur eine Gattung von Colibris giebt, die sie „„Trochilus Colubris“ oder den „nördlichen Colibri“ nennen. Das Körperchen dieses Trochilus, wenn man ihm seine Federn nimmt, ist nicht viel größer als der Leib einer großen Hummel, und sein Nest hat nur einen Zoll im Durchmesser [407] und Tiefe. Er ist auf Kopf, Rücken und Bauch von hellgrüner, sehr brillanter Smaragdfarbe, die mit metallischem Glanze schillert. Nur an Hals und Kehle hat er einen rubinrothen Fleck oder Ring, der ihn wie ein Geschmeide ziert. Auch diese rothen Federn schimmern und strahlen wie Metalle und Edelsteine, und überziehen, wie Fischschuppen über einander geschoben, den ganzen kleinen Körper wie mit einem fein gearbeiteten Panzer.

Der Colibri findet in dem Territorium der Ver. Staaten eine Menge von Bäumen und Blumen, deren Blüthen er theils ihrer süßen Säfte, theils der in ihren Kelchen verborgenen Insecten und Käferchen [2] wegen ausbeutet. So wie sich die schönen Magnolien und die zahlreichen Balsaminen, die prachtvollen Tulpenbäume und die hohen amerikanischen Pappeln im ersten Frühling in den südlichen Staaten mit Blüthen schmücken, bricht der kleine Näscher, der im Winter sich in die Gegenden geborgen hatte, in denen das ganze Jahr hindurch Honig träufelt und Blumen blühn, auf und beginnt seine Wanderung nach Norden, wo er so lange weilt, als den bereits abgeblühten Büschen und Stauden noch neue mit frischer Lust folgen, und dies dauert fast bis in den Monat September hinein.

Der Colibri hat, wie die Schwalbe bei uns, unter jedem Breitengrade des Landes seine bestimmte Ankunftszeit, in welcher die Leute der Gegend ihn erwarten. Anfangs März sieht man ihn bei New-Orleans an der Mündung des Mississippi erscheinen. Ende März kommt er nach Georgia und Süd-Carolina hinauf. Den 25. April hat man als das Datum seiner Ankunft in Pennsylvanien festgesetzt. Und diese Daten stimmen sehr gut mit dem, was ich selber erlebte, überein. Denn es war an einem der Tage zwischen dem Ende März und dem 25. April, als mich in Washington, einer Stadt, die bekanntlich zwischen Pennsylvanien und Carolina ungefähr in der Mitte liegt, ziemlich früh am Morgen ein Freund mit der Nachricht weckte: die Colibris seien da. Weder er, noch ich hatten sie an einem der vorhergehenden Tage gesehen, und sie mußten daher wohl gerade eben angekommen sein, obgleich ich natürlich nicht behaupten will, daß uns nicht einige versprengte Vorläufer, wie sie wohl jeder großen Armee voranplänkeln, entgangen waren.

Wir wanderten um 8 Uhr Morgens hinaus nach dem „weißen Hause“. Denn in dem Vorhofe oder Vorgarten dieser Residenz des Präsidenten der Vereinigten Staaten – so berichtete mir mein aufmerksamer Freund – da stehe der Baum, von welchem die Colibris oder, wie die Engländer sie nennen, die kleinen Sumsevögel (humming birds) so eben Besitz ergriffen hätten.

Wir fanden einen schönen und in voller Blüthe stehenden Tulpenbaum und entdeckten bald die kleinen summenden, schwirrenden Flatterer, die den Baum in allen seinen Partien und Zweigen belebten. Sie kreisten oben über dem Gipfel des Baumes und schossen auch um seine unteren Zweige dicht vor unseren Augen vorüber, bald im Schatten verschwindend, bald in den Sonnenstrahlen aufblitzend. Anfänglich, ehe ich sie näher in’s Auge zu fassen vermochte, konnte ich mir fast eben so gut einbilden, daß ich ein Heer von Bienen, Hornissen oder Maikäfern vor mir hatte. Denn diese Vögel schlagen fast eben so heftig, wie die Brummfliegen, mit den Flügeln, die daher zuweilen beinahe unsichtbar werden oder nur wie ein Stück Schleier erscheinen. Dies ist besonders der Fall, wenn sie vor dem Kelche einer Blume schweben, um seinen Inhalt zu untersuchen.

Meistens, wenn wir so von unten her gegen den blendenden Himmel ausschauten, sahen sie mir dunkel und farblos aus. Aber plötzlich, wenn sie sich im Fluge herumwarfen, glitzerten sie wie ein Edelstein, wenn man ihn in das rechte Licht bringt. Und konnte man den Flug eines einzelnen Individuums in der Nähe verfolgen, so sah man bei jeder Veränderung der Bewegung einen Wechsel der schillernden Farben. Bald traten die smaragdgrünen Federschüppchen des Rückens, bald die Rubinen der Kehle deutlicher hervor. Sie waren alle außerordentlich heftig und ungestüm in ihren Bewegungen, wie dies auch wohl bei den Hornissen der Fall ist. Oft blieben sie ein paar Augenblicke auf einem Punkte schweben, als wären sie da mitten in der Luft befestigt, dann aber plötzlich schossen sie mit Pfeilgeschwindigkeit seitwärts und schwenkten sich im Halbkreise, wie ein Schlittschuhläufer, rasch um den Baum herum, um auf der andern Seite eine andere Tulpe zu finden. Meistens schienen mir Streitigkeiten um die Blumen – oder um die Weibchen? – Veranlassung zu diesen raschen Schwenkungen zu sein. Oft schnellte ein kleiner Vogel vom Gipfel des Baumes zum Himmel empor, als würde er hinaufgeschleudert. Ein kleiner bissiger Verfolger, der ihm von unten nachsetzte, bewies uns aber, daß jener sich durch seine eigenen Flügelschläge aufwärts lancirt hatte. In der That schien es mir, daß neben dem Blumensaugen Kampf und Streit ihr Hauptgeschäft sei. Kaum hatte einer von ihnen seinen langen Schnabel in eine Blume gesteckt, so gefiel dieselbe Blume einem anderen besser und das Duell begann auf der Stelle. Zuweilen flogen sie dabei, wie zwei um einander herumwirbelnde Funken einer Feueresse, so hoch in die Luft, daß sie unseren Blicken entschwanden.

Diese Streitlust soll bei allen Colibris allgemein sein, vielleicht sind dabei, wie bei unsern Schwalben, eben so sehr Spiel und Scherzlust die Triebfedern, als blasser Neid und nackte Bosheit. „Diese Colibris haben ein großes Herz,“ würden meine canadischen Indianer sagen. Und wirklich bestätigen es die Anatomen, daß das Herz des nordamerikanischen Trochilus eben so groß ist wie sein Schädel, obgleich auch dieser verhältnißmäßig nicht klein ist, sondern eine bedeutende Portion Gehirn enthält. –

Die Sonne schien ganz wundervoll warm und hell in das Gebüsch und die Blüthenkelche des Baumes hinein. Und je wärmer sie strahlte, desto mehr Vögelchen kamen herbei. Ich sah sie über das Dach des Präsidentenhauses der Ver. Staaten hin und her schießen. Denn auch jenseits des Hauses lag ein großer, blumenreicher Garten, den sie besuchten. Doch schien unser Tulpenbaum – wenigstens diesseits des Hauses – ihr Hauptstandquartier zu sein, zu dem sie aus der Ferne spielend zurückkehrten, indem sie unterwegs ihre kleinen Körperchen durch die Flügelschläge wie Bälle durch die Luft schnellten. In den andern zahlreichen Bäumen, die umherstanden, fand ich keine Colibris. So sieht man bei uns auch wohl auf einem duftenden Lindenbaume zur Zeit seiner Blüthe Hunderte von Bienen summen und schwärmen. Wie würden aber bei uns wohl die Leute zusammengelaufen sein, wenn man ihnen eine solche statt der Bienen von Colibris rauschende und von ihrem Glanzgefieder, so zu sagen, wie ein Weihnachtsbaum glitzernde Magnolie mitten auf dem Markte ihrer Städte hätte hinstellen können! Uebrigens gewährt die Biene in der Art des Flugs zu der Weise der Colibris einen recht interessanten Gegensatz. Jene ist dabei das wahre Bild der Emsigkeit und des bedachsamen Fleißes. Sie fliegt ganz langsam, auch wenn sie nicht gerade schwer beladen ist, zwischen den Blumen herum und untersucht dieselben vorsichtig, verkriecht sich mühselig tief in ihre Kelche und kommt, bestaubt wie ein Müller, wieder daraus hervor. Man sieht es ihr wohl an, sie ist ein Arbeiter und Künstler. Der Colibri dagegen erscheint in der Manier seines Fluges als ein blos nasch- und flatterhafter Geselle.

Das hübsche, oft beschriebene Schauspiel, wie er sich vor dem Munde einer Blume angelangt einige Augenblicke in der Luft vor ihr fest hinstellt, und wie er dabei seine blitzenden, deutlich erkennbaren Aeuglein mit Aufmerksamkeit zu den Seiten herumwirft, um zu erspähen, ob Alles in der Nähe ungefährdet sei, und wie er dann erst, nachdem er sich hiervon überzeugt, seinen Kopf und Rüssel in den süßduftenden Becher vertieft – dieses vermuthlich sehr hübsche Schauspiel habe ich leider nicht in der gehörigen Nähe belauschen können. Unsere Blüthen hingen dazu zu hoch. Doch sah ich es ein paar Mal deutlich, wie sie sich einen Augenblick rastend auf einem kleinen kahlen Zweige hinsetzten. Und auch dies sieht schon hübsch genug aus. Dann wird man erst recht gewahr, daß das tanzende Dingelchen wirklich ein Vogel ist. Man erkennt seine hübsche Figur und seine Beinchen und sieht, wie er sich putzt und kämmt und seine goldigen Federchen durch seinen Schnabel zieht.

Ich verband früher das Treiben und Leben der Colibris – und ich glaube, in Deutschland mag es noch Vielen so gehen – nur mit dem Innern eines amerikanischen Urwaldes. Aber sie haben, wie man aus dem Obigen sieht, auch die Städte und Wohnorte der Menschen zu ihren Spiel- und Tummelplätzen gemacht. Sie folgen der Kette der blühenden Gebüsche, die sich durch die Länder hinschlingt und fragen nicht darnach, ob diese in einem Urwalde oder zwischen den Häusern und Städten der Menschen stehen. Keck, wie sie sind, fahren sie sogar mitten auf die getümmelreichen [408] Marktplätze herab, wenn sie dort eine Blume entdecken, ähnlich wie die Geier in Buenos Ayres, wenn sie bei den Häusern ein gestorbenes Thier wittern. Da der Mensch in seinen Gärten so viele schöne Gewächse um sich her versammelt, so mögen sie seinen Ansiedlungen vielleicht vorzugsweise gern folgen. Man sieht sie sogar in so volkreichen Städten, wie Cincinnati oder New-York es sind, nicht selten. Sie nähern sich auch der Person des Menschen ohne Scheu, und wenn in diesen Städten hie und da ein paar Damen die Gewohnheit haben, in einer Gartenlaube ihren Nachmittags-Kaffee zu trinken, so ist es ihnen ein leichtes, ein paar Colibris an sich zu gewöhnen, indem sie ihnen regelmäßig ein Tröpfchen geschmolzenen Zuckers oder Honigs in einem Näpfchen hinsetzen. Die kleinen Lieblinge kommen zur bestimmten Zeit und naschen sich ihre Portionchen vom Tische weg.

Wir in Washington, da wir sie auf die besagte Weise erst einmal in des Präsidenten Garten entdeckt hatten, hörten nun gleich nachher überall von Colibris. Man sah sie nun alsbald auch in vielen anderen Gärten. Sie huschten auch gelegentlich durch das Gehöfte unseres eigenen Hauses, wo blos ein einziger blühender Pfirsichbaum stand. Sie waren sogar überall in die Gewächshäuser eingedrungen, um auch da ihre Jagd auf Honigseim fortzusetzen und die versteckten Blumen auszubeuten. Doch sind dergleichen Wagnisse nicht ohne Gefahr für sie. Sie können sich mitunter in dem Gemäuer nicht zurecht finden, rennen mit dem Schnabel gegen die Steine und hauchen dann oft unmittelbar nach einem solchen Stoße ihr Seelchen aus, das in dem kleinen Leibe nur sehr lose zu sitzen scheint. Dieser gleicht, wie gesagt, einem geflügelten Funken und stirbt auch schnell wie ein Funken. Ein spät eintretender Nachtfrost vermag sie auf der Stelle umzubringen, wie unsere zarten Georginenblüthen im Herbst. Oft zwar ist es nur eine lähmende Erstarrung, und läßt man die warme Sonne auf das Körperchen scheinen, so regt es sich zuweilen bald wieder und fliegt neubelebt und mit verjüngter Kraft davon. Auch darin gleichen sie manchen Insecten.

Wir besuchten unseren Tulpenbaum in des Präsidenten Garten an den folgenden Tagen noch einige Male wieder. Doch fanden wir sehr bald, daß die Anzahl unserer kleinen Gäste darin schnell abnahm. Nach mehreren Tagen erschien nur kaum noch einer dann und wann. Auch hörten wir bald nachher in der Stadt nur noch hier und da von einem einzelnen versprengten Vögelchen. Daraus schien mir hervorzugehen, daß die Wanderung der Kolibris und ihr Einbruch in die Städte und Gärten zuerst en masse und mit einer großen Armee geschieht. Sie kommen wie die Fluth mit einer stark aufgeschwollenen Welle. Diese Fluth zieht von Süden her durchs Land, läßt überall einige Ansiedler zurück und fluthet, sich allmählich verlierend, nach Norden weiter. Es mag indeß auch sein, daß jene von uns beobachtete Magnolie (der Tulpenbaum gehört dieser Gattung an) auch nur deßwegen anfänglich so zahlreich besucht war, weil sie wegen ihrer besonders günstigen Stellung ungewöhnlich frühzeitig blühte, und vielleicht vertheilten sich die Thiere in Folge der mit jedem Tage in allen Winkeln und Verstecken der Gegend sich mehrenden und sich öffnenden Blüthen. Da ich bald darauf die Vereinigten Staaten verlassen mußte, so konnte ich leider diese Sache, die ich in den ornithologischen Werken noch so wenig gründlich auseinandergesetzt finde, nicht weiter verfolgen. Doch blieb mir das Licht- und Farbenbild jenes hübschen Vogel- und Blumenstücks, das ich in des Präsidenten Garten erblickte, wie ein reiches Gemälde von De Heem oder Mignon für immer im Gedächtnisse, und ich dachte mir daher, daß eine Copie desselben, wie ich sie hier zu geben versuchte, auch dem deutschen Leser angenehm sein könnte.

Vielleicht sich er es nicht ungern, wenn ich ihm bei dieser Gelegenheit auch noch sonst Einiges von den Naturscenen, die man zuweilen in diesen amerikanischen Städten zu sehen Gelegenheit hat, beifüge. Und es ist eine ziemlich natürliche Ideen-Association, wenn mir da bei den Colibris, die im Sonnenschein des Tages wie Feuer glänzen, auch gleich die hübschen amerikanischen Feuerwürmer einfallen, die in der Nacht wie Colibri-Federchen schimmern.

Diese Leuchtkäfer oder, wie die Engländer sie nennen, „Feuer-Fliegen“, an denen der ganze amerikanische Continent – Nord und Süd – so überschwänglich reich ist, erscheinen in den Städten und Landschaften der Union etwas später als die Colibris. Gleich diesen sieht man sie zuerst einzeln hier und da in den Büschen und an den Hecken schimmern, wie die noch spärlich angezündeten Laternen bei einer erst beginnenden Stadt-Illumination. Es dauert aber nicht lange, so fangen sie an, in größerer Anzahl zu schwärmen. Im Beginn des Mai sieht man sie in allen Gärten, in allen Bäumen der langen Alleen, mit denen die Straßen der amerikanischen Städte bepflanzt zu sein pflegen, und überall wo nur ein Büschelchen oder ein kleiner Grasfleck grünt. Fast könnte man dort, wie bei uns, wenn man Mondschein im Kalender findet, zu dieser Zeit der Leuchtkäfer die Gaslaternen sparen. Oft sieht man die beiden Seiten der Wege, wo sie schwirren, weithin wie durch zwei, wo nicht helle, doch schimmerige Linien abgezeichnet, wie man zuweilen die Linien des Meeresstrandes durch die phosphorescirenden Wellen markirt erblickt.

Wenn man spät Abends vor seinem Hause sitzt und auf den Wiesen-Abhang hinabschaut, der von diesem Hause vielleicht zur Straße abwärts fällt, so gewährt dieser Abhang oft den reizendsten Anblick. Zwischen allen Grashalmen scheint das sanfte Licht einer aufschießenden Mücke hervor. Da die meisten nicht viel höher fliegen, als das Gras selbst, und immer wieder unter den Rasen zu tauchen scheinen, so sieht es aus, als sprühe der Rasen Funken, die schnell wieder erlöschen. Oder besser, über der ganzen Oberfläche hin scheinen dünne, an ihren Rändern schimmernde Lichtwellen in wallender Bewegung zu sein. Zuweilen schlagen diese belebten Lichtwellen auch Wirbel und Brandungen. Denn obwohl sie mitunter so einförmig und ungestört auf- und abwallen, wie die Oberflächen-Schwenkungen eines vom Winde bewegten Sees, so scheint es doch zuweilen auch, wie unter den Colibris, Spiel und Krieg unter ihnen zu geben. Sie fallen mitunter in großer Zahl über einander her, bilden dichte Knäuel, die dann fast wie eine Leuchtkugel leuchten und sich über die Wiese hinrollen. Diese duftigen Lichtkugeln lösen sich auf in tausend Sternchen und ziehen sich, verschiedenerlei Umrisse annehmend, wieder zusammen, wie man einen ähnlichen Tanz auch bei andern Thieren, Vögeln wie Insecten, beobachten kann, nur daß hier durch das Licht der Tanz etwas elfenartiger wird.

So viel diesmal von den Colibris und Leuchtkäfern in den Städten der amerikanischen Union. Damit man sich aber nach den von mir etwas mehr ausgeführten Bildern diese Städte doch nicht gar so reizend denke, mag ich gleich hinzufügen, daß noch sonst manches Stück wilder Natur in sie hineinragt, welches man lieber weg wünschen möchte. Nicht selten vernimmt man in diesen Städten – ich spreche hier nicht gerade von Boston und New-York, aber doch von solchen Ortschaften, wie die Bundeshauptstadt Washington oder Cincinnati, St. Louis etc. – noch das schreckhafte Gebrüll des Ochsenfrosches, der einen in irgend einem Nebengäßchen noch unausgetrocknet gebliebenen Sumpf bewohnt. Auch wühlen und weiden in ihnen, z. B. selbst in den Straßen der Bundes-Hauptstadt Washington, recht fleißig – aber ohne Hirten und wie herrenlos – eine Menge von Schweinen und Kühen herum. Ueber diesen Theil der Straßen-Bevölkerung der amerikanischen Städte könnte man ein eigenes recht interessantes Capitel schreiben, z. B. über die psychologisch merkwürdigen Sitten und Neigungen, welche die Kühe durch ihr beständiges Leben in den Straßen angenommen haben. Es sind vermuthlich die Kühe armer Leute, die nicht Landbesitz genug haben, um ihr Vieh gehörig zu nähren, und die es daher lieber wie Bettelkinder auf der Gasse abenteuern lassen. Sie sehen meistens jämmerlich und mager aus, wie die Hunde in Constantinopel, und sind dabei diesen auch sonst noch in mancher anderen Hinsicht ähnlich geworden. Wie diese benaschen und verschlingen sie Alles, was die Leute in die Straßen an Küchenresten hinausgeworfen haben, und untersuchen neugierig jedes nicht gerade aus Pflastersteinen componirte Häufchen, was auf dem Pflaster liegen geblieben ist. Wie die Kühe der Kamtschadalen für Fisch, so gewinnen sie dabei für manche Nahrung eine Vorliebe, welche unsere Kühe verschmähen. Zum Beispiel benaschen sie gewöhnlich sehr eifrig den Pferdedünger und lassen darin nichts zurück, was ihnen einer zweiten Verdauung noch fähig scheint. Wie in Bezug auf ihre Speise nicht wählerisch, so sind sie natürlich ebenso wenig verwöhnt in Bezug aus ihr Nachtlager. Man findet sie mitunter auf dem Pflaster der Städte ausgestreckt, wie die Hunde. Am Tage gerathen sie auf den Trottoirs zuweilen mit den Crinolinen der spazierenden Damen in Collision. Um Mitternacht sah ich sie zuweilen schlummernd und träumerisch an einen Laternenpfahl gelehnt oder geduldig wiederkäuend – das Bischen, was sie zu [409] kauen hatten! – in stiller Gesellschaft um das Gaslicht herumstehen.

Wie die Londoner Straßenbuben, werden diese Rinder der Bundeshauptstadt auch ganz schlau und diebisch gesinnt, und dabei scheint denn in ihnen sogar etwas wie ein böses Gewissen entwickelt zu werden. Ich beobachtete einmal eine dieser – soll ich sagen entarteten oder civilisirten? – Straßen-Kühe beim Stehlen. Ein Krämer hatte mehrere Mehlsäcke vor seine Thür auf die Straße hinausgestellt. Sie waren alle geöffnet, und man sah das reinliche, schneeweiße Mehl, den gelblichen Gries, die Graupen und den Grütze recht appetitlich daraus hervorschimmern. Eine arme, magere und hungerige Kuh, die von diesem Anblicke angelockt wurde, schlich von der Straße heran. Sie setzte ihren Fuß vorsichtig über den Rinnstein, blickte sich rechts und links um, und auch in die offene Thür des Ladens hinein, und da sie Niemanden in der Nähe gewahrte, so stelzte sie ganz auf das Trottoir hinüber und vertiefte ihre Nase in einen der Graupensäcke, indem sie anfing, mit vollen Backen und mit allen dreißig knöchernen Mühlsteinen ihres Maules zu mahlen und zu schlingen. Ich war der einzige Mensch, der zuletzt auf dem Trottoir dahergeschritten kam, und da ich es für eine eben so große Sünde hielt, ein Wesen während der Stillung seines Hungers, als während des „heiligen“ Schlafes zu stören, so ließ ich ihr Zeit, hielt ein wenig an und sah, wie sie sich mit lang und etwas schüchtern ausgestrecktem Halse auf Kosten des reichen Kaufmanns erlabte. – Endlich wollte ich diesem Unachtsamen doch auch den Schaden nicht gar zu groß anwachsen lassen, schritt vor und scheuchte die Kuh fort. Sie sah mich schon von weitem kommen, nahm endlich noch ein tüchtiges Maul voll, zog sich dann mit weißgepuderter Schnauze ganz eilig und stolpernd auf die Straße zurück und trabte weit weg – wie gesagt, als mache ihr Gewissen sie eines Diebstahls bewußt. – Doch hiermit für heute genug hierüber! Ich schließe diese Mittheilung mit der Wiederholung der Bemerkung, daß man über das zuletzt erwähnte Thier-Gesindel, welches die Straßen vieler amerikanischen Städte bevölkert, manche psychologische Beobachtungen und Untersuchungen anstellen könnte, und daß ich vielleicht ein ander Mal diese Untersuchungen in der Gartenlaube vortragen will.




Ein italienischer Priester!

Von Moritz Hartmann.

General U… erzählt:

In meiner Jugend einmal, also schon vor geraumer Zeit, machte ich in Begleitung mehrerer Freunde und Diener von Neapel, meiner Vaterstadt, aus eine Reise nach Salerno. Obwohl wir als Neapolitaner an die schauderhaftesten Mord- und Räubergeschichten aus den Provinzstädten und Gebirgsdörfern gewöhnt waren, hatte das, was wir von dem damals höchst verfallenen Neste Salerno zu hören bekamen, unsere Neugierde so sehr gereizt, daß wir uns trotz aller Gefahren zu diesem Ausfluge entschlossen. Salerno hatte für uns die Anziehungskraft des Schauderhaften, Unheimlichen; die Reise den Reiz eines Ausfluges in längst vergessene Zeiten, in denen sich zugetragen, was heute unglaublich und romantisch erscheint. Es hieß, daß sämmtliche Einwohner Salerno’s sich in Räuber und Mörder umgewandelt haben, und es war gewiß, daß dort eine geschlossene Gesellschaft bestehe, die für Geld in ihrer Gesammtheit oder in einzelnen Mitgliedern zu jeder That, zu Mord, Ueberfall, Raub, Entführung bereit war. Das Leben des Menschen war da so sehr im Preise gesunken, die Gewissen so verhärtet, daß man auf einen Vorübergehenden schoß, nur um Pulver zu probiren.

Wir begaben uns in dieses Nest ohne Sorgen. Nicht weil wir zahlreich und bewaffnet waren, sondern weil die Salernitaner bei Ankunft solcher Galantuomini, wie wir, voraussetzten, man komme mit ihnen ein Geschäft zu machen, oder mit andern Worten, Individuen zur Ausführung irgend einer blutigen Rache oder einer andern ähnlichen Unternehmung zu miethen. In solchem Falle war man ganz sicher; ja man wurde mit Zuvorkommenheiten, mit Gastlichkeit, mit allen möglichen Rücksichten aufgenommen.

In der That gesellten sich in der Nähe von Salerno einzelne Individuen zu uns, die auf’s Höflichste ihre Dienste anboten, uns die Wege zeigten, auf mancherlei Interessantes aufmerksam machten und von den Heiligenbildern, an denen wir vorüberritten, mit Andacht und Glauben Legenden erzählten. Mit einem kleinen Gefolge kamen wir auf dem Marktplatze an. Dort waren wir bald von einer ebenso zuvorkommenden Bevölkerung umgeben, die uns aber trotz ihrer Zuvorkommenheit nicht zum Besten gefiel. Es waren meist die Weiber, die sprachen und uns offenbar zum Sprechen bringen wollten. Sie klopften auf den Strauch, sie versicherten, daß die Salernitaner tapfere Leute seien und zu jeder That bereit. Das Lächeln und die lauernden Blicke, mit denen sie ihre Worte begleiteten, machten ihre großen schwarzen Augen und die breiten schwellenden Lippen, die von Natur schön gebildet waren, nicht schöner. Einzelne Männer standen in unserer Nähe, malerisch an den Brunnen gelehnt oder auch ferner an den Häusern, und beobachteten uns schweigend, nur daß sie manchmal mit einer Bewegung oder einem lauten Auflachen die deutlichsten Anspielungen der Weiber begleiteten. Sie näherten sich mit einem Male von allen Seiten, als einer unserer Reisegefährten, ein leichtsinniger Marinelieutenant, auf die Anspielungen der Weiber einging und verrieth, daß er sie verstehe. Ich glaube, wir hätten in diesem Momente auf offenem Markte und vor hundert Zeugen ein Geschäft von hundert blutigen Rencontres abmachen können. Ich fürchtete, die Zwecklosigkeit unserer Reise zu verrathen, und benutzte die späte Stunde, um zur Ruhe aufzufordern und ein Gasthaus aufzusuchen. – „Bravo,“ rief eine Alte mit Beifall, „der Herr, Se. Excellenz wollen wichtige Geschäfte mit ausgeruhtem Geiste, in der Frische des Morgens abmachen! Man lasse die Herren in Ruhe: Niemand folge ihnen in die Herberge!“ – Ich nickte ihr zustimmend und so einverständig als ich vermochte.

Im Gasthause, einem alten, verfallenen, weitläufigen Gebäude, das ehemals ein Kloster gewesen sein mag, wollte man uns mehrere Zimmer anweisen, wir aber zogen es vor zusammen zu bleiben und bereiteten unser Lager gemeinschaftlich in einem großen Saale, durch dessen Decke hie und da der blaue Himmel mit lächelnden Sternen blickte. Als Alles im Hause stille war, versäumten wir nicht, die Thüre zu verriegeln, sogar ein wenig zu verrammeln. Auch wachten die Diener abwechselnd an der Thür sitzend. Doch verging die Nacht vollkommen ruhig, ohne die geringste Störung, ohne das kleinste Abenteuer.

Andern Morgens durchzogen wir die Stadt – immer von einigen einheimischen Individuen gefolgt – besahen mehrere alte Gebäude, die an die wissenschaftliche Größe des mittelalterlichen Salerno erinnerten, und traten endlich in eine Kirche. Hier beginnt die Geschichte, die ich eigentlich erzählen wollte und die viele Neapolitaner bestätigen können, denn sie machte damals viel Aufsehen und war in Neapel Stadtgespräch.

Die Kirche war ziemlich besucht. Die Gläubigen, Männer und Weiber, knieten auf dem Steinpflaster und beteten mit jener Heftigkeit, mit der man anderswo zankt und die man nur im tiefsten katholischen Süden an Betenden beobachten kann. Ihre Lippen bewegten sich so rasch und ausdrucksvoll, als ob sie Jemand Vorwürfe machten, oder als ob sie Drohungen aussprächen; die Hände hielten den Rosenkranz, als ob sie einen Dolch hielten, mit dem sie erzwingen wollten, was man ihren Bitten oder Drohungen nicht gewähren würde. Der Geistliche stand am Altar und las die Messe. Er machte das heilige Geschäft wie viele andere Geistliche handwerksmäßig ab und sah auch aus wie hundert andere neapolitanische Geistliche; gut genährtes, doch nicht dickes Gesicht, braune Farbe, magere Hände mit langen Fingern und eine unverhältnißmäßig große Tonsur auf spitzigem, eckigem Kopfe. Er wäre uns weiter nicht aufgefallen, wenn nicht der Ministrant, ein hübscher Junge von ungefähr zwölf Jahren, unsere Aufmerksamkeit auf den Altar und die Messe gelenkt hätte. Wir standen in der Nähe und konnten bemerken, daß der kleine Junge sehr zerstreut war. Er ließ oft lange auf die sacramentalen Antworten warten, fuhr sich dann, wenn ihn der celebrirende Priester zornig ansah, [410] mit der Hand über die Stirne, stotterte dann die lateinischen Worte, um einen Augenblick darauf eben so zerstreut zu sein, wie vorher. Er vergaß das Meßbuch zu nehmen, dann es an die rechte Stelle zu legen, dann den Weihrauchkessel zur rechten Zeit zu handhaben. Einige der Gläubigen bemerkten die Zerstreutheit des Knaben und murrten. Mein Marinelieutenant lächelte. Wir glaubten anfangs, daß das fromme Geschäft das Kind langweile und daß er an ein Spiel oder an irgend welche Allotria denke. Als wir aber aufmerksamer hinsahen, bemerkten wir, daß der arme Junge am ganzen Leibe zitterte, daß sein Auge manchmal starr und voll Entsetzen auf einer und der andern Stelle vor dem Altare haftete, daß er mit unsagbarer Angst auf dem bleichen Gesichte den Bewegungen des Geistlichen folgte, der, nach dem Ritus, am Altare bald nach der einen, bald nach der andern Seite ging. Endlich schüttelte er sich wie im Fieber, blickte um sich und sah aus, als wollte er die Flucht ergreifen oder als wußte er nicht was zu beginnen.

„Der arme Junge ist offenbar krank!“ lispelte einer meiner Reisegefährten, und es schien wirklich, als wollte er den Priester um Entlassung bitten, denn er streckte mehrere Male die Hand aus, zupfte ihn am Meßgewande und wollte etwas sagen. Der Priester aber bemerkte es anfangs nicht. Doch mußte er endlich in dem Momente, da er das Allerheiligste erhebt und den Gläubigen zeigt, sich mit dem Gesichte dem Knaben zuwenden; das benutzte dieser und faßte, wie es schien, mit der letzten Kraft, das Meßgewand, riß daran mit der einen Hand, während die andere starr ausgestreckt, von den gläsernen Blicken des Knaben gefolgt, auf den Boden der Altarstufe zu Füßen des Priesters zeigte. Der Priester sah hinab, fuhr erschrocken zusammen, warf die Monstranz auf den Altar und stürzte voll Entsetzen in die Sacristei.

Die Aufregung in der Kirche war ungeheuer. Die Gläubigen schrien auf und warfen sich in einem Knäuel schreiend dem Altar entgegen, an dessen Fuße der Knabe ausgestreckt lag, noch immer mit der einen Hand auf eine Stelle deutend. Diese Stelle war ein Blutflecken und gleich daneben ein zweiter, dann ein dritter, vierter; der ganze Platz vor dem Altar war blutig beträufelt. Bei diesem Anblick verstummten die Einen, während die Anderen noch heftiger zu schreien, zu fluchen oder die Heiligen anzurufen begannen. Ein Theil der Gläubigen stürzte dem Priester in die Sacristei nach, ein anderer blieb bewegungslos vor den Blutstropfen stehen. Man hob den Knaben auf, der wie aus einer Ohnmacht erwachte und in abgebrochenen Worten erzählte, wie während der ganzen Messe unter dem Priestergewande hervor Blut und immer Blut träufelte. Das Volk drängte sich nun voll Angst vom Altare fort und zur Thür hinaus. Draußen fing eine Matrone sofort zu predigen an, daß es die Hostie gewesen, die geblutet habe, und das sei die Strafe für die ungeheuern Verbrechen der Salernitaner, und bei der Gelegenheit nannte sie den und jenen der Umstehenden und warf ihm die Zahl der Morde in’s Gesicht, die er begangen, und erzählte solche Gräuel von Salerno, daß wir erkannten, wie wenig das Gerücht übertrieben habe.

Das Bluten der Hostien, sagte die Predigerin, komme nur in außerordentlichsten Fällen vor und nur wenn die furchtbarsten Strafgerichte Gottes drohen. Sie prophezeite den Salernitanern den Untergang; der Vesuv werde sein Feuer bis hierher wälzen und sie in Flammen begraben, wie ehemals Pompeji und Herculanum, als diese Städte nicht vom Heidenthume lassen wollten, oder das Meer werde austreten und sie allesammt verschlingen. Sie riß das Tuch vom Kopfe und fuhr sich mit beiden Händen in die grauen Haare, die in Wellen über Gesicht und Schulter herabfielen, dann schlug sie sich die Brust, daß es hallte, und erhob ein Klagegeschrei, in das die Weiber und Kinder mit einstimmten. Plötzlich zu uns gewendet rief sie die Hand ausstreckend: „Und Ihr Fremdlinge, die Ihr hierher gekommen seid, um neue Sünden zu bezahlen, ziehet fort und häufet nicht neue Schuld auf diese verfluchte Stadt. Kehret zurück und versöhnt Euch mit Euren Feinden, ehe es zu spät ist, damit Ihr nicht mit uns zu Grunde gehet.“

Bei dieser an uns gerichteten Exhorte wurde die Prophetin unterbrochen. Die Menge, die dem Priester in die Sacristei nachgedrungen war, kam jetzt von dort zurück und aus der Kirche heraus auf den Platz. Aus ihrem Benehmen war schwer zu errathen, was in der Sacristei vorgegangen, denn dieser Vorgang hatte augenscheinlich die verschiedensten Wirkungen auf die Gemüther hervorgebracht. Die Einen waren ernst und sprachen demgemäß untereinander, die Anderen schrieen, die Dritten lachten. Auch unser Marinelieutenant, ein Mann, der bei Allem und immer in erster Reihe sein mußte, lachte ganz gewaltig. Er war einer der Ersten gewesen, die sich dem Priester in die Sacristei nachgestürzt hatten, und fing nun an, immer mit Lachen zu erzählen, was er dort gesehen und erlebt, während die Salernitaner ihren Landsleuten Bericht erstatteten.

„Der Priester,“ erzählte der Marinelieutenant, „machte mit dem ersten Schritte in die Sacristei Anstalten sich seiner Kleider zu entledigen und, wie es schien, irgend etwas zu verbergen. Als er sich verfolgt sah, wollte er aus der Sacristei entfliehen, aber einige Männer verstellten ihm den Weg und erklärten ihm, daß sie erfahren müßten, was es mit dem Blute zu bedeuten habe, während andere auf seine Strümpfe aufmerksam wurden, die von oben nach unten mir Blut beträufelt waren. Er wollte keine weiteren Erklärungen geben und zog einen Dolch hervor, mit dem er diejenigen bedrohte, die ihm den Weg aus der Sacristei in’s Freie abschnitten; aber im Augenblick war er von hinten entwaffnet und man sah mit einiger Ueberraschung, daß der Dolch von frischem Blute roth war. Darauf ging es an eine Untersuchung; instinctmäßig oder aus Gewohnheit griff ihm eins seiner Beichtkinder in die Tasche und“ – hier lachte der Marinelieutenant wieder – „und zog – es war sehr überraschend – ein Paar ganz frischer, erst abgeschnittener Menschenohren hervor.“

„Menschenohren?“ riefen wir entsetzt.

„Ein ganz wohl conditionirtes, frisches Paar Menschenohren, die noch bluteten und von denen die Blutstropfen kamen, welche den armen Knaben am Altar mit solchem Einsetzen erfüllten.“

„Waren es seine eigenen Ohren?“ fragten wir weiter.

„Seine eigenen Ohren saßen ihm ganz fest am Kopfe. Ihr seid sehr begriffsstutzig.“ fuhr der Marinelieutenant fort; „die Salernitaner haben die Sache rascher begriffen. Ist es so? riefen sie und schienen sich Vorwürfe zu machen, nicht gleich errathen zu haben. Manche von ihnen lachten laut auf, und Alle waren sofort beruhigt, als sie einsahen, daß hier von keinem blutigen, drohenden Mirakel, sondern von einer gewöhnlichen Geschichte, von einem Morde auf Bestellung die Rede war. Der Priester nämlich gehört mit zu der enggeschlossenen Gesellschaft der hiesigen Bravi; das ist Alles. Heute Morgen hat er einen Auftrag vollzogen und um seinem Auftraggeber die beweisende Probe der Leistung zu überbringen, hat er seinem Opfer die Ohren abgeschnitten und in die Tasche gesteckt. Dann kehrte er eilend in die Stadt zurück, um nicht die Messe zu versäumen, die ihm bezahlt wird. Er kam etwas spät und hatte kaum Zeit, das Meßgewand über das Banditengewand zu werfen; die Ohren blieben in der Tasche und sie tropften während der Messe. Das ist die ganze Geschichte.“

Während der Lieutenant uns, hatten die Andern der Menge Bericht erstattet. Als sie geendet, jubelte das Volk auf. Es war also kein Mirakel! Ein Alp, eine große Angst war ihnen vom Herzen gefallen und sie wandten sich lachend zu der Prophetin, die ihnen die Hölle heiß gemacht hatte, und verhöhnten sie auf alle mögliche Weise. Der und Jener ballte sogar die Faust gegen sie, nannte sie einen Unglücksraben, eine Hexe, ein Mal-occhio, kurz ein schädliches Wesen, das noch Unglück herbeikrächzen könne und das man eigentlich beseitigen müsse. Die Prophetin war beschämt und endlich bestürzt. Sie schlich sich schweigend davon, während die ganze Versammlung sehr heiter wurde, daß es nichts gewesen sei als diese Dummheit.

Wir benutzten die kleine Aufregung, um uns unbemerkt davon zu machen, unsere Pferde und Maulthiere zu satteln und den Staub von Salerno von unseren Füßen zu schütteln.

Und was ist mit dem Priester geschehen?

Mit dem Priester? Nichts!

Er ist nicht bestraft worden?

Ich glaube nicht. Er hat keine Kläger gefunden nur er hätte keine Richter gefunden.

Er ist wenigstens versetzt worden?

Ich glaube nicht. Doch weiß ich über Alles, was aus jenen Tag folgte, nichts Gewisses. Gewiß ist nur die Thatsache, die ich erzählt habe, und die unzählige Neapolitaner und Salernitaner erzählen können.



[411]
Aus den Erlebnissen eines alten Sachwalters.[3]
Nr. 1.

Es geschah vor einiger Zeit, daß die sächsische Staatsregierung eine Warnung ergehen ließ vor dem gefährlichen Treiben gewisser Agenten, welche namentlich arglose Bauersleute durch Gutskäufe und Täusche wiederholt betrogen, in manchen Fällen sogar um ihr ganzes Vermögen, an den Bettelstab und zur Verzweiflung gebracht hatten. Es wurde auch eine wohlmeinende, wenn schon auf dem dermaligen Landtage in ihrer formellen Berechtigung angezweifelte Verordnung erlassen, durch welche das ganze Agentenwesen der Controle der Behörden untergeordnet ward. Wir bezweifeln, daß damit dem Publicum irgend ein wesentlicher Nutzen bereitet worden ist, halten es vielmehr für unmöglich, das vielgestaltige Geschäftsleben so, wie beabsichtigt, zu überwachen, und erblicken das einzige Schutzmittel nicht nur gegen das Treiben gewissenloser Agenten, sondern überhaupt gegen Vermögensverluste und Verwirrungen aller Art in dem Rathe, daß man sich bei jedem wichtigeren Rechtsgeschäfte des Beistandes eines redlichen und geschickten Sachwalters bediene. Wir können unparteiisch diesen Rath geben, denn nach einem vielbewegten Leben in der advocatorischen Praxis haben wir uns aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. Wir weisen darauf hin, daß es bei der großen Mannigfaltigkeit, Feinheit und Verwickelung unseres Verkehrs selbst für den Gebildeten ganz unmöglich ist, die daraus sich ergebenden Rechtsverhältnisse klar zu erfassen; nur bei der Theilung der Arbeit, dem Princip, auf dem die heutige Gesellschaft ruht, ist es möglich, daß in einer Wissenschaft oder Kunst Etwas geleistet werde, und die Behandlung der Rechtsgeschäfte läßt sich nicht nebenbei erlernen; sie erfordert eben so viel Studium, als Erfahrung. Zur Erläuterung mögen einige aus dem Leben gegriffene Beispiele dienen, bei denen nur die Namen verändert sind.

1. Die unrichtige Firma.

In einer kleinen Stadt des Voigtlandes etablirte sich vor länger als 20 Jahren der Klempnermeister Ohnerast. Er hatte sich auf der Wanderschaft in der Welt umgesehen, und man sah es seinem ganzen rüstigen Wesen, dem klugen Ausdrucke seiner Augen wohl an, daß er sich nicht auf das Ruhebänkchen des Zunftzwangs niederlassen, sondern sich auf seine eigene Kraft verlassen werde. Seine Mittel waren sehr bescheiden, aber sein Fleiß mühte sich unverdrossen, von Tagesanbruch bis in die späte Nacht, in der im Hofe gelegenen Werkstatt ab, während seine sorgsame Hausfrau den Verkauf im Laden besorgte. Hier waren einige Lampen neuester Construction ausgestellt, während seine Zunftgenossen sich noch nicht über die primitive Lampe von Weißblech erhoben hatten, deren wulstigem Dochte der Qualm wie aus einer Esse entsteigt. Obschon der Zunftneid über ihn spottete, so kam doch Ohnerast zunächst bei den Honoratioren der Stadt, dann bei den nächsten Rittergütern in Kundschaft; er konnte sich erst einen Lehrling, dann einen, später mehrere Gesellen halten, und mit seinen Fabrikaten die Leipziger Messe beziehen. Er sah ein, daß sein bisheriger Wohnort zur flotten Betreibung seines Geschäftes zu klein, und namentlich zu abgelegen von den großen Verkehrsstraßen war. Er siedelte in eine größere Stadt über. Das Geschäft war in stetem Wachsen; wo er sonst allein in der Hinterstube gehämmert, da arbeiteten später gegen hundert Leute, nicht blos Klempner, auch Dreher, Gießer und Tagelöhner. Der Handwerksbetrieb hatte sich zur Fabrik ausgedehnt. Es war nöthig geworden einen kaufmännisch gebildeten Buchhalter anzustellen. Meister Ohnerast wurde allmählich ein reicher Mann und war in der Stadt hochgeachtet; trotz seiner durch Geschäftsreisen häufig herbeigeführten Abwesenheit wurde er mit städtischen Ehrenämtern betraut. Dabei blieb er immer der einfache, schlichte Mann; nur ein Mangel entwickelte sich bei ihm stärker und stärker; es war die Meinung, die aus seinem gewiß berechtigten Selbstgefühl entstand, daß er, der bis dahin Alles allein mit dem besten Erfolge ersonnen, geleitet und ausgeführt hatte, überhaupt des Rathes anderer Leute nicht bedürfe, und daß namentlich, so vielfacher Art seine Beschäftigungen auch waren, der Rath eines Sachwalters dabei völlig überflüssig sei. Bestärkt wurde er in dieser Meinung noch durch die Erfahrung, daß er einmal in einen Proceß verwickelt worden, in welchem nach seiner ehrlichen Ueberzeugung das Recht auf seiner Seite war, der ihm aber durch eine Eidesleistung seines Gegnern verloren ging. – Er pflegte seitdem immer zu sagen, der grundehrliche Mann: „Bei mir gilt das Recht; ich brauche keinen Advocaten.“

So entschloß er sich denn, ohne irgend einen vorgängigen juristischen Beirath, eines Tages einen Compagnon anzunehmen. Seine häufigen Geschäftsreisen erforderten auch, daß während seiner Abwesenheit ein Stellvertreter die Aufsicht über das umfängliche Geschäft führe. Er fand das, was er suchte, in einem seiner Arbeiter, Namens Beimann, der fleißig und geschickt immer von ihm bevorzugt und schon längere Zeit mit der Stellung eines Factors von ihm betraut worden war. Es erschien plötzlich die Firma „Ohnerast und Beimann“ am kaufmännischen Horizonte, und es hieß in der Stadt allgemein, Beimann, welcher in der Lotterie gewonnen oder auch eine Erbschaft gemacht habe, sei namentlich seines Geldes wegen zum Theilhaber des Geschäftes emporgestiegen, namentlich da unmittelbar nach Anzeige der neuen Firma die Fabrik durch Ankauf eines Nachbarhauses wiederum vergrößert ward. – Beimann leitete nun vorzugsweise den technischen und Ohnerast den kaufmännischen Theil des Geschäftes, das sich eines steten Fortschreitens erfreute. – Beimann, obwohl im Geschäfte thätig, war Junggesell, hatte für Niemanden zu sorgen, und pflegte des Abends als Ersatz für die Freuden des häuslichen Heerdes dem Bacchus, wenn nicht unmäßig, so doch reichlich zu opfern, so daß sich sein Gesicht allmählich mit einer helleren Röthe überzog, das auf der Nase sich bis zum Dunkelroth steigerte, im Ganzen aber nur dazu diente, den Ausdruck von Behaglichkeit und Wohlhäbigkeit zu vollenden, der dem wohlgenährten Compagnon eines so geachteten Geschäftes nur wohl anstand, zumal Ohnerast immer schmächtig blieb, jedenfalls in Folge sowohl seines Temperamentes, als seines einfachen Lebens. – Diesen erwünschten Verhältnissen wurde Beimann plötzlich durch ein tragisches Geschick entrissen. An einem feuchten und nebligen Herbstabende des Jahres 1851 mochte er wohl ein Glas mehr als gewöhnlich genossen, oder der dichte Nebel ihn getäuscht haben; er fiel beim Heimwege in den Mühlgraben, wurde zwar auf seinen Hülferuf vom Nachtwächter bald herausgezogen; inzwischen war er vom Schlage getroffen worden, gänzlich gelähmt und starb bald darauf.

Einige Wochen darauf kam Ohnerast eines Morgens zu mir mit sorgenvollem, fast vergrämten Gesichte; er theilte mir mit, daß ein Advocat für die armen Verwandten seines verstorbenen Compagnons zu ihm gekommen sei und von ihm die Darlegung seiner Geschäftsverhältnisse und seines Compagnons Antheil am Geschäfte herausverlangt habe; er bat um meinen Beistand. Ich erwiderte ihm, daß er ja dazu eines Advocaten gar nicht bedürfe; denn es gelte ja bei ihm das Recht, und als rechtlicher Mann könne er sich ja nicht weigern, den Erben seines Compagnons das Ihrige herauszuzahlen. Er entgegnete: Jemandem das Seine vorzuenthalten, wäre er weit entfernt, aber Beimann habe in seinem Geschäfte auch nicht einen Pfifferling stehen gehabt; bei Annahme der neuen Firma wäre nicht Beimann’s Vermögen, das er nie besessen, sondern lediglich seine vorzügliche technische Befähigung maßgebend gewesen, und um des Respectes willen den Leuten gegenüber habe er ihn als Compagnon vor den Leuten figuriren und ihm außer seinem festen Gehalte einen Gewinnantheil zukommen lassen. Aufgeschrieben sei über das ganze Verhältniß gar Nichts. Er überzeugte mich aus den Geschäftsbüchern von der Wahrheit seines Anführens; ich schlug also den Gegnern ihr Verlangen ab und erwartete, ob sie ihre Ansprüche im Proceßwege ausführen würden, was denn auch geschah.

Mit dessen näherer Beschreibung will ich den Leser nicht ermüden; nur so viel sagen, daß ich es mit einem hartnäckigen Gegner zu thun hatte. Zu einem Vergleiche war Ohnerast [412] durchaus nicht geneigt, obwohl er vielleicht angenommen worden wäre; er hätte nach seiner Ansicht damit ein Unrecht seinerseits zugegeben und das Recht der Gegner anerkannt. Das Publicum nahm vielfach für die armen Verwandten Partei, und Ohnerast ward nicht selten mit Mißtrauen betrachtet. Diese Wahrnehmung und die Sorge um den Proceß überhaupt übte auf die Stimmung des ehrliebenden, vielleicht auch durch seine rastlose Thätigkeit geistig angegriffenen Mannes den schlimmsten Einfluß aus. Er ward erst still und einsylbig, konnte sein Geschäft nicht mehr hinlänglich verwalten, und indem er dies fühlte, steigerte sich seine Schwermuth mehr und mehr bis zu gänzlicher Willenlosigkeit, stundenlang saß er vor seinen Geschäftsbüchern, sah starr auf einen Fleck und seufzte. Der Zustand ward endlich so bedenklich, daß ein Irrenarzt zu Rathe gezogen werden mußte, welcher erklärte, daß eine schleunige Beendigung des Processes den Kranken am besten heilen werde. Obwohl unsere Sache günstig stand, so war dies doch nicht sobald möglich, denn es war Taktik des Gegners, der die Lage der Sache wohl sah, uns durch fortwährendes Appelliren, wo möglich, zu ermüden und dadurch zur Anbietung einer Vergleichssumme zu bestimmen. Ein Vergleich würde aber nur von den schlimmsten Folgen auf Ohnerast gewesen sein. So blieb nur noch übrig, ihn aus seiner Umgebung weg und in eine Privatirrenanstalt zu bringen, wo es zwar den Bemühungen des menschenfreundlichen und geschickten Arztes gelang, zuweilen den Kranken zu zerstreuen und wenigstens den Fortschritt der Geisteslähmung zu hemmen, allein eine Heilung nicht erzielt wurde.

Es gelang mir zwar mit Hülfe einiger Geschäftsfreunde, sowie des etwa sechzehnjährigen Sohnes Ohnerast’s, welcher ganz den Geist seines Vaters geerbt hatte, den Fortgang des Geschäftes zu sichern, allein nur mit schweren Opfern. So vergingen beinahe zwei Jahre, ehe der Proceß und zwar völlig zu Gunsten des armen Ohnerast entschieden wurde. Ich eilte mit seiner Frau und dem ältesten Sohne in die Anstalt, um ihm diese Mittheilung in Anwesenheit des Arztes, der ihn schon vorbereitet, zu machen. Wie fand ich den rüstigen Mann, der kaum 50 Jahre zählte, verändert! Sein Haar war schneeweiß geworden, die Gestalt gebückt, das Auge erloschen, und tiefe Furchen durchzogen sein gelbes Antlitz. Fast nicht minder hatte der Kummer an seiner Frau gezehrt; zwei Jahre ihres Lebens hatten die sonst so glücklichen Menschen in Kummer verloren, ihre Ehre war angezweifelt worden, und die bedeutenden Vermögensluste erschienen noch als das Mildeste bei diesen, herben Geschick. Ein einfacher schriftlicher Nachweis über das wahre Verhältniß, in welchem Beimann zum Geschäfte stand, hätte all das Unglück erspart! und jeder Advocat würde Ohnerast auf die Nothwendigkeit eines solchen aufmerksam gemacht haben.

Nur allmählich und schwer gelang es, den Unglücklichen zu seiner früheren geistigen Energie und Lebendigkeit zurückzuführen; am günstigsten wirkten auf ihn ein die Bemühungen seiner ältesten Tochter, eines gebildeten, sanften Mädchens, welches auf die schmiegsamste Weise sich ihm anzupassen verstand. Sie führte ihm bald einen braven Schwiegersohn als Compagnon zu; und so sehr er Ohnerast’s volles Vertrauen besaß, so unterließ letzterer doch nicht, einen ganz genauen, nach allen Seiten hin erwogenen Societätsvertrag durch meine Vermittelung mit ihm abzuschließen.




Glarus nach dem Brande am 10. Mai 1861.
Nach einer Photographie von Rob. Geyser in Zürich.

[413]

Deutsche Herzen, deutscher Pöbel.

Erzählung von J. D. H. Temme.
(Schluß.)

In dem Augenblicke, wo der Präsident das Urtheil verkünden wollte, wurde die Stille in unserer Nähe unterbrochen. Ein Haufen lärmender Menschen stürzte die Treppe herauf. Männer schrieen, Weiber kreischten; heisere, verstimmte Tanzmusik führte sie. Es war die zurückkehrende Tanzgesellschaft oder ein Theil derselben. Sie hatten sich wohl in der Nachbarschaft, in einem anderen Hause noch mehr berauscht und kamen wilder, lärmender zurück, um von Neuem ihren Tanz zu beginnen. Sie stürmten in das Zimmer, das sie verlassen hatten; die Musik mußte lauter aufspielen. Von dem Gepolter des Tanzes, dem Schreien, Jauchzen, Kreischen zitterte das Haus; kein anderer Laut war mehr zu hören.

Der Gerichtssaal drüben mit allen seinen Menschen lag für uns wie eine todte Masse da. Doch es sollte Leben in die Masse kommen. Wir hatten kein Auge von dort verwandt. Der Präsident hatte sich erhoben, das Papier in der Hand. Auch der Angeklagte war aufgestanden, er stand aufrecht, fest und muthig wie immer da. So blickte er dem Präsidenten, allen seinen Richtern furchtlos und ruhig in das Gesicht. Das Profil seines Gesichts war uns scharf zugewandt, wir sahen die feste, klare Ruhe darin.

„Mein Adolph!“ sprach die Frau leise vor sich hin, bewundernd und doch erbebend.

Der Präsident begann zu lesen, man konnte es nicht hören, man sah es. Der Angeklagte verwandte den ruhigen Blick nicht von ihm, er bewegte sich nicht. Aber auf einmal – „Ewiger Gott!“ schrie die unglückliche Frau vor mir auf.

„Sie haben ihm das Todesurtheil verkündet!“

Woher sie es wußte? Sie hatte es nicht gehört, man konnte keinen Laut hören, geschweige ein Wort verstehen. Auch ihre Augen hatten es ihr nicht sagen können. In dem Augenblicke, als sie es rief, war nicht die leiseste Bewegung im Saale wahrzunehmen. Der Angeklagte stand aufrecht und unbeweglich, wie er gestanden. Der Präsident las noch, wohl die Schlußformel des Erkenntnisses. Und doch wußte es die Unglückliche.

„Ich sah ihn erblassen,“ sagte sie mir nachher, „nur eine Secunde lang. Ich wollte mir gleich darauf sagen, es sei nicht möglich, daß ich in der weiten Entfernung, in dem Scheine von Kerzen einen flüchtigen Wechsel der Farbe hätte wahrnehmen können. Aber ich hatte es deutlich gesehen; es war der Schatten des Todes, der sich plötzlich durch sein Gesicht zog.“

Sie hatte Recht gehabt. Sie hatten ihm das Todesurtheil gesprochen. Gleich nachher zeigte Alles da drüben es an. Ich hatte einen raschen Blick in den Saal geworfen, der Schreck herrschte darin. Alle saßen oder standen sie dort wie erstarrt, mochten sie dieses Urtheil erwartet oder nicht erwartet haben. Es war der erste Augenblick der allgemeinen Ueberraschung.

Hinter uns rauschte die heisere Tanzmusik, lärmten die Tanzenden. Die Frau des Verurtheilten war aufgesprungen, auch sie stand einen Augenblick wie vernichtet da; ihr Gesicht hatte den


WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [414] Ausdruck einer Todten. Aber auf einmal war das Leben in sie zurückgekehrt; mit dem Leben ein großer, fester Entschluß.

„Mein Herr,“ sagte sie zu mir, „ich habe jetzt eine Bitte an Sie. Er hat sein Todesurtheil empfangen, Sie sehen es an dem Schrecken jener Elenden, die vorhin über Muth, über Seelenadel lachen konnten. Ich hatte mich vorher nach Allem erkundigt. Das Urtheil wird schon morgen in der frühsten Frühe vollzogen werden. Nur die wenigen Stunden dieser Nacht gehören ihm. Ich muß ihn sehen, noch einmal, jetzt gleich. Führen Sie mich zu ihm.“

Sie hatte so fest, so ruhig gesprochen; sie war des Mannes würdig, der Mann ihrer.

„Gnädige Frau, um des Himmels willen!“ rief der alte Diener entsetzt. „Gehen Sie nicht, es ist Ihr Tod; Sie machen ihm die letzten Lebensstunden schwerer.“

Sie blieb ruhig.

„Nein, guter Konrad. Wie wenig kennst Du ihn und mich! Es wird uns Beide aufrichten, ihn für seine letzte Stunde, mich für das ganze Leben. Aber der Tod wird auch mir nahe sein, wenn ich ihm zum letzten Male die Hand gedrückt habe, zum Tode. Meine Füße werden mich nicht tragen können, besorge mir einen Wagen, der mich dann zum Gasthofe zurückbringt. Mein Herr, geben Sie mir Ihren Arm.“

Sie war eine wahrhaft große Frau. Der Diener beugte sich schweigend ihrem Willen. Ich bot ihr meinen Arm, sie legte den ihrigen hinein, fest, ohne Zittern. So führte ich sie aus dem Hause. Wie anders hatte ich sie vor wenigen Stunden hineingeführt! Was Alles hatte in der kurzen Zeit sich ereignet! Ich selbst, das fühlte ich, war für mein Lebenlang ein anderer Mensch geworden.

Ich führte sie an dem wüsten, rohen Tanze vorbei durch die dunkle, stille Gasse zu dem Zuchthause. Auch hier war es still, die Zuschauer hatten den Gerichtssaal noch nicht verlassen. Wir durchschritten ohne Hinderniß das Gitterthor. Die Soldaten waren überall geordnet aufgestellt. Ich hatte vorher an eine Rettung denken wollen.

„Gnädige Frau, haben Sie für den Fall der Verurtheilung an eine Flucht gedacht?“

Wir standen vor dem Gitterthor. Sie zeigte durch die Gitter. „Sehen Sie die strenge Bewachung dort, und er bleibt die Nacht hier. Von hier aus wird er morgen früh –“

Sie konnte doch nicht vollenden. Wir erreichten das Portal des Zuchthausgebäudes. Mehrere Officiere begegneten uns, an ihrer Spitze der Stabsofficier, der dem Standgericht präsidirt, dem Verurtheilten das Todesurtheil verkündet hatte. Er sah bekümmert aus, sein schweres Amt war ihm schwer geworden. Meine Begleiterin wandte sich an ihn.

„Mein Herr, kann ich meinen Mann sehen?“

Sie brauchte ihm nicht zu sagen, wer sie sei. Der Officier erschrak. Er hätte wohl lieber im Kugelregen der Schlacht gestanden.

„Gnädige Frau, ich bedauere. Ihr Gatte steht nicht mehr unter meinem Befehle; seit der Verkündigung des traurigen Spruchs haben meine Functionen hier aufgehört, Sie müssen sich an den Stadtcommandanten wenden.“

„Und wo finde ich den Commandanten?“

„Er ist im Commandanturgebäude.“

Das Gebäude lag in einem anderen Theile der Stadt. Mitternacht war vorüber. Einer der jüngeren Officiere erbot sich dennoch, die unglückliche Frau zu dem Commandanten zu führen oder für sie hinzueilen. In dem Augenblicke öffnete sich eine Seitenthür.

Der Verurtheilte trat heraus, von einer Militairwache geleitet. Er sollte in seine Zuchthauszelle zurückgeführt werden. Die Gattin sah ihn.

„Ich danke Ihnen, mein Herr,“ sagte sie zu dem jungen Officier.

Dann flog sie auf ihren Mann zu.

„Adolph, mein Adolph!“

Sie lag in seinen Armen. Die Wache war unwillkürlich zurückgetreten. Es giebt ein großes, edles Unglück, das die Brust eines jeden Menschen mit Ehrfurcht erfüllt. Die Officiere entfernten sich schweigend. Auch sie waren von jener Ehrfurcht ergriffen. Die Gatten hielten sich umfangen. In der ersten Secunde hatte das völlig Unerwartete den Verurtheilten wohl niederschmettern wollen. Dann war er klar gefaßt.

„Ich hatte nur an Dich gedacht, Alexandra.“

„Ich weiß es.“

„An Deinen Schmerz –“

„Du sollst mich aber auch Deiner würdig finden, Adolph. Darum siehst Du mich hier. O, ich weiß es. Du bist ein echter deutscher Mann. Du weißt für Dein Vaterland zu sterben. Das mußte ich Dir sagen. Meine Bewunderung mußte ich Dir bringen, den Dank des Vaterlandes.“ –

Sie wollte noch weiter sprechen. Eine Thür in der Nähe hatte sich geöffnet. Ein paar elegante Damen waren herausgetreten. Sie mußten in der vornehmen Aristokratie die Vornehmsten sein. Das übrige Publicum war auf einer anderen Seite aus dem Gerichtssaale hinausgelassen. Sie hatten durch diese Thür treten dürfen. Sie blieben stehen, als sie das edle, dem Unglücke, dem tiefsten Schmerze geweihte Paar erblickten. Sie zogen ihre Lorgnetten hervor.

„Ah, eine Scene!“

Sie traten nicht zurück. Die unglückliche Frau sah sie. Sie konnte ihre Fassung behalten.

„Wir müssen uns trennen, Adolph. Gieb mir den Kuß der Scheidung und für unsere Kinder deinen letzten Segen.“

Auch der Verurtheilte blieb gefaßt.

„Bringe den Kindern meinen Segen. Emma wird werden wie Du, und die beiden Knaben – lehre sie, nie ihres Vaters vergessen; sie werden dann auch dem Vaterlande nicht untreu werden. Und nun lebe wohl, Alexandra, mein theures, mein edles Weib.“

Sie umarmten sich still. Dann wandte er sich an die Soldaten zurück, die ihn geleiteten.

„Führt mich!“

Er stieg festen Schrittes mit ihnen eine Treppe hinauf. Ich war zu ihr hingetreten. Sie nahm meinen Arm. Sie zitterte heftig, aber sie konnte voranschreiten. Ich führte sie aus dem Hause. Nach den beiden vornehmen Damen hatte ich mich nicht wieder umgesehen. Wer kann in solchen Momenten sich nach der Gemeinheit umsehen? Draußen auf der Promenade wartete der alte Diener mit einem Wagen. Sie stieg hinein. Er mußte sich zu ihr setzen. Zu mir sagte sie noch: „Erfüllen Sie mir noch eine Bitte. Sehen Sie meinen Mann sterben und bringen Sie mir die Botschaft. Sein Vertheidiger kann es nicht, er ist zu sehr angegriffen. Auch nicht mein alter Konrad. Einen anderen Freund habe ich hier nicht.“

Dann brach sie zusammen. Ich sah noch, wie sie, vielleicht in einer wohlthätigen Ohnmacht, in die Arme des alten, treuen Dieners sank. Der Wagen fuhr davon. Ich erfüllte ihre Bitte.

Es war eine warme Augustnacht. Schlaf konnte nicht mehr in meine Augen kommen. Ich verließ die Stadt; ich suchte die grüne Wiese auf, in deren Winkel das Todesurtheil vollstreckt werden sollte. Ein kleiner Kirchhof mit niedriger Mauer lag daneben. Ein klarer, schöner, großer deutscher Strom stoß vorbei. Ich sah die Vorbereitungen zu der Execution.

Bald nach vier Uhr – der Tag begann zu grauen – nahte sich der traurige militairische Zug. Zehn Minuten später fielen an der Mauer des Kirchhofes sieben Schüsse. Sieben Kugeln hatten das Herz einen deutschen Mannes durchbohrt. Welcher Schmerz hatte es schon vorher zerrissen! Er starb muthig und edel, wie er gelebt hatte.

Als er sterbend hinsank, tauchten fern am östlichen Horizont die ersten Strahlen der Sonne auf. Er hatte sie nicht mehr gesehen. Er hat die Sonne der deutschen Freiheit und Einheit nicht mehr gesehen. Sie wird dennoch aufgehen. – Seiner Frau brachte ich die Botschaft.

„Sie haben einen deutschen Mann sterben sehen,“ sagte sie nur und langsam rollte der Wagen mit der Unglücklicken davon, der Heimath, den verwaisten Kindern zu.

[415]

Nur nicht nach Norden!

Sie haben Sich in Ihrem Blatte die Förderung des Wohles aller Volksschichten zur Aufgabe gestellt; nicht in letzte Linie stellen Sie die Interessen der arbeitenden Classe. So gestatten Sie mir, daß ich Sie auf einen Gegenstand hinweise, durch dessen Besprechung Sie sich zunächst den Dank dieser Classe, dann aber auch den Dank Anderer erwerben würden, die ein Herz für das Volk haben und denen, wenn es gilt, ihren armen Mitbrüdern zu rathen, daran liegt, zuvor selbst ein sicheres Urtheil zu gewinnen. Ich habe das vollkommen zeitgemäße Thema im Auge: Welches Loos hat der deutsche Arbeiter bei seiner Uebersiedelung nach Rußland (specieller nach dem südlichen Rußland) zu erwarten?

Ein zeitgemäßes Thema? Der nachstehende Bericht, der sicher kein vereinzelt stehendes Factum erzählt, wird dieses Attribut rechtfertigen.

Auf einer Reise durch Deutschland gelangte ich kürzlich in das Gebirgs- und Badedorf E., im Herzen des Königreichs Sachsen gelegen. Zu einem längeren Aufenthalt an diesem Orte genöthigt, erging ich mich an dem Nachmittag des ersten Sonntags in den reizenden Parkanlagen, als mich der hereinbrechende Regen veranlaßte, meine Schritte einem Pavillon zuzulenken. Unter dem schützenden Dache desselben fand ich eine große Gruppe von Landleuten, der ärmlichen Kleidung nach zu schließen, dem Arbeiterstande angehörig, um eine Dame geschaart, deren elegante Toilette und noble Tournüre auf einen höhern Rang schließen ließ. Die Gruppe erregte meine Neugierde. Ich trat näher und fragte einen etwas abgesondert stehenden Herrn nach dem Begehr der Leute. Als mich derselbe stumm anstarrte, belehrte mich die Dame mit größter Zuvorkommenheit, der Herr verstehe kein Deutsch; er komme, wie sie, aus Rußland. Sie habe die Absicht, für ihren ausgedehnten Grundbesitz im Süden Rußlands eine große Zahl von Arbeitern zu engagiren, und die Leute, die hiervon Kunde erhalten hätten, seien gekommen, die Bedingungen des Engagements kennen zu lernen. Da die Dame der deutschen Sprache nicht völlig mächtig war, deshalb im Gespräch mit mir gewöhnlich in ein geläufiges Französisch überging, schien es ihr sehr gelegen zu kommen, bei ihrer Unterredung mit den Leuten in mir einen Dolmetscher zu finden. Es bot sich mir somit eine willkommene Veranlassung, Zeuge und resp. Vermittler der Verhandlung zu sein, die ich im Nachfolgenden, wenn auch nicht sprachlich, so doch sachlich treu wiedergeben will.

Zunächst trat eine Frau vor, überreichte ein Zeugniß der Ortsobrigkeit über des Mannes und der Familie sittliches Verhalten und fragte, ob sie hoffen dürfe, mit ihren sieben Kindern angenommen zu werden. „Sieben Kinder?“ Die Dame zuckte die Achseln. „Wenn ich auch wohl manchmal, dem Zuge meines Herzens folgend, mein eigenes Interesse hintenansetze,“ bemerkte sie, „so muß mir doch dieses im Allgemeinen maßgebend sein. Zunächst muß ich also auf die Leistungsfähigkeit der Anzuwerbenden mein Augenmerk richten, deshalb arbeitsfähigen, namentlich ledigen Personen vor Wittwen oder Eltern, die viele Kinder mitbringen, den Vorzug geben. Doch kommt dabei das Alter der Kinder in Betracht, da auch diese vom 8. Jahre an zur Arbeit, namentlich zum Viehhüten, zu verwenden sind.“ Als die Frau bemerkte, daß nur zwei der Kinder dieses Alter noch nicht erreicht hätten, wurde ihr die Weisung, daß dann die Kinderzahl wohl kein Hinderniß sei, die Gutsherrin sich aber ihre Entschließung vorbehalte, bis Alle, die auf das Engagement einzugehen beabsichtigten, ihre Certificate vorgelegt hätten und sie die Wahl treffen könne. Erst dann werde sie zum endgültigen Abschluß des Contracts schreiten; früher werde sie sich zu ermüdenden Verhandlungen mit Einzelnen nicht verstehen. Nichtsdestoweniger ließ sie sich herbei, schon jetzt die Hauptstipulationen des Contracts anzudeuten, indem sie zu diesem Zweck ein Papier hervorzog und die auf demselben in gebrochenem Deutsch gemachten Notizen vorzulesen und zu erläutern begann.

„Neben der Arbeitsfähigkeit,“ lautete die Auseinandersetzung, „lege ich auf den Ruf der Ehrlichkeit und „Fleißigkeit“ das Hauptgewicht. In aller Form Rechtens werde ich dies contractlich stipuliren, aber auch gleichzeitig betonen, daß „Grobigkeit“ und Trunksucht vom Engagement ausschließen. Damit ist aber nicht gemeint, daß der mäßige Genuß geistiger Getränke verboten sei. Es giebt bei uns ein aus Obst gewonnenes Getränk, Quas genannt, und auch der Branntwein ist nicht theuer.

„Jeder Familie von vier Erwachsenen, d. h. Personen von über fünfzehn Jahren – zählt eine Familie diese Zahl nicht, so werden ledige Leute oder eine zweite Familie ihr zugetheilt – überweise ich ein Haus, einen halben russischen Morgen Ackerland, eine Kuh, zwei Schafe und zwei Schweine.“

„Als Eigenthum?“ war die Frage.

„Die Kuh veranschlage ich nur zu zwanzig Thaler, das gesammte Vieh zu 32 Thaler, welche Summe in vier Jahren abgetragen wird. Erhält eine Familie auch erst nach Ablauf dieser Frist das volle Eigenthumsrecht, so kann sie doch schon früher durch Zucht von Jungvieh eigenen Besitz erlangen.“

„Reicht aber die Oberfläche für einen größern Viehstand aus?“ fragte ich.

„Gewiß,“ antwortete sie; „die Fläche ist eine ansehnliche. Bedenken Sie, daß der russische Morgen viel größer ist, als der hiesige, 1600 Sarschinen(?) enthält. Und dazu die Fruchtbarkeit des Bodens! – Der Arbeitslohn beträgt für erwachsene männliche Arbeiter jährlich sechzehn Thaler.“

Als die Gutsherrin sah, daß ich über diese Summe stutzte, erläuterte sie: „Auch die Frauen und, wie oben bemerkt, selbst die Kinder verdienen ja ihren, freilich verhältnißmäßig geringern Lohn. Außerdem bleibt es ja den Leuten unbenommen, auch am Sonntage für die Gutsherrschaft zu arbeiten und sich dadurch eine Extra Vergütung von resp. zwei bis vier Silbergroschen zu verdienen. Dann aber kommen die vielen Naturallieferungen in Anschlag. Jeder Erwachsene erhält monatlich 80 Pfd. Mehl, jedes Kind die Hälfte. Gegen den Herbst werden den Familien gewisse Quantitäten Fleisch, Flachs, Fourage für das Vieh – so und so viel Pud – und Feuerungsmaterial verabreicht. Ich dächte, die gebotenen Vortheile sind nicht geringe!“

„Aber,“ bemerkte ich, „es kommen nun die Gegenleistungen der Arbeiter in Betracht.“

„Was diese betrifft,“ entgegnete sie, „so übernehmen die Leute zunächst die Verpflichtung, jeden Wochentag von 6 Uhr Morgens bis 8 Uhr Abends, im Winter bis 7 Uhr, also täglich, wenn ich für das Mittagsessen 11/2 Stunden in Abzug bringe, 121/2 oder 111/2Stunden auf meiner Besitzung zu arbeiten. Des Rechts, die Arbeit nach ihrem Belieben auf kürzere oder längere Zeit einzustellen oder bei andern Gutsherrschaften sich zu verdingen, haben sie sich zu begeben.“

„Welche Zeit.“ fielen Mehrere fragend ein, „verbleibt uns zur Bewirthschaftung des eigenen Ackers?“

„Dazu reichen die Morgen- und Abendstunden völlig aus. Ihr werdet doch im Sommer füglich um 4 Uhr an die Arbeit gehen und auch nach 8 Uhr Abends noch thätig sein können? Beachtet dabei wohl, daß bei der Güte des Bodens, der z. B. des Düngers gar nicht bedarf und ohne große Mühe reichen Ertrag liefert, die Bearbeitung desselben eine nicht doppelt, nein zehnfach so leichte ist, als hier. Ueberdies habt Ihr ja auch den Sonntag für Euch, falls Ihr nicht vorzieht, Euch einen Extra-Tagelohn zu verdienen oder einmal zur Stadt zu gehen. Nebenbei bemerkt, so bedürft Ihr im letztern Falle zu Eurer „Legitimation“ eines Scheines von mir, auf dem Ziel und Dauer der Reise bemerkt ist.“

„Wie steht es mit dem Rechtsschutze der Einwanderer?“ fragte ich.

„Es ist mir um Herstellung eines patriarchalischen Verhältnisses zu thun. Deshalb behalte ich mir vor, Streitigkeiten der Leute unter einander persönlich zu schlichten. Auch führe ich über ihr Verhalten genaue Controle. Zu diesem Zwecke überliefere ich jedem Arbeiter ein Buch, in das in gewissen Zeitabschnitten die Censur seiner Aufführung eingetragen wird. Fällt diese ein Dutzend Mal hintereinander belobend aus, so hat der Inhaber zu erwarten, daß sich mein Wohlwollen in Verabreichung eines kleinen Geschenkes erweise. Im andern Falle verhänge ich Strafen, die sich graduell steigern. Das Zeugniß der „Grobigkeit“ z. B. zieht bei der ersten Wiederholung eine Strafe von 15 Ngr., bei der zweiten von 1 Thaler nach sich. Die Strafgelder kommen aber nicht etwa mir, sondern einer besondern Casse der Wittwen und Kinder zu gute.“

Es lag mir hier nahe, auch über die rechtliche Stellung der Leute der Gutsherrschaft gegenüber in’s Klare zu kommen: doch brachte ich darüber die Ansicht der Dame nicht in Erfahrung. Auf meine Frage, ob dem Arbeiter die Rückkehr gestattet sei, wenn ihn die Ortsveränderung reue, erwiderte sie lächelnd: „Das hat nichts zu sagen; dazu ist ihre Lage dort zu befriedigend. Uebrigens sind sie auf wenigstens 12 Jahre contractlich an das eingegangene Dienstverhältniß gebunden.“

Die weitere Unterredung drehte sich um das Klima den südlichen Rußland, das die Gutsherrin im Vergleich zu dem hiesigen als viel milder schilderte, wobei sie auf den Schutz hinwies, den gute Wohnungen, warme Kleidung und geheizte Stuben gegen Winterkälte böten. „Wie ärmlich,“ rief sie, gegen mich gewendet aus, „sind hier die ländlichen Wohnungen, welche sie ringsherum liegen sehen! In Euern warmen Stuben,“ fuhr sie gegen die Arbeiter gewendet fort, „soll Euch die Kälte nichts anhaben. Und an Feuerung fehlt’s nicht. Giebt’s auch bei uns kein Holz, so ist doch Stroh und Dung, der zu „Steinen“ geformt wird, genug vorhanden. Während Ihr überdies hier oft nichts aus dein Leibe habt, besitzt dort schon jedes Kind seinen Schafpelz.“

Zu meinem Leidwesen hatten sich alle Fragen der Arbeiter ausschließlich um materielle Dinge gedreht. Ich konnte schließlich die Frage nach den kirchlichen Verhältnissen und dem Bestehen von Schulen nicht zurückhalten. Die Gutsherrin meinte in Beziehung hierauf, den Schulunterricht könnten füglich die Eltern den Kindern ertheilen, und was das religiöse Bedürfniß anlange, so sei dafür durch Prediger aller Confessionen gesorgt, welche von den Städten aus die umliegenden Gebiete in der Nähe und Ferne bereisten.

„Was fällt übrigens,“ rief sie aus, „dieser Punkt in's Gewicht! Was nützt den Leuten alles Andere, wenn sie Nichts zu leben haben! Das leibliche Wohl steht in erster Linie. Daß die Leute in ärmlichen Verhältnissen leben, beweist mir ja, daß sie sich in Schaaren herzudrängen! Warum gestattet man mir nicht, daß ich sie in eine bessere Lage versetze? Habe ich doch ihr Bestes im Auge! Macht man mir in Preußen den Vorwurf, ich verleite die Leute, und untersagt die Anwerbung! Von der hiesigen Regierung erwarte ich größere Willfährigkeit. Sonst gehe ich nach Kurhessen, wo ich sicher günstigen Boden für Erreichung meines Zweckes finde!“

Die größte Zahl der Landleute, unter denen sich auch einige Handwerker befanden, welchen ein größerer Lohn, z. B. einem Schmiede vierzig Thaler, verheißen wurde – namentlich Radmacher und Bauhandwerker wurden willkommen geheißen – schienen durch diese vorläufigen Erklärungen völlig befriedigt und gaben ihren Entschluß kund, bei den Ortsbehörden die geforderten Sittenzeugnisse einzuholen und dann nach festem Abschluß des Engagements den Consens zur Auswanderung nachzusuchen.

Auf dem Rückwege gesellten sich einige der Leute zu mir und knüpften über das Verhandelte eine Unterredung mit mir an. Es befremdete mich, aus ihren Bemerkungen zu vernehmen, daß sie über die theilweise augenscheinlich ungünstigen Bedingungen ganz hinwegsahen und nur für die gebotenen Vortheile, deren allzu grelle Beleuchtung sie bestochen haben mochte, Augen hatten. Uebrigens schien die Persönlichkeit der verhandelnden Dame hauptsächlich auf sie bestimmend eingewirkt zu haben. Einsender gesteht, daß der persönliche Eindruck, den die Dame durch ihr offenes, menschenfreundliches Wesen auf ihn machte, ein vortheilhafter war und ihm namentlich ihre Versicherung, daß es ihr um das leibliche Wohl der Leute zu thun sei, eine aufrichtig gemeinte zu sein schien. Nichtsdestoweniger [416] wird es sich Niemand verhehlen, daß in der Ehrenhaftigkeit des persönlichen Charakters keine Gewähr für die glückliche Zukunft der Armen liegt, die ihrem Vaterlande den Rücken kehren. Meine Begleiter, denen alle einschlägigen Verhältnisse völlig fremd waren, zu überzeugen, daß persönliches Vertrauen allein eine unzureichende Grundlage ihrer Wohlfahrt sei, konnte mir in der Kürze der Zeit freilich nicht gelingen. Doch erreichte ich wenigstens so viel, daß sie sich vornahmen, nicht ohne nochmalige reifliche Erwägung in der Sache vorzugehen. Nur ein in vorgerückten Jahren stehender Mann war durch den Hinweis auf die Rechtssicherheit, deren sie sich hier im Vaterlande erfreuten, völlig umgestimmt. „Kinder,“ rief er, „wir bleiben hier. Hier seind wer doch freia Leut!“

So viel wurde mir klar, daß es eine dankbare Pflicht jedes Menschenfreundes ist, in seinem Kreise, wo es Noth thut, für Aufklärung und Belehrung der armen Mitbrüder zu wirken, vor allem aber auch Pflicht der Organe der Presse, im Interesse unseres Volks diese Angelegenheit allseitig zu besprechen. Nochmals sei sie auch Ihnen, Herr Redacteur, auf’s Wärmste empfohlen, da Ihr Blatt in allen Theilen des Vaterlands, wo auch die Propaganda auftreten mag, seine Leser hat.




Blätter und Blüthen.


Das Erdbeben Mendoza’s. Valparaiso, 2. Mai 1861. Um Ihnen wenigstens ein Lebenszeichen von mir zu geben, will ich Ihnen melden, daß ich noch lebe und gesund und außerdem im Begriff bin, Chile zu verlassen und diesmal zu Schiff nach Buenos Ayres zu fahren.

Eigentlich böte das schwer heimgesuchte Mendoza viel des Interessanten, um mich noch einmal dort über die Cordilleren zu locken, aber – ich habe die Cordilleren satt und bin ihren fluthenden Wassern erst eben wieder mit genauer Noth entkommen. Ich halte es auch für genügend, wenn sich ein Mensch in acht Monaten viermal in ihren unwirthlichen Höhen und Schluchten abquält, und mag es nicht muthwilliger Weise auch noch zum fünften Male in einer Zeit versuchen, wo die jetzt einbrechenden Schneestürme mich leicht Wochen und Monate lang aufhalten könnten.

Gerade jetzt komme ich aus der Provinz Valdivia, wo ich den Uebergang über die Cordilleren versuchen und dann durch Patagonien nach Carmen hinüberziehen wollte. Da brachen die Regenstürme los, die Bergströme wurden zu Wasserstürzen, der Winter hatte begonnen, und nachdem ich 15 Tage in Schmutz und Regen unter den fortwährend betrunkenen Indianern eine trostlose Zeit verbracht, mußte ich zurück in das flache Land flüchten, wenn ich nicht dort oben vollständig abgeschnitten und gezwungen sein wollte, den ganzen Winter in diesem furchtbaren Aufenthalt zu verbringen.

Und doch ist auch hierbei, so elend ich mich damals fühlte, vielleicht ein Glück, denn wäre ich nicht, diesen Plan auszuführen, nach Valdivia gegangen, so würde mich möglicher Weise das Erdbeben Mendoza’s – das furchtbarste, das noch eine Stadt betroffen – in dessen jetzt zusammengebrochenen Mauern ereilt haben, und dort war die Aussicht auf Entkommen sehr gering.

Im Anfang glaubte ich die ersten von dort zu uns herübergedrungenen Gerüchte gar nicht, denn solche Sachen werden gewöhnlich stets im ersten Augenblick übertrieben. Hier aber lauten die Berichte mit jeder Post furchtbarer, und wenn man erst glaubte, daß nur drei Viertheile der Bevölkerung umgekommen seien, so stellt es sich jetzt heraus, daß kaum ein Zehntel gerettet ist. Der Stoß kann dabei nur wenige Secunden gedauert haben, ist aber jedenfalls von zwei verschiedenen Seiten gekommen, die sich dort begegneten, wo die unglückliche Stadt stand. Die Mauern stürzten nach allen Seiten und begruben selbst die in der Straße Befindlichen. Natürlich brach gleich darauf Feuer aus, eine stete Folge solcher Calamitäten, und Hunderte von Menschen fanden noch in den Flammen ihren Tod.

Die Brutalität und Unmenschlichkeit der Gauchos bewährte sich auch hier. Das Landvolk strömte in die Stadt, nicht um zu retten, sondern um zu plündern, und ganz unglaublich furchtbare Scenen sollen da vorgefallen sein. In einem größeren Gebäude waren eine Menge junger Leute zu einem Ball versammelt, unter ihnen einige zwanzig junge Damen aus den ersten Familien. Beim Einsturz des Hauses, der wie überall ohne die geringste vorherige Warnung erfolgte, brach das Gebälk so glücklich zusammen, daß es die darunter Befindlichen wenigstens zum großen Theil schützte. Da brach das Feuer aus; noch hätten sie gerettet werden können, denn eine Menge Peons kletterten über die Trümmer weg und hörten das Schreien den Unglücklichen, aber sie halfen nicht – „wir haben keine Zeit,“ riefen sie ihnen zu und suchten in dem sie umgebenden Elend und Jammer nach Beute und verschütteten Schätzen. All diese jungen, edlen Knospen der Stadt, vor Minuten noch von Glück und Licht umgeben, verbrannten oder erstickten unter dem halb eingebrochenen Dach, das sie viel besser gleich zerschmettert hätte. – Ein Unglücklicher wurde nach 16 Tagen noch lebend ausgegraben, starb aber drei Tage später, weil die erhaltenen Quetschwunden mit Maden gefüllt waren. Doch es ist nicht möglich, all den Jammer zu beschreiben – Worte können kaum eine Ahnung des Entsetzlichen geben.

Jetzt ist die Ordnung dort wenigstens in etwas hergestellt, und einige der Räuber sind von den endlich zur Besinnung gekommenen Behörden erschossen worden. Wie aber die Beamten selber dort gewirthschaftet haben, beweist wohl am besten, daß der Gouverneur, der sich gerettet hatte, einen Trupp Leute, die wirklich in die Stadt gekommen waren, um zu retten und Verschüttete auszugraben, aufhielt und zur Bewachung seiner Güter benutzte. Was lag dem Herrn Gouverneur an den Verschütteten, wenn er nur seine Sopha’s und Stühle sicher wußte! Der Nämliche soll auch Unterstützung von der Schwesterstadt San-Juan zurückgewiesen haben, weil er keine Unterstützung von Rebellen annehmen wolle. – Hatte er ein Recht das in so furchtbarer Zeit zurückzuweisen?

Jedenfalls ist dies Erdbeben das furchtbarste gewesen, das noch je eine arme Stadt heimgesucht, denn die rasende Schnelle, mit der es hereinbrach, machte Flucht und Rettung fast unmöglich. Nur solche sind in der That übrig geblieben, die sich zufällig außer dem Bereich der zusammenstürzenden Mauern befanden. Alles Andere wurde unter den Trümmern begraben, und ganze Familien sind durch den einen Schlag mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden. Glücklich dabei die, die auch in dem einen Moment ihren Tod fanden und nicht elend unter dem Schutt, nach vielleicht Tage langem Leiden, verkommen mußten! – Und welcher Jammer dabei für die wenigen Ueberlebenden, die in Verzweiflung nach ihren verschütteten Lieben gruben und suchten und dabei sehen mußten, wie dicht daneben die Hunde an den verwesenden Leichnamen zerrten! Kein Wunder, da Viele davon wahnsinnig wurden!

Eigentlich sollte man nun glauben, daß sich nach einer solchen Katastrophe ein wirklich panischer Schrecken aller südamerikanischen Städte bemächtigt hätte, denn so rasch hat noch keinen von Menschen bewohnten Ort das Verderben ereilt, so gründlich ist in wenigen Secunden noch keine Stätte menschlichen Fleißes der Erde gleich gemacht worden und gewissermaßen von der Welt verschwunden – aber Gott bewahre. Einen Trost haben sie allerdings, den nämlich, daß in wenig anderen Städten ein gleichstarkes Erdbeben so furchtbare Folgen haben würde, wie gerade in Mendoza, da die Häuser hier, aus ungebrannten Backsteinen aufgebaut, sehr dicke Mauern hatten und in ziemlich engen Straßen dicht beisammen standen. Dann können auch in der That Hunderte von Jahren vergehen, ehe solch ein Stoß wieder mit solcher Kraft gerade genau den Fleck trifft, auf dem eine Stadt steht. Niemand denkt aber hier auch nur im Entferntesten daran, daß ihn selber Aehnliches betreffen könne. Das Erdbeben war eben in Mendoza; man bedauert die Leute, hilft ihnen so viel man kann, und damit ist die Sache eben abgemacht.

Nenne es nun Einer Sorglosigkeit oder Vertrauen auf Gott, die Sache bleibt dieselbe, und das Menschenherz pflanzt ja doch nach jedem Stoß, den es erleidet, fröhlich wieder die Fahne der Hoffnung auf und – schlägt weiter. In Valparaiso hat man den Stoß ebenfalls gespürt, aber nur sehr schwach – in Valdivia gar nicht.

Doch genug für heute. In 14 Tagen bin ich wieder in See, dem atlantischen Ocean zuzusteuern, und unterwegs werde ich Zeit genug finden, Ihnen Ausführlicheres über mein bisheriges Leben zu berichten.

So für jetzt mit freundlichen Grüßen      Ihr

Fr. Gerstäcker.




Glarus nach dem Brande am 10. Mai. In der vorliegenden Nummer geben wir den Freunden unseres Blattes eine treue Abbildung der Brandstätte, wie sie von Herrn R. Geyser photographisch zwei Tage nach dem Brande aufgenommen wurde. Sie bietet eine genaue Uebersicht der furchtbaren Verheerungen des Feuers und giebt, wenn auch kein schönes und anheimelndes, doch jedenfalls ein wahres Bild des jetzigen Glarus. Von der sehr guten Photographie wird nächstens noch eine Lithographie erscheinen und von Herren Cramer und Lüthi in Zürich zum Besten der Abgebrannten verkauft werden.




'Für die „Abgebrannten in Glarus“

gingen in den letzten acht Tagen wieder bei mir ein: Louise B. in Gröditz 1 Thlr. – Dr. B. in Neubrandenburg 5 Thlr. – N. N. in Wittenberg 2 Thlr. – Wenig aber herzlich aus Jena 1 Thlr. – G. Kröhmer in Grimma 2 Thlr. – G. H. in Rössel 1 Thlr. – C. A. Barth 3 Thlr. – Pauline Lehmann 2 Thlr. – O. L. in Minden 1 Thlr. – Haude und Spener’sche Buchhandlung in Berlin 1 Thlr. – F. W. Grüner in Glauchau 5 Thlr. – Gott segne das Wenige, aus Leipzig 1 Thlr. – Leipzig, den 15. Juni 1861. Ernst Keil.



Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das zweite Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Unser Blatt bringt: Erzählungen den Edm. Hoefer, Levin Schücking, H. Schmid, Temme, Otto Ruppius etc. – Aus der Länder- und Völkerkunde Jagd- und Reiseskizzen von Fr. Gerstäcker – Naturwissenschaftliche Mittheilungen den Bock, A. Brehm, B. Sigismund, Carl Vogt etc. – Beiträge von Berth. Auerbach – Berliner Bilder von Kossak – Biographien, mit vortrefflichen Portraits – Originalmittheilungen aus Amerika – Populär-chemische und physikalische Berichte – Schilderungen industrieller Etablissements. Ferner die Tages-Ereignisse durch authentische Schilderungen und Originalberichte. Deutsches Streben und deutsche Vaterlandskunde werden durch künstlerisch ausgeführte Illustrationen:

Die wichtigsten Momente deutscher Größe und Scenen aus dem Leben deutscher Dichterer,

die von kernigen freisinnigen Darstellungen begleitet sind, würdig vertreten.

Alle Postämter und Buchhandlungen nehmen Bestellungen an.

Ernst Keil in Leipzig.


  1. Allerdings hat man an den nördlichen Küsten des stillen Oceans noch eine zweite gefunden, deren Verbreitungsgebiet aber nicht so groß ist.
  2. Man hat sich früher lange darüber gestritten, ob der Colibri auch ein fleischfressendes oder wenigstens käferfressendes Raubthier sei, oder ob er sich von lauter Blumenthau und Nektar nähre.
  3. Unter diesem Titel werden wir eine Reihe Thatsachen und Erfahrungen aus dem Leben eines Sachwalters mittheilen, deren Zwecke kein unterhaltender, sondern lediglich ein belehrender sein soll. Der Leichtsinn, mit dem so viele Menschen die wichtigsten Vorkommnisse ihrer bürgerlichen und geschäftlichen Existenz behandeln, hat so oft schon die traurigsten Folgen nach sich gezogen, daß wir uns durch diese Mittheilungen, die sämmtlich wirkliche Erlebnisse und praktische Lebensfragen behandeln, unsern Lesern gegenüber ein kleines Verdienst zu erwerben hoffen.
    D. Redact.