Die Gartenlaube (1863)/Heft 48

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Der Bracoon.

Ein Erlebniß in Louisiana.

Wenn man von Galveston nach New-Orleans fährt und sich dicht an der Küste Louisianas hält, so bemerkt man, ehe man sich der Hauptmündung des Misissippi nähert, in der dichten Waldung, welche sich am niedrigen Ufer gleichsam wie eine Mauer hinzieht, einen hellen Einschnitt, der durch den Ausfluß eines Sees oder Bayous bedingt zu sein scheint. Diese Lücke in dem Röhricht führt zur Baratariabai, welche im Anfang dieses Jahrhunderts als der Schlupfwinkel einer gefährlichen Piraten-Bande bekannt war, des letzten Restes jener blutigen Buccaniers, die in frühern Zeiten die westindischen Inseln und die Städte des Continents verwüsteten. Hier hauste der berühmte oder berüchtigte Lafitte, den Lord Byron in seinem „Corsar“ zum Modell nahm und dessen mächtige Hülfe General Jackson in der Schlacht von New-Orleans nicht verschmähte. Was späterhin aus dem Seeräuber, den eine Tugend bei tausend Fehlern zierte, wie der Dichter sagt, geworden ist, wissen wir nicht, ebenso wenig, ob es wahr ist, daß sein Adjutant und Gefährte späterhin in England als anglicanischer Bischof und gelehrter Theolog zu Cambridge glänzte – gerechter Gott, denken wir uns auf einem Lehrstuhle der Gottesgelahrtheit in Halle oder Göttingen einen frühern Corsaren als Diplomaten des Himmels, wie entsetzlich!

Soviel ist gewiß, daß in den funfziger Jahren ein Herr Eugen Lafitte, der Abkömmling des westindischen Wikingers, die beste Pflanzung an der Baratariabai besaß und wegen seines Reichthums, trotz seines finstern, mürrischen Charakters, eines großen Ansehens bei seinen Nachbarn genoß. Von dem Edelmuthe seines Vorfahren, welcher einst einem verrätherischen Freunde, der den auf den Kopf des Piraten gesetzten Preis verdienen wollte, das Leben geschenkt und denselben noch dazu mit Wohlthaten überhäuft hatte, war bei Eugen Lafitte keine Spur zu finden, und in dem ganzen Bezirke gab es keinen Herrn, der seine Sclaven so darben ließ und so ausbeutete, wie gerade er. In dem armen, hülflosen Neger sah er ganz im Gegensatz zu den sonst humaneren Ansichten der Creolen nur eine Arbeitsmaschine, die man so ausnutzen müsse, wie es eben geht, um sie dann wie eine ausgequetschte Citrone wegzuwerfen. Familienbande unter seinen zahlreichen Sclaven erkannte er nicht an, und nie fiel es ihm ein, die geringste Rücksicht darauf zu nehmen, wenn es sich um einen vortheilhaften An- oder Verkauf schwarzer Arbeiter handelte. Daß er unter diesen Umständen nur solche Aufseher wählte, die ganz nach seinen unmenschlichen Ideen handelten und verfuhren, läßt sich leicht erwarten, und daß die Gesetze, welche im Staate Louisiana zum Schutz der Sclaven gegeben sind, einem solchen reichen und einflußreichen Pflanzer gegenüber sich nur als todte Buchstaben erwiesen, ist ebenso begreiflich.

Die Gegend rings um die Baratariabai zeigt eine reiche Vegetation und bietet eine wundervolle Abwechselung von Wald, Wasser, Prairie und mit breitblättrigen Sumpfpflanzen bedeckten Swamps. Weiter im Innern erhebt sich eine Kette niedriger Hügel, aus welchen sich ein von hohen Sycomoren und Cedern beschatteter Bach, der schwarze Creek, in den schmalen Seearm ergießt, welcher früher der Piratenflotille als Versteck diente. An diesem Bache erhob sich das zweistöckige, mit Veranden versehene Haus des Herrn Lafitte, vor dessen nach Süden schauender Fronte ein großer, im schönsten Blumenschmuck prangenden Garten sich erstreckte, der mit einer grün angestrichenen Drahtfenze eingefaßt war. Am äußersten Zipfel desselben lag, in einem dichten Gebüsch von Orangenbäumen, Magnolien und Bignonien versteckt, ein mäßig großer Weiher, welcher vom schwarzen Creek aus durch einen breiten Graben gespeist wurde. Da, wo dieser in den Teich mündete, war wie eine Art Schleuße ein dichtes und starkes eisernes Gitter angebracht, um den ekelhaften und gefährlichen Thieren, welche in Louisiana alle Gewässer bevölkern, den Zugang zum Weiher abzusperren. Gewiß gab es auf der ganzen weiten Plantage keinen schattigern und kühlern Ort, als dieses duftende Wäldchen am stillen Wasser, und selbst der Pflanzer, der sonst für Naturschönheiten wenig empfänglich war, brachte hier manche heiße Mittagsstunde zu, indem er auf seiner zwischen den Bäumen aufgeschlagenen Hängematte die Zeitungen las oder bei dem blauen Dampfe der Havannacigarre über die Preise des Zuckers und der Baumwolle nachdachte.

Dicht am Garten, zu beiden Seiten des Creeks, dehnten sich Tabaksfelder fast eine Viertelstunde weit gen Süden aus, bis dahin, wo das Terrain steil abfiel und eine breite mit dem Bache in Verbindung stehende Süßwasserlagune der Bodencultur unübersteigliche Schranken setzte. Zu gewissen Zeiten des Jahres bedeckten diesen Sumpf weißblühende Nymphäen mit ihren fetten, großen herzförmigen Blättern, und dicht aneinander schwimmende Nelumbiumarten erschienen mit ihren weiten grünen Verzweigungen gleichsam wie ein Teppich, so daß ein argloser, der Gegend unkundiger Wanderer wohl in Versuchung gerathen wäre, darüber wegzuschreiten, ohne das Verderben zu ahnen, das drunten in der Tiefe zwischen den scharfen Gebissen gieriger Alligatoren lauerte. Massen dieser gefräßigen Bestien hielten sich in der schwarzbraunen Lagune auf, um den Fischen nachzustellen, welche aus dem Creek bei hohem Wasser hereingeschwemmt wurden, und wenn ein Hund oder ein anderes Hausthier auf dem schmalen Fahrwege, der zwischen der Tabaksplantage und dem Sumpfe hart am Rande des letzteren hinlief, seine Stimme ertönen ließ, so wurde die ganze Lagune lebendig, und unter dem Schutze der grünen Pflanzendecke schossen Dutzende der gepanzerten [754] Ungethüme dem Ufer zu. Man hatte schon öfter den Versuch gemacht, die gefräßigen Thiere aus der Nachbarschaft zu vertreiben, weil ihnen doch hin und wieder ein Schwein, das seine Jungen tränken wollte, zum Opfer fiel, allein es war ihnen in ihren Schlupfwinkeln schwer beizukommen, da sie eine Büchsenkugel nicht sehr achten und sich nur selten auf das Land wagen. Zwar hatte ein unternehmender Yankee Herrn Lafitte den Vorschlag gemacht, er wolle sie mit Strychnin vergiften, und dann könne man aus den kolossalen Leichen eine Menge Stearin gewinnen; der argwöhnische Südländer aber, der die Neu-Engländer aus dem Grunde seines Herzens haßte, ging auf den seltsamen Vorschlag nicht ein und war schon zufrieden, wenn einer seiner Aufseher zuweilen eine solche Bestie durch einen Kernschuß in das Auge tödtete.

Der Pflanzer war seit langen Jahren Wittwer, und viele seiner nähern Bekannten, denn eigentliche Freunde hatte er nicht, waren der Meinung, daß die Härte seines Charakters erst nach dem Verluste seiner Frau, welche er wirklich geliebt habe, in ihrer ganzen Schroffheit hervorgetreten sei. Die Verstorbene, eine Französin von Geburt, die er als junger Mann bei einem flüchtigen Besuche in Paris hatte kennen lernen, war nach einem zweijährigen Aufenthalt in Louisiana dem gelben Fieber erlegen, zur großen Trauer ihrer Sclaven, deren Loos sie mit zarter Weiblichkeit und durch die größte Nachsicht zu mildern suchte, da ihren europäischen Anschauungen das ganze System widerstrebte. Die einzige Frucht dieser kurzen Ehe war eine vielversprechende Tochter, Blanche getauft, welche der Vater, als sie ein Alter von acht Jahren erreicht hatte, nach St. Louis brachte, um ihr dort in dem Institute der grauen Schwestern eine standesgemäße Erziehung geben zu lassen. In diesem Kinde concentrirte sich seine ganze Liebe, und wenn er durch die unmenschliche Abnutzung seiner Neger Reichthümer auf Reichthümer häufte, so geschah das, wie er sagte, um dereinst Blanche zu der begehrtesten Erbin des Staates zu machen.

Die junge Creolin hatte endlich ihr vierzehntes Jahr vollendet, ein Alter, in dem diese frühreifen Töchter südlicher Breiten in die Welt zu treten pflegen, und ihr Vater glaubte nun die Zeit gekommen, wo sie ihm durch ihre Gegenwart sein einsames, abgeschlossenes Leben erheitern könne. Ehe er nach St. Louis abreiste, um Blanche zu holen, wurde das ganze Haus einer vollständigen Restauration unterworfen und mit jedem möglichen Luxus ausgestattet, um die junge Herrin würdig zu empfangen.

Es war an einem schönen Sommerabend, als sich sämmtliche Sclaven der Pflanzung vor der Veranda versammelt hatten, um Herrn Lafitte und dessen Begleiterin, deren Heimkehr stündlich erwartet wurde, ihren Respect zu bezeigen. Man hatte ihnen zu diesem Zwecke einen halben Feiertag zugestanden, und sie hatten diesen benutzt, um sich vom Schweiß der Woche zu reinigen und sich so gut wie möglich herauszuputzen. Die armen Schwarzen wollten auf ihre junge Herrin einen guten Eindruck machen, weil sie instinctmäßig hofften, dieselbe würde, gleich ihrer seligen Mutter, durch ihre Fürsprache dazu beitragen, daß Nachsicht gegen die Alten und Schwachen geübt werde. Selbst die greise Urrica, deren Alter man auf hundert Jahre schätzte, hatte ihre im Palmettodickicht des nächsten Hügels gelegene Hütte verlassen, um die Enkelin des berühmten Piraten, der sie geeignet hatte, zu begrüßen. Ihr jetziger Herr, der sonst dem Grundsatze huldigte, die durch Abnutzung unbrauchbar gewordenen Sclaven zu jedem Preise zu verkaufen und durch neue Kräfte zu ersetzen, hatte bei ihr eine Ausnahme gemacht und ihr das Gnadenbrod geschenkt, anscheinend aus Pietät gegen seinen Vorfahren, aber in Wirklichkeit aus andern Gründen. So sehr auch der Pflanzer den Nationalisten spielte und sich öffentlich als einen Anhänger Thomas Payne’s und Voltaire’s gerirte, so war er doch, wie alle Creolen, heimlich im ernstesten Aberglauben befangen, und die alte Urrica imponirte ihm, weil man ihr allerlei böse Künste zutraute und die ganze Nachbarschaft der Meinung war, daß sie mit dem „bösen Auge“ viel Schaden und Unheil anrichten könne, wenn sie gereizt werde. Ihre ganze Nachkommenschaft war auf der Plantage unter ihren Augen verdorben und gestorben, ohne daß sie eine Thräne nachgeweint hatte, nur ein einziger Enkel blieb ihr noch übrig, ein starker, intelligenter Neger. Namens Schocko, dem sie mit aufrichtiger Liebe anhing. Dieser war verheirathet, wenn überhaupt von Sclavenehen die Rede sein kann, und Vater von zwei hübschen schwarzen Buben, die sich lustig mit den jungen Hunden und Schweinen zwischen den Negerhütten herumzutummeln pflegten, da sie zu jung waren, um zur Arbeit angehalten zu werden.

Endlich fuhr der Wagen vor, der Herrn Lafitte und seine Tochter von dem Landungsplatze des Dampfbootes geholt hatte, und die versammelten Sclaven empfingen die Ankommenden mit einem lauten Hurrah, während die beiden Aufseher in ihrem Sonntagsstaate den Schlag öffneten und bei dem Aussteigen behülflich waren. Des Pflanzers Miene war düster und herrisch wie immer, und nachdem er flüchtig mit der Hand gegrüßt und Blanche in das Haus geleitet hatte, trat er wieder auf die Veranda und fing heftig an zu schelten: „Ihr faulen schwarzen Schlingel, wartet nur, Ihr habt wohl die Peitsche eben nicht geschmeckt, während ich abwesend war. Schon unterwegs habe ich gesehen, wie liederlich Ihr gearbeitet habt. Ist das eine Wirthschaft, so viel Unkraut unter dem Zuckerrohr zu dulden, und die Baumwolle fault in ihren Kapseln!“ Als nun die beiden Aufseher sich rechtfertigen wollten und die Erklärung gaben, daß sie nicht schuld wären, daß aber die Neger die ganze Zeit über widerspenstig und träge gewesen seien und daß sie Schocko – den sie wegen seines männlichen Charakters am wenigsten leiden mochten – für den Anstifter hielten, kannte die Wuth des Pflanzers keine Grenze mehr. Er riß die schwere Wagenpeitsche aus ihrem Futteral und schlug den armen Neger einige Mal über das Gesicht, daß dicke Blutstropfen hervorquollen, und wäre mit der Züchtigung fortgefahren, wenn nicht Blanche, welche an das Fenster getreten war, ihn mit Thränen in den Augen gebeten hätte, seinem Zorn Einhalt zu thun und zu ihr hereinzukommen. Die Neger schlichen betrübt nach ihren Hütten zurück, und Schocko schwankte mit geschwollenen und geblendeten Augen an der Seite seiner Großmutter nach dem benachbarten Bache, um sein brennendes Gesicht im Wasser zu kühlen, während die beiden Aufseher von ihrem Brodherrn zu größerer Strenge ermahnt wurden.

Das Leben auf der Pflanzung nahm nun freilich nach Blanche’s Ankunft einen anderen Charakter an, aber das Loos der Sclaven wurde darum nicht besser, da Lafitte, der sonst seiner Tochter in Allem zu Willen war, ihr ein für alle Mal erklärte, von diesen Verhältnissen verstände sie nichts, und sie möchte ihr Mitleid für ihre weißen Mitmenschen sparen. Trotz aller Vergnügungen, welche der Vater ihr zu bereiten suchte, trotz der zahlreichen Besuche, welche die benachbarte Gentry im Hause des Pflanzers machte, um der schönen und jungen Erbin ihre Achtung zu bezeigen, fühlte sie sich einsam und unglücklich und hatte eine Art Vorgefühl, als wenn sie etwas Schreckliches erleben würde. Der rohe, geldgierige Pflanzer hatte freilich keine Idee davon, daß es auch außer Reichthum und Luxus noch etwas Anderes giebt, wodurch unsere Zufriedenheit bedingt wird, und so ließ er es sich nicht einfallen, daß Blanche, der er jedes pecuniäre Opfer brachte, durch die Scenen der Grausamkeit, welche sie täglich zu sehen bekam, in ihrem innersten Gemüthsleben erschüttert wurde. So liebevoll und nachsichtig er sonst auch gegen seine Tochter war, eben so ausfallend und rauh benahm er sich gegen sie, wenn sie sich unterfing, ein Wort zu Gunsten der mißhandelten Sclaven zu sprechen, und so kam es denn, daß sie zuletzt ganz schwieg. Dieses Stillschweigen wurde aber von den Negern, welche sich von ihrer Anwesenheit auf der Pflanzung so viel versprochen hatten, als eine stumme Billigung der Härte ihres Vaters ausgelegt und sollte furchtbare Folgen nach sich ziehen.

Eines Tages erschien Daly, einer der beiden Aufseher, auf der Veranda, wo Lafitte gerade Gäste empfing, und meldete, daß bei der Baumwollenpresse so eben ein Maulthier, das nicht recht angespuannt gewesen sei, das Bein gebrochen habe. Wüthend fragte der Pflanzer nach dem Namen des Schuldigen, und als er hörte, daß es Schocko sei, befahl er, ihn auf das Grausamste zu geißeln. Dem Unglücklichen wurden beide Daumen mit einem dünnen Strick zusammengebunden, und dieser dann über einen etwa acht Fuß hoch in einen Baum eingeschlagenen Nagel so fest angezogen, daß nur die Zehen des Negers den Boden berührten. In dieser qualvollen Stellung erhielt derselbe auf den bloßen Rücken mit der schweren Peitsche so lange die unbarmherzigsten Hiebe, bis das Leben fast erloschen schien und der Rasen um seine Füße förmlich mit Blut getränkt war. Dann wurde er losgebunden und bewußtlos in die Calebuse (Negergefängniß) geschleppt, wo er acht Tage lang bei Wasser und Brod zubringen sollte, bis seine Wunden wieder geheilt seien. Wäre dieses doch sein härtestes Loos gewesen! Vielleicht hätte Schocko bei seinem angeborenen Stoicismus die [755] ungerechte Strafe verschmerzt, aber es sollte noch anders kommen und der unglückliche Neger eine weitere Erfahrung machen, die seine Begriffe von Recht und Unrecht vollständig verwirrte und ihm den Rachedurst des Tigers einflößte, dem man seine Jungen geraubt.

Es traf sich nämlich, daß ein Sclavenhändler aus Georgia in die Gegend kam, um seinen Vorrath von schwarzer Waare zu vervollständigen, da er den Auftrag hatte, eine neuangelegte Baumwollenpflanzung bei Savannah mit Negern zu versehen. Dieser sprach bei Lafitte vor, weil er schon öfter mit ihm Geschäfte gemacht und der Pflanzer, der durch die Aufhetzereien der Aufseher einen immer größeren Zorn gegen Schocko gefaßt hatte, kam auf den unmenschlichen Gedanken, Dinah, dessen Frau, und die beiden Kinder an den Georgier zu verkaufen. „Was wird der verdammte Nigger für ein Gesicht schneiden,“ dachte er mit teuflischer Lust, „wenn er, sobald er aus der Calebuse kommt, erfährt, daß sein schwarzes Weib mit den beiden Piccaninnys (kleine Negerkinder) über alle Berge ist!“ Der Handel wurde geschlossen, und die unglückliche Frau konnte nicht einmal die Erlaubniß erhalten, ihren Mann noch zum Abschied im Gefängniß zu sehen.

Wer konnte wohl die Gefühle malen, welche Schocko’s Brust durchtobten, als er mit kaum vernarbtem Rücken und schwerem Herzen den Kerker verließ und nun die Entdeckung machen mußte, daß seine Familie ihm für immer entrissen war! Doch der kategorische Befehl des Pflanzers und die drohende Peitsche seines Feindes Daly ließ ihm keine Zeit, seinen Empfindungen durch Klagen und Weinen Luft zu machen. Sofort mußte er wieder an die Baumwollenpresse. Dort suchte er von seinen Mitsclaven zu erfahren, nach welchem Orte Dinah mit den Kindern gebracht sei, da er sich im Geiste bereits mit Plänen zur Flucht beschäftigte, allein jene konnten ihm nichts weiter mittheilen, als daß der Händler weit, weit mit ihnen über den großen Fluß – sie meinten den Mississippi – gezogen sei. Seinen Herrn und die Aufseher wagte er aus leicht begreiflichen Gründen nicht zu befragen, und so kehrte er am späten Abend traurig und niedergedrückt zu seiner Hütte zurück, um sich schlaflos aus seinem Lager herumzuwälzen. Plötzlich richtete er sich auf und, nachdem er gehorcht hatte, ob im Negerdorfe auch Alles ruhig sei, schlich er wie ein Schatten durch die Nacht.

Am Fuße einer dicht bewachsenen Anhöhe, welche von der Hügelkette, die die Baratariatabai[WS 1] halbmondförmig umgiebt, in die Ebene nach der Lagune und dem Bayou zu ausläuft, lag unter Palmettobäumen versteckt die Hütte der alten Urrica. Die Greisin, auf deren schneeweißem wolligem Haar die blaue Flamme des Ricinusholzes unheimliche Reflexe hervorrief, saß auf einem rohen Holzblock und stierte, finstere Flüche, wie sie dieselben vor achtzig Jahren an den Ufern des Congoflusses gehört hatte, zwischen ihren welken Lippen murmelnd, in das prasselnde Feuer. Da hob sich langsam der Binsenvorhang, welcher die Stelle der Thür vertrat, und die massive Figur Schocko’s tauchte aus der Finsterniß hervor. Stumm trat er ein und kauerte, die Ellenbogen auf die Kniee gestützt, neben Urrica nieder.

„Mein Kind,“ sagte die Alte, „ich wußte, daß Du kommen würdest, denn der Whip-poor-will hat sieben Mal gerufen. Massa hat Dir Weib und Kind geraubt, und Du willst wissen, wo sie hingekommen sind. Der Fetisch kann’s nicht sagen; er ist kein Bluthund, daß er Dinah’s Spur über den großen Fluß folgen könnte.“

„Ich weiß das, Mutter Urrica,“ antwortete Schocko, „aber er soll mir sagen, wie ich den weißen Bösewicht am besten strafen kann.“

„Ja, mein Kind, ich habe auch schon daran gedacht,“ versetzte die Alte, „aber Du mußt mir versprechen, genau zu thun, was der Fetisch mir sagt. Siehe, was Massa Dir gethan hat, hat er auch mir gethan, denn Du bist von meinem Blute. Die alte Urrica hat ihre Kinder und Enkel unter der Sclavenpeitsche hier verderben und verkommen sehen, ohne eine Thräne zu weinen; nun kommt die Reihe an Dich, aber Massa soll sich vorsehen, daß sein eigenes Blut nicht für alles Elend zu zahlen hat. Geh’ mit, und laß uns den Fetisch fragen.“

Sie erhob sich und schritt mit einem an ihrem Feuer entzündeten Ricinuszweige Schocko voraus in das Palmettodickicht hinein. Hier blieb sie vor einem hohlen Baume stehen, schwang ihre Fackel mit rasender Schnelle über ihrem Kopfe im Kreise herum und murmelte unverständliche Worte.

War es nun bloßer Zufall, oder kannte die alte Schwarze das Versteck der Schlange, genug während dem hatte eine Natter den Kopf aus einer Spalte des morschen Baumes gesteckt und züngelte nach der Alten.

„Sei ruhig, Schocko, fürchte nichts für mich,“ sagte Urrica leise zu dem erschrockenen Enkel, „der Fetisch thut mir nichts. Er will mir nur Kunde bringen.“

„Was hat der Fetisch gesagt, Großmutter?“ fragte der abergläubische Neger, indem er die Fackel auf dem feuchten Grunde auszulöschen bemüht war.

„Er schickt Dich zu seinen Vettern in der Lagune. Die werden Dir beistehen. Doch komm mit zur Hütte, es friert mich; dort will ich Dir Alles erzählen,“ war die Antwort.

Am nächsten Morgen sah man die alte Urrica auf ihren Stock gelehnt nach dem Herrenhause schleichen. Sie machte sich dort in dem Hofraume etwas zu schaffen, indem sie das Geflügel fütterte und den Negerinnen in der Küche kleine Dienstleistungen erwies. Als wie gewöhnlich um diese Zeit Fiddy, das braune Kammermädchen Blanche’s, erschien, um das Frühstück für ihre Herrin zu holen, knüpfte die Alte ein Gespräch mit derselben an und erkundigte sich angelegentlich nach dem Befinden des Herrn Lafitte und dessen Tochter. Die geschwätzige Mulattin erzählte ihr nun auf ihre Fragen, daß Miß Blanche schon seit längerer Zeit leidend sei und daß man deshalb einen berühmten Arzt aus New-Orleans habe kommen lassen, dieser habe aber erklärt, die junge Herrin sei eigentlich nicht krank, sondern nur nervenschwach, er habe auch aus diesem Grunde keine Medicin verschrieben und nur gerathen, daß Miß Blanche jeden Tag ein kaltes Bad nehmen solle. Die Herrin gehe nun jeden Morgen bei Tages Anbruch nach dem Weiher im Garten, um dort zu baden und dann ein Stündchen im Schatten der Bäume auszuruhen. Aus diesem Grunde sei es auch, sie selbst ausgenommen, allen übrigen Sclaven bei strenger Strafe verboten, diesen Theil des Parkes zu betreten.

Die alte Urrica hörte diese Aeußerungen mit einem widrigen Grinsen an und machte sich dann langsam auf ihren Heimweg. Im Negerdorf, welches, weil die Sclaven auf der Arbeit waren, wie ausgestorben dalag, blieb sie stehen und schaute sich um, ob sie auch beobachtet werde. Da sie sah, daß außer den gewöhnlichen Gruppen von Hausthieren nur ein paar ganz kleine Piccaninnys in der Morgensonne spielten, lockte sie einen jungen Hund, der sie zufällig anbellte, an sich heran, ergriff ihn mit einer für ihr hohes Alter unbegreiflichen Schnelligkeit und Kraft, hielt ihm das Maul zu und verbarg denselben gewandt unter ihrem Tuche. Darauf schritt sie langsam und ruhig ihrer Hütte in dem Palmettodickicht zu.

Die Glocke auf dem Herrenhause hatte eben Mitternacht angezeigt, und außer dem melodischen Rufe des Whip-poor-will und dem entfernten, wie gedämpfter Trommelschlag klingenden Geschrei der amerikanischen Rohrdommel war kein Laut zu hören. Der Mond stand rein und klar am Himmel und ließ sein blaues Licht auf den von keiner Brise getrübten Spiegel der Lagune fallen, die wie eine geschmolzene Bleimasse dalag, und kein Hauch der Luft bewegte die phantastischen Guirlanden des spanischen Mooses, welches wie ein weißer Schleier die dunkeln Zweige der hohen Sycomoren und Sumpfeichen überzog. Die ganze Natur athmete jenen Frieden, wie er nur den zauberischen Nächten des Südens eigen ist, den der Mensch aber so gerne bricht, wenn wilde Leidenschaften ihn anstacheln. Da, wo der schwarze Creek seine dunkeln Gewässer mit der Lagune vereinigte und das schilfige Ufer sich flach abdachte, stand Schocko im Schatten eines Baumes. Unter dem linken Arme trug er den jungen Hund fest verwahrt, und sein rechter war mit einer starken eisernen Stange bewaffnet. Er ließ einen langen, klagenden Ruf über das Wasser hin erschallen, dann in kurzen Pausen einen zweiten und dritten, worauf er horchte und seine dunkeln Augen über die spiegelblanke Fläche schweifen ließ. „Hier muß er liegen, der Bracoon,“[1] sagte er im Selbstgespräch, „der Fetisch lügt nicht, er weiß, wo sein Vetter wohnt. Habe ich doch gestern noch seinen moosbedeckten Rücken gesehen, als er in den Creek schlüpfen wollte.“ Schocko hatte sich nicht geirrt, denn das Wasser unter ihm kräuselte sich, Luftblasen stiegen auf, und bald kam Etwas an die Oberfläche, das einem formlosen dunkeln Baumstamme glich. Als nun das Hündchen unruhig ward und ein leises Wimmern ausstieß, nahte sich, wie von unsichtbaren Händen geschoben, der Baumstumm dem Ufer, und einen Augenblick nachher schoben sich die massiven Kiefer eines riesigen Alligators auf den Strand. Jetzt wurde die ganze Lagune lebendig, phosphorescirende Streifen [756] zeigten die Stellen an, wo schuppige, gezahnte Schwänze das Wasser peitschten, und bald war ein Dutzend der Ungeheuer zu Schocko’s Füßen versammelt; doch hielten sie sich alle in respectvoller Entfernung von dem Bracoon, dessen überlegene Stärke und Wildheit sie kannten.

Schocko veränderte nun seinen Standpunkt, indem er längst des Ufers, auf das, wie er wußte, die Bestien sich dem Menschen gegenüber nicht wagen, nach der Stelle schritt, wo der Creek in die Lagune floß. Dort blieb er wieder stehen und entlockte dem unglücklichen Hunde, der wie Espenlaub zitterte, durch schmerzhafte Griffe die durchdringendsten Klagetöne, die fast gespenstig durch die stille Nacht hallten. Die Alligatoren konnten dieser Lockung nicht widerstehen und waren bald, den mächtigen Bracoon voran, da versammelt, wo des Negers schwarze Gestalt auf der niedrigen Landspitze ihre dunkeln Umrisse zeigte. Schocko ging jetzt langsam, alle zwei Schritte anhaltend und das arme Hündchen als Köder zeigend, stromaufwärts am linken Ufer des Baches. Jetzt wagten die übrigen Bestien sich nicht weiter, weil sie sich in dem engen Bette des Creeks nicht recht sicher fühlten, nur der Bracoon, der gefräßigste und größte von allen und sich seiner Stärke bewußt, wollte die Beute nicht fahren lassen. Bald kroch das Ungethüm, bald schwamm es dem Neger nach, je nachdem es die Tiefe des Wassers erlaubte, und richtete seine gierigen, wie Karfunkel glänzenden Augen fortwährend nach dem winselnden Hündchen, welches die eiserne Faust Schocko’s ihm vorhielt. Endlich gelangte dieser an den vorhin beschriebenen Graben, und auch in dessen Tiefe folgte die heißhungrige Bestie, mit aufgesperrten Kiefern ihr eigenthümliches heiseres Schnaufen ausstoßend, bis an das starke Gitter, welches den Zugang zum Teiche versperrte. Als Schocko mit sicherm Griffe dieses aufzog, schien der Alligator etwas über die ungewohnte Erscheinung betroffen zu sein und schwenkte seinen massiven Kopf rechts und links, als wenn er einen andern Ausweg suchte. So wie aber der unbarmherzige Neger den unglücklichen Hund mit lautem Geplätscher in den Weiher schleuderte, schoß der wilde Bracoon wie ein Pfeil vorwärts, weit in das stille Wasser hinein, und zermalmte mit eisernem Gebiß das grausam geopferte Thier, das kaum Zeit hatte, einen Schmerzensschrei auszustoßen. Teuflisch lachend schloß Schocko sofort das eiserne Gitter; er wußte, daß der Bracoon den Weiher nicht wieder verlassen konnte, und murmelte in sich hinein. „Des Fetisch Vetter wird heute ein gutes Frühstück haben. Massa, wir sind quitt!“

Die Sonne stieg eben am östlichen Himmel empor und warf ihre feurigen Strahlen über die im schönsten Sommerschmuck prangende Gegend. In dem kleinen Wäldchen des Gartens hingen glänzende, schwere Thautropfen an allen Zweigen, und die zierlichen Blüthen der Orangenbäume verbreiteten eine balsamische Atmosphäre, sobald sich ein Lufthauch regte. Da erschollen leichte Schritte, wie von zarten Mädchenfüßen, und näherten sich dem anmuthig daliegenden Weiher, auf dessen nur hin und wieder mit den schneeweißen Blüthen der Nymphäa bedeckter Oberfläche bunte Libellen ihr munteres Spiel trieben. Gleich darauf erschien Blanche in Begleitung Fiddy’s, ihres hübschen leicht aufgeschürzten Kammermädchens, und nahm auf der zu ihrer Bequemlichkeit angebrachten steinernen Bank Platz.

„Ach, liebe Fiddy,“ sagte sie, „ich habe heute eigentlich gar keine Lust zum Baden. Findest Du nicht, daß ich angegriffen aussehe?“

„Miß Lafitte hat bei der Hitze gewiß schlecht geschlafen,“ antwortete die junge Mulattin, „aber da wird das Baden gut thun und erfrischen.“

„Meinst Du?“ antwortete Blanche, „ich muß Dir nur sagen, daß ich kein Auge zuthun konnte, weil ich immer an die alte Urrica denken mußte. Als sie gestern Morgen im Hofe mit Dir sprach, saß ich am Fenster, und sie warf mir einen solchen Blick herauf, einen langen forschenden Blick, der mich wie der Biß einer Schlange traf. Sag, Fiddy, glaubst Du an das „böse Auge“?“

„Ei, die Leute sagen viel Sonderbares von der Alten; sie soll auch den Ort wissen, wo Ihr Großvater Lafitte eine Kiste mit Dublonen vergraben hat, als der Gouverneur von Louisiana seine Kanonenboote gegen ihn ausschickte. Aber das ist Alles nur eitles Geschwätz. Hat nicht neulich noch der Parishdecan in der Kirche gesagt, daß solcher Aberglaube unklug und unchristlich sei?“

Während dieses Gespräches hatte das treue und kluge Mulattenmädchen ihre Herrin entkleidet, und diese schickte sich an in das Bad zu steigen. Als Blanche einige Fuß vom Ufer bis an die Hüften im Wasser stand, zeigte sich weiter hinten im Weiher eine kleine, kaum bemerkbare Bewegung im Wasser, aber sie achtete nicht darauf und dachte, es sei vielleicht ein Terrapin (eine kleine Art Schildkröte), doch die Falkenaugen Fiddy’s hatten von ihrem höheren Standpunkte aus die entsetzliche Gefahr schon erkannt.

„Um Gottes willen zurück, Miß!“ schrie die Mulattin aus und rang die Hände. Da fiel ihr Blick wie durch des Himmels Fügung auf die starke, eiserne Stange, die Schocko bei seiner teuflischen Freude unvorsichtiger Weise am Rande des Teiches zurückgelassen hatte. Wie von plötzlicher Inspiration ergriffen, faßte das muthige Mädchen das schwere Eisen und war mit weitem Sprunge schon an der Seite seiner zitternden Herrin, ehe diese nur das drohende Verderben erkannt hatte. Leise, tückisch nach Katzenart, war der Bracoon auf dem Grunde des Weihers herangeschlichen, und schon waren die schwarzen Umrisse der gräulichen Eidechse auf dem weißen Sande sichtbar, schon bereitete sich die Bestie vor, vorwärts zu schießen und ihre fast besinnungslose Beute unten zu ergreifen, als der todesmuthige Sprung Fiddy’s und das dadurch verursachte laute Geräusch, wie auch das plötzliche Aufwallen des Wassers sie stutzen machten. Diesen Augenblick benutzte die Mulattin, da sie den eigentlich feigen Charakter des sich überfallen glaubenden Alligators kannte, ihre Herrin gegen das Ufer hin zurückzuschieben, und als der gierige Bracoon, der von seinem Erstaunen zurückgekommen war, einen zweiten Anlauf nahm, stieß das starke Mädchen ihm die massive eiserne Stange weit hinein in den rothen Rachen, so daß das wuthentbrannte Thier vor Schmerz mit dem riesigen Schwanze das Wasser zu Schaum schlug.

Fast hätte der heftige Anprall die Mulattin zu Boden geworfen, doch hielt sie sich mit der Kraft der Verzweiflung aufrecht, und die ohnmächtige Blanche mit dem linken Arme umfassend, suchte sie, fortwährend dem andrängenden Bracoon die Stange tiefer in den Schlund drückend, das Ufer zu gewinnen. Es gelang ihr, die schmächtige Gestalt ihrer Herrin auf das Trockene zu schieben, dann faßte sie das starke Eisen, an dem das scharfe Gebiß der Bestie krachend zerbrach, mit beiden Händen, drückte dem Alligator mit aller Kraft, welcher sie fähig war, die scharfe Spitze desselben so tief wie möglich in den blutigen Rachen und schwang sich mit der Gewandtheit einer Pantherkatze durch einen Satz auf das Ufer. Ihre besinnungslose Herrin zu ergreifen, dieselbe aus dem Bereich des Wassers zu ziehen und sie eine Strecke weit in den Garten zu tragen, war das Werk eines Augenblickes. Jetzt verließen Fiddy die Kräfte, und einen lauten Hülferuf ausstoßend, sank sie mit ihrer Bürde zu Boden, während der wuthentbrannte Bracoon, der endlich sich des Eisens entledigt hatte, an dem Rande des Weihers hin- und herschoß und nach seinen Opfern spähte, aber treu seiner Alligatornatur sich nicht auf festen Grund wagte.

Zehn Minuten später waren Fiddy und die noch immer ohnmächtige Blanche von den auf das Geschrei herbeigeeilten Sclaven sicher im Pflanzerhause untergebracht, und wer malt den Schrecken Lafitte’s, aber auch seine gleichzeitige Freude über der Tochter Rettung! Das Eis brach in seinem Herzen, und von Dankbarkeit durchdrungen schenkte er der muthigen Mulattin die Freiheit, welche diese nur unter der Bedingung annahm, daß sie zeitlebens bei ihrer jungen Herrin bleiben dürfe.

Jetzt galt es, den Bracoon zu tödten und die Art und Weise zu entdecken, wie dieser in den Weiher gelangt war. Nachdem Ersteres geschehen, wurden alle Sclaven der Pflanzung zusammengerufen, um einem Verhör unterworfen zu werden. Sie erschienen sämmtlich mit Ausnahme der alten Urrica und ihres Enkels. Der Umstand, daß Schocko den Tag vorher mit einer Eisenstange gesehen worden war, derselben, welche man am Grunde des Teiches verbogen und von dem mächtigen Gebiß des Alligators geschrammt gefunden hatte, verstärkte den dringenden Verdacht. Die beiden Aufseher holten nun die Bluthunde aus den Stallungen heraus und brachten sie, nachdem man ihnen einen alten Schuh des Negers zum Beriechen gegeben hatte, an den Teich. Dort angekommen, schlugen sie laut an, eilten an Graben und Bach hinauf bis zu der Stelle, wo Schocke zuerst den Bracoon gelockt hatte. Hier hielten sie an, als wenn sie die Spur verloren hätten, dann drehten sie um und liefen bis zum ersten Ausgangspunkte zurück, den sie in weiten Kreisen, die Nase dicht auf der Erde, umtrabten. Da schlug der größte scharf an und setzte sich, von der ganzen Meute gefolgt, von Neuem in Bewegung. Dieses Mal ging es in nördlicher [757]

Carl Rokitansky.



Richtung direct auf das Palmettowäldchen zu, wo Urrica’s Hütte stand, vor welcher die ganze Schaar heulend und bellend anhielt. Als die Verfolger eintraten, fanden sie die Alte todt mit unförmlich aufgeschwollenem Körper liegen, in der warmen Asche des Heerdes begrüßte sie aber eine mächtige Klapperschlange mit drohendem Rasseln. Das giftige Reptil wurde sofort getödtet und der Eifer der Bluthunde durch Zurufen angespornt. Vergebens, sie wollten nicht weiter und waren nicht dahin zu bringen, die Hütte zu umkreisen. „Der Nigger steckt doch nicht hier!“ rief Daly. „Doch was ist das?“ fuhr er fort, als er ein zerbrochenes Glas vom Boden nahm; „wahrhaftig, da haben wir’s, der Bursche hat sich die Sohlen mit Terpentin eingeschmiert!“

Man setzte die Verfolgung Schocko’s ohne Hunde fort, aber vergebens. Erst nach einigen Monaten erfuhr man, daß der Enkel Urrica’s, unfern einer neuen Pflanzung bei Savannah wegen Raubs gehängt worden sei. Vor seiner Hinrichtung hatte er den Anschlag bekannt, den er nach dem Orakelspruche Urrica’s gegen Blanche auszuführen versucht hatte. Herr Lafitte soll seit jenem furchtbaren Vorfall aber ein ganz anderer Mann geworden sein und seine Sclaven jetzt menschlich behandeln.

Wo viel Licht ist, da ist viel Schatten. Ebenso verhält es sich mit dem Charakter des Negers. Um diese Behauptung dem deutschen Leser besser verständlich zu machen, hat der Verfasser eine wahre Begebenheit erzählt, bei welcher diese beiden Extreme deutlich hervortreten: der rachgierige Schocko vertritt die wilde Natur der afrikanischen Race, die hochherzige Mulattin aber zeigt die bessern Eigenschaften derselben in vollem Lichte.




[758]
Eine Stätte, von wo Licht ausging.
Von Prof. Richter in Dresden.
Mit Rokitansky’s Portrait.
(Schluß.)


Es war ein Ereigniß, den Mann, welchen man bisher nur als einen tüchtigen Fachmann, aber trocknen Anatomen geschätzt hatte, in so tief gedachter und innig gefühlter Weise über die höchsten wissenschaftlichen und sittlichen Aufgaben des ärztlichen Standes und die ihm eigenthümliche Form der Religiosität sich aussprechen zu hören. Namentlich in Oesterreich machte es einen freudigen Eindruck, vor Allem im ärztlichen Stand selbst und unter den Hunderten von Rokitansky’s eigenen Zöglingen. Die damaligen Journale geben davon zahlreiche Beweise, und die kurz darauf erfolgte Beförderung Rokitansky’s mußte deshalb um so mehr Befriedigung erregen.

Hieran schloß sich bald nachher ein zweiter Erfolg. Längst genügte das kleine Local, in welchem der Meister seine berühmten Forschungen gemacht, nicht mehr den billigsten Ansprüchen und dem Andrang einheimischer wie fremder Lernbegieriger aus allen Erdtheilen. Dasselbe stand in grellem Contrast gegen den Glanz und die reiche Ausstattung der anderen Wiener Anstalten. Schon in den Jahren 1849 und 1850 hatte daher Rokitansky in Gemeinschaft mit Professor Dr. Skoda und dem neuen Krankenhaus-Director Regierungsrath Dr. Helm[2] einen Neubau des pathologisch-anatomischen Locals beantragt und spezielle Pläne nebst Kostenanschlägen eingereicht. Aber dazumal war ihre Sache noch mißliebig. „Die neue Medizin,“ sagt Helm in der Einleitung zu der weiter unten zu erwähnenden Festrede, „trat mit der alten Medicin und ihren Vertretern zu sehr in Gegensatz, als daß ihr daraus nicht Hindernisse aller Art erwachsen wären; aber sie schienen nach und nach beglichen. Da gab sich mit einem Male ein Bedenken über sie in den höchsten Kreisen kund; der Herr Minister selbst war dieser Richtung nicht freundlich gewogen, und der Bau des Hauses wurde vertagt.“ Aber es sollte nicht immer so bleiben. „Der Minister Bach sah ein, daß er Unrecht gethan, und beeilte sich es öffentlich in jedermann wahrnehmbarer Weise wieder gut zu machen.“ Er rief 1856 Vertreter der neuen Richtung um sich und bildete eine Commission für den Bau einer neuen pathologisch-anatomischen Anstalt, mit dem wörtlichen Bemerken: „Die Angelegenheit unmittelbar an ihn selbst zu leiten, damit sie nicht in den Büreaux verschleppt werde.“ (Helm.) So kam der Plan zu Stande; der Bau ward im November 1858 begonnen und binnen Jahresfrist, trotz des ausgebrochenen italienischen Krieges, am 31. Octbr. 1859 schon vollendet. Die Seele des Baues war begreiflich unser Rokitansky.

Dies stattliche Gebäude, dessen Außenseite unser zweiter Holzschnitt in voriger Nummer zeigte, ist zuvörderst dazu bestimmt, die (wissenschaftlich-)pathologischen und die (behördlich-)legalen Leichenöffnungen auszuführen und zum Besten der Wissenschaft wie des öffentlichen Gesundheitswesens auszubeuten. Es befinden sich daher in demselben, außer den zur Aufbewahrung, späteren Einsargung, beziehentlich Ausschmückung und feierlichen Fortschaffung der Leichen bestimmten Räumen, Localitäten für die Vornahme gesundheitspolizeilicher und landesgerichtlicher Sectionen, für die diensthabenden Sanitäts- und Gerichtsärzte, für die zum Belehrungszweck vor zahlreichen Zuhörerkreisen vorzunehmenden Leichenöffnungen; ferner Arbeitslocale für die Professoren der pathologischen Anatomie, der gerichtlichen Medicin und für alle klinischen Lehrer (innere, chirurgische, augenärztliche, geburtshülfliche Abtheilungen); sodann ein vollständiges Institut zum Betrieb und Unterricht der pathologischen Chemie und Mikroskopie; endlich große helle Säle zur Aufstellung der seltneren pathologischen Präparate (eine kostbare Sammlung, bisher, wie Rokitansky selbst sagt, auf eine troglodytische Unterkunft angewiesen). Ueberall sind Raum und Mittel geboten, auch für Jünger der Wissenschaft, welche sich der Lösung einer Aufgabe aus den Gebieten der pathologischen Anatomie oder Chemie widmen oder Versuche im Gebiet der Krankheitslehre anstellen wollen. Das neue Institut ist nun eine Musteranstalt geworden, wie keine zweite für dieses Fach in der Welt besteht, würdig der großen Kaiserstadt, würdig des kolossalen Joseph’schen Krankenhauses, würdig vor Allem des Meisters, der es gründete und durch seinen wissenschaftlichen Ruf zum unentbehrlichen Bedürfniß machte.

Charakteristisch ist die Inschrift, welche Rokitansky über dem Haupteingang anbringen ließ. Sie bezeichnet ganz das bescheidene Wesen dieses seltenen Mannes, denn sie bezweckt nichts Anderes, als das ganze Verdienst, das wir ihm zuschreiben, auf einen Anderen abzulenken. Sie lautet:

indagandis sedibus et causis morborum.

Das heißt: „zu Erforschung des Sitzes und der Ursachen der Krankheiten.“ Nun muß man aber wissen, daß vor 100 Jahren ein Mann lebte, welcher ebenfalls nach langjährigen Leichenzergliederungen in seinem 80. Jahre ein Werk veröffentlichte, das die wichtigsten Befunde enthält und in der That zuerst die pathologische Anatomie als Wissenschaft möglich machte. Dieser Mann war der Italiener Morgagni, Professor zu Padua, und sein Werk führt den Titel: „de sedibus et causis morborum per anatomen indagatis.“ Die Rokitansky’sche Inschrift soll bedeuten (wie auch seine Eröffnungsrede darthut): „nicht mir, sondern Morgagni gebührt die Ehre“. Es wird wenig Gelehrte geben, welche in dem Augenblicke, wo sie das Ziel ihres langjährigen Strebens erreichen, einer solchen Selbstverleugnung fähig sein würden.

Nachdem die mannigfachen inneren Einrichtungen noch geraume Zeit beansprucht hatten, erfolgte am 24. Mai 1862 die feierliche Eröffnung dieser neuen Anstalt. Rokitansky selbst hielt die Festrede. Es war seine zweite öffentliche, d. h. für ein aus Laien und Aerzten gemischtes Publicum bestimmte Rede. Sie erregte in noch höherem Grad als die obengenannte im ganzen Kaiserreich eine allgemeine Sensation und die freudigste Zustimmung, sowohl ihres Inhaltes als ihrer Tendenz wegen[3]. Denn sie sagte gerade heraus, daß der Bau und die Anlage des Gebäudes und die Tendenz des Institutes, wie der ganzen neuen Medicin, auf der Freiheit der wissenschaftlichen Forschung fußen und eine weite Zukunft unaufhörlicher Forschungen im Auge haben. Sie beginnt und schließt mit dem Motto aus Steffens: „wo der Gelehrte ein Knecht ist, kann Keiner frei sein.“ Wir gestatten uns, auch aus diesem Vortrag einige der treffendsten Stellen herauszuheben.

„Vor Allem möge mir erlaubt sein,“ sagt Rokitansky am Anfang, „ein Blatt erlebter Geschichte aufzuschlagen, um bei feierlicher Gelegenheit mit den Genossen, welche sie versammelt hat, in der Erinnerung an Jugend und ungeschwächte Manneskraft zu erwarmen. Es ist, als hätte zu jener Zeit an dieser Stelle (nämlich im Leichenhof des allgemeinen Krankenhauses) ein Blockhaus gestanden, bewohnt von einigen wenigen Ansiedlern, heimgesucht von einigen wenigen vertrauten Freunden, welche einen langen Kampf unverdrossen gegen offene und versteckte Mißgunst durchgekämpft haben, einen Kampf, dessen Mühen endlich zum dauernden Siege geführt und mit diesem der Medicin ein umfangreiches Gebiet gesichert haben, auf welchem die Forschung feste Grundlagen, der Zweifel seine Aufklärung, der Streit seinen Richterstuhl findet. Zu den Triumphen dieses Sieges gehört der der Besitznahme dieses Gebäudes, der des Einzuges der Wissenschaft und ihres Unterrichtes in die Räume dieses Palastes etc. Lassen Sie uns seiner Bedeutung recht innig bewußt werden. Nicht allein zur Vornahme von Leichensectionen, mit Rücksicht auf das Bedürfniß einer größeren Oeffentlichkeit derselben, sind diese großen Räume bestimmt, sie sind daneben der Wissenschaft und ihrer Erweiterung gewidmet. Die Anlage und Weitläufigkeit des Gebäudes ist augenscheinlich auf eine ferne Zukunft und ihren Fortschritt berechnet; sie fußt auf der Freiheit der Naturforschung. Es sei daher erlaubt, zur Feier dieses Tages in eine Erörterung über jene Freiheit einzugehen!“

Nachdem Rokitansky hierauf erörtert, daß jeder Mensch die Berechtigung in sich trage, die Natur zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung zu machen, und daß wir unserer irdischen Rolle desto würdiger entsprechen, je mehr wir unsere Welt durch immer neue Anschauungen erweitern, je mehr wir dem unwiderstehlichen Drange nach Erkenntnis folgen: so kommt er auf die Schranken [759] und Hindernisse dieser Forschungsfreiheit. Er findet dieselben, außer den Eigenthumsfragen, hauptsächlich in den heutzutage so sehr üblichen Befürchtungen und Anklagen, als ob die Naturwissenschaften zum Materialismus führten. Diese Meinung wünsche er gründlich zu beseitigen. Er erinnert zuvörderst, nach Kant u. A., daß wir doch nicht eigentlich das Ding an sich erkennen, sondern nur die Sinneseindrücke, welche uns dasselbe verursacht, zum Bewußtsein bringen. Weil durch diese unsere Anschauung die Wesenheit der Dinge nicht erschöpft werde, so müsse man noch etwas Metaphysisches (d. h. etwas Übersinnliches, „was in des Menschen Hirn nicht paßt“, wie Goethe sagt) voraussetzen, mit welchem aber die Naturforschung nichts zu thun habe. Sie beschäftige sich nur mit den Erscheinungen, suche über diese durch Sinnes- und Verstandesthätigkeit haltbare Anschauungen zu bekommen und dann mittels der Vernunft höhere Begriffe, Vernunfterkenntnisse zu gewinnen, durch welche wiederum die Einsicht in die anschauliche Welt vermehrt und erweitert werde. Darüber hinaus leistet die Vernunft nichts; sie vermag uns keine tiefere Einsicht in das den Erscheinungen zu Grunde liegende Metaphysische zu geben, welches auch niemals ein anschauliches Object bilden werde. (Das heißt: der Glaube fängt erst da an, wo das Wissen aufhört.) Der Materialismus sei also kein vollständiges System der Weltanschauung, sondern nur eine Methode der Forschung, welche sich innerhalb der Erscheinungswelt, ihrer räumlichen und zeitlichen Verhältnisse, durchaus nur auf dem Wege der Erfahrung bewege. Weit entfernt, dadurch in Gegensatz zu der Transzendenz, d. h. zur metaphysischen Philosophie und zur Theologie, zu treten, werde vielmehr der Naturforscher, je mehr er sich vertiefe, desto mehr an ein allmächtiges Uebersinnliches erinnert. Schon Baco, der so streng darauf drang, die Naturforschung von jeder theologischen Speculation fern zu halten, habe anerkannt, daß tiefere Naturstudien nicht zum Atheismus, sondern zu Religiosität führen.

Es sei also kein Grund vorhanden, dem Drang nach Wissen, welcher das Menschengeschlecht beseelt, Schranken zu setzen. Forschung und Wissenschaft seien übrigens unaufhaltsam; jede Stagnation derselben sei stets nur scheinbar gewesen; jeder Verirrung sei eine desto gründlichere Einsicht und Aufklärung gefolgt; jeder Druck habe ihre Kraft nur zu noch rascherem Fortschritt gesteigert. Napoleon selbst, der Mann mit dem gebrochenen eisernen Willen, habe es auf St. Helena anerkannt: „Das Licht der Wissenschaft macht nur Rückschritte, um nachher desto kräftiger vorzuschreiten.“

Die Wirkung, welche diese Rede, an solcher Stelle und aus solchem Munde vernommen, im Lande des Concordats hervorbrachte, war außerordentlich. Jeder schien zu fühlen, was Dr. Helm in den obenerwähnten einleitenden Worten zu derselben Festrede sagt: „Die Steine, aus denen dies Haus zusammengefügt, sprechen aus: früher oder später überzeugt die Wahrheit doch; auch sie ist eine Macht, sie kann zwar unterdrückt werden, tritt aber zuletzt glänzend wieder im Triumphe hervor.“ In ärztlichen und nichtärztlichen Blättern wurde Rokitansky’s Rede wiederholt abgedruckt und applaudirt. Von allen Seiten kamen Deputationen und Adressen zur Beglückwünschung herbei.

Die glänzendste Anerkennung aber und zugleich die grundsätzlich bedeutungsvollste, fand Rokitansky einige Monate nachher von der Staatsregierung selbst. Als nämlich der bisherige Chef des Medicinalwesens, der um die neue Medicin und ihre Jünger vielfach verdiente Dr. von Nadherny, in den Ruhestand zurücktrat, wurde Rokitansky an dessen Stelle in das Cultus- und Unterrichtsministerium berufen, unbeschadet seiner bisherigen Thätigkeit als Universitätsprofessor und Krankenhausanatom. „Diese Berufung (28. April 1863 veröffentlicht) erregte“, nach den eigenen Worten verschiedener österreich. medicin. Zeitschriften, „im ganzen ärztlichen Stand Oesterreichs eine einstimmige und aufrichtige Freude. Mit seltener Einmüthigkeit hat das Urtheil aller Collegen und aller medicinischen Journale sich darüber ausgesprochen. Man rühmte nicht nur die Berufung eines Fachgenossen, statt eines Bureaukraten, sondern die Wahl gerade desjenigen Mannes, dessen Name mit der Geschichte der Wissenschaft und dem Ruhme des Vaterlandes so innig verknüpft sei.“ „Was Rokitansky am letzten Jahresfest der Gesellschaft der Aerzte zu Wien so innig und wie vorahnend aussprach, daß der Wissenschaft höchstes Ziel das Wohl der Allgemeinheit sei, das ist das schönste Programm, welches der an solche Stelle Berufene sich für seine Aufgabe stellen konnte.“ Selbstverständlich sprachen zahlreiche Deputationen aus allen Theilen der Monarchie dem Gefeierten diese Gesinnungen aus. Wir wählen aus den dabei gehaltenen Ansprachen die der Wiener Privatdocenten heraus. Ihr Vertreter, Dr. Schlager, „drückte die Freude aus, mit welcher das Collegium die Berufung ihres hochberühmten Meisters begrüße, des Mannes, der durch seine Forschungen der Heilkunde neue Bahnen vorgezeichnet, der durch die Schwungkraft seines Geistes den Ruhm und den Glanz der Wiener Schule begründet habe. Seine Berufung habe auch eine principielle Bedeutung; sie sei der Sieg der Wissenschaft über die Bureaukratie; sie sei eine Garantie für die kräftige Förderung der freien Forschung!“

Mögen diese Worte in Erfüllung gehen! Mögen unsere österreichischen Brüder recht lange solche Zustände erleben, wo Männer, wie Rokitansky, an der Spitze des Unterrichtswesens mit Ehren und Nutzen wirken können! Uns anderen Deutschen aber, „draußen im Reich“, wie der Oesterreicher sagt, sei es vergönnt, diesen Mann auch zu den Unsrigen zu rechnen. Denn trotz seines slavischen Namens ist er in Gesinnung und Bildung, Gemüth und Dauerfleiß unverkennbar ganz ein deutscher Mann!

Und nun, liebe Leser, gestattet mir zum Schluß dieser Skizze noch eine kleine Nutzanwendung. (Haec fabula docet.) Die Gartenlaube hat Euch binnen Jahresfrist die drei namhaftesten pathologischen Anatomen Deutschlands geschildert: Virchow in Berlin (Jahrg. 1862. S. 747), Bock in Leipzig (Jahrg. 1863. S. 484) und nun Rokitansky in Wien. Diese drei Männer sind ihrem Wesen nach so verschieden, wie Männer nur irgend sein können. Virchow der scharfe geistvolle Norddeutsche, Bock der polternde und doch gemüthliche Leipziger, und Rokitansky der stille, fast kindlich harmlose Oesterreicher sind scheinbar ganz unvereinbare Charaktere. Und dennoch haben sie alle drei etwas Gemeinsames: dies ist die thatsächliche (realistische) Richtung ihres Strebens und die ehrenhafte Festigkeit, mit welcher sie die aus den Thatsachen gewonnenen Ueberzeugungen vor Jedermann aussprechen ohne Rücksicht, ob sie Gunst oder Ungunst damit erwerben. Sie geben der Wahrheit die Ehre und erwarten, was die Bibel verspricht: „durch die Wahrheit werdet ihr frei werden!“ Wir stehen nicht an, diese mannhafte Ehrlichkeit der genannten drei Männer gerade aus dem Gegenstand ihrer Studien abzuleiten: aus der steten Beschäftigung mit der Natur, welche ja überall wahr und überall gesetzlich ist, und aus der täglichen Betrachtung des menschlichen Wesens in allen seinen materiellen und immateriellen Beziehungen, welche sich am Leichentische von selbst aufdrängt. – Wir verweisen mit Stolz auf diese Männer und ihre zahlreichen Fachgenossen und Mitarbeiter, um ein für allemal die Besorgniß niederzuschlagen, welche das Geschrei der Verdunkelungsmänner heutzutage in manchen ängstlichen Gemüthern rege hält: die Besorgniß nämlich, als ob mit dem Fortschritt des modernen Realismus, das heißt mit der immer allgemeineren Ausbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse, irgendwie dem echten Humanismus, dem Fortschreiten wahrhafter Menschenbildung Eintrag geschehen könne. Im Gegentheil! Es würde uns nicht schwer fallen, wenn es der Mühe lohnte, nachzuweisen, daß heutzutage, wie von jeher, die Mehrzahl aller wissentlichen Lügner und Betrüger, Heuchler und Kriecher, die wahren Feinde der Humanität, aus den Hauptquartieren der Spiritualisten hervorgegangen sind!





Der fränkische Brutus.
Von Ludwig Storch.

Mit dem sittlichen Aufschwung der Gesellschaft, zumeist in ihren mittlern, zum Theil auch in ihren höhern Schichten, im geistesregen und reichen zwölften Jahrhundert bildete sich neben dem schönen Geiste des von Frankreich herübergekommenen Ritterthums in Deutschland zugleich sein widerwärtiges Zerrbild, das Junkerthum, aus, dessen Keime eine böse Erbschaft der vorangegangenen wüsten und rohen Zeit waren. Wenn das milde Morgenland mit schöpferischem Hauche in den Kreuzzügen das ungeschlachte Wesen der abendländischen [760] Krieger umwandelte und aus seinem aufgelockerten Boden die Blüthen des romantischen Ritterwesens hervorrief, so gediehen zu Hause im Schooße des üppigen Hof- und Vasallendienstes und in der jungen, noch nicht organisch ausgewachsenen, unbeschützten Ständegliederung die Giftblüthen der Junkerei und weiter hinab die ihrer äußersten Entartung in Verhöhnung aller öffentlichen Ordnung und Sicherheit, die adligen Landfriedensbrecher, Placker, Schnapphähne, Mörder, Mordbrenner, Räuber und Nothzüchter. Unmittelbar neben dem gewinnenden Bilde des ritterlichen Gottes- und Minnedienstes stand die Carricatur junkerlicher Gewaltthat, Frivolität und Schändung.

Die letztere Erscheinung mußte an den Höfen der geistlichen Fürsten, wo die Frauen nicht das milde Scepter der Sitte und Zucht führen durften und deshalb die Leidenschaften ungezügelter auftraten, noch weit greller hervortreten. Stiegen doch die geistlichen Fürsten aus den begüterten Adelsfamilien des Landes über die Stufen des Altars auf den bischöflichen Stuhl, der im Laufe der Zeit im grellsten Widerspruch mit den Geboten Christi zum Fürstenthrone geworden war. Nirgend wucherte daher der freche und nichtswürdige Junkergeist üppiger als in den Ländern des Krummstabs, ja die stolzen Träger desselben, die sich gleichsam in aufgeblasener Selbstironie Nachfolger der Apostel nannten, brachten den ausgelassen wilden, übermüthig frivolen und höhnisch grausamen Junkergeist in sich selbst zur widerwärtigsten Erscheinung, während ihre Inful das warme Nest war, in welchem unter dem Schutze des Kreuzes die Basiliskeneier wüster Vergewaltigung ausgebrütet wurden. Die Geschichte der gefürsteten und Land und Leute beherrschenden Bischöfe im Mittelalter ist zumeist eine bluttriefende, von aller erdenklichen Schandthat und ungebehrdiger Rohheit beschmutzte und spricht in jedem Worte den Liebesgeboten des großen Menschenfreundes von Nazareth, als dessen Jünger sie sich zu gehaben erfrechten, den scheußlichsten Hohn.

Nur wenige einsichtsvolle, menschlich fühlende und wohlwollende geistliche Regenten jener Zeit machen von dieser empörenden Widerwärtigkeit ehrenhafte Ausnahmen, die dann diesem alle gesunde Lebensentfaltung vergiftenden Junkerunwesen mit seinen ehrlosen ekelhaften Auswüchsen mit mehr oder minder Entschiedenheit und mit mehr oder minder Erfolg bekämpfend entgegentraten.

Unter diesen Ausnahmen glänzt der Fürstbischof Konrad von Würzburg, der, aus dem Adelsgeschlecht derer von Rabensburg entsprossen, von 1198 bis 1202 dem Bisthum am Main mit Kraft und Würde vorstand, als ein Stern hervor und ist als ein echter deutscher Biedermann mit hohen Ehren und besonderer Auszeichnung zu nennen. Seine Stammburg, die Rabensburg, lag zwei Stunden unterhalb Würzburg an der rechten Seite des Maingrundes. Das adlige Haus, welchem Konrad entstammte, war eins der angesehensten im Reiche und durfte sich der Abkunft von dem Geschlechte der salischen Könige rühmen. Sein Vater, Dietho von Rabensburg, war ein Liebling des Kaisers Friedrich des Rothbarts gewesen und hatte mit Bewilligung desselben die geschiedene Gattin des Kaisers, die Gräfin Vohburg, von welcher sich Friedrich angeblich wegen zu naher Verwandtschaft getrennt, geheirathet, und die ehemalige Kaiserin war Konrad’s Mutter geworden. Deshalb war ihm der große Hohenstaufe, der mit seinen Eltern stets in freundlicher Verbindung geblieben, von Kindesbeinen an gewogen gewesen und hatte den durch Geist, Bildung und Persönlichkeit gleich hervorragenden Jüngling zu seinem Kanzler gemacht, welches wichtige Amt er auch unter Friedrichs Sohne, dem Kaiser Heinrich VI., bekleidet hatte. Dieser hatte ihm, in Messina erkrankt, den Oberbefehl über das für den vierten Kreuzzug bestimmte sechszigtausend Mann starke Heer übertragen, womit er, damals Bischof von Hildesheim, der unter Friedrich I. schon in Palästina gekämpft, die syrische Küste besetzte und mit dem jungen Herzog Friedrich von Schwaben, des Kaisers Sohn, die Gesellschaft der deutschen Brüder, den nachherigen Deutschorden, stiftete. Des Kaisers Tod rief ihn und das Heer zurück. Er begab sich in sein Bisthum nach Hildesheim, ging aber im folgenden Jahre, zum Bischof von Würzburg erwählt, in sein schönes fränkisches Heimathland. Der Papst Innocenz III. widersetzte sich zwar dieser Wahl, weil Konrad sich bei der zwiespältigen Kaiserwahl für den ihm verwandten und befreundeten Hohenstaufen, Herzog Philipp von Schwaben, erklärt hatte, der ihm, dem von Syrien Zurückkehrenden, auch die Kanzlerwürde bestätigt, während der Papst den Gegenkaiser Otto von Braunschweig, den Sohn des Sachsenherzogs Heinrich des Löwen, durchbringen wollte. Der alte Parteihader der Waiblinger und Welfen entbrannte auf’s Neue, aber Konrad gelang es dennoch den leidenschaftlichen Papst durch eine Reise nach Rom zu versöhnen, vom angesprochenen Bann befreit und als Bischof von Würzburg bestätigt zu werden.

Bischof Konrad war also einer der bedeutendsten Fürsten seiner Zeit, gleich ausgezeichnet von Geist und Gemüth, wie von Charakter und Willensstärke, der Schwert und Feder gleich kräftig zu führen verstand. Sein eifriges Bemühen ging dahin, in seinem geliebten Vaterlande die so tief gesunkene Zucht und Sitte, öffentliche Ordnung und Sicherheit unverzüglich aufzubessern und den Anhängern der Unzucht und Vergewaltigung mit Kraft und Nachdruck entgegenzutreten. Deshalb vermochte er auch den neuen König Philipp, die scharfe Verordnung über Landfriedensbruch, Mord, Brand, Raub, Nothzucht und Schändung zu erneuen. Da hielten nun die Junker und Schnapphähne einige Jahre Ruhe und Frieden im Bisthume, aber dann brach die Pestbeule wieder von Neuem auf.

Mit großem Mißfallen bemerkte der hochsinnige Bischof, daß seine nächsten Verwandten, die Söhne seines Bruders und seiner Schwester, sich einem leichtfertigen und lockern Leben hingaben und unter dem vermeintlichen Schutze des Krummstabs ihres Ohms sich Ausschweifungen aller Art erlaubten. Die ernsten Warnungen des sittenstrengen Bischofs vermochten die jungen Wüstlinge nur zu etwas mehr Vorsicht. Daß aber auch diese bald genug wieder aus den Augen gesetzt wurde, beweist der Vorfall, der den Bischof in der Glorie der höchsten Gerechtigkeitsliebe und Mannestugend zeigt und durch den tragischen Ausgang unsere höchste Theilnahme erregt.

Der älteste Sohn seines Bruders, ein schöner Jüngling und als sein Liebling von ihm zu seinem Erben bestimmt, hatte sich vor dem Ohm am meisten zu verstellen gewußt. Der Bischof glaubte ihn gehorsam und eines ordentlichen Wandels beflissen. Da entstand eines Tages in der ersten Woche des Christmonats 1202, ein Auflauf in den Straßen Würzburgs; man vernahm Ausrufe der Entrüstung und die Wehklagen eines Greises, den viele Bürger nach der bischöflichen Wohnung im Bruderhof führten. Dieser Häusercomplex liegt fast mitten in der Stadt nicht weit vom Dome und besteht heute noch in seiner alterthümlichen Form. Als die Männer vor dem Bischof standen, erzählte der Alte mit Thränen, daß seine Tochter, eine reine und sittsame Jungfrau, von einem adligen Jünglinge auf offener Straße in unzüchtiger Absicht angehalten, mit Gewalt in ein Haus gezogen und dort ihrer jungfräulichen Ehre beraubt, zum Tode erkrankt, in einem elenden jammervollen Zustande sei. Auf die Frage des entrüsteten Bischofs nach dem Thäter vernahm er mit Entsetzen den Namen seines eigenen Neffen und Lieblings. Doch sich fassend, that er, was Amt und Pflicht forderten. Dem unglücklichen Vater Trost, den entrüsteten Bürgern Vertrauen zusprechend, gelobte er Untersuchung und Sühne des Verbrechens und ließ unverzüglich auf den Wüstling fahnden und ihn an das aus Rittern und Bürgern vom Bischof zusammengesetzte königliche Schöffengericht abliefern. Diesem legte er die strengste Untersuchung und Ahndung der Uebelthat auf. Die erstere ergab die Wahrheit der Anklage, die andere das Todesurtheil des schuldig Befundenen nach dem auf des Beschofs Betrieb vom Könige erneuten und verschärften Gesetze. Dem Bischof stand als Landesherrn das Recht der Strafmilderung oder Begnadigung zu, und Jedermann erwartete, daß die gesetzliche Strafe verwandelt und der durch die Todesangst gezüchtigte Verbrecher beim Leben gelassen werde. Aber die Stunde der Strafvollziehung nahete heran, und der Bischof verharrte in finsterem Schweigen. Die ängstlich gewordene Blutsverwandtschaft bestürmte das Familienhaupt um das Gnadenwort und beschwor ihn bei der Ehre des Hauses, die Richter flehten ihn um Milderung des Urtheils an, die Kläger, deren Rachegefühl der strenge Spruch entwaffnete, baten um Schonung – Alles vergebens. Der Bischof blieb bei seinem Ausspruche, die gesetzliche Strafe müsse ohne Aufschub vollzogen werden.

Die ganze Stadt gerieth in die größte Aufregung, und der Bruderhof erfüllte sich mit Gnadebittenden. Der Bischof hatte den Eintritt in sein Gemach streng verboten. Nichtsdestoweniger stürmten zwei junge adlige Männer hinein, ebenfalls Neffen des Fürsten: Bodo von Rabensburg, der Bruder des Verurtheilten, und Hund von Falkenberg, der Schwestersohn des Bischofs, Kumpane des Verbrechers und in Gesinnung und Handlungsweise ihm gleich. Die heftigen Worte ihrer Fürbitte wies der eiserne Fürst mit scharfer Rüge ihrer eigenen Schuld zurück. Da unternahm die verzweiflungsvolle Familie im Verein [761] mit dem Domcapitel und der Bürgerschaft noch einen letzten Versuch; sie schickten den Domherrn Käs von der Osterburg, des Bischofs Rath und vertrauten Freund, in das Gemach, der sich des erhaltenen Auftrags in würdigster Weise entledigte, indem er eine gehaltvolle eindringliche Rede über das Thema: Vergieb uns unsere Schuld, wie wir unsern Schuldnern vergeben, hielt und die menschliche Barmherzigkeit als nothwendig aus der göttlichen ableitete. Der Bischof hörte ihn ruhig an und fragte dann eben so: „Sagt mir doch, wie hieß der alte Römer, der seine beiden Söhne enthaupten ließ?“

„Die Söhne des Lucius Junius Brutus hatten das ganze Vaterland beschimpft, und diese Schmach mußten sie mit dem Leben büßen; Euer Neffe hat ein einzelnes niederes Bürgermägdlein verletzt. Sie vergiebt ihm, ihr Vater vergiebt ihm, die erst erbosten Bürger vergeben ihm. Da ist denn doch ein gewaltiger Unterschied zwischen der Schuld der Brutussöhne und der des Rabensburgers.“

„Wer den Theil verletzt, beleidigt das Ganze. Ich selber habe die Auffrischung des Gesetzes gegen Nothzüchter beantragt, und sollte nun selbst zuerst die Spitze desselben gegen meinen Neffen abbrechen? Auch die römischen Consuln würden Jungfrauenschänder haben hinrichten lassen, wenn das Gesetz es vorgeschrieben hätte.“

„Auch ist,“ fuhr der Domherr fort, „zwischen der altrömischen und der deutschen Denkungsart ein großer Unterschied. Jene gefiel sich in schroffer Strenge; wir lieben Mäßigung und Milde.“

Der Bischof deutete auf ein vor ihm liegendes Buch mit der Frage: „Was meint Ihr, waren die Sigambern nicht ein deutscher Volksstamm?“

Der Domherr, dem die Absicht dieser Frage dunkel blieb, versetzte nach einigem Zaudern: „Gewiß waren sie das! Sind sie doch die Väter des Frankenstammes, und der Franke ist mit Recht stolz auf solche Abstammung.“

„Wohl, so hört denn eine sigambrische, altfränkische oder deutsche Geschichte!“ Und der Bischof las aus dem Buche Folgendes: „Vor Alters lebte ein Herzog der Sigambern, Namens Basan, ein Mann, so fest, gerecht und tugendhaft, daß sein Volk den Lebenden eben so liebte und fürchtete, als dem Todten göttliche Ehre erwies. Sein Sohn Sedan, ein schöner, aber leichtfertiger Jüngling, verführte das Weib eines armen Mannes, nahm es mit Gewalt hinweg und lebte mit der Buhle in sündiger Gemeinschaft. Der geschädigte Mann trat klagend vor den Herzog, der ihn anhörte und beruhigte, den Handel untersuchte und, als er des Klägers Aussage wahr befunden, dem schuldigen Sohne die Strafe des Todes zuerkannte. Drauf traten die Großen des Reichs vor den Richterstuhl und baten um das Leben ihres künftigen Oberhauptes. Der greise Richter aber entgegnete: „Streitet nicht, ihr sonst so starken Männer, wider die Gerechtigkeit, damit euer Arm nicht im ungleichen Kampfe erschlaffe! Denn leichter ist’s, den Sturmwind mitten in seinem Laufe zu hemmen, als meinen Willen von der Bahn des Gesetzes abzuwenden.“ Die Fürsten schwiegen; Basan zog sein Schwert, und die Wohlgestalt des gefesselten Jünglings noch einmal mit dem Blicke väterlicher Liebe messend, durchbohrte er ihn mit den Worten: „Mein Sohn, nicht Dein Vater tödtet Dich, sondern das um Sühne schreiende Gesetz.“ – Da stürzte des Herzogs Gemahlin, die Mutter des Hingerichteten, herbei, warf sich im wüthenden Mutterschmerze über des geliebten Sohnes Leiche und schalt den Gemahl einen Mörder und Barbaren. Der gerechte Fürst sprach zu ihr vor allem Volke. „Weib, Dir kommt es zu, Deinem Herrn zu gehorchen, nicht aber Deinen Gatten und Herzog zu beschimpfen. Ich schwöre Dir bei dem höchsten Gotte, wäre ich in diesem Augenblicke nicht von Leidenschaft bewegt, ich würde auch Dich sogleich mit diesem Schwerte erschlagen, obgleich Du mir das Teuerste auf der Welt bist.“ Nach Verlauf einer Woche, als des Herzogs Schmerz über des Sohnes Tod gemildert und sein Unwille über die von der Gattin erfahrene Beschimpfung erloschen war, berief er die Fürsten und Aeltesten des Volkes und verstieß vor der Versammlung die von ihm so sehr geliebte Gemahlin, indem er sie mit Schätzen zu ihrem Vater zurückschickte. Seit dieser Zeit nannte das sigambrische Volk Basan’s Namen als gleichbedeutend mit dem Worte Gerechtigkeit, und noch lange nach des streng gerechten Herzogs Tode riefen die Sigambern einem strauchelnden Stammesgenossen und die Eltern einem strafbaren Kinde zu: Kennst du den großen Basan nicht?“ Der Bischof legte das Buch bei Seite und fuhr fort: „Dieser einst starke Arm ist jetzt zu schwach, um dem Beispiele des Sigambern zu folgen und dem Frevler eine schmählichere Todesart zu ersparen. Auch lassen unsere Zeit und unser Glaube ein solches Verfahren nicht zu. Und so muß der Verbrecher unter dem Henkersschwerte sterben!“

Mit diesem Bescheid zog der Domherr ab. Der Bischof aber wanderte wieder händeringend und bitterlich weinend durch seine einsamen Gemächer, so daß die Diener draußen selbst in Jammer ausbrachen. Sie hörten ihren schwerbelasteten Herrn in die kummervollen Worte ausbrechen: „Unseliger! Der Ohm wird über der Leiche des Neffen zu Grabe fahren, der Herzog aber muß den Verbrecher enthaupten lassen!“ Und hinaus tretend, gebot er dem im Vorzimmer harrenden Blutbann die ungesäumte Vollstreckung des Urtheils. Der Stöcker that seine Pflicht, die Bürger zogen von der Richtstätte in den Bruderhof und dankten dem Bischof für seine strenge Gerechtigkeit, er aber durchwachte die Nacht in Schmerz und Trauer um den geliebten Neffen.

In der Frühe des folgenden Morgens schickte er sich an, im nahen Dorfe die Messe zu lesen. Allein und in sich gekehrt, das kummervolle Haupt gebeugt, trat er aus dem Bruderhof auf die Straße. Da standen vier Männer, deren er nicht achtete. Bei ihnen angekommen, sah er sich plötzlich von ihren geschwungenen Schwertern bedroht. Der Arm, den er zum Schutz gegen sie erhob, wurde ihm im Nu durch den ersten Hieb vom Leibe getrennt; die folgenden Streiche trafen das ehrwürdige Haupt des wehrlosen Greises, der unter ihnen den Geist aufgab. Die Mörder waren seine beiden Neffen Bodo von Rabensburg und Hund von Falkenberg mit ihren Knechten, deren Rachedurst ihm an der Leiche ihres Genossen den Tod geschworen hatte. Auf ihren bereitgehaltenen Rossen flohen sie aus der Stadt, deren Straßen vom Mordioruf und dem Schalle der Sturmglocken ertönten. Das Volk stürzte aus den Häusern, die Schreckenskunde verbreitete sich schnell, und Alles strömte zum Dome, wohin die Leiche des allverehrten Oberhirten getragen worden war. Der Name der Mörder flog mit Verwünschungen und Wuthgeschrei von Mund zu Mund; jede Hand bewaffnete sich, und Schaar an Schaar drängte aus dem Thore thalabwärts der Rabensburg zu, die erstürmt und der Erde gleich gemacht wurde. Ein anderer Haufe zertrümmerte die Neuenburg, ebenfalls ein Haus der Rabensburger bei Triefenstein. Dann loderte der Stammsitz der Falkenberger in Flammen auf, und was sich von den Angehörigen und Dienstmannen der beiden Familien nicht durch eilige Flucht rettete, fiel durch das Schwert der schonungslosen Rächer. Erst als alle Habe der Rabensburger und Falkenberger verwüstet, alle ihre Leute, die zu erreichen gewesen, erschlagen waren, kehrten die Bürger zur Stadt zurück, um den edlen Märtyrer der Gerechtigkeit mit großer Trauerpracht zu bestatten und an die Stelle der Mordthat eine Denksäule zu setzen. Dort steht sie noch, wenn auch erneuert, an der Wand des Hauses, mit dem alten lateinischen Distichon versehen, welches freilich die tiefe sittliche Bedeutung des Steines nicht bezeichnet. Sonst enthält der Stein nur noch den Todestag des Bischofs und keinen Namen, keine Angabe der That. Und da er an der Wand steht, wird er von Fremden nicht groß beachtet.

Die Mörder flohen nach Rom, um sich vom Papst Absolution für ihr Verbrechen zu erflehen, vertrauend auf den Umstand, daß der erschlagene Bischof früher im Kirchenbann gelegen. Jedermann verlangte den Tod der Mörder, Innocenz schenkte ihnen das Leben. Das ist charakteristisch für die Gerechtigkeitsliebe des Statthalters Christi. Was er den scheußlichen Blutmenschen als Buße auferlegte, war doch nur elendes Komödienspiel: sie sollten einem Kreuzzuge beiwohnen und nur gegen die Saracenen und zur eignen Lebensrettung die Waffen führen dürfen. Bis zu ihrer Fahrt nach dem gelobten Lande sollten sie barfuß im Linnenkittel einhergehen, nur an den drei höchsten Feiertagen und während des Kreuzzuges nur Sonntags Fleisch essen, an drei Wochen- und vielen andern Jahrestagen bei Wasser und Brod fasten. Ferner sollten sie weder Pelzwerk, noch farbige Tücher tragen, an keiner öffentlichen Festlichkeit oder Gelag Theil nehmen, täglich hundertmal das Vaterunser auf den Knieen beten, das Sacrament nur in Todesnot empfangen, in jeder größern deutschen Stadt halbnackt, Weiden um den Hals, Ruten unter dem Arme in die Kirche gehen und von den Priestern Züchtigung begehren und, um den Grund befragt, laut ihre Missetat bekennen, in Würzburg selbst aber, wofern sie da Sicherheit wünschten, zu Ostern, Pfingsten, [762] Weihnachten und St. Kilian im erwähnten schimpflichen Aufzuge in den Dom gehen, vor den Domherren niederfallen und die Züchtigung von ihnen heischen. Wiederverheirathung nach dem Tode ihrer Frauen wurde verboten. – Es kam natürlich ganz allein auf die Herren selbst an, was sie von den ihnen auferlegten Strafen ausführen wollten und was nicht.

Das Volk war gerechter als der Papst. Als Junker Bodo, nach Jahren in die Heimath zurückgekehrt, die Rabensburg wieder aufzubauen begann, wozu König Otto nicht nur die Erlaubniß, sondern auch die Handfrohn der benachbarten Gemeinde Veitshöchheim bewilligt hatte, war Jedermann gegen ihn und die Seinen. Verarmt mußten die Rabensburger den verhaßten, fluchbeladenen Namen ablegen und als gewöhnliche Ritter von Reinstein aus dem nicht mehr zu behauptenden Dynastenstande treten. Die Burgruine kam in Besitz des Stephansklosters in Würzburg.

Die Falkenbeger erlangten erst nach zweihundert Jahren, unter dem berüchtigten Bischof Johann II. von Würzburg (1411–1440), einem echten Junker, dem für Geld Alles feil war, die äußere Ehre wieder.

Bischof Konrad prangt aber in der Geschichte mit Recht als fränkischer Brutus. Doch seinen Dichter hat er bis heute noch nicht gefunden.




Bilder aus der kaufmännischen Welt.

Nr. 1. Ein Londoner Auctionshaus.

Ich saß im Lesezimmer bei Wylde, das jeder Deutsche kennt, welcher, freiwillig oder unfreiwillig, längere Zeit in London gehaust hat. Hier am Ostende des Squares, dem Centrum des Fremden-, insbesondere des französischen und italienischen Viertels, hatte ich mir mit einem Freunde am britischen Museum ein Rendez-vous gegeben, um mit ihm von der eleganten Hungerfordkettenbrücke aus nach einer heitern gastlichen Villa am Themseufer von Putney zu dampfen. Doch halbe Stunde auf halbe Stunde verrann, ohne daß mein Gefährte erschien.

Schon hatte ich alle möglichen Zeitschriften von jeder erdenklichen Tendenz und Farbe durchstöbert, deren ich habhaft werden konnte, da griff ich aus purer Verzweiflung zu einem Blatte, das hier sehr unbeachtet auf einem Seitentische vegetirte. Wohl hatte es sich mir gar manchmal schon in den Weg gedrängt, wenn ich nach anderen Journalen suchte, immer aber war’s wie ein unebenbürtiger Gesell wieder bei Seite geschoben worden, ohne daß ich es nur eines einzigen Blickes gewürdigt hätte. Es war die „Daily Commercial List“ (die tägliche Handelsliste). Gott im Himmel, was hatte ich mit der zu schaffen? Die Gesammtsumme der Verkäufe, die ich noch in London realisirt, beschränkte sich auf die Veräußerung eines bereits im Zustande arger Offenherzigkeit aus Deutschland importirten Schlafrockes und eines in allen Farben schillernden total formlosen Calabresers, die ich eines Tages an den betriebsamen Sohn Abrahams verhandelt hatte, welcher jeden Morgen sein „Alte Kleider!“ in meiner Straße ertönen ließ, und mit meinen Käufen, – nun da hatte es auch seine eigene Bewandniß.

Heute aber guckte ich aus Aerger und Langeweile wirklich in die Daily Commercial List hinein; doch klug konnte ich aus dem Galimathias nicht werden, der mir darin gedruckt schien. Da sollten Dinge unter den Hammer kommen, von denen ich in meinem ganzen Leben noch nie gehört hatte – und die mir auch heute zum Theil noch einigermaßen unbekannte Größen sind. Der Eine bot „vierzig Ballen Bucha-Blätter“ aus, ein anderes Haus wünschte sich von „42 Bündeln Piassava“ zu befreien, und erst als mir unter diesen Fabelwesen auch die Namen von bekannteren Handelsartikeln auftauchten, gewann ich die Ueberzeugung, daß ich nicht zufällig einen Auctionskatalog aus dem Monde erwischt hatte. Aber die ungeheuerlichen Zahlen, in denen sich die Liste erging, machte mich von Neuem stutzig. Ich las von 7179 Kisten Thee, von 34,000 Schafhäuten vom Cap, von 28,374 Smyrnaer dito, von 16,000 Lammfellen von Buenos Ayres, von 40,000 Bambusrohren, von 500 Ballen Lumpen, von 1500 Kisten Havanna-Zucker, von 4000 Säcken Reis, von 500 Fässern Palmöl und 400 Tonnen Talg, von 50 Tonnen Elfenbein und 3 Tonnen Walroßzähnen – und, wohlgemerkt, das Alles sollte an einem Tage, morgen am 3. Juli, und in einem Hause, den sogenannten London Commercial Sale Rooms (den Londoner Handels- Auctionszimmern) in Mincing Lane, den Meistbietenden zugeschlagen werden! Der Palast jenes morgenländischen Prinzen, den ein flottes Pferd erst in sieben Tagen und sieben Nächten umgaloppiren konnte, mußte ein wahres Schilderhäuschen sein gegen den Riesenbau, welcher solche märchenhafte Waarenschätze barg. Wieder ein neues Wunder der endlosen Wunderstadt!

Noch saß ich in meinem Staunen, und die ungeheuerlichen Ziffern wirrten sich in meinem Hirn zu noch ungeheuerlicheren Berechnungen zusammen, da kam mein Freund. Meine neue Entdeckung ersparte ihm den Vorwurf, den vor einer Viertelstunde meine Ungeduld schon bereit gehalten hatte, und während wir nach der Dampfschiffstation zustrebten, wurde bereits für den nächsten Vormittag eine Expedition nach diesem räthselhaften Auctionslocale, dem Markte von Mincing Lane, wie es im Publicum heißt, beschlossen. Denn auch mein Freund kannte von dem Wunder noch nichts als den Namen.

Von unserm westendlichen St. John’s Wood hatten wir eine meilenweite Reise nach diesem Mincing Lane, das, ein enges, finsteres, aber handel- und wandelbelebtes Gäßchen, im Osten der Bank und unfern vom Tower liegt, also ganz und gar im Bezirke, wo der Londoner Großhandel oder, besser gesagt, der große Welthandel überhaupt seine düsteren Sitze aufschlagen hat. Vier Mal mußten wir den Omnibus wechseln, ehe wir vor den London Commercial Sale Rooms standen.

Das soll das Haus sein, in welchem so unglaubliche Waarenmassen versteigert werden? Unmöglich! riefen wir Beide und starrten die einfache, doch solide Steinfaçade an, die sich unsern Blicken bot und weder in Form noch Größe die geringste Spur von Phantastischem und Märchenhaftem an sich trug. Gut englisch nüchtern und hausbacken, unterschied sich das Gebäude von seiner Nachbarschaft höchstens durch einen etwas mehr geschonten Teint. Es schien uns minder rußig und schwarz, als man’s vom Mauerwerk in dieser Stadt des Qualms und Kohlenstaubs gewöhnt ist. Indeß die Inschrift über der Thür beweist uns, daß wir am rechten Ziele angelangt sind.

Darum hinein, denn es ist elf Uhr, die Stunde, wo die Auctionen beginnen. Wir treten ein und finden uns sofort in einem recht anständigen Menschenknäuel, der sich in einem geräumigen Gemache um eine Tribüne drängt, welche sich der Thür gegenüber erhebt. Das Geschäft ist bereits in flottestem Gange – in Porter und Ale, in Sherry und Portwein, in Lendenstücken und Hammelsrippen. Das aber, vergnüglich wie es sonst ist, war nicht das Schauspiel, um dessen willen wir uns in diesen unfashionablen Ostwinkel verbannt hatten. Also hinaus aus dem Erfrischungssaale und, vorüber an seinen lockenden Düften und Geistern, die Treppe zum ersten Stocke hinauf!

Auf dem Corridore, von dem verschiedene Seitengänge nach einer Menge von Zimmern auslaufen, schwirrt es wie in einem Bienenstocke. Mäkler und Kaufleute, Commis und Schreiber strömen ab und zu, haben aber den Kopf so voller Geschäfte und Zahlen und die Füße so eilig, daß wir Noth haben, nur den Saal zu erfahren, in welchem die erste Versteigerung abgehalten wird.

Endlich ist’s uns doch geglückt, einen etwas weniger geschäftigen Herrn aufzuspüren, der uns eine Secunde ruhig Stand hält.

„Die zweite Thür links, meine Herren.“

Wir öffnen schüchtern, wie echte Deutsche. Der Saal, der sich uns aufthut, ist von Mittelgröße und rundum mit amphitheatralisch geordneten Bänken besetzt. Vor diesen befindet sich eine Reihe kleiner Schreibpulte, und in der Mitte ist eine Art von Katheder errichtet, das drei Personen Sitz- und Schreibapparat gewährt. Augenblicklich thronen aber nur zwei auf diesem Podium, der Auctionator und sein Commis. Auf den rundum aufsteigenden Bänken mögen siebenzig bis achtzig Männer sitzen. Fast alle sind junge Leute, jeder hat einen Katalog vor sich und sein kleines Ledertintenfaß in der Hand und macht sich eifrig Notizen.

„Die Käufer gewiß?“ wende ich mich an meinen Nebenmann zur Rechten, dessen gemüthliches Gesicht auf einige Mittheilsamkeit Hoffnung macht.

„Gott bewahre, Herr; blos die Commis der Mäkler, welche [763] von den für die verschiedenen Waarenpartieen und Artikel erzielten Preisen sorgfältige Niederschrift nehmen müssen, damit alsbald die Preislisten zusammengestellt werden können, die noch heut’ Abend autographirt über den Canal hinüber an alle Geschäftsfreunde des Continents versandt werden.“ Die stillen Herren, die so apathisch aussehen und keine Miene verziehen, welche, den schwarzen, spiegelglatten Cylinder tief in den Nacken gerückt und die Hände in den Hosentaschen oder den Armlöchern der Weste, dem Versteigerer den Rücken zukehren, – das sind die Käufer, und gar mancher Crösus, mehr als ein Citymagnat ist darunter, der allmächtig herrscht an der Börse.

Wir haben zufällig eine Theeauction getroffen. Man scheint schon im besten Zuge zu sein, aber im ganzen Saale ist auch nicht ein einziges Theeblättchen zu erblicken. Wenn man uns sagte, daß hier Zündhölzchen oder Stecknadeln versteigert würden, wir fänden kein einziges Anzeichen, welches uns die Wahrscheinlichkeit solcher Behandlung in Zweifel ziehen ließ. Indessen beruhigen wir uns, der englische Kaufmann gehört zu den Letzten, welche die Katze im Sacke nehmen. Der zu verkaufende Thee selbst liegt zwar draußen in den Docks oder in den großen Lagerhäusern an der Themse, doch von allen Kisten hat der mit der Versteigerung beauftragte Mäkler Proben genommen. In seinem Comptoir in Fenchurchstreet oder in den sogenannten königlichen Börsengebäuden – einer Reihe von Häusern hinter der Börse – oder in sonst einem rußigen Winkel der City findet sich ein, wer auf die verkäufliche Partie speculirt, unterwirft die Muster einer gründlichen Prüfung durch Auge, Nase und Zunge, empfängt einen Katalog der zur Versteigerung bestimmten verschiedenen Warenposten, vermerkt an den Rand, wie viel er für diesen oder jenen Artikel anzulegen gesonnen ist, und bietet demgemäß, wenn der Tag der Auction erscheint. Sowie bei den großen Güter- und Herrschaftslicitationen, die namentlich während der Saison in London statt haben, nicht ein Stäubchen von dem zu verkaufenden Grund und Boden zum Vorschein kommt, ebenso wird in Mincing Lane kein Körnchen von den großen Cubaer Zuckerblöcken, kein Blättchen aus den Tausenden von Kisten chinesischen Thee’s, kein Bröckchen von den Massen südamerikanischen Talgs sichtbar, welche der Hammer hier zuschlägt. Nur ein einziger Artikel macht eine Ausnahme von dieser Regel, die indischen Shawls. Von ihnen kann sich der Mäkler natürlich kein Zipfelchen zur Probe abschneiden oder abreißen; folglich muß sich die kostbare Waare bei der Auction den Speculanten in natura vorstellen.

Ich verdanke alle diese Belehrungen meinem Nachbar, einem behaglichen alten Londoner, der jetzt zwar selbst weder mehr kauft noch verkauft, aber aus alter Gewohnheit dem Markt von Mincing Lane ab und zu seinen Besuch abstattet. Als ehemaliger Theemäkler, der nun in einer netten Cottage draußen in Clapham sich des wohl in’s Trockene gebrachten Schäfchens freut, kennt er genau, was sich auf den Markt von Mincing Lane bezieht, so daß wir seiner Auskunft volles Vertrauen schenken dürfen.

Inzwischen nimmt die Auction ihren gleichmäßigen Fortgang. Ein Schweigen herrscht im Saale, wie in der Kirche. Die Käufer sitzen so steif und unbeweglich wie eine Quäkerversammlung, die auf den heiligen Geist wartet, kaum daß einmal ein leises Flüstern in dieser oder jener Gruppe vernehmbar wird. Ja nicht selten bietet man lediglich mit Zeichen und Mienen. Ein bloßes Nicken, ein Augenzwinkern, ein Hüsteln oder Grunzen genügen dem Auctionator; er weiß, wie viel Pfunde, Schillinge oder Pence die Pantomimen bedeuten, er kennt ja Art und Weise jedes einzelnen Käufers und weiß gründlich, was Mr. Smith braucht oder Mr. Brown sich nicht entgehen lassen darf, und wenn Dieser mit dem rechten oder Jener mit dem linken Auge zwinkert, wenn sich ein dritter das Kinn oder ein Vierter die Nase reibt, so ist das Alles unserm eingeweihten Mäkler eine durchaus verständliche Telegraphie. Namentlich, so sagt mir mein freundlicher Gewährsmann, waltet diese Mimik beim Verkaufe der Kaschmir-Shawls vor. Wir müssen es unserer Quelle auf’s Wort glauben; denn uns selbst von dem Hergange bei einer dieser großen Shawlauctionen zu überzeugen, bietet leider der heutige Markt zufällig keine Gelegenheit.

„Kiste 22–31,“ ruft der Mäkler gravitätisch von seinem Throne herunter. „Wie viel für Kiste 22–31? Zwölf, meine Herren?“

„Zwölf,“ murmelt eine Stimme, ohne daß ihr Besitzer aufblickt von seinem Pulte. „Zwölf ein Viertel“ – „dreizehn“ – „dreizehn ein halb“ – „vierzehn“ – „vierzehn ein Viertel“ – „vierzehn und einen halben Pence“ – „vierzehn drei Viertel“ – „fünfzehn“. „Niemand mehr?“ Die Frage erfolgt in fast strengem Tone, gewissermaßen gebieterisch. Doch nichts regt sich, kein Zucken, kein Blinzeln, kein Nicken, kein Grunzen. „Also fünfzehn; fünfzehn Pence, meine Herren.“ Und der Hammer fällt mit sanftem, gentlemanischem Klopfen auf den Bord des Katheders. Die Stahlfedern der Commis kritzeln hurtig über die Blätter ihrer Taschenbücher und registriren den Verkauf, Posten und Preis. Die Käufer thun’s und vor Allem der Schreiber des Proclamators.

Ohne Pause kommt eine andere Partie an die Reihe und ist ebenso rasch an den Mann gebracht. Manchmal gehen zehn, zwölf Partien – Loose nennt sie der Engländer – von je zehn Kisten in einem Athem weg, wenn die Qualität die gleiche, folglich der zu zahlende Preis annähernd der nämliche ist.

So werden im Laufe weniger Stunden in einem einzigen dieser Verkaufssäle häufig Summen in Umlauf gesetzt, d. h. Alles nur auf und in Papieren, welche das Budget manches unserer deutschen Staaten mit einem recht artigen Deficit belasten würden.

Und solcher Auctionsräume befinden sich überhaupt zehn in dem Gebäude, in jedem aber spielt sich so ziemlich die gleiche Scene ab, nur die Namen der ausgerufenen Waaren sind überall andere. Bei uns hier heißt er Thee, im Nachbarsaale Zucker, daneben Häute, drüben Indigo oder Cochenille und so fort. Auch Anordnung und Einrichtung sämmtlicher dieser Localitäten ähneln sich wie ein Ei dem andern; blos die Größe der Zimmer ist verschieden, je nachdem sich mit den in ihnen versteigerten Waaren ein allgemeineres oder ein beschränkteres Handelspublicum befaßt.

In der Regel verlaufen alle Auctionen so ruhig und ungestört, wie unsere Theeversteigerung, so daß an manchem Tage wohl fünfzig und mehr Verkäufe verschiedenartiger großer Warenpartien abgehalten werden und ihre tägliche Durchschnittszahl auf 20 bis 25 veranschlagt werden kann. Indessen ab und zu, in Zeiten politischer Krisen und merkwürdiger mercantilischer Conjuncturen, wo die Speculation besondere Dimensionen annimmt und eine gesteigerte Concurrenz hervorruft, bieten die London Commercial Sale Rooms nicht ganz das friedliche Bild, das Stillleben, möchte ich sagen, das wir heute gesehen und beobachtet haben. Dann ist’s nicht mehr genug mit einem Kopfnicken oder Augenzwinkern, dann geht’s wild und stürmisch her, dann schreit es durcheinander wie auf einem neapolitanischen Markte oder in der Pariser Börse, ja dann giebt’s wohl mitunter auch drastische Scenen zu schauen, und es ist keineswegs etwas Unerhörtes, wenn Mr. John den Mr. James gemüthlich niederboxt, weil Beide das höchste Gebot gethan haben wollen.

Die Londoner Commercial Sale Rooms sind der größte Markt für Colonialwaaren auf der Erde; wie wir gesehen haben, faßt der Engländer den Begriff dieser Producte etwas weiter, als wir, indem er u. A. auch die feinen Gewebe, die in den Himalayathälern gefertigt werden, der Kategorie der „Colonial Goods“ einreiht. In Mincing Lane lassen die großen Londoner Importhäuser ladungsweise versteigen, was ihnen die Schiffe von allen Richtungen der Windrose zuführen. Hier versorgen sich die Colonialwaarengroßhändler nicht nur Londons und Englands, sondern aus den Haupthandelsplätzen des Continentes; nur in einigen Artikeln, den sogenannten Gewürzen namentlich, ist noch heute Amsterdam der erste Stapelort der Welt.

Der Markt von Mincing Lane hätte in diesem Jahre der Feste und Jubiläen beiläufig auch seinen fünfzigsten Geburtstag feiern können; denn 1813 war es, wo die Sale Rooms eröffnet und den Kaufleuten und Mäklern der City als ein „Centralmarkt für Colonialwaaren“ übergeben wurden.

Schon die Waarenmenge, welche an einem einzigen Tage in diesen Sälen von einer Hand in die andere übergeht, will uns bedünken, als wäre sie ein Fabeldatum aus einem arabischen Märchen – denken wir vollends an die Ziffern, welche die verflossenen fünfzig Jahre zusammen repräsentiren, an die Summen, die während dieser Periode hier gewonnen und verloren worden sind, so schwindelt uns der Kopf. Ja, der Umsatz eines einzigen Jahres erreicht schon eine so ungeheuerliche Höhe, daß dem Continentalen aller und jeder Maßstab abhanden kommt. Wir müssen darauf verzichten, mit den uns vor Augen gebrachten Ziffern eine bestimmte Vorstellung zu verbinden und uns mit der allgemeinen Idee des Massenhaften [764] und Kolossalen begnügen, von Neuem inne werdend, daß diesem Riesigen und Ungeheueren so gut ein gewisser poetischer Zauber inne wohnt, wie der mondbeglänzten Waldeinsamkeit oder der Sonnenpracht eines italienischen Sees.

Eine genaue Schätzung der jährlich in den London Commercial Sale Rooms abgeschlossenen Geschäfte hat übrigens ihre Schwierigkeiten. Die einzelnen Ansätze müssen aus den Notizen einer Menge von Betheiligten mühsam zusammengelesen werden. Doch können wir nach einer uns vorliegenden Liste mindestens den 1861 auf dem Markte von Mincing Lane bewirkten Umsatz von einigen der Hauptartikel verzeichnen. Der Leser mag daraus ersehen, ob wir Unrecht haben, wenn wir die London Commercial Sale Rooms als nicht das letzte der gegenwärtigen Weltwunder bezeichnen. Im genannten Jahre wurden in Mincing Lane in runden Zahlen versteigert: Zucker für 3 Millionen Pfund Sterling, Kaffee für 9 Mill. Pfd. Sterl., Thee für den gleichen Belauf, Reis für 800,000 Pfd. Sterl., Indigo für 3 Mill. Pfd. Sterl., Soda und Salpeter für 700,000 Pfd. Sterl., Elfenbein für 500,000 Pfd. Sterl., Cochenille für 500,000 Pfd. Sterl.

Im Jahre 1811 repräsentirte die gesammte Einfuhr nach England nur einen Werth von 26½ Mill. Pfd. Sterl.! In welchen Riesenverhältnissen ist seitdem der britische Handel gewachsen, trotz der drei furchtbaren Krisen, welche ihn im Zeitraume des letzten halben Jahrhunderts erschüttert haben!




Die Zwergmaus.[4]
Von Brehm.

So schmuck und nett alle unsere keinen Mäuse sind, so allerliebst sie sich in der Gefangenschaft betragen: das kleinste Mitglied der Familie, die Zwergmaus, übertrifft jene doch in jeder Hinsicht! Sie ist beweglicher, geschickter, munterer, kurz ein viel anmuthigeres Thierchen, als alle übrigen. Ihre Länge beträgt blos 5 Zoll, und davon kommen auch noch 21/3 Zoll auf das Schwänzchen, sodaß der eigentliche Körper nur etwa 2½ Zoll lang ist. Die Höhe am Widerrist beträgt nur einen Zoll; das Gewicht schwankt zwischen ein und zwei Quentchen. Die Zwergmaus verdient also ihren Namen; es giebt ja auch nur ein einziges Säugethier noch, die uns schon bekannte Zwergspitzmaus, welche kleiner ist als sie.

Ganz wunderbar im Verhältniß zu dieser geringen Größe ist die auffallende Verbreitung des lieblichen Thierchens. Von jeher hat die Zwergmaus den Thierkundigen viel Kopfzerbrechens gemacht. Pallas entdeckte sie in Sibirien, beschrieb sie genau, bildete sie auch ganz gut ab; aber fast jeder Forscher nach ihm, dem sie später in die Hände kam, stellte sie als eine neue Art auf, und jeder glaubte, in seinem Rechte zu sein. Allerdings wechselt die Pelzfärbung der Zwergmaus nicht unbeträchtlich ab. Gewöhnlich ist sie zweifarbig, die Oberseite des Körpers und der Schwanz gelblich braunroth, die Unterseite und die Füße scharf abgesetzt weiß; nun aber kommen dunklere und hellere, röthlichere und bräunlichere, grauere und hellere vor; die Unterseite steht nicht so scharf im Gegensatz mit der oberen; junge Thiere haben andere Körperverhältnisse als die alten und noch eine ganz andere Leibesfärbung, nämlich viel mehr Grau auf der Oberseite: kurz, diese Verschiedenheit kann den nicht sehr sorgfältig prüfenden Forscher schon verwirren. Außerdem erschien es ja auch zu wunderbar, daß ein Thier, welches in Sibirien entdeckt wurde, in Deutschland leben sollte! Aber die fortgesetzte Beobachtung ergab als unumstößliche Wahrheit, daß unser Zwerglein wirklich von Sibirien an durch ganz Rußland, Ungarn, Polen und Deutschland bis nach Frankreich, England und Italien reicht, und jetzt wird allgemein angenommen, daß sie nur ausnahmsweise in manchen Gegenden nicht vorkommt. Sie findet sich eigentlich in allen Ebenen, wo der Ackerbau blüht, und keineswegs immer auf den Feldern, sondern vorzugsweise im Schilf und im Rohr, in Sümpfen und in Binsen. In Sibirien und in den Steppen am Fuße des Kaukasus ist sie gemein, in Rußland und England, in Schleswig und Holstein wenigstens nicht selten. Aber auch in den übrigen Ländern Europa’s kann sie zuweilen häufig werden.

Während des Sommers findet man das schmucke Thier in Gesellschaft der Wald- und gemeinen Feldmaus in Getreidefeldern, im Winter massenweise unter Feimen oder auch in Scheunen, in welche sie mit der Frucht eingeführt wird. Wenn sie im freien Felde überwintert, bringt sie einen großen Theil der kalten Zeit zwar schlafend zu, fällt aber niemals in völlige Erstarrung und sammelt sich deshalb während des Sommers auch recht hübsche Vorräthe in ihren Höhlen ein, um davon leben zu können, wenn die Noth an die Pforte klopft. Ihre Nahrung ist die aller übrigen Mäuse, Getreide und Sämereien verschiedener Gräser, Kräuter, namentlich aber auch kleine Kerbthiere aller Art.

In ihren Bewegungen zeichnet sich die Zwergmaus vor allen anderen Arten der Familie aus. Sie läuft ungeachtet ihrer geringen Größe ungemein schnell und klettert mit größter Fertigkeit, Gewandtheit und Zierlichkeit. An den dünnsten Aesten der Gebüsche, an Grashalmen, die so schwach sind, daß sie sich mit ihr zur Erde beugen, schwebend und hängend, läuft sie empor, fast eben so schnell an Bäumen, und der dünne Schwanz wird dabei so recht geschickt als Wickelschwanz benutzt, gerade, als hätte der kleine Nager solche Künste den Brüllaffen abgestohlen. Auch im Schwimmen ist die Zwergmaus wohl erfahren, und im Tauchen sehr geschickt. So kommt es, daß sie überall wohnen und leben kann.

Ihre größte Fertigkeit entfaltet die Zwergmaus aber doch noch in etwas Anderem. Sie ist eine Künstlerin, wie es wenige giebt unter den Säugethieren, eine Künstlerin, die mit den begabtesten Vögeln zu wetteifern sucht. Sie baut ein Nest, das an Schönheit alle andern Säugethiernester weit übertrifft. Als hätte sie es einem Rohrsänger oder Stufenschwanz abgesehen, so eigenthümlich wird der niedliche Bau angelegt. Das kugelrunde Nest, welches ungefähr faustgroß ist, steht nämlich, je nach der Ortsbeschaffenheit, auf zwanzig bis dreißig Riedgrasblättern, deren Spitzen zerschlissen und so durch einander geflochten sind, daß sie das eigentliche Nest von allen Seiten umschließen, oder hängt über zwei bis drei Fuß hoch über der Erde frei an den Zweigen eines Busches, an einem Schilfstengel und dergleichen, so daß es aussieht, als schwebe es in der Luft.

In seiner Gestalt ähnelt es am meisten einem stumpfen Ei, einem rundlichen Gänseei z. B., dem es auch in der Größe ungefähr gleichkommt. Die äußere Umhüllung besteht immer aus gänzlich zerschlitzten Blättern des Rohrs oder Riedgrases, deren Stengel die Grundlage des ganzen Baues bilden. Die keine Künstlerin nimmt jedes Blättchen hübsch mit den Zehen in den Mund und zieht es mehrere Male zwischen den nadelscharfen Zahnspitzen durch, bis jedes einzelne Blatt sechs-, acht- oder zehnfach getheilt, gleichsam in mehrere besondere Fäden getrennt worden ist; dann wird das Ganze außerordentlich sorgfältig durcheinander geschlungen, gewebt und geflochten. Das Innere ist mit Rohröhren, mit Kolbenwolle, mit Kätzchen und Blüthenrispen aller Art ausgefüttert. Eine kleine Oeffnung führt von einer Seite hinein, und wenn man da hindurch in das Innere greift, fühlt sich das Ganze oben wie unten gleichmäßig geglättet und überaus weich und zart an. Die einzelnen Bestandtheile sind so dicht miteinander verfilzt und verwebt, daß das Nest einen wirklich festen Halt bekommt. Wenn man die viel weniger brauchbaren Werkzeuge dieser Mäuse mit dem geschickten Schnabel der Künstlervögel vergleicht, wird man jenen Bau nicht ohne hohe Bewunderung betrachten und muß die Arbeit der Zwergmaus gewiß über die Baukunst manches Vogels stellen, der weit besser ausgerüstet ist.

Jedes dieser Nestchen wird immer zum Haupttheil aus den Blättern derselben Pflanze gebildet, welche den netten Ball trägt. Eine nothwendige Folge hiervon ist, daß das Aeußere fast oder ganz dieselbe Farbe hat, wie der Strauch selber, an dem es hängt. Nun benutzt die Zwergmaus jeden einzelnen ihrer Paläste blos zu ihrem Wochenbette, und das dauert nur ganz kurze Zeit; so

[765] sind die Jungen regelmäßig ausgeschlüpft, ehe das Blätterwerk um das Nest verwelken und hierdurch eine auffällige Farbe annehmen konnte.

Man glaubt, daß jede Zwergmaus jährlich zwei bis drei Mal Junge wirft, jedesmal ihrer fünf bis neun. Aeltere Mütter bauen immer künstlichere und vollkommenere Nester, als die jüngeren, aber auch in diesen zeigt sich schon der Trieb, die Kunst der alten auszuüben; denn bereits im ersten Jahre bauen sich die kleinen Dingerchen ziemlich vollkommene Nester, um darin zu ruhen. Gewöhnlich verweilen die Jungen so lange in ihrer prächtigen Wiege, bis sie sehen können. Die Alte hat sie jedesmal warm zugedeckt, oder vielmehr die Thüre zum Neste verschlossen, wenn sie es verlassen mußte, um sich Nahrung zu holen. Sie ist inzwischen wieder mit den Männchen ihrer Art zusammengekommen und gewöhnlich bereits von Neuem trächtig, während sie ihre Kinder nach säugen muß. Kaum sind dann diese so weit, daß sie zur Noth sich ernähren können, so überläßt sie die Alte sich selbst, nachdem sie höchstens ein paar Tage lang ihnen Führer und Rathgeber gewesen ist.

Zwergmäuse.

Falls das Glück Einem wohlwill und man gerade dazukommt, wenn die Alte ihre Brut zum ersten Male ausführt, hat man Gelegenheit, sich an einem der anziehendsten Familienthierbilder aus dem Säugethierleben zu erfreuen. So geschickt die junge Schaar ist, etwas Unterricht muß ihr doch werden, und sie hängt auch noch viel zu sehr an der Mutter, als daß sie sogleich selbstständig sein und in die weite, gefährliche Welt hinausstürmen möchte. Da hängt nun eines an diesem, das andere an jenem Halme; das zirpt zu der Mutter auf, jenes verlangt noch die Mutterbrust; dieses wäscht und putzt sich, jenes hat ein Körnchen gefunden, welches es hübsch mit den Vorderfüßen hält und aufknackt; das Nesthäkchen macht sich noch im Innern des Baues zu schaffen; das beherzteste und muthigste Männchen hat sich schon am weitesten entfernt und schwimmt vielleicht bereits unten in dem Wasser herum, aus dem das Riedgras sich erhebt; kurz, die ganze Familie ist in der lebhaftesten Bewegung und die Alte gar gemüthlich da mitten drin, hier helfend, dort rufend, führend, leitend, die ganze Gesellschaft beschützend.

Man kann dieses anmuthige Treiben so recht gemächlich betrachten, wenn man sich das ganze Nest mit nach Hause nimmt und in einen enggeflochtenen Drahtbauer bringt. Mit Hanf, süßen Aepfeln, Birnen, Hafer, Fleisch und Stubenfliegen sind die Zwergmäuse leicht zu erhalten, und sie vergelten jede Mühe, welche man sich mit ihnen giebt, durch ihr angenehmes Wesen tausendfach. Ganz allerliebst sieht es aus, wenn man eine Fliege hinhält. Da fahren alle mit großen Sprüngen auf sie los, packen sie mit den Füßchen, führen sie zum Munde und tödten sie mit einer Hast und Gier, als ob ein Löwe ein Rind erwürgen wolle; dann halten sie ihre Beute allerliebst mit den Vorderpfoten und führen sie damit zum Munde. Die Jungen werden sehr bald zahm, aber mit zunehmendem Alter wieder scheuer, falls man sich nicht ganz besonders oft und fleißig mit ihnen abgiebt. Um die Zeit, wo sie sich im Freien in ihre Schlupfwinkel zurückziehen, werden sie immer sehr unruhig und suchen mit Gewalt zu entfliehen, gerade so, wie die im Käfig gehaltenen Zugvögel zu thun pflegen, wenn die Zeit der Wanderung herannaht. Auch im März zeigen sie dasselbe Gelüste, sich aus dem Käfig zu entfernen. Sonst gewöhnen sie sich bald ein und bauen auch ganz lustig an ihren Kunstnestern, nehmen Blätter und ziehen sie mit den Pfoten durch den Mund, um sie zu spalten, ordnen und verweben sie, tragen allerhand Stoff zusammen, mit einem Worte, sie suchen sich so gut als möglich einzurichten.




Drei Verbannte.

Während der großen europäischen Reactionsperiode von 1816 bis 1830 konnte man in der schweizerischen Stadt St. Gallen an jedem sonnigen Tage einen silberhaarigen Greis, der von Jahr zu Jahr zusehends schwächer und hinfälliger wurde, am zitternden [766] Stabe nach einem der Spaziergänge des „Klosterhofs“ oder des „Brühls“ den müden Körper schleppen und hier erschöpft auf eine Bank sinken sehen, wo er dann sinnend und träumend ruhte, so lange die freundliche Sonne seine erstarrten Glieder wärmte. Wer war der Greis und wovon träumte er? Ach, er träumte von einem mildern Lande, wo Feigen, Oliven und Orangen blühen, wo der Nachtigall Schlag durch die Haine tönt, wo des Troubadours Lieder einst von Minne sangen und die Klänge dieser Lieder noch im Volke leben, einem Volke mit feurigen, schwarzen Augen und brennendem Muthe im Herzen. Noch mehr, er träumte auch von einer Erhebung des Volkes für seine Freiheit und von dem blutigen Mehlthau, der sich auf diese schöne Bewegung legte und sie erstickte.

Lange kannte Niemand den Mann, und doch hatte er einst über einen König zu Gerichte gesessen und büßte nun seine Kühnheit, indem er das Brod der Verbannung essen mußte. Jean Baptiste Meyer, so hieß er, gebürtig aus dem Departement des Tarn in Südfrankreich, dem Vaterlande der Albigenser (wie mochte der deutsche Name dorthin kommen?), seines Berufes ein Arzt, war er Mitglied des Convents und stimmte für den Tod Ludwig’s XVI. Wer hätte es anders gewagt? Mußten ja selbst die dafür Stimmenden ihr Haupt unter das Richtbeil legen, zu dessen blutiger Praxis die Bourbonen ihr Volk durch viele Jahrhunderte hin erzogen hatten! Ludwig starb, Marie Antoinette folgte, Marat, die Girondisten, Orleans, Danton und Desmoulins, Robespierre und tausend Andere folgten. Meyer entging allen diesen Schrecken. Dem ersten Consul aber wollte er nicht dienen und widmete sich wieder seinem Berufe im herrlichen Süden. Die Restauration, die in jenen Gegenden die Guillotine zu überbieten suchte, vertrieb auch ihn aus dem Vaterlande. Vergebens verwendete sich St. Gallens Regierung für ihn bei dem Achselträger Talleyrand; es folgten nichtssagende Antworten. Endlich ging die Julisonne auf, und die Schüsse der Barrikaden fanden ihr Echo im Lande der Alpen. Da blitzte es auf in den fast erloschenen Augen des Greises; die Marseillaise schien in seinen alten Ohren zu wiederhallen. Mühsam raffte er sich auf, eilte nach dem geliebten Vaterlande, erreichte es glücklich und – starb nach wenigen Tagen im Anblicke seiner geliebten Pyrenäen, ohne die Escamotirung der Freiheit durch den „Bürgerkönig“ zu erleben. Das war das Ende eines verbannten Republikaners! –

Am 7. Februar 1837 wurden die Bewohner des Gasthofes zum weißen Rößlein in St. Gallen durch ein aus einem Gastzimmer kommendes ungewohntes Klingeln erschreckt. Man eilte, dem wohlbekannten, schon seit drei Jahren im Hause lebenden und beliebten Gaste beizuspringen. Als man aber in das Zimmer trat, fand man einen – Sterbenden. Der Schlag hatte ihn gerührt, und bald war er eine Leiche.

Da lag er nun, wie eine vom Sturme geknickte Eiche, der, wenn auch alte, doch noch vor Kurzem rüstige und stattliche Mann mit dem feurigen und zugleich schwärmerischen Auge, mit dem imponirenden Blicke, der Adlernase, dem in schönstem Ebenmaße gebauten Körper. Er stammte aus einem edeln Geschlechte, dessen Glieder auf mehreren Thronen Europa’s saßen; mit ihm war dieses Geschlecht von einem dieser Throne nicht herabgestiegen, sondern mit brutaler Gewalt herabgeworfen worden, ohne daß sich unter Millionen Unterthanen eine Hand für ihn regte. Dieser Mann, mit eiserner Stirne und festem Willen begabt und mit unerhörter Beharrlichkeit unerreichbaren Idealen nachjagend, hatte es während vieler Jahre – allein unter allen festländischen Monarchen Europa’s – gewagt, dem Götzen des Jahrhunderts Trotz zu bieten, ein Trotz, der ihm eine der schönsten Provinzen seines Reiches kostete. Der raubgierige Nachbar im Osten hatte diesen Fang durch die heuchlerische Freundschaft erschlichen, die er jenem Götzen auf einem schwimmenden Pavillon im Memelflusse gezeigt, wo sie die Karte Europa’s miteinander theilten.

Doch genug des Räthselns! Der Verstorbene nannte sich im Exil Oberst Gustavson. Sein wahrer Name aber war Gustav IV., Adolf, König von Schweden. Schon als vierzehnjähriger Knabe nach einem mit Königsblut befleckten Maskenballe, dem kleinen östlichen Wiederspiele der gleichzeitigen großen Revolution im Westen, auf den Thron gelangt, ward er von seinem Eigensinn, mit dem er sonderbare Ideen in’s Werk setzen wollte, in’s Verderben gestürzt. Er wurde das Opfer seines glühenden Hasses gegen Napoleon, und dieser Haß kostete ihm Finnland und seinen Thron, von dem ihn die Verschworenen (1809) nach russischem Muster herabrissen. Seine Geschichte ist übrigens bekannt genug. Verbannt aus seinem Vaterlande seit der Abdankung von Gripsholm, später geschieden von seiner Gattin, sogar feindselig gegen seinen Sohn gesinnt, irrte er in Deutschland und der Schweiz herum, bis er in St. Gallen seinen letzten Aufenthalt nahm. Hier lebte er das anspruchslose Leben eines Privatmannes, verkehrte selbst in leutseligster Weise mit Menschen der niedrigsten Stellung im gesellschaftlichen Leben, kümmerte sich nicht um seine Familie, seine beiden Töchter ausgenommen, die Großherzoginnen von Baden und von Oldenburg, an welchen er mit inniger Liebe hing, während er seinen Sohn, den Prinzen Wasa, öffentlich desavouirte. Mit Schmerzen dachte er seines Vaterlandes, welches jetzt ein schlauer Emporkömmling aus der Gascogne regierte, der diesen Thron durch den schmählichsten Verrath an seinem Kaiser erkauft hatte.

Viel beschäftigte er sich mit Journalistik, indem er eine Menge Zeitungsartikel, meist in die Gazette de France und in die Augsburger „Allgemeine Zeitung“, schrieb, die man dann, um bei den Regierungen und unter dem durch die Censur damals noch bevormundeten Volke kein Aergerniß zu erregen und doch die Eitelkeit des königlichen Journalisten nicht zu verletzen, blos in einem Exemplare abzog, welches man an den „Obersten Gustavson“ in St. Gallen adressirte. War er dann vom Arbeiten ermüdet, so machte es ihm die größte Freude, wenn ihm der jüngere Sohn seines Wirthes, damals ein Knabe, Seifenblasen steigen ließ, an deren Zerplatzen er die wehmüthigsten Betrachtungen über die Eitelkeit aller menschlichen Größe knüpfte. Da Gustav eigensinnig jede Unterstützung von seiner Familie zurückwies, bestritt diese heimlich einen Theil der Kosten seines Unterhaltes, und der Wirth mußte ihm nur für die Hälfte Rechnung stellen, weshalb sich der König sehr über die Billigkeit des Lebens in St. Gallen wunderte. Oft machte es ihm Spaß, die ihm bekannten Fehler von Menschen zu züchtigen, die er bisweilen sah. So erfuhr er von einem jungen Menschen, daß derselbe seine Mutter übel behandle. Der erzürnte Ex-König ließ den Schuldigen zu sich kommen, der äußerst geschmeichelt im schönsten Anzuge erschien, und überreichte ihm lächelnd ein zierlich eingewickeltes Paket mit den Worten: dies sei eine Anerkennung für sein pflichttreues Verhalten gegen seine Mutter. Gerührt dankte der Verblendete, empfahl sich unter Bücklingen, öffnete das Ding und fand – einen alten Pantoffel.

Indessen nahmen die Kräfte des verbannten Fürsten ab; immer kleiner wurden seine regelmäßigen Spaziergänge, bis es eines Morgens, an dem schon erwähnten Tage, in der ganzen Stadt hieß (ich erinnere mich noch gut, als es in der Schule meine Cameraden sich zuflüsterten): der König von Schweden sei gestorben. Der Todesfall wurde sogleich der Familie Wasa gemeldet. Der entseelte Körper ward einbalsamirt und in der von dem Irländer Magnus vor 1200 Jahren gestifteten Kirche einstweilen im wohlverschlossenen Sarge aufgestellt. Durch ein sonderbares Zusammentreffen erhellte in der nächsten Nacht ein prachtvolles Nordlicht die Umgebung St. Gallens, als wäre es ein Gruß aus dem kalten Vaterlande an seinen verbannten, nun in Walhalla eingezogenen König, den Nachfolger eines Ragner Lodbrok, Birger und Gustav Wasa. Bald langte der Bevollmächtigte des Prinzen Wasa in St. Gallen an und holte den Sarg ab, der dann in des Letzteren Schloß Eichhorn bei Brünn in Mähren am 5. März feierlich beigesetzt wurde, in demselben Schlosse, welches sein Vorfahr Gustav Adolf im dreißigjährigen Kriege zweimal eingenommen haben soll. Reiche Geschenke der drei Kinder des Heimgegangenen lohnten alle Personen, die sich um denselben verdient gemacht hatten. – Das war das Ende eines verbannten legitimen Königs. – Kurze Zeit hernach wurde der Neffe des St. Gallen’schen Banquiers, welcher Gustav’s Geschäfte besorgt hatte, auf einer Reise in Stockholm von dem dort residirenden Gascogner aus dem schwedischen Reiche verwiesen!

Es war in der ersten Woche des herrlichen Juli 1838, als das schweizerische Schützenfest in St. Gallen gefeiert wurde. Heiter lächelte der Himmel zu der schönen Feier; groß und jubelnd war die Begeisterung des Volkes. Täglich langten neue Schützengesellschaften aus verschiedenen Kantonen, Städten und Landschaften an und wurden freudig empfangen und begrüßt. Wohl keine derselben aber machte damals so viel Aufsehen, als diejenige aus dem Thurgau, und zwar nicht ihrer selbst, sondern ihres Führers und Sprechers wegen. Ich stand eben, wie beinahe täglich, als zehnjähriger Knabe, neben meinem Vater, der zu den Festrednern gehörte, auf den Stufen des reichgeschmückten und von bunten [767] Fahnen umflatterten Gabentempels, als rauschende Musik die Ankunft der Thurgauer verkündete. An ihrer Spitze marschirte ein junger Mann von dreißig Jahren, mit schwarzem Schnurr- und Knebelbart und überhaupt unternehmendem Aussehen, den Stutzen, wie die Uebrigen, um die Schulter gehängt. Die Musik schwieg, der Zug hielt. Der junge Mann trat vor, stellte den Stutzen neben sich auf den Boden (ich meine ihn noch vor mir zu sehen) und begann in fließendem Deutsch, doch mit etwas romanischem Accent, zu sprechen. Seine Rede klang feurig und patriotisch. Er drückte seinen Stolz aus, ein Schweizer zu sein, und die Hoffnung, die Schweiz werde ihre Unabhängigkeit vertheidigen und ungerechte Zumuthungen zurückweisen, kommen solche woher sie wollen. Die Masse der gutmüthigen Schweizer war entzückt über diese Worte; die erfahrneren Staatsmänner jedoch nahmen sie kühler auf. Einer der Letztern, selbst aus dem Thurgau stammend, antwortete dem Redner: der Thurgauische Schützenführer habe durch die Annahme des schweizerischen Bürgerrechts den Beweis geleistet, daß er die Ehre, Republikaner und Schweizer zu sein, allen „Kronprätensionen“ vorziehe, und er zweifle nicht, daß derselbe im Falle eines fremden Angriffes als schweizerischer Artilleriehauptmann die schweizerischen Kanonen gegen die Feinde aufpflanzen werde. Die Antwort machte Sensation, am meisten aber bei dem jungen Neu-Thurgauer, der seine Unzufriedenheit darüber nicht verbergen konnte. – Wer war der Mann, daß von seinen Kronprätensionen gesprochen werden konnte? Allerdings konnte davon gesprochen werden. Trachtete dieser Mann ja, seit einem Todesfalle, der vor sechs Jahren zu Schönbrunn bei Wien ein junges Leben geraubt hatte, nach nichts Geringerem als einem Kaiserthrone! Hatte er ja erst vor zwei Jahren auf dem ehemals deutschen Vorposten Straßburg diesem Streben, wenn auch mit kläglichem Resultat, Nachdruck zu geben versucht! Flüsterte sich ja auf dem Schützenplatze zu St. Gallen Alles zu: Wo ist der Prinz? Habt ihr den Prinzen gesehen? Wird er wohl einst Kaiser werden?

Sonderbares Schicksal! In demselben Jahre hatte die Schweiz Gelegenheit, die Worte ihres Neubürgers zu erproben, und zwar um seinetwillen. Der Bourgeois mit Regenschirm und Galoschen („sein Haupt glich einer Birne“), der da saß, wohin der junge Prätendent gerne selbst gesessen wäre, verlangte dessen Auslieferung; die Schweiz aber pflanzte ihre Kanonen auf und rief: Quod non! Wir liefern keinen Bürger unseres Landes aus! Der junge Artilleriehauptmann richtete keine dieser Kanonen: er verließ das Land, um dem Streite ein Ende zu machen. Die guten Schweizer bewunderten seinen Edelmuth. Er aber vergaß die Eidgenossen und ihren Edelmuth und dachte nur noch an die Kronprätensionen. Theatralisch ließ er zu Boulogne einen jungen Adler fliegen und wanderte dafür prosaisch gleich einem Landstreicher in’s Gefängniß. Es ist bekannt genug, wie er in Ham aus- und in Paris einzog, wie er die Abstimmung einer Nation – dirigirte, den heiligsten Rechten des Volkes mit eiserner Strenge entgegentrat, diejenigen, die seinen Schwur halten wollten und ihn an seinen Eid mahnten, mit Kartätschen zusammenschmetterte, und endlich seinem einstigen zeitweiligen Vaterlande, dessen Bürgerrecht er mit Füßen getreten, die schützende Grenze im Südwesten durch die höhnische Annexion Savoyens, gegen dessen ausdrücklichen Volkswillen, lachend niederriß. Wie wird er enden, der einst verbannte, jetzt Europa commandirende kaiserliche Herrscher?

Welche Mannigfaltigkeit in diesen drei Verbannten! Welche Verschiedenheit in ihrem Geschicke! Erst der Republikaner, der im Vollgefühle des Wiedersehens seines neu befreiten Vaterlandes ruhig und glücklich endet, dann der legitime König, der lieber im Exil verborgen stirbt, als ein Jota von seinem göttlichen Rechte opfert, und endlich der vor Ehrgeiz brennende Kronprätendent, der gar kein Vaterland kennt, sondern nur einen Thron sucht und kein Mittel scheut, diesen zu erkämpfen oder zu – ercongressen! Welcher Stoff zum Nachdenken über die Launen des Schicksals – oder vielleicht nicht besser über das Gottesgericht der Weltgeschichte?

Otto Henne-Amrhyn.





Schwindel in Berlin. Wie in jeder großen Stadt, steht auch in Berlin der „Schwindel“ in vollster Blüthe, wenn er auch noch nicht den Höhepunkt wie in Paris, London und New-York erreicht hat. Mit der steigenden Bevölkerung hat auch die Zahl der häufigen Industrieritter in auffallender Weise zugenommen, und man kann ziemlich sicher auf hundert Menschen drei bis fünf Individuen rechnen, welche ihr Dasein auf Kosten der Moral und mit Umgebung des Landrechts oft in höchst angenehmer Weise fristen. Eine besonders gefährliche Classe bilden die sogenannten Agenten oder Commissionäre, welche sich mit dem Kaufe oder der Unterbringung von Wechseln beschäftigen. Wehe den jungen, leichtsinnigen Männern oder den armen Familienvätern, die von augenblicklicher Noth gedrängt in die Hände dieser meist ausgemachten Schwindler fallen! In den seltensten Fällen erhält man das Geld für den ihnen anvertrauten Wechsel, und Roß und Reiter sieht man niemals wieder; dagegen muß man am Verfalltage die ausgestellte Summe zahlen oder in das Schuldgefängniß wandern. Fast jede Woche sieht man einen oder den andern dieser sauberen Herren auf der Anklagebank figuriren, ohne daß sich das Publicum dadurch warnen läßt.

Eine andere Sorte des Schwindels repräsentiren die verschiedenen industriellen Gesellschaften, welche wie die Pilze über Nacht emporschießen und durch allerlei imponirende Namen die Welt zu täuschen suchen. So gründete vor nicht langer Zeit ein Herr Feuerböther, der später mit dem Criminalgericht in unangenehme Berührung kam, die „deutsche Nationalbank“, welche auf nichts weiter als auf eine großartige Prellerei abgesehen war. Eine andere Gesellschaft führte den Namen „Bank für Landwirthschaft, Handel und Industrie“, an ihrer Spitze stand ein Directorium und ein Verwaltungsranth, in welchem ein Baron von Estorff-Ziethen eine hervorragende Rolle spielte, bis der Concurs schon nach einem halben Jahre ausbrach und die armen Actionäre das Nachsehen hatten. Hierher gehören auch die Stifter einer neuen „Industrie- und Handelsakademie“, welche erst vor Kurzem auf der Anklagebank saßen und zu mehreren Monaten Gefängniß verurtheilt wurden. Wie das Programm wörtlich besagte, hatten diese nur die edle Absicht, „in die Jugend das Samenkorn neuer, den Anforderungen der Gegenwart entsprechender Industrie- und Handels-Principien zu legen und die inländische Industrie durch Eröffnung neuer Absatzquellen zu fördern“. Für eine Summe von 600 Thalern sollten die Zöglinge besagter Akademie nicht nur Wohnung, Beköstigung und Unterricht, sondern noch dazu die sichere Aussicht auf eine ihren Fähigkeiten angemessene, einträgliche Stelle erhalten. Doch das Alles war nur Nebensache und damit keineswegs die menschenfreundliche Absicht erschöpft, indem mit dieser Anstalt zugleich in’s Leben treten sollte. 1) ein Musterlager von Proben aller preußischen Fabrikate, 2) eine Tauschhalle, 3) eine Beschäftigungshalle, in der Jedermann lohnende Arbeit finden sollte; ferner verhieß das Programm Volksbibliotheken, Spar- und Speiseanstalten, Findelhäuser, Concurs-Verhinderungscassen, kurz die Lösung der ganzen socialen Frage. Natürlich verlangte ein so großartiges Unternehmen eine entsprechende Anzahl von Beamten, die gegen eine angemessene Caution von 200–600 Thalern eine Anstellung fanden, wobei sie sich jedoch verpflichten mußten, die eingezahlten Summen als Betheiligungs-Quantum stehen zu lassen. Nach einiger Zeit machte die Gesellschaft, wie das gewöhnlich zu geschehen pflegt, Bankerott, und die armen Leute waren geprellt.

Alle diese Unternehmungen beabsichtigen nichts Geringeres, als die Menschheit zu beglücken, den Handel zu heben, unbekannte Absatzquellen zu eröffnen, den Actionären eine glänzende Dividende zuzuwenden und vor Allen den Betheiligten einen angemessenen Credit zu verschaffen. Die Hauptsache ist der Prospect, der, auf feinstem Papier gedruckt, alle möglichen und auch unmöglichen Vortheile in Aussicht stellt. Um diesen Versprechungen mehr Nachdruck und Wahrscheinlichkeit zu geben, wird ein Verwaltungsrath ernannt, in welchem einige heruntergekommene Adlige mit vielversprechenden und hochklingenden Namen figuriren. Eben so nothwendig ist ein großartiges und mit höchster Eleganz eingerichtetes Geschäftslocal, um der Menge Sand in die Augen zu streuen. Der Besucher tritt in eine Reihe glänzender Zimmer, wo hinter den Schreibpulten von Mahagoni eine Anzahl junger Commis so thun, als wenn sie viel zu thun hätten, während sie gewöhnlich vor Langeweile nicht wissen, was sie beginnen sollen, und meist Romane aus der nächsten Bibliothek lesen, die jedoch augenblicklich verschwinden, wenn ein Kunde sich hierher verirrt. An ihrer Spitze steht ein älterer, ehrwürdiger Buchhalter mit goldener Brille, dessen Physiognomie und solides Aeußere ein unbedingtes Vertrauen einflößt, obgleich er nur ein alter, bankerotter, zu diesem Zwecke eigens ausgesuchter Schwindler zu sein pflegt. Endlich gelangt man, angemeldet von einem Bedienten in geschmackvoller Livrée, nach dem Allerheiligsten, wo uns der Director der Gesellschaft mit imponirender Würde und hinreißender Liebenswürdigkeit empfängt. Man kann sich in der That nichts komfortableres denken, als dieses kleine Arbeitscabinet; Sammtfauteuils, Chaise-longue, goldene Barokspiegel und vor Allen der große, feuerfeste Geldschrank mit seinen Kunstschlössern erwecken unwillkürlich Ehrfurcht und Vertrauen. Wer sollte da noch an Schwindel denken? Der Herr Director selbst im blauen Leibrock und mit feinster, blendend weißer Wäsche macht durchaus den Eindruck eines Ehrenmanns, sein ganzes Wesen athmet Solidität, und aus jeder Pore schwitzt förmlich Biederkeit. Er empfängt uns mit herablassender Miene und entwickelt eine wahrhaft bezaubernde Beredsamkeit, indem er uns die Vortheile seiner Bank mit bewunderungswürdiger Sicherheit auseinandersetzt. Dazu raucht er so seine Havanna-Cigarren, deren Duft uns lieblich in die Nase sticht, auch zieht er von Zeit zu Zeit seine goldene Dose hervor, aus der er uns freundlich eine Prise anbietet. Wer vermag da zu widerstehen? – Man nimmt eine und zuweilen auch mehrere Actien, träumt von goldenen Dividenden und erfährt nach einigen Monaten zu seinem nicht geringen Schrecken, daß über die Gesellschaft der Concurs ausgebrochen, daß der Herr Director das Weite gesucht und daß unsere Actien keinen Heller werth sind. Das nennt man „Berliner Schwindel“.

[768] Hanseatische Bundescontingente. Die Gegenwart eilt wieder im Sturmschritt anscheinlich in weiter Ferne aufgesteckt gewesenen Zielen entgegen, und wieder haben wir eine Zeit, in welcher der Geschäftsgang des Bundestags in Wochen jahreweit überholt wird. An Commissionen zur Untersuchung und Beplanung norddeutscher Küstenbefestigungen hat es zwar nicht gefehlt, es ist sicherlich auch Einiges darüber geredet, geschrieben und gezeichnet worden, nur geschehen ist nichts. In bandwurmartigen Verhandlungen mit Dänemark verschleppte sich die Thätigkeit der hohen Versammlung, und schon war eine Executions-Armee bis zum Abmarsch fertig, ohne daß deshalb für einen etwaigen Kriegsfall und etwaige Blokirung oder Beschießung und Brandschatzung offener und waffenloser deutscher Seestädte auch nur die geringste Vertheidigungsvorkehr getroffen worden wäre, als der Tod Friedrich’s VII. und die Thronbesteigung des Protokoll-Königs Christian IX. die Lage Schleswig-Holsteins, aber auch die Deutschlands total ändert und uns den Krieg, den wirklichen, wahrhaftigen, nicht den Feder- und Rednerbühnenkrieg, vor die Thore führt.

Möglich, daß wenigstens die deutschen Seestädte abermals ein „Zu spät!“ zu büßen haben, immerhin ist es aber nöthig, Gedanken jetzt laut auszusprechen, die vielleicht noch rasch zur That werden können. In Bremen ist zuerst die Ansicht geäußert worden, daß es für die Hansestädte zweckmäßiger wäre, wenn von Bundeswegen ihnen gestattet würde, ihre Contingente in Küstenvertheidigungstruppen umzugestalten. Es würde sich die äußerst nothwendige Küstenbefestigung alsdann von selbst verstehen, aber, als Bundessache, nicht den einzelnen Städten als eigene Last allein aufgebürdet, sondern von ganz Deutschland mit getragen werden. Ueber die Befestigungsweise müßten jedoch die Städte wohl gehört werden, und das würde sie für künftig vor Fortificationen bewahren, wie die hannöversche ist, welche Bremerhaven beschützen soll.

Ein ausgezeichneter Fachmann, der jenen Thurm und seine Umgebung in den jüngsten Tagen gerade in fortificatorischer Hinsicht musterte, sprach als seine entschiedene Ueberzeugung aus, daß es bei der ersten Annäherung einer feindlichen Flotte vor der Wesermündung für Bremerhaven nur ein Sicherungsmittel gebe: den Thurm sofort niederzureißen, weil er genau so angelegt sei, daß für alle Schüsse von den Kriegsschiffen, die den Thurm fehlen, Bremerhaven den Kugelfang bilde.

Es wird nun doch endlich gelten, die so lange von den Fachmännern mit eben so großer Begeisterung erfaßten, als mit Hartnäckigkeit zurückgewiesenen schwimmenden Revolverbatterien Wilh. Bauer’s wenigstens einer Probe zu würdigen. Wie wir hören, hat ein deutscher Edelmann die Mittel hergegeben, um die Bauer’schen Revolverbatterien im Modell herzustellen. Es wird sicherlich, nach der Prüfung des Modells, die Ausführung solcher Batterien auch in unseren Hansestädten nicht lange auf sich warten lassen. Eine bildliche und beschreibende Darstellung schwimmender Revolverbatterien hat Hr. Bauer der Gartenlaube zugesagt.





Sänger-Wahlspruch. Von verschiedenen Gesangvereinen ist neuerdings beschlossen worden, wie bei den Turnern einen viergliederigen Wahlspruch anznnehmen. Von einigen wurde als Symbolum: Leben, Liebe, Lust und Leid, von anderen wieder: Lenz, Licht, Liebe, Leben vorgeschlagen. Einer dieser Singvereine, der Halberstädter, hat sich die Sache schon früher folgendermaßen zurechtgelegt:

Lied und Liebe, Licht und Leben,
Sängerspruch – froh, fromm und frei!
Deutsches Lied bei deutschen Reben,
Deutsche Liebe, – deutsche Treu. –
Licht der Wahrheit, Licht und Leben,
Freies Leben, – Vaterland!
Lied, Licht, Leben, Liebe weben
Schwarzrothgold das Sängerband!





Der mißhandelte Schiller. Es hat sich erfüllt, das Wort, welches Goethe seinem großen Freunde in das vorzeitige Grab nachgerufen: „Das, was das Leben unserm Schiller nur halb ertheilt, die Nachwelt hat es ganz gegeben“ – die begeisterte, unentreißbare Verehrung seines Volkes. Er ist der Nationaldichter, und seine Werke, in Hundert- und Aberhunderttausenden von Exemplaren über den ganzen civilisirten Erdkreis verbreitet, sind das unvergängliche Geisteseigenthum der Nation geworden. Allein trotzdem müssen wir noch immer auf die Gewährung des gerechten Wunsches, einen solchen Dichter in unverfälschten und unbeschnittenen Ausgaben lesen zu können, vergeblich warten, und auch Jakob Grimm’s Mahnung, uns den wahren Urtext der Schiller’schen Dichtungen nicht länger vorzuenthalten, ist an der maßgebenden Stelle ungehört verhallt! Wird es aber nicht endlich einmal Zeit, jetzt, wo der unvergeßliche schon mehr als achtundfünfzig Jahre von uns gegangen ist, daß wir uns an seinen Werken erfreuen, so wie sie seinem Feuergeiste entquollen, daß wir einen Don Carlos erhalten, in dem auch die nachstehenden Verse nicht fehlen, die in der ersten Handschrift, wie wir hören, der Prinz dem Dominicaner in’s Gesicht schleudert und die bis jetzt in keine der mannigfachen Ausgaben der Schiller’schen Dichtungen aufgenommen worden sind.

     ...Ich kenne Dich!
Bist Du nicht der Dominicanermönch,
Der in der fürchterlichen Ordenskutte
Den Menschenmäkler machte? Bin ich irre?
Bist Du es nicht, der die Geheimnisse
Der Ohrenbeicht’ um baares Geld verkaufte?
Bist Du es nicht, der unter Gottes Larve
Die freche Brunst im fremden Ehbett löschte,
Den heißen Durst nach fremdem Golde kühlte,
Den Armen fraß und an dem Reichen saugte?
Bist Du es nicht, der ohne Menschlichkeit,
Ein Schlächterhund des heiligen Gerichts,
Die fetten Kälber in das Messer hetzte?
Bist Du der Henker nicht, der übermorgen
Zum Schimpf des Christenthums das Flammenfest
Des Glaubens feiert und zu Gottes Ehre
Der Hölle die verfluchte Gastung giebt?
Betrüg’ ich mich? Bist Du der Teufel nicht,
Den das vereinigte Geschrei des Volks,
Des Volks, das sonst an Henkerbühnen sich
Belustigt und an Scheiterhaufen weidet,
Den das vereinigte Geheul der Menschheit
Aus dem verhaßten Orden stieß?





Ein neues Andenken an das Leipziger Octoberfest. Zu den glorreichsten Episoden des großen Sieges von Leipzig zählt unbestritten die Heldenthat des Major Friccius, der mit seiner Königsberger Landwehr das äußere Grimmaische Thor stürmte. Wie wir neulich unsern Lesern mittheilten, hat der bekannte Geschichtsmaler Bleibtreu diese bedeutsame Scene in einem trefflichen Gemälde festgehalten. Neuerdings ist der nämliche Moment von Rechlin gemalt und von Riedel in Königsberg das Bild photographirt worden. Möchten wir nun auch, was künstlerische Auffassung und pittoreske Gruppirung angeht, dem Bleibtreu’schen Kunstwerke den Vorrang zugestehen, so ist dagegen auf dem immerhin sehr wackern Rechlin’schen Bilde das Local selbst und, wie uns dünkt, zugleich der ganze Vorgang wahrheitsgetreuer wiedergegeben. Wir glauben daher, die Photographie, welche zu dem Preise von 20 Neugroschen im Wege des Buchhandels erwerblich ist, als ein weiteres und nachträgliches Andenken an eine große Zeit und eine herrliche Jubelfeier derselben mit gutem Gewissen empfehlen zu können.




Die Redaction der Gartenlaube verdankt der Freundlichkeit des Herrn Professor Fechner (Mises) eine Anzahl von Räthseln und Charaden und macht es sich zum besondern Vergnügen, dieselben als Proben aus einem beabsichtigten zweiten Bändchen von des geistvollen Mises trefflichem „Räthselbüchlein“ nach und nach ihren Lesern mitzutheilen, überzeugt denselben damit eine sehr willkommene Gabe zu bieten.

Sylbenräthsel.

Die Erste heißt lateinisch hinten;
Doch deutsch bewegt sie sich nach vorn;
Die Andre ist stets vorn zu finden,
Als Schmuck und Waffe für den Zorn;
Das Ganze ist bald vorn, bald hinten,
Schweigt hinten und spectakelt vorn.




  1. Bracoon, eine große, wilde Alligatorart, die gern Menschen angreift.
  2. Letzterer ist den Norddeutschen als ehemaliger beliebter Brunnenarzt zu Franzensbad bekannt; er ward später Professor zu Padua und ist jetzt seit 14 Jahren Dirigent des großen allgemeinen Krankenhauses zu Wien.
  3. Diese Rede ist abgedruckt in mehreren österreichischen medicinischen Blättern (z. B. Wiener medicinische Wochenschrift 1862 Nr. 22, Prager medicinische Vierteljahrschrift 1862 IV.). Außerdem erschien sie in Sonderabdruck unter dem Titel: „Die feierliche Eröffnung des pathologisch anatomischen und chemischen Instituts etc. Festrede von Professor Dr. Carl Rokitansky, nebst einleitenden Worten von Regierungsrath und Professor Dr. Helm.“ Wien, Druck und Verlag von J. B. Wallishauser. 1862 gr. 8.
  4. Die vorstehende Thiercharakteristik ist einem noch ungedruckten Hefte von Dr A. E. Brehm’s im Verlage des Bibliographischen Instituts zu Hildburghausen erscheinendem „Illustrirtem Thierleben“ entlehnt. Die competentesten Urtheile stimmen darin überein, daß das Buch sich durch Inhalt und Illustrationen gleich auszeichnet und durch seinen verhältnißmäßig billigen Preis auch dem minder bemittelten Naturfreunde zugänglich ist. Von der lebendigen, frischen Darstellung wird unsere Leser der hier mitgetheilte Abschnitt überzeugen.       D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Baratariabatai