Die Gartenlaube (1865)/Heft 31

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[481]

No. 31.   1865.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Balbina.
Sittenbild aus unsern Tagen.
Von Franz Hedrich.
(Schluß.)


6.

Der Zucker-Toni war schon über vierzehn Tage im Grabe. Die Krankheil, an welcher er so plötzlich gestorben war, hatte der Chirurg Weißbart, der die Todtenschau im Namen des Gerichtes vorgenommen, als Nervenschlag bezeichnet. Dieser Todesfall war aber gegen alle Erwartung ohne die Folgen geblieben, auf welche Leonhard so siegesgewiß gerechnet und welche der Stegwirth als seinen Untergang gefürchtet hatte.

Die alle Muhme nämlich, welcher das ganze Erbe des kleinen Knaben anheimgefallen, war durch allerhand Vorkommnisse im Schooße ihrer Familie plötzlich gehindert, das Stegwirthshaus, ihrem Wunsche gemäß, zu übernehmen, und hatte deshalb gleich am Begräbnißtage dem Stegwirth aus eigenem Antrieb den Vorschlag gemacht, das ganze Besitzthum unter sehr billigen Bedingungen käuflich an sich zu bringen. Der Haufen der Sparpfennige, welche der Stegwirth seit zwei Jahren erübrigt hatte, war nicht groß und hätte bei weitem nicht hingereicht, den Kauf zu realisiren, wenn der Stegbauer, sonst nicht eben als hochherzig bekannt, seinen Säckel nicht aufgethan und tief hineingegriffen hätte, um sich seinen Schwiegersohn zu erhalten.

So war der Stegwirth durch ein Unglück, vor dem er Tag und Nacht gezittert, aus einem provisorischen Dasein herausgekommen und ein unabsetzbarer Besitzer geworden. Da aber hatte er auch nicht mehr länger gesäumt, Hochzeit zu machen, um dem tückischen Schicksal keine Zeit mehr zu lassen, ihm von irgend einer Seite ein neues Hinderniß der Arrondirung auf den Weg zu wälzen. Am nächstfolgenden Sonntag nach dem Himmelfahrtsfeste ging schon die kirchliche Trauung des Stegwirths und Brigitta’s vor sich. Ein großartiges Hochzeitsmahl schloß sich derselben unmittelbar an, zu welchem der Bräutigam die zahlreiche Verwandtschaft und mit einer sein Geschäft berücksichtigenden Noblesse alle ansehnlichen Stammgäste und Kunden eingeladen hatte.

Im Gebirge sind Hochzeiten allgemeine Volksfeste, an welchen sich alle Welt von nah und fern zu betheiligen pflegt. Je angesehener das Brautpaar ist, desto größer der Zudrang. An dem heutigen Tage war daher eine solche Menschenmasse zusammengeströmt, wie man es bei einer gleichen Veranlassung seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Das Wirthshaus und alle Plätze im Freien waren von Gästen vollgepfropft, von welchen die Mehrzahl den Tanz, diesen Glanz- und Gipfelpunkt eines solchen Festes, ungeduldig erwartete.

Der Abend war schon da, als die Musik nach beendigter Tafel endlich beginnen durfte. Es wurde auf drei verschiedenen Plätzen getanzt, im Vorhause, im kleinen Saal, die im oberen Stockwerk gelegen waren, und unten zu ebener Erde in einem sehr geräumigen Local, welches auch den Namen seiner ursprünglichen Bestimmung, der Hochzeitssaal, führte. Es verstand sich von selbst, daß sich in diesem letzteren das Hochzeitspaar und die vornehmere Welt beim Tanz belustigte und herumtummelte.

Der Stegwirth war äußerst lustig, voll einer ausgelassenen Freude, welche man gar nie an ihm gekannt hatte und die beinahe mit der frischen Trauer, welche er im Herzen trug, nicht so recht vereinbar schien. Auch Brigitta war von einer außerordentlichen Fröhlichkeit und konnte die Ausbrüche ihrer Freude kaum bändigen, daß sie ihr Ideal erreicht hatte und eine Wirthin geworden war.

Nicht minder lebhaft und fröhlich, als im Tanzsaal, ging es in der anstoßenden Stube her. Hier war großes Geräusch, überlautes Lachen, viel Gezänk, unerträgliche Schwüle und ein undurchdringlicher Tabaksqualm. Um die Hochzeitstafel herum, die in der Mitte stand, waren die zahlreichen Tische von einem gemischten Publicum, meist von Burgsauern, besetzt. Jeder saß da, wo er beim Kommen Platz gefunden hatte.

Nur ein größerer Tisch machte eine Ausnahme. Um diesen saßen die Honoratioren herum, der Herr Pfarrer mit dem Caplan, mehrere Verwaltungsbeamte in fürstlichen Diensten, der Chirurg Weißbart und sogar Grüneisen mit dem unvermeidlichen Corporalstocke. Am Nachbartische befand sich ein vollständig obscures Publicum, bis auf drei Personen, den Dorfmaler Peter Auringer, vulgo Schmierpeter genannt, den alten Balthasar und den Ortskrämer Staubmann.

Auf Mitternacht war es nicht mehr weit. Der alte Balthasar, kein Freund geselliger Unterhaltung, hatte dem Stegwirth die Ehre anthun müssen und es hatte ihn viel Ueberwindung gekostet, so lange auszuharren. Eben war er endlich im Begriffe zu gehen, als ihn ein am Honoratiorentische begonnenes Gespräch von Neuem an seinen Stuhl fesselte.

„Daß aber der Förster noch immer nicht kommt!“ rief der Caplan. „Da geben Sie Acht, da ist Etwas passirt!“

„Jetzt glaub’ ich es selbst,“ versetzte Weißbart. „Der bleibt bei einer Lustbarkeit ohne Ursache nicht aus, am wenigsten heute. Um zwei, drei Uhr sollte er schon zurückgekommen sein. Leicht möglich, daß einem der fremden Herren ein Unglück zugestoßen ist!“

„Nichts leichter!“ sagte der Rentbeamte. „Ich war auf der [482] Dreikönigsspitz nicht oben, aber ich höre von den besten Steigern, daß das seine großen Mucken hat. Da fällt man nicht blos hin, wenn man Unglück hat, da zerschlägt man sich gleich zu Brei.“

„Um den Förster ist’s mir nicht bange,“ bemerkte der Pfarrer. „Der versteht’s, der hat ein Gangwerk! Aber die Herren, die Herren!“

Balthasar’s Aufmerksamkeit wurde in dem Moment abgelenkt und auf eine höchst unangenehme Weise anderswohin gezogen.

Leonhard war eingetreten. Den Hut weit und keck auf einer Seite, schlenderte er mit dem Schein seiner gewöhnlichen Sorglosigkeit und Ungenirtheit in den Saal herein. Sein erster Blick fiel auf Balthasar, welcher sich gern vor ihm unsichtbar gemacht hätte.

„Rücke weiter!“ sagte Leonhard zum Wunderdoktor, während er sich schon an die Ecke der Bank setzte und Balthasar nicht gerade sanft an den Nachbar weiter drängte.

„Wo kommst Du so spät noch her?“ fragte Balthasar mit schwer erkünstelter Cordialität.

Es erfolgte keine Antwort, Leonhard saß, den Hut auf dem Kopfe, die Hände in der Tasche, zu Boden blickend und finster brütend, da.

„Es thut mir leid, daß ich gerade schon gehen muß,“ sagte der Dorfarzt.

„Wir gehen miteinander,“ warf Leonhard verdrießlich, doch auch gebieterisch hin.

„Weißt Du, es ist wegen morgen,“ bemerkte Balthasar in einem Rücksicht erbittenden Tone. „Meine Patienten!“

„Deine Patienten?“ rief Leonhard ziemlich laut und höhnisch. „Muß denn morgen wieder Einer crepiren?“

Balthasar fuhr wie geschossen zurück, während der Ortskrämer, der es gehört hatte, doch ohne die tiefere Beziehung verstanden zu haben, mit der wildesten Schadenfreude lachte.

„Du kennst Dich aus, Leonhard!“ sagte er und lachte von Neuem, als wenn er platzen wollte.

Leonhard erwiderte Nichts und saß, wie früher, stumm und brütend da.

Balthasar traute sich kein Wort vorzubringen und dachte nach, was nun am besten zu thun sei.

„Stark angetrunken ist er und ein böser Kerl durch und durch! Er macht heute einen Scandal! Fortgehen läßt er mich nicht oder es bricht los! Ließe er mich fortgehen und bliebe er hier, so gewinne ich sehr wenig dabei. Er wird im Rausche Dinge plaudern, die mir gerade so schaden, als wenn ich dasäße. Gescheidter wird es sein, ich bleibe und behalte den Teufel im Auge und in der Hand! Ich weiß schon, wie!“

„Camerad!“ sagte er unmittelbar mit jovialer Miene. „Was glaubst Du, wenn wir unser Bier stehen lassen und eine Flasche Wein trinken?“

„Zwei Flaschen, drei Flaschen, wie Du willst!“ gab Leonhard, wie aufgemuntert, zur Antwort.

Balthasar bestellte den Wein, wobei er für sich brummte: „Trinken soll er, daß er seine Zunge nicht heben kann! Herrgott, das gäbe eine elende Geschichte!“

Das Gespräch am Nebentische hatte sich inzwischen noch immer um die Bergbesteiger gedreht.

„Einer der Herren soll ein Baron aus Wien sein,“ sagte einer der Beamten.

„Der andere ein Maler,“ fügte Weißbart aus dem Stegreif hinzu, um Schmierpeter zu necken, der sich in die Nähe gestellt und dem ganzen Gespräch beigewohnt hatte.

„Ein Maler?“ fragte Jemand.

„Ja,“ versetzte der Chirurg dreist. „Es soll der Maler sein, der das große Gemälde in der Kapelle gemalt hat.“

„Welcher von den Herren ?“ fragte Schmierpeter, neugierig anbeißend. „Der mit dem schwarzen, oder der mit dem blonden Bart?“

„Der Schwarze!“ gab Weißbart zur Antwort. „Er soll dafür zweitausend Gulden erhalten haben.“

„Da seh’ Einer her!“ rief Schmierpeter wie elektrisirt. „Zwei tausend Gulden! Da läßt sich freilich viel dafür leisten!“

„Für so viel Geld,“ rief ihm der Krämer vom anderen Tische zu, „würdest Du gewiß die ganze Welt beschmieren!“

„Schimpft zu!“ sagte Schmierpeter. „Für das, was Ihr zahlt, ist meine Malerei noch zu gut! Da auf dem Wirthshaus hab’ ich ein Bild gemalt! Da ist darauf ein Fuhrmann, ein Lastwagen, vier schwere Pferde, fünf Bäume und ein Pintsch – und das Alles für achtundvierzig Kreuzer! Hinten ist das Auge Gottes – da hab’ ich fünf Groschen verlangt und der Stegwirth zieht mir noch einen Groschen ab! Bei diesen Preisen soll Einem ein Bild gelingen! Wenn man mich so bezahlt, daß ich nicht eilen und mit dem Pinsel galoppiren muß, so liefere ich ein Gemälde, das dem in der neuen Kapelle nicht nachstehen soll!“

„Trabe nicht auf einem so hohen Pferd!“ fiel der Rentbeamte den Dorfmaler an. „Du bist der Schmierpeter, aber jener Andere ist ein großer Künstler, welcher Dich gar nicht brauchen könnte, um ihm bei der Arbeit zuzusehen!“

„Das muß wahr sein!“ rief der Krämer, indem er an den Honoratiorentisch trat, mit viel Feuer. „Das glaubt auch Jedermann. Ich habe schon oft das jüngste Gericht abgemalt gesehen, aber ich erinnere mich nicht, daß ich einmal viel dabei gedacht hätte. Da aber konnt’ ich mich nicht satt sehen! Am besten freilich hat mir die Kindsmörderin gefallen. Es ist abscheulich, was sie gethan hat, aber ich konnte die Augen gar nicht von ihr wegbringen. Zu guter Letzt hat sie mich noch mehr gedauert, als der arme Wurm!“

Da erhob sich Grüneisen ingrimmig und sagte, mit dem Stocke auf den Boden klopfend, zum Krämer: „Schäme Dich, so was zu sagen! Eine solche Person könnte mir ein Gesicht machen, welches sie wollte, so arretire ich sie, und ihr gehört der Strick!“

„Was heißt das?“ sprach Weißbart hetzend. „Gar Nichts! Wenn Jemand das im Wirthshaus über einen König sagte, was der Maler hingemalt hat, so arretirst Du ihn auch!“

„Das ist auch zu stark freisinnig!“ rief der Gerichtsdiener voll Hitze. „Das würde die Censur nirgends in der Welt durchmachen, aber in einer Kirche läßt man es ruhig hängen. Ein gesalbtes Haupt ist ein gesalbtes Haupt!“

„Auf Erden, aber nicht drüben!“ rief Leonhard, sich einmischend, mit dem Weinglase in der Hand dem Gerichtsdiener zu. „Wenn der größte König vor unseren Herrgott treten soll, so glaube ja nicht, daß zuvor Böllerschüsse abgefeuert werden, alter Narr!“

„Das soll ich von Dir lernen?“ erwiderte der Gerichtsdiener, wie zum Losschlagen bereit. „Von Dir, der Du noch keinen König im ganzen Leben gesehen hast, außer dem Eichelkönig oder dem Herzkönig? Ich bin aber schon vor dem König von Toscana Wache gestanden, vor dem Großfürsten von Sachsen –“

„Du hast Könige gesehen,“ sagte Leonhard mit ein wenig holpriger Zunge, „aber wenn Dich einer von ihnen gesehen hätte, dann könntest Du davon reden!“

Ohne die Antwort abzuwarten, noch sie anzuhören, trat er einige Schritte zurück und sang mit hellklingender, Alles beherrschender Stimme:

„Ich kümmre mich nicht um die Leut’,
Bin alleweil lustig und munter,
Und hab’ ich d’rin ein Herzeleid,
Nehm’ ich das Glas und schluck’s hinunter!“

Er stürzte das Glas hinab und ließ einen gewaltigen Jodler folgen, worauf er sich auf seinen alten Platz setzte.

„Er kommt doch auf andere Gedanken,“ sagte Balthasar zu sich selbst und rieb sich unter dem Tisch die Hände.

Da wurde der Stegwirth, der, vom Tanzen und Serviren immerfort in Anspruch genommen, durch die Wirthsstube eilte, an den Honoratiorentisch gerufen und dort von dem boshaften Chirurgen mit den Worten empfangen:

„Du tanzest heut alle Weibsbilder nieder! Du hast auch viel Kummer gehabt. Gott Lob, daß man Dir heute nichts anmerkt, da Du doch vor so kurzer Zeit Deinen Toni verloren hast!“

Die meisten der Anwesenden lächelten spöttisch, nur der Stegwirth blieb ernst und sagte ernst: „Ich habe viel Freude mit dem Kinde gehabt, aber auch viel Sorge. Wenn es so fortgedauert hätte, ich wäre vor Aengsten verrückt geworden! Wenn der Toni geschrieen hat – und daran hat es den ganzen lieben Tag nicht gefehlt – so habe ich einen Stich bis in die Eingeweide bekommen, daß ich selber gern mitgeschrieen hätte. Das glaubt mir, Ihr Herren! Aber der liebe Gott weiß am besten, was er thut und was uns gut ist!“

Leonhard, der halb träumend, halb brütend dagesessen hatte, schlug die Augen auf und heftete seine Blicke auf den Stegwirth. Balthasar war dabei unheimlich zu Muthe.

[483] „Der Zucker-Toni hat uns nichts genutzt,“ sagte Leonhard so laut, daß es die Umsitzenden hören konnten, und fuhr, obwohl ihn Balthasar unter dem Tische stieß und zwickte, mit ungedämpfter Stimme fort: „Diesem Bierzapfer da, dem hättest Du mit einem Loth Rattengift die Suppe salzen sollen! Da wären wir sicherer gegangen! Ja, wer zu rechter Zeit an Alles dächte! Der Zucker-Toni hätte am Leben bleiben können!“

Er schlug sich mehrmals unbarmherzig auf die Stirn. Balthasar, der ganz gebebt hatte, sah sich überall um und beruhigte sich erst ein wenig, als er sich überzeugt hatte, daß Niemand auf Leonhard aufmerksam gewesen war. „Du trinkst nichts!“ sagte er, dem schrecklichen Mitzecher sein Glas reichend.

Leonhard that einen raschen Griff darnach und goß es auf einen Zug in den Hals hinunter.

„Der Wein ist gut,“ sagte er mit schwerer Zunge, „aber bald wird es heißen: ‚Leonhard, trinke Wasser!‘ So wäre es nicht gekommen, wenn Du dem Stegwirth das Pulver verordnet hättest, welches Du dem Zucker-Toni eingegeben hast! Das war ein scharfes Pulver!“

„Bist Du närrisch?“ sagte Balthasar außer sich, da der Krämer aufzupassen begann. „Du weißt nicht mehr, was Du sprichst!“

Leonhard hörte ihn nicht, er war eingeschlummert.

„Was thun?“ fragte sich der Wunderdoctor im Stillen. „Ich muß ihm etwas weis machen!“ Er schüttelte Leonhard.

„Was giebt’s?“ fragte dieser in großem Rausche.

„Was Wichtiges!“ sagte der Alte mit leiser Stimme. „Das ist ein guter Einfall und das Aeußerste, was uns übrig bleibt, Dir, um eine Braut zu kriegen, mir, um zu meinen fünfhundert Gulden wieder zu kommen.“

„Ei, der Tausend!“ rief Leonhard wie ernüchtert.

„Ich gebe Dir mein Wort,“ sagte Balthasar, „daß Balbina, ehe vier Wochen vergehen, Dein Weib werden wird!“

„Das war der Mühe werth, daß Du mich weckst,“ versetzte Leonhard voll Geringschätzung, wieder zusammenfallend.

„Ich weiß, was ich sage,“ fuhr der Alte fort, „Du kriegst sie; sie ist Dir gewiß!“

„Wie das?“ fragte Leonhard. „Hättest Du auch solche Zaubertränke?“

„Ja und nein,“ gab Balthasar zur Antwort. „Ich habe nämlich eine eigene Macht über sie. Ich weiß, wo ich mit dem Daumen drücken muß, um diesen eigensinnigen Weiberschädel zu öffnen! Da verlaß Dich darauf!“

„Sage mir doch, wie?“ sagte Leonhard, dem die Hoffnung wieder leuchtete.

„Das behalt’ ich noch für mich,“ gab der Wunderdoctor zur Antwort. „Ich verspreche Dir, daß ich es zu Stande bringe, und das ist Dir genug!“

„Du meinst?“ rief Leonhard, freudig aufspringend.

„Gewiß,“ lautete die Antwort.

„Da wäre noch Alles gut!“ rief Leonhard. „Prächtig, prächtig! Thu’s! Aber auf die frohe Botschaft muß noch eine Flasche ihr Leben lassen!“

„Einverstanden!“ sprach Balthasar. „Aber höre,“ flüsterte er ihm zu, „über den Zucker-Toni kein Wort mehr! Es ist ohnehin nur dummes Zeug, aber wenn Jemand aufpassen würde, könnten wir uns die Finger verbrennen!“

„Da hast Du Recht!“ stimmte Leonhard bei, sich den Rest aus der Flasche einschenkend. „Stoß’ an, alter Camerad und Herzensbruder!“

Sie stießen an, Balthasar war mit dem Erfolge zufrieden.

Leonhard hatte sich mit einem Glase aus der frischen Flasche erhoben und sang ohne alle Rücksicht mit der vollsten Anwendung seines Organs:

„Wenn alle Leute auf der Welt,
Ein Leben wie die Heil’gen führen,
Dann hat der Pfarrer keine Seel’,
Als seine Köchin zum Absolviren!“

Er hatte kaum zu Ende gesungen, als Grüneisen wie ein Rasender auf ihn zugesprungen kam und ihn andonnerte: „Ein solches Lied! Weißt Du nicht, wer Alles dasitzt?“

„Das Lied ist nicht neu,“ gab Leonhard mit erstaunlicher Ruhe zur Antwort. „Das solltest Du schon hundert Mal gehört haben, denn ohne Dich geht kein Tanz zu Ende und keine Trinkerei!“

„Gehört hab’ ich es freilich schon,“ polterte der Gerichtsdiener, „aber Du solltest mehr Anstand haben! Der Herr Pfarrer sitzt beinahe neben Dir und muß sich, wenn er so was hört, bei der Nase nehmen!“

Es erhob sich ein schallendes Gelächter, in welches der Pfarrer selbst einstimmte und in Folge dessen Grüneisen’s Zorn grenzenlos wurde.

„Ich arretire Dich!“ rief er, nach Leonhard die Hand ausstreckend.

„Laß gehen!“ sagte dieser zurückweichend mit erhobenem Finger. „Wenn ich nach Dir lange, so bist Du im Ruhestand bis zum jüngsten Tag!“

Dieser Streit, auf solcher Höhe angelangt, wurde durch die mehrstimmigen lauten Rufe: „Der Förster, der Förster!“ unterbrochen.

Der Förster war wirklich noch so spät gekommen, als schon Alles dem Auseinandergehen nahe war.

„Euch ist gewiß ein Malheur passirt!“ rief man ihm von allen Seiten entgegen.

„Ja,“ sagte der Förster, „ein Malheur ist allerdings passirt, das uns aber nichts angeht. Wir übernachten heut auf der Oberanger-Alm und kommen glücklich zum Sonnenaufgang auf die Dreikönigsspitz hinaus. Auf dem Rückweg heute, ungefähr um elf, halten wir Mittag, vom Dreikönigssee einen Büchsenschuß weit. Da geht inzwischen einer der Herren an’s Ufer und schreit uns zu, daß wir hinkommen. Wir kommen, da liegt auf einer Stelle, wo das Wasser nur eine gute Klafter tief ist, ein Leichnam auf dem Grund – eine Frauensperson. Und denkt, wer? Das fällt Keinem ein! Die Balbina, die Balbina!“

Diese Neuigkeit erregte die größte Sensation und Verwunderung in der ganzen Stube, aber die Wirkung, die sie auf Leonhard hervorbrachte, war von schlagähnlicher Gewalt. Wie leblos saß er da, alle Glieder waren in der nämlichen Haltung erstarrt, welche sie gehabt hatten, als der Name der Ertrunkenen genannt worden war. Er hielt noch immer die Weinflasche, aus welcher er sich hatte einschenken wollen, jedoch nur ihren Hals. Das Glas hatte dem krampfhaften Zusammenziehen und Zusammenpressen der Finger nicht widerstanden und die Flasche war entzweigebrochen.

„Was hätte ein so stilles und ordentliches Mädchen in’s Wasser getrieben?“ ergriff der Pfarrer das Wort, sobald der Förster seinen Bericht geschlossen hatte. „Sie muß irgendwie verunglückt sein!“

„Gott weiß,“ rief der Rentbeamte voll Bedauern.

„Sie hat sich hineingestürzt, das glaub’ ich!“ sagte der Chirurg Weißbart, allem Mitleid unzugänglich und gleich bereit, aus dem erschütterndsten Ereigniß einen Prügel für Andere zu schneiden. „Sie wird sich arg geschämt haben! Ist das eine Kleinigkeit? Sie war zweimal Braut innerhalb von vier Wochen, und der Eine und der Andere hat sie sitzen lassen!“

„Wenn ich ledig gewesen wäre,“ rief der Krämer mit hoher Wärme, „die hätte die Meinige werden müssen und keine Andere!“

Leonhard war indeß aus seiner Erstarrung erwacht und hatte sich langsam wie ein Verschlafener erhoben. Ebenso langsam hatte er die Hand, mit welcher er die Flasche gehalten, emporgehoben und sah in ihre Fläche kopfschüttelnd hinein. Die Hand war an mehreren Stellen verletzt und blutete sehr heftig.

Wie von dem Anblick des Blutes belebt, raffte sich Leonhard stramm zusammen und wandte sich mit wilden Blicken nach allen Seiten hin, wie wenn er Jemanden suchte, um über ihn herzufallen, aber er senkte gleich wieder den Kopf, sah seine verwundete Hand an und stürzte hin- und hertaumelnd, aber doch schnell aus der Stube hinaus.

„Habt Ihr den Leonhard angesehen?“ sagte der Pfarrer.

„Ja,“ versetzte Grüneisen, „den hat es garstig gepackt!“

„Das glaub’ ich nicht, Hochwürden,“ erkühnte sich Balthasar das Wort zu ergreifen, um alle Excesse, die er von Leonhard bei dessen Rückkehr sicher erwartete, in ihr Licht zu stellen und etwaige Anspielungen auf den Zucker-Toni abzuschwächen. „So viel Gefühl hat er gar nicht, am wenigsten, wenn er so vollgetrunken ist, wie heut! Es ist ja bekannt, wenn er im Rausche ist, da schont er nichts. Er hat schon ein so gotteslästerliches Zeug zu mir geschwätzt, daß ich schon mehrmals mich habe wegsetzen wollen. Er macht noch Scandal, aber so lange wart’ ich nicht!“ Er nahm Hut und Stock und wollte hinauseilen.

[484] „Du, Balthasar,“ redete ihn der Förster, auf ihn aufmerksam geworden, an. „Balbina war ja krank und Du sollst zu ihr gerufen worden sein!“

„Ja, ja,“ stotterte der Wunderdoctor, aus einer peinlichen Verlegenheit in die andere geworfen. „Es war ein starkes Fieber da, sie hat auch ein wenig Irrreden geführt, aber gestern war sie schon ruhig und die Besserung war vorauszusehen!“

Ohne sich länger aufhalten zu lassen, entfernte er sich mit großen Schritten, voll Angst, noch dem Leonhard in den Wurf zu kommen.

Es war schon spät geworden. Die Hähne krähten bereits lange im Hofe. Ein bedeutender Theil der Gäste war schon verschwunden und der Rest machte sich auf den Heimweg, denn die Tanzmusik hatte auf des Stegwirths Geheiß zu spielen aufgehört. Das Hochzeitsfest war aus und das junge Ehepaar begab sich endlich hochvergnügt nach der Schlafkammer, von den Schwiegereltern und einigen Verwandten geleitet. Der Eingang zur Schlafkammer war mit Blumen und Namenszügen auf’s Festlichste decorirt, und Brigitta, der es ausnehmend gefiel, sprang voran, um ja schnell die Ausschmückung im Innern in Augenschein zu nehmen.

Kaum hatte sie die Thür aufgeschlagen, so that sie einen Schrei und fiel ohnmächtig zusammen. Zwischen der Thür und dem Bette, über welchem lange Rosenguirlanden herabhingen, hing auch Leonhard an einem Kleiderhaken aufgeknüpft. Neben ihm an der Wand war seine blutige Hand abgedrückt.

Brigitta kam bald nachher zu sich, verblieb aber in einem sehr aufgeregten Zustande, in welchem sie sich schwere, freilich unbegründete Gewissensbisse machte. Sie war vorerst nicht zu trösten und nicht zu bewegen, die Nacht in diesem Hause zuzubringen.




7.

Sobald Leonhard’s Ende ruchbar geworden war, säumten seine Gläubiger nicht lange, kund zu thun, daß nicht Liebesgram, sondern große Ueberschuldung das Motiv seiner That gewesen war. Bis zu dieser Beleuchtung der Sache hatte sich Brigitta mit Vorwürfen gequält und sich gescheut, den Fuß in’s Wirthshaus zu setzen, nun aber war ihr Gemüth mit einem Schlage heiter geworden und sie konnte endlich die Wirthin zu spielen anfangen. Das Ehepaar hatte in der That eine schaurige Reihe von Klippen übersteigen müssen, ehe es ihm gelungen war, sich zu arrondiren.

Hinter der Kirchhofsmauer des Franciscanerklosters in ungeweihter, ja durch die Erinnerung an die dort Verscharrten verfluchter Erde lagen aber auch schon die beiden Unglücklichen, welche selbst die Hand an sich gelegt, der wilde Leonhard und die schöne Balbina, nebeneinander begraben. Auch diese Zwei waren arrondirt.

Die Phantasie des Volkes, die sich mit düsteren Ereignissen lange beschäftigt, besonders im Hochgebirge, wo es so alltäglich hergeht und nicht, wie in den Städten, eine Neuigkeit die andere jagt, hatte bald erfunden, daß es hinter der Kirchhofsmauer allnächtlich umgehe.

Es ist gebräuchlich, Gespenster um Mitternacht erscheinen zu lassen, hier – seltsam – sollte sich der Geist kurz vor der Morgendämmerung einstellen und eine Zeit lang auf den Selbstmörder-Gräbern aufhalten.

Es war ein wildfremdes, mit den hiesigen Verhältnissen ganz unbekanntes Weib, welches bald darauf erzählt hatte, daß es den Wiesenweg an der Kirchhofsmauer, wo die berüchtigte Stelle ist, kurz vor Sonnenaufgang gegangen sei und dort in kleiner Entfernung eine Gestalt gesehen habe, welche nackt und mit Striemen bedeckt war und blitzschnell in die Erde versank.

Dieses Zeugniß, gleichsam aus einem unbefangenen Munde, mußte die größte Sensation erregen, aber in kurzer Zeit schlief wieder Alles ein, da Niemand seither den Geist wieder gesehen hatte. Dennoch war die Aussage des fremden Weibes nicht aus der Luft gegriffen.

Eine kurze Zeit darauf, als das Weib die Erscheinung gesehen zu haben behauptete, kam einer der Väter aus dem Kloster des Weges daher, vom Pfarrer von Burgsau bestellt, eine Morgenmesse aushülfsweise zu lesen. Es war schon tageshell. Da sah er einen entkleideten Körper, der auf dem Gesichte lag, auf der Grabstätte der Selbstmörder vor sich. Daneben lag eine vielschwänzige lederne Peitsche, einige Kleidungsstücke, darunter eine Franciscaner-Kutte. Der Rücken des Körpers war von Hieben entstellt. Der Hinterkopf zeigte die Tonsur.

Der Mönch brachte den Unglücklichen in sitzende Stellung, indem er ihn mit dem Rücken an die Mauer lehnte, und sobald er das Gesicht erblickt hatte, erkannte er einen Ordensbruder, den Frater Peregrin, welcher das vielangestaunte Wandgemälde in der Kapelle vollendet hatte. Frater Peregrin war Balbina’s ehemaliger Liebhaber Veit und Schmierpeters Schüler. Es war ein schrecklicher Weg, welchen er zurückgelegt hatte, seit er der Werkstätte seines schlichten Meisters in Burgsau entlaufen war, bis zu dem Moment, da er jetzt auf dem Grabe seiner einstigen Geliebten gefunden wurde.

Nach dem unglückseligen Vorfall auf der Oberanger-Alm hatte er, von Entsetzen erfüllt, an der Zukunft einer großen, sein ganzes Wesen verschlingenden Liebe verzweifelnd, die Flucht ergriffen, ohne bedacht zu haben, wohin er sich wenden werde. Er war damals vierundzwanzig Jahre alt. Nach kurzem Herumirren hatte er die Richtung seines Weges gefunden und beschlossen, nach Wien zu gehen, wo ein berühmter Maler wohnte, welcher sich im vergangenen Sommer im Burgsauer Gebirge längere Zeit aufgehalten hatte.

Dieser Künstler hatte Veit liebgewonnen und auch dessen Talent durchblickt und ihm den Antrag gestellt, daß er ihn mitnehmen und für seine Ausbildung sorgen werde. Veit wäre damals sogleich mit tausend Freuden mitgegangen, hatte sich aber, von Balbina gefesselt, vorerst dafür bedankt. Jetzt, da die Liebesbande so schrecklich gesprengt waren, hatte er seinen Gönner aufgesucht und war von ihm auf das Herzlichste empfangen worden. Veit hatte in kurzer Zeit in solcher Schule erstaunliche Fortschritte in seiner Kunst gemacht, aber sein Gemüth hatte den empfangenen Schlag nicht zu überwinden vermocht. Schmerz über die gewaltsam gebrochene erste Liebe, gesteigert durch angeborene künstlerische Excentricität, und endlose Rückblicke auf die Oberanger-Alm, unterwühlten seine Seele, welche dadurch aus dem Gleichgewichte kam und in dem Bewußtsein, es nicht wieder zu erringen, sich verzweiflungsvoll noch rascher kopfüber stürzte.

Veit begann ein tolles Leben in Saus und Braus, welches seine Gesundheit untergraben half, so daß er vor anderthalb Jahren, mit sich zerfallen, weltmüde und körperlich leidend, in ein Franciscanerkloster trat.

Nicht lange darauf hatte er gehört, daß die Kapelle in Burgsau, wo seine Gedanken zu seinem Verderben am liebsten verweilten, restaurirt werden sollte, und er bot sich an, den Carton eines jüngsten Gerichts, den er dem Guardian zugesandt hatte, in Farben auszuführen. Seitdem hatte er in Burgsau gelebt und sein täglicher Weg war aus der Zelle in die Kapelle. Der Guardian, welcher allein seine Abkunft kannte, begünstigte die Heimlichkeit seines Aufenthaltes, die sich Veit als alleiniges Honorar ausbedungen hatte.

Er war also das Gespenst, welches seit Balbina’s Bestattung allnächtlich an der Kirchhofsmauer spukte. Da büßte er die Sünden seiner Jugend, indem er an dem Grabe des Weibes, das er verführt und dessen Unglück er veranlaßt hatte, trauerte und die Vergangenheit seines noch jungen, kaum begonnenen Lebens mit der Büßergeißel strafte. Heute schien ihn eine Ohnmacht überrascht und an der heimlichen Rückkehr gehindert zu haben.

In seine Zelle zurückgebracht, kam er wieder zu sich. Sein erstes Wort waren Vorwürfe, warum man ihn in’s Leben zurückgeschleppt habe. Wenn ihm aber der Klosterarzt, der ihn behandelte, die volle Wahrheit hätte sagen dürfen, so würde er zu seinem Troste erfahren haben, daß seine Tage gezählt waren. Von nun an strenger überwacht, konnte er den nächtlichen Ausgang nicht unternehmen, und daher sahen die Burgsauer die Erscheinung an der Kirchhofsmauer nicht mehr.

Die Klosterbrüder betrachteten den am Leib und an der Seele Kranken mit verschiedenen Augen, doch so, daß allem Entsetzen vor dem Sünder, den ein mysteriöses Verbrechen zu foltern schien, auch Mitleid im reichsten Maße beigemischt war. Der Guardian war jedoch nicht allein von einem rein menschlichen Gefühle und Interesse bewegt. Er, als Kunstkenner und Kunstfreund, fühlte die schmerzvolle und zugleich erhabene Erschütterung, daß ein seltenes Kunstgenie, welches dem Tode nie verfallen sollte, im Gegentheil gar so frühzeitig und gar so jämmerlich ende.

„Die Vorsehung ist wunderbar und unerfaßlich,“ sagte er

[485]

Emma Edmonds, das Heldenweib der Unionsarmee.


einmal im Refectorium. „Sie hat ihm einen Genius gegeben, mit welchem er wuchern und den er nicht vergraben sollte. Das war doch der Zweck. Aber hätte er das Kunstwerk, das unsere Kapelle für ewige Zeiten schmückt, vollbringen können, wenn er ruhig und zufrieden gelebt und nicht gesündigt hätte, wenn sein Herz nicht von Reue geviertheilt und seine Seele von allen erdenklichen Schmerzen bestürmt und so mächtig ausgespannt worden wäre?“

Die Mönche begriffen diese tiefsinnige Bemerkung nicht. Der Guardian war nicht lange darauf zum Frater Peregrin gekommen, dessen Zustand sehr bedenklich war.

„Hochwürden,“ sagte der junge Mönch, indem seine sonst matten Augen blitzartig aufleuchteten und seine leidenden Mienen eine augenblickliche Belebung und Kraft zeigten, „erlauben Sie, daß ich die Zelle verlasse.“

„Darüber kann ich nicht entscheiden, lieber Bruder,“ gab der Guardian zur Antwort, „sondern der Arzt.“

„Ich werde nicht weit gehen –“ sagte der kranke Frater, wie von einem Gedanken ergriffen und ihm nachhängend.

„Es geht auf keinen Fall,“ versetzte der Guardian ruhig, doch entschieden, denn er befürchtete, daß es sich um einen Gang an die Kirchhofsmauer handle.

„Das ist schlimm,“ murmelte Frater Peregrin, in plötzliche Apathie verfallend.

„Es thut mir leid,“ sagte der Guardian bewegt und mild. „Warten Sie ein paar Tage! Wenn die Besserung anhält –“

„Wenn ich warten könnte!“ fiel ihm der Schwerkranke in’s Wort. „Ich fühle, daß ich diesen Augenblick benützen muß!“

„Wozu?“ fragte der Guardian nicht ohne Besorgniß.

„Ich habe heute Nacht einen Einfall gehabt,“ antwortete Frater Peregrin. „Ich möchte noch eine kleine Verbesserung an meinem Wandgemälde vornehmen.“

„Das Ganze ist so vortrefflich,“ sagte der Guardian, „daß ich Sie gar nicht verstehe. Lassen Sie es, wie es ist! Dieses Meisterwerk kann sogar Ihre Hand entbehren! Ersparen Sie sich die Aufregung, welche die Arbeit mit sich brächte.“

„Wenn ich erfinde,“ sprach der kranke Mönch, „das greift mich an. Wenn ich mir klar bin, wie jetzt, und ausführe, thut es der Pinsel allein. Da bin ich ruhig, daß ich ein Lied dabei pfeifen könnte.“

„Sie wollen wirklich –?“ sprach der Guardian im Nachsinnen, zwischen die Einsicht, das Verbot aufrecht halten zu müssen, und die Versuchung getheilt, den letzten Wunsch des sterbenden Meisters zu erfüllen, der das Verlangen trug, seinem künstlerischen Testament einen kurzen Zusatzartikel beizufügen.

„Ein Nachmittag reicht hin,“ bat der Kranke mit einem beschwörenden Schmerzensblick.

Der Guardian schwankte. Wenn er die abgezehrte Gestalt und das hohläugige Gesicht anblickte, so wollte er versagen, wenn er aber das Gewicht der Bitte berücksichtigte, wollte er die Erlaubniß ertheilen. Er sagte nach einer Pause:

„Die Ausdünstung der Farben ist Gift für Ihre Lunge!“

„Um einige Tage länger zu leben,“ erwiderte Frater Peregrin, „blos dazu braucht Niemand zu leben.“

„Nun,“ sprach der Guardian mit einem schweren Athemzuge, „so gehen Sie mit Gott! Ich lasse gleich das Gerüst aufstellen und die Vorhänge ausspannen.“

[486] Der Nachmittag war kaum gekommen, als sich schon Frater Peregrin, zu schwach, um allein zu gehen, in sein Atelier hinabführen ließ. Er hatte dort mehrere Stunden verbracht; es war schon fünf bis sechs Uhr geworden, und da er noch immer nicht zurückgekehrt war, ging der Guardian hinab, um nach ihm zu sehen. Langsam lüftete er den Leinwandvorhang, der die Kapelle von der Kirche abschloß. Frater Peregrin saß auf dem Gerüste, auf seinem Stuhle weit zurüchgelehnt, den Kopf tief auf eine Seite geneigt, ein Farbentöpfchen in der Linken am Henkel festhaltend, während die Rechte hinunterhing und den Pinsel hatte fallen lassen.

Der Guardian, erschrocken, rief ihn laut beim Namen. Ihm antwortete aber nur der Schall der Kirchenwände. Der Maler war entschlafen und schon fast kalt. Das Geschick hatte ihn keinen Pinselstrich mehr thun lassen, sondern, allem Anschein nach, nur noch die Zeit vergönnt, auf sein Werk und das am Thränensee gefangene Mädchen den letzten Blick zu werfen. Die Aufregung war in der Burgsau nicht gering, als es plötzlich hieß, daß Frater Peregrin, der das Wandgemälde vollendet hatte, der verschollene Veit gewesen war.





Ein Heldenweib in der Unions-Armee.

II.

Fanatismus und Bosheit der Frauen in den Rebellennstaaten. – Die gezüchtigte und bekehrte Rebellin, zuletzt Krankenpflegerin in den Hospitälern der Föderirten. – Emma Edmonds als Spion und – Neger.

Wir folgen Emma Edmonds, deren getreues Portrait unsere Abbildung zeigt, in ihrem „Kranken und Spionen Dienst für die Unions-Armee“ weiter, indem wir einzelne hervorragende Scenen ihrer Erlebnisse in dem großen Kriege aus ihrem Werke herausheben.

Die Potomac Armee wurde eingeschifft und 100'000 Mann stark nach Fort Monroe transportirt, von wo sie später nach Yorktown marschirte. Von dem Lager bei Yorktown aus wurde Emma Edmonds oft ausgeschickt, um Vorräthe für die Hospitäler, namentlich Butter, Eier, Milch, Hühner etc. herbeizuschaffen. Auf diesen Wanderungen erlebte sie manches interessante Abenteuer, unter andern eines, das den Fanatismus, die Boshaftigkeit und Wuth der weiblichen Rebellen kennzeichnet.

„Eines Morgens,“ erzählt unsere Heldin, „brach ich ganz allein nach einem vereinzelten Landhause auf, welches drei Meilen von der Hamptoner Landstraße entfernt lag und wohin ich fünf Meilen weit zu reiten hatte; dasselbe war, wie das Gerücht ging, mit allen Gegenständen, die ich suchte, reichlich versehen. Ich galoppirte rasch voran, bis ich an ein Thor kam, das einen stracks nach dem Hause führenden Baumgaug schloß. Ich ritt bis zu dem im altmodischen virginischen Geschmacke errichteten Gebäude, band mein Pferd an einen Pfosten unweit der Thür und zog die Klingel. Eine hohe stattliche Dame erschien und lud mich mit scheinbar großer Höflichkeit zum Eintreten ein. Sie war in tiefe Trauer gekleidet, was zu ihrem bleichen, kummervollen Gesichte sehr wohl stand. Sie schien etwa dreißig Jahre alt zu sein, hatte ein sehr einnehmendes Aeußere und gehörte augenscheinlich zu einem der geheimen südlichen Frauenvereine. Sobald ich mich gesetzt hatte, fragte sie: ,Welchen glücklichen Umständen soll ich das Vergnügen dieses unerwarteten Besuches zuschreiben?’ Ich erklärte ihr mit wenigen Worten die Beschaffenheit meines Geschäftes. Diese Kunde schien ihre bleichen Gesichtszüge noch mehr zu umwölken, was sie trotz ihrer Bemühungen nicht zu verbergen vermochte. Sie schien aufgeregt zu sein und ein gewisses Etwas in ihrem Benehmen erregte meinen Verdacht, trotz ihrer einschmeichelnden Manieren und ihres feinen Anstandes.

Sie lud mich in ein anderes Zimmer ein, während sie die Gegenstände, die sie mir zukommen lassen wollte, zurecht legen würde, aber ich lehnte dieses ab mit der Entschuldigung, daß ich vorzöge, da zu sitzen, wo ich sehen könnte, ob mein Pferd ruhig bliebe. Ich beobachtete genau alle ihre Bewegungen und wagte nicht, meine Augen einen Augenblick zur Seite zu wenden. Sie ging in ihrer würdevollen Haltung eine Zeit lang umher, ohne indeß zur Beschleunigung meines Geschäftes viel auszurichten, und sie versuchte augenscheinlich, mich zu irgend einem Zwecke aufzuhalten. Sann sie etwa über die beste Art eines Angriffes auf mich nach, oder erwartete sie die Ankunft Jemandes und wollte mich bis dahin zurückhalten? Derartige Gedanken fuhren mir in rascher Aufeinanderfolge durch den Sinn.

Endlich stand ich plötzlich auf und fragte sie, ob die Sachen bereit seien. Sie antwortete mir mit einem verstellten Lächeln der Ueberraschung: ,Ach, ich wußte nicht, daß Sie so große Eile hatten, ich wartete, bis die Jungen kommen und einige Hühner für Sie fangen würden? ,Und bitte, Madame, wo sind die Jungen?’ fragte ich. ,O, nicht weit von hier,'war ihre Antwort. ,Gut, ich habe mich entschlossen, nicht zu warten; halten Sie mich gefälligst nicht länger auf,’ sprach ich und ging auf die Thür zu. Sie begann Butter und Eier in ein Körbchen, das ich mitgebracht halte, zusammenzupacken, während ein anderer leerer Korb neben ihr stand. Ich sah sie an; sie zitterte heftig und war todtenbleich. Bald nachher reichte sie mir das Körbchen, und ich hielt ihr einen .Greenback’ als Zahlung hin. ,O, auf Zahlung kommt es nicht an,’ sagte sie und nahm das Geld nicht an. Ich dankte ihr und trat aus dem Hause.

Einige Augenblicke später kam sie an die Thür, aber sie erbot sich nicht, mir beizustehen oder den Korb zu halten oder irgend Etwas sonst zu thun, sondern stand da und warf mir die boshaftesten Blicke zu, wie es mir vorkam. Ich stellte den Korb oben auf den Pfosten, an welchen mein Pferd angebunden war, setzte mich in den Sattel und nahm darauf den Korb in die Hand.

Ich wünschte ihr guten Morgen, dankte ihr nochmals für ihre Güte und ritt fort.

Kaum war ich eine Ruthe entfernt, als sie ein Pistol nach mir abschoß; als ob ich eine solche Bewegung geahnt, hatte ich mich bis hinter den Hals meines Pferdes hinabgebeugt, und die Kugel fuhr mir über den Kopf hinaus. In einem Nu wandte ich mein Pferd um und ergriff mein Drehpistol. Sie feuerte gerade zum zweiten Male, war aber dabei so aufgeregt, daß die Kugel vom Ziele weit abflog. Ich hielt meinen Siebenläufer in der Hand und besann mich, wohin ich zielen sollte. Ich wünschte nicht die Elende zu tödten, aber ich beabsichtigte, sie zu verwunden.

Als sie sah, daß ich ebensalls dieses Spiel mitmachen konnte, da ließ sie ihre Waffe fallen und erhob flehend die Hände. Ich zielte genau nach einer ihrer Hände und schickte eine Kugel mitten durch die linke Hand. Sie fiel augenblicklich mit einem lauten Schrei zu Boden. Ich stieg vom Pferde, hob das neben ihr liegende Pistol auf und steckte es in meinen Gürtel. Darauf nahm ich die edle Dame in folgender Weise in Obhut: ich ergriff meinen Halfterriemen und band denselben um ihr rechtes Handgelenk so fest, daß es sie schmerzte; alsdann stieg ich wieder zu Pferde, ritt fort und brachte die Dame dadurch zur Besinnung, daß ich sie an dem Handgelenk zwei bis drei Ruthen auf dem Boden nachschleifte.

Ich hielt an, und sie sprang auf und flehte mich mit wildem Jammergeschrei an, sie loszulassen, statt dessen richtete ich jedoch mein Drehpistol auf sie und sagte ihr, wenn sie noch ein Wort oder einen Schrei von sich gebe, so sei sie ein Kind des Todes.

Auf diese Weise gelang es mir, sie von der Herbeilockung eines Rebellen abzuhalten, so daß ich ungestört meinen Weg nach Mac Clellan’s Hauptquartier fortsetzte.

Nachdem wir etwa anderthalb Meilen zurückgelegt hatten, sagte ich ihr, sie möge reiten, wenn sie dies wünsche; denn ich sah, daß sie durch Blutverlust schwach wurde. Mit Freuden nahm sie mein Anerbieten an, und ich verband ihre Hand mit meinem Taschentuche, gab ihr meinen Shawl, um damit ihren Kopf zu bedecken, und half ihr in den Sattel. Ich ging zu Fuße nebenher und [487] hielt dabei fortwährend den Zaum fest. Als wir noch etwa eine Meile von unserem Hauptquartier entfernt waren, wurde sie ohnmächtig und ich fing sie auf, wie sie von dem Pferde herabfiel.

Ich legte sie am Wege nieder und ging nach Wasser, welches ich in meinem Hute holte; nachdem ich ihr Gesicht eine Weile benetzt halle, erholte sie sich wieder.

Zum ersten Male seit unserem Aufbruch begann ich ein Gespräch mit ihr und erfuhr, daß sie innerhalb der letzten drei Wochen ihren Vater, ihren Gatten und zwei Brüder in der Rebellen-Armee verloren hatte. Sie hatten alle zu einer Scharfschützen-Compagnie gehört und waren die Ersten, die fielen. Seit der Kunde von diesen Unglücksfällen war sie fast wahnsinnig geworden.

Sie sagte, ich sei die erste Person aus dem Yankeelande, die sie nach dem Tode ihrer Verwandten gesehen; der böse Geist scheine sie zu ihrer That angetrieben zu haben, und wenn ich sie nicht an die Militärbehörden ausliefern wolle, so werde sie mit mir gehen und die Verwundeten verpflegen helfen. Sie erbot sich sogar, den Eid der Treue zu leisten, und schien tiefe Reue zu fühlen. Ich erinnerte mich der Worte des Erlösers, einem reuigen Sünder zu vergeben, und sagte ihr, ich verzeihe ihr vollkommen, wenn sie aufrichtig Buße thue. Sie antwortete mit Seufzern und Thränen.

Bald nach dieser Unterhaltung brachen wir nach dem Lager auf, sie schwach und gedemüthigt und ich stark und voll Freude. Niemand erfuhr jemals seit jenem Tage bis heute das Geheimniß, daß jene Rebellin eine Pflegerin unserer kranken Soldaten geworden. Anstatt nach General Mac Clellan’s Hauptquartier geführt zu werden, begab sie sich in das Hospital, wo Dr. P. ihre Hand verband, die ihr große Schmerzen verursachte. Der gute alte Arzt konnte niemals das auf ihre Krankheit bezügliche Geheimniß enträthseln; denn er erfuhr von uns Beiden nichts weiter, als daß sie von einem Yankee geschossen worden sei.

Am nächsten Tage kehrte sie in einer Ambulanz, von einem Hospitalverwalter begleitet, nach ihrem Hause zurück, holte dort Alles, was in den Hospitälern gebraucht werden konnte, und schlug darauf ihren Wohnsitz bei uns auf. Sie hieß Alice M., aber wir nannten sie Nellie /I. Sie bewies bald die Aufrichtigkeit ihrer Bekehrung zu der Sache der Union durch ihren Eifer in der Pflege ihrer Streiter und wurde eine der getreuesten und brauchbarsten Krankenwärterinnen in der Potomac-Armee. Aber dieses war auch der erste und der einzige Fall, wo ein weiblicher Rebell seine Gesinnungen änderte oder in seiner Grausamkeit oder seinem Hasse gegen die Yankees’ im Geringsten nachließ.“

Emma Edmond wagte eine noch weit gefährlichere Betheiligung im Kampf. Ein Bundes-Spion war in Richmond gefangen und hingerichtet worden; seine Stelle mußte ersetzt werden – und sie meldete sich dazu! Sie erzählt: „Mein Name wurde in das Hauptquartier geschickt, und ich wurde bald selbst dahin beschieden und vor die Generäle Mc., M. und H. geführt, wo ich Kreuz- und Querfragen in Bezug auf meine Ansichten von der Rebellion und über meinen Beweggrund zur Unternehmung eines so gefährlichen Wagnisses unterworfen wurde. Ich sprach meine Ansichten freimüthig aus, gab meine Absichten kurz an, und ich hatte die Prüfung Numero Eins bestanden. Sodann wurde ich hinsichtlich meiner Kenntnisse im Gebrauche von Schießgewehren geprüft, und in diesem Stücke legte ich Proben ab, die einem Veteranen würdig waren. Darauf wurde ich nochmals in ein Kreuzverhör genommen, und zwar von einer neuen Commission von Generälen. Zunächst folgte eine phrenologische Untersuchung, und als man fand, daß meine Organe der Verschwiegenheit, der Kampflust etc. bedeutend entwickelt waren, so wurde mir der Eid der Treue abgenommen und ich mit einigen schmeichelhaften Bemerkungen entlassen.

Am nächsten Morgen brach ich in aller Frühe nach Fort Monroe auf, wo ich mir mehrere, zu einer vollkommenen Verkleidung unerläßlich nothwendige Gegenstände verschaffte. Erstlich kaufte ich einen Anzug, wie ihn die Sclaven aus den Plantagen tragen, und darauf begab ich mich zu einem Barbier und ließ mir das Haar dicht am Kopfe abscheeren. Alsdann folgte der Färbungsproceß – Kopf, Gesicht, Hals und Hände wurden so schwarz gefärbt, wie bei irgend einem Afrikaner, und zuletzt, um mein Contreband-Costüm zu vollenden, bedurfte ich noch einer Schwarzen Perücke, die ich aus Washington erhielt.

Meine Vorbereitungen waren somit getroffen, und ich war bereit, auf meine erste geheime Expedition nach der Rebellen Hauptstadt auszugehen. Mit etwas Schiffszwieback in der Tasche und mit geladenem und schußfertigem Revolver brach ich zu Fuße auf, ohne selbst einen Teppich oder etwas sonst mitzunehmen, was Verdacht erregen konnte. Um halb zehn Uhr passirte ich durch die äußerste Vorpostenlinie der Bundes-Armee, um zwölf Uhr war ich innerhalb der Rebellen-Linien und war nicht einmal von einem Wachposten angehalten worden. Ich war weniger als zehn Ruthen weit an einem Rebellen-Vorposten vorbeigegangen, und er hatte mich nicht gesehen. Sobald ich mich in sicherer Entfernung von den Vorpostenlinien befand, legte ich mich nieder und ruhete mich aus bis zum Morgen. Die Nacht war frostig, der Boden kalt und feucht, und ich verbrachte die langen Stunden in Angst und Zittern. Der erste Gegenstand, der sich am nächsten Morgen meinen Blicken darbot, war eine Schaar Neger, welche den Rebellen Pikets warmen Kaffee und Nahrung brachten. Ich machte mich alsbald mit ihnen bekannt und wurde für mein freundliches Entgegenkommen mit einem Becher Kaffee und einem Stück Maisbrod belohnt, was sehr viel dazu beitrug, die noch von der Nacht in mir weilenden kalten Schauer zu vertreiben. Ich blieb dort, bis die Schwarzen zurückkehrten, und darauf marschirte ich mit ihnen nach Yorktown hinein, ohne den geringsten Argwohn zu erregen.

Die Neger gingen sofort an die Arbeit an den Verschanzungen, nachdem sie sich bei ihren Aufsehern gemeldet hatten; ich blieb allein stehen, da ich mich noch nicht ganz entschlossen hatte, welche Rolle ich zunächst spielen sollte. In dieser Hinsicht wurde ich bald aller weiteren Mühe enthoben, denn mein Müßiggehen hatte die Aufmerksamkeit eines Officiers auf mich gezogen, der mich fragte, wem ich gehörte, und warum ich nicht an der Arbeit sei? Ich antwortete in meinem besten Negerdialekt, ich gehörte Niemandem, ich sei frei und dies stets gewesen, ich wolle nach Richmond gehen, um dort Arbeit zu suchen. Aber das half mir nichts, denn er wendete sich an einen Mann in bürgerlicher Kleidung, der als Aufseher über die Neger gesetzt zu sein schien, mit den Worten: ,Stellen Sie diesen schwarzen Schuft an die Arbeit, und wenn er nicht tüchtig arbeitet, so binden Sie ihn und lassen Sie ihm zwanzig Hiebe aufzählen, um ihm den Gedanken beizubringen, daß es hier keine freien Niggers giebt, so lange noch ein verdammter Yankee in Virginia ist.’

Mit diesen Worten ritt er fort, und ich wurde an eine Verschanzung geführt, welche im Bau begriffen war, und woran etwa hundert Neger arbeiteten. Ich wurde bald mit einer Axt, Schaufel und einem ungeheuern Schiebkarren versehen und begann sofort meinen Gefährten in der Knechtschaft nachzuahmen. Derjenige Theil der Brustwehr, an welcher ich arbeiten sollte, war ungefähr acht Fuß hoch. Der Schutt wurde in Schiebkarren auf einfachen Bretern hinaufgefahren, deren eines Ende auf der Höhe der Brustwehr, und deren anderes auf dem Boden ruhte. Ich brauche nicht zu sagen, daß diese Arbeit äußerst hart selbst für den stärksten Mann war; nur wenige waren im Stande ihre Schiebkarren allein hinaufzubringen, und ich wurde oft von einem gutmüthigen Schwarzen unterstützt, wenn ich nahe daran war von der Planke hinabzustürzen. Den ganzen Tag lang arbeitete ich auf diese Weise, bis meine Hände von den Gelenken bis zu den Fingerspitzen voller Blasen waren

Die Nacht kam, und ich wurde von meinen Mühsalen erlöst. Es stand mir frei, innerhalb der Verschanzungen zu gehen, wohin ich wollte, und ich machte einen guten Gebrauch von meiner Freiheit. Ich entwarf einen kurzen Bericht über die auf Lafetten liegenden Geschütze, die ich in jener Nacht auf meinem Spaziergange um das Fort sah, legte diese Angabe, nebst einem groben Abriß der Belagerungs-Außenwerke, unter die innere Sohle meines Contreband Schuhes und kehrte in das Negerquartier zurück.

Da ich erkannte, daß meine Hände nicht in einem Zustande sein würden, um am folgenden Tage viel Erde zu schaufeln, sah ich mich unter den Negern um, ob ich nicht einen finden könnte, dessen Dienst minder schwer war und welcher seine Stelle mit mir vertauschen wollte. Es gelang mir, einen Jungen von ungefähr meiner eigenen Größe zu finden, der den Truppen Wasser zu bringen hatte. Er versprach mir, am nächsten Tage meinen Platz einzunehmen, und meinte, er könne einen Freund finden, um dasselbe am folgenden Tage zu thun, für welche brüderliche Güte ich ihm fünf Dollars in Greenbacks gab, aber er erklärte, er könne nicht so viel Geld annehmen – er habe niemals so viel Geld in seinem ganzen Leben gehabt. Durch diese Veranstaltung entging [488] ich der genauen Untersuchung des Aufsehers, die wahrscheinlich zu der Entdeckung meiner angenommenen afrikanischen Hautfarbe geführt haben würde.

Der zweite Tag im Dienste der Conföderirten war für mich weit angenehmer als der erste. Ich hatte nur eine Brigade mit Wasser zu versorgen, was keine großen Anstrengungen einforderte, denn der Tag war kühl und der Brunnen nicht weit entfernt; demzufolge hatte ich eine Gelegenheit, unter den Soldaten herumzuschlendern und die Besprechung wichtiger Gegenstände anzuhören.

Auf diese Weise erfuhr ich die Zahl der Verstärkungen, die aus verschiedenen Orten angekommen waren, und hatte das Vergnügen, den General Lee zu sehen, der eintraf, während ich dort war.

Die Leute flüsterten sich einander zu, man habe ihn durch den Telegraphen beschieden, um die Yankee-Verschanzungen zu inspiciren, weil er der beste Ingenieur in der Conföderation sei, und er habe es für unmöglich erklärt, Yorktown zu halten, nachdem MacClellan seine Belagerungs-Geschütze auf den Ort hatte spielen lassen.

Ferner wurde auch General J. C. Johnson mit einem Theile seiner Truppen stündlich erwartet. Alles zusammengenommen, schlugen die Rebellen ihre Streitmacht in Yorktown und seiner Umgebung zu 150,000 Mann an.

Als Johnson ankam, wurde ein Kriegsrath gehalten und die Dinge nahmen ein mißliches Aussehen an. Darauf begann das Gerücht in Umlauf zu kommen, daß der Ort geräumt werden solle. Da ich noch etwas Zeit übrig hatte, so besuchte ich meine Negerfreunde und brachte ihnen Wasser. Ein junger Schwärzling, der einen Zug aus dem kühlen Getränke gethan, betrachtete mich mit Verwunderung und wandte sich an einen seiner Cameraden mit den Worten: ,Jim! ich will verdammt sein, wenn der Kerl da nicht weiß wird, wenn er es nicht wird, dann bin ich kein Nigger.’ Ich wurde durch diese Bemerkung etwas bestürzt, doch versetzte ich mit gleichgültiger Miene: ,Well, meine Herren, ich erwartete immer, einmal weiß zu werden; meine Mutter ist eine weiße Frau.’ Dieses hatte die gewünschte Wirkung, denn sie Alle lachten über meine Einfalt und machten keine weitere Bemerkung über den Gegenstand. Sobald ich ihnen schicklicher Weise außer Sicht kommen konnte, betrachtete ich meine Hautfarbe vermittelst eines kleinen Taschenspiegels, den ich gerade zu diesem Zwecke bei mir führte – und wahrhaftig, wie der Neger gesagt hatte, ich färbte mich in der That wieder weiß. Ich hatte mir noch eine dunkle Mulattenfarbe, während ich vor zwei Tagen noch so schwarz wie Ebenholz war. Indeß hatte ich ein Fläschchen salpetersaures Silber in schwacher Auflösung bei mir, welche ich anwandte, um das Verschwinden der übrigen Farbe zu verhindern.

Als ich mit einem frischen Wasservorrath auf meinen Posten zurückkehrte, sah ich eine Soldatengruppe um einen Menschen versammelt, der sie in echt südlicher Manier anredete. Die Stimme des Redners kam mir bekannt vor, und als ich einen verstohlenen Blick auf ihn warf, erkannte ich alsbald in ihm einen Hausirer, der regelmäßig einmal in der Woche mit Zeitungen und Schreibmaterialien in das Hauptquartier kam. Er pflegte sich dort unter einem oder dem andern Vorwande jedesmal einen halben Tag lang herumzutreiben. Eben gab er den Rebellen eine vollständige Beschreibung unseres Lagers und unserer Streitkräfte und brachte auch einen Abriß der ganzen Verschanzungen von MacClellan’s Stellung zum Vorschein. Er schloß seine Ansprache mit den Worten: ,Sie verloren einen trefflichen Officier durch meine Vermittelung, seitdem ich diesmal fortwar. Es war doch schade, einen solchen Mann zu tödten, obwohl er ein verdammter Yankee war.’ Dann erzählte er den Tod eines meiner innigsten Freunde, des Lieutenants James B., eines hohen stattlichen schwarzlockigen jungen Mannes aus St. John in New-Braunschweig, der durch diesen Verräther auf das Schändlichste hingemordet worden war. Ich dankte Gott für diese Nachricht. Von diesem Augenblick an war der Hausirer ein dem Tode geweihter Mann; sein Leben war nicht drei Cents in Conföderirtem Scheingeld werth. Zum Glück kannte er nicht die Gefühle, die das Herz des kleinen schwarzen Burschen durchstürmten, der so ruhig dasaß und die Feldflaschen füllte – und es war gut, daß er sie nicht kannte.

Am Abend des dritten Tages nach meinem Eintritt in das feindliche Lager, wurde ich in Begleitung der Farbigen ausgeschickt, um den äußersten Vorposten auf dem rechten Flügel ihr Abendessen zu bringen. Dies war gerade was ich wünschte, und ich hatte während des Tages in Betracht der Möglichkeit eines solchen Ereignisses Vorbereitungen getroffen, mich namentlich unter Anderem mit einer Feldflasche voll Whiskey versehen. Manche der auf Vorposten stehenden Leute waren Schwarze und manche Weiße.

Ich hatte große Vorliebe für die Leute meiner eigenen Farbe, deshalb rief ich einige der schwarzen Vorposten zu mir, setzte ihnen Maisbrod vor und gab ihnen etwas Whiskey zum Dessert. Während wir so zusammen waren, pfiffen uns die Miniékugeln der Yankees um die Köpfe herum, denn die Piketlinien der streitenden Theile waren keine halbe Meile von einander entfernt. Ich beabsichtigte eine Weile bei den Vorposten zu bleiben, und die Schwarzen kehrten ohne mich in das Lager zurück.

Nicht lange nach Einbruch der Nacht kam ein Officier die Linien entlang geritten; er bemerkte mich und fragte, was ich da zu thun hätte. Einer der Farbigen versetzte, ich hätte geholfen, ihnen ihr Abendessen zu bringen, und ich wolle warten, bis die Yankees ihr Feuer einstellten, ehe ich mich auf den Rückzug machte.

Er wandte sich darauf gegen mich mit den Worten: ,Du gehst mit mir voran.’ Ich folgte seinem Befehle und er kehrte auf demselben Wege, den er gekommen, zurück, bis wir etwa fünfzig Ruthen zurückgelegt hatten; darauf hielt er vor einem Unterofficier an und sprach: .Stellen Sie diesen Burschen bis zu meiner Rückkehr auf den Posten, wo jener Mann erschossen wurde.' Ich wurde einige Ruthen weiter geführt, worauf man mir eine Büchse in die Hand gab, welche ich ohne Weiteres zu brauchen hätte, falls ich irgend Etwas oder irgend Jemanden vom Feinde herankommen sehen sollte. Darauf folgte die schmeichelhafte Bemerkung, nachdem man mich am Rockkragen gepackt und ziemlich derb geschüttelt hatte: ,Nun, Du schwarzer Schuft, wenn Du auf Deinem Posten einschläfst, so schieße ich Dich wie einen Hund nieder.' ,O nein, Massa, ich fürchte mich zu sehr zu schlafen,’ war meine Antwort in echtem Negerkauderwälsch.

Die Nacht war sehr finster und es begann zu regnen. Ich war jetzt ganz allein, aber wie lange es dauern mochte, bis jener Officier mit Jemanden, der mich ablösen sollte, zurückkehren würde, das wußte ich nicht, und ich hielt es für das Beste, was ich thun konnte, den gegenwärtigen günstigen Augenblick gut zu benützen.

Nachdem ich die Stellung der Vorposten auf jeder Seite von mir so gut wie möglich ausgemittelt hatte, von denen jeder den Schutz des nächsten Baumes genoß, trat ich vorsichtig und geräuschlos in die Finsterniß hinaus und schlüpfte bald rasch durch den Hochwald nach dem ,Lande der Freien’ hin, während ich meine stattliche Büchse festpackte, um diese Beute nicht zu verlieren. Ich wagte mich nicht zu nahe an die Linien der Bundestruppen, denn ich schwebte in größerer Gefahr, von diesen erschossen zu werden, als von dem Feinde; deshalb brachte ich den Rest der Nacht auf Schußweite von unseren Linien zu und hielt mit dem ersten Morgengrauen das wohlbekannte Signal in die Höhe, worauf ich wieder einmal mit dem Anblick des theuern alten Sternenbanners begrüßt wurde.

Ich begab mich alsbald in mein Zelt. Nachdem ich mit Seife und Wasser soviel Farbe als möglich beseitigt hatte, war meine Hautfarbe ein hübsches Kastanienbraun geworden, das zu meinem neuen Costüm, einer Soldatenuniform, die ich mir hatte holen lassen, sehr gut stand. Hätte meine eigene Mutter mich damals gesehen, so würde es schwer gehalten haben, sie von unserer Verwandtschaft zu überzeugen. Ich fertigte meinen Rapport alsbald aus und brachte ihn in General Mac Clellan’s Hauptquartier, nebst meiner Trophäe aus dem Lande der Hochverräther. Ich sah den General G. B., aber er erkannte mich nicht wieder und befahl mir, mich in einer Stunde nach jener Zeit zu ihm zu begeben. Abermals kehrte ich in mein Zelt zurück, machte mein Gesicht mit Kreide weiß und kleidete mich in derselben Weise, wie am Tage der Prüfung, stellte mich zu der bestimmten Stunde ein und empfing die herzlichen Glückwünsche des Generals. Die Büchse wurde nach Washington geschickt und befindet sich jetzt als ein Andenken an den Krieg im Capitol.“



[489]
Die Werkzeuge der Neuzeit.
I. Der Dampfhammer.
Von Max Maria von Weber.

Jedem bedeutsamen Abschnitte in der Culturgeschichte geht fast immer eine Erfindung im Bereiche der Technik voraus, ohne die der Eintritt jener Epoche, wo nicht unmöglich gemacht, so doch verzögert worden wäre. So ist die Reformation undenkbar ohne die Buchdruckerkunst, die Finsterniß des faustrechtlichen Mittelalters flieht vor dem Blitze des Schießpulvers, und die Dampfmaschine führt die Aera der Völkerverbrüderung und Gemeinsamkeit der Interessen herauf. Aber nicht blos bei den großen weltgeschichtlichen Erscheinungen ist dies der Fall, auch die allgemeineren Erfordernisse der Civilisation werfen ihren Schatten in Gestalt von Erfindungen voraus, durch die es möglich wird, jenen zu genügen.

Unsere Zeit ist durch einen guten und einen bösen Geist, ein erwerbendes und ein unproductiv verzehrendes Princip, einen Ormuzd und Ahriman im Völkerleben, beherrscht. Der erstere ist der Geist freier Association der Kräfte der Individuen, der zweite der der gewaltsamen Opposition der Kräfte der Nationen. Der Ormuzd heißt „Verkehr“, der Ahriman „bewaffneter Friede“. Der erstere treibt zur Schöpfung von Mitteln, welche die Völker zu einander führen, sie sich gegenseitig kennen und lieben lehren, zum Bau von Eisenbahnen, Schiffen, Häfen, Canälen, Straßen etc.; der andere lehrt sie die Werkzeuge verbessern, durch die sie sich abschlachten und vernichten können, Geschütze schmieden und ziehen, Panzerplatten und Explosionsgeschosse walzen und gießen.

Vom Schlusse des ersten Viertels dieses Jahrhunderts her datirt der Aufschwung des Associationsgeistes, des Verkehrswesens, der Eisenbahnen und der Dampfschifffahrt. Das revolutionäre Julikönigthum in Frankreich schuf wenige Jahre darauf den unseligen europäischen bewaffneten Frieden. Bis dahin unerhörte technische Arbeiten wurden jetzt ausgeführt. Die sich immer kraftvoller entwickelnden Eisenbahnbetriebsmittel, die Pumpmaschinen, welche Bergwerke trocken legten und weite Strecken Meeresboden in blühende Provinzen umwandelten, die Dampfschiffe, die, eins nach dem andern, immer riesenhafter vom Stapel liefen, die mächtigen Maschinen, welche gewaltige Walzwerke umtrieben oder wahre Sturmwinde von Luft durch das Feuer der Eisenwerke jagten, erforderten immer größere und aus dem die größte Sicherheit gewährenden Materiale, dem Schmiedeeisen, hergestellte Organe. Achsen, Wellen, Krummzapfen, Balanciers, Kolbenstangen etc. von vorher nie geahnten, immer steigenden Dimensionen wurden gebieterisch verlangt. Andrerseits rangen die Mächte auf dem kostspieligen Wege der Einschüchterung, durch Ueberbieten an imposanter Größe, Solidität, Vertheidigungs- und Zerstörungsfähigkeit ihrer Schutz- und Trutzwaffen zu Land und zu Wasser nach der Erhaltung des allen Völkern gleich nothwendigen Friedens. Die riesenhaften gezogenen und Bogenschußgeschütze, die gepanzerten Schiffe, die eisernen Bollwerke, entstanden. Der Erbauer des kolossalen Schiffs „Great Eastern“ verlangte von den Schmieden Englands die Herstellung einer Achse aus Schmiedeeisen von dreißig Zoll Durchmesser und sechshundert Centner Gewicht, um darauf seine Schaufelräder vom Durchmesser eines großen Kunstreiter-Circus zu stecken. Die Constructeure der schwimmenden Festungen hielten zu den Panzern ihrer schnellbewegten Citadellen Platten für erforderlich, deren jede, fünf Zoll dick von Schmiedeeisen, zwei- bis dreihundert Centner wog, während ihre Gegner, die Civil-Artilleristen Armstrong, Whitworth, Dahlgren, Parrot etc., zum Schaffen von Geschützen, die in diese Panzer wieder Bresche schießen sollten, nach geschmiedeten Kanonenrohren von vier Fuß Durchmesser und dreißigtausend Pfund Gewicht riefen, welche Projektile von fünfhundert Pfund und mehr Gewicht werfen sollten.

Dem Allen hätten die Schmiede mit den Werkzeugen, die ihnen noch vor dreißig Jahren zu Gebote standen, nicht entsprechen können. Der Ursprung und die Construction derselben war zum Theil uralt und sie besaßen für das, was sie zu leisten hatten, meist Anordnungen, die mehrtausendjährige Praxis zu hoher Vollkommenheit herausgebildet hatte. In der That war das Werkzeug des Schmiedes, unter dessen geschickten Hammerschlägen sich der Stahlhelm des mittelalterlichen Raubritters wölbte, oder welcher die bewunderungswürdigen Schwerterklingen streckte, deren Ruhm in Lied und Geschichte auf uns gekommen ist, kein wesentlich anderes als das, womit, bis auf die Zeiten unserer Jugend herab, die Organe der Maschinen der Neuzeit geschmiedet wurden. Hämmer, Ambose, Schrotbeile, Gesenke, Locheisen, Zangen, Alles von verschiedener Form und Größe, die jedoch nie über die Möglichkeit der Handhabung durch eines oder einiger nerviger Männer Kraft hinausging, bildeten diesen Apparat. Fast eben so wenig hatte die Zeit ihre umgestaltende Macht an den Werkzeugen geübt, die zum Schmieden von Eisenkörpern dienten, deren größere Massen der von der menschlichen Hand geschwungene Hammer nicht genügend erschütternd durchdringen konnte. Es waren dies die großen Hämmer, deren monoton-sonorer Schlag vielstimmig in unseren von wilden Bächen durchströmten Waldthälern widerhallt. Bildete doch das einsam gelegene Hammerwerk, mit seinem rastlosen Dröhnen, leuchtenden Feuern und sprühenden Eisenstäben, deren Schein so traulich phantastisch auf den Schaum des umstrudelnden Rades und zwischen den uralten Stämmen ringsum hinausleuchtete, ein Hauptelement der Poesie unseres deutschen Gebirges.

Diese großen Hämmer wurden durch Wasserkraft (die sich in späterer Zeit hier und da durch Dampfkraft ersetzte, ohne die Construction des Werkzeuges wesentlich zu ändern) und einfachsten Mechanismus gehoben und auf das Schmiedestück, das bearbeitet werden sollte, fallen gelassen. Die Anordnung des Ganzen erschien nur in dreierlei Form. Gemeinschaftlich war allen das langsam umwälzende, möglichst schwere Wasserrad, dessen starke Welle in die Schmiede hineinragte. An dieser Welle saßen tüchtige Hebedaumen, „Frösche“ genannt, welche die Eisenmasse des Hammers beim Drehen der Welle faßten, hoben und, sich vorüberwälzend, wieder fallen ließen. Die Masse des Hammers saß dabei, einem gewöhnlichen Handhammer ähnlich geformt, an einem starken, meist aus einem zähen Eschenstamme hergestellten und mit Eisen stark geschienten Stiele, „Helm“ genannt. An diesem Stiele befanden sich Drehzapfen, die sich in Pfannen bewegten, so daß der emporgeschnellte Hammer gezwungen war, stets auf dieselbe Stelle zurückzufallen. Hier wurde der aus einem schweren Stücke verstählten Eisens bestehende Ambos angebracht. War der Hammer nicht zu schwer, d. h. überstieg sein Gewicht nicht drei- bis fünfhundert Pfund, so brachte man die Drehzapfen ungefähr in der Mitte des Stieles an und ließ die Kraft auf das dem Hammer entgegengesetzte Ende desselben wirken.

In dieser Form hieß der mechanische Hammer „Schwanz- oder Zain-Hammer“. Die Hämmer zum Behandeln schwerer Schmiedestücke ließ man achtzig bis hundert Mal in der Minute schlagen. In Fällen, wo eine größere Schnelligkeit des Schlags erforderlich war, wie z. B. bei den allerdings kaum einige Pfund schweren Hämmern der Löffel- und Zeugschmiede, die drei- bis vierhundert Schläge in der Minute machen sollte, reichte es natürlich nicht aus, den Hammer durch die bloße Wirkung der Schwere fallen zu lassen, und man brachte unter demselben, oder unter dem Schwanzstücke, Prallvorrichtungen, „Prallraitel“ genannt, aus Holz oder Leder an, die ihn rascher nach dem Ambose zurückwarfen. Mit diesen Hämmern wurden alle feineren Stab- und Flacheisensorten, z. B. Wagenreifen etc. ausgeschmiedet. In den mechanischen Werkstätten benutzte man sie zur Herstellung der größeren complicirten Schmiedestücke.

Es würde bequem gewesen sein, wenn man auch den schweren Hämmern, deren die Eisenwerke bedurften, diese Form hätte geben können. Dies verbot sich aber durch den Umstand, daß der Stiel, der Helm, hier in seiner ganzen Länge die Kraft zum Heben des Hammers stoßweise fortpflanzen mußte. Für schwere Hämmer hätte sich kein Stamm von genügender Haltbarkeit gefunden. Man legte daher bei ihnen die Welle entweder zwischen die Drehzapfen und den Hammerkopf (Aufwerfhämmer) oder, wie meist bei den schwersten, vor denselben (Stirnhämmer). In beiden Fällen wurde die Festigkeit des Hammerstiels wenig in Anspruch genommen, dagegen beschränkte sich die Hubhöhe des Hammers und die Bequemlichkeit der Manipulation auf dem Ambos nahm ab, weil die Welle ganz in der Nähe desselben lag. Das Gewicht der in der Eisenindustrie früherer Zeiten verwendeten Aufwerf- und Stirnhämmer stieg bis auf mehrere tausend Pfund. Allen diesen Vorrichtungen [490] waren zwei Nachtheile gemein. Erstens, daß die Höhe, bis zu der sie den Hammer hoben, in allen Fällen dieselbe blieb und die Wirksamkeit da gerade abnahm, wo ihre Erhöhung wünschenswerth gewesen wäre, nämlich dann, wenn das auf dem Ambos liegende zu schmiedende Stück von großen Dimensionen war und somit von der Fallhöhe des Hammers wenig zum Schlage übrig blieb. Zweitens, daß der Schlag des Hammers vermöge des Winkels, in dem er gehoben wurde, niemals parallel zum Ambos erfolgen konnte.

Außerdem beschränkte sich die Wirksamkeit der Hämmer durch die Schwierigkeit, ihren Fundamenten die für rapide Arbeit und die Verwandlung der wälzenden Bewegung der Welle in die des Hammeraufwurfes nöthige Stabilität zu geben. In dieser Verwandlung der wälzenden Bewegung der Welle in das Auf- und Niedergehen der Hämmer gab sich eine Uneigentlichkeit kund, die a priori für den denkenden Techniker auf die Nachtheile der damaligen Hammerconstruction hindeutete und mit Sicherheit annehmen ließ, daß die Form für die wirksamste Anordnung des mechanischen Hammers noch nicht gefunden sei. In diesem Sinne nahm schon im Jahre 1696 Evan Jones ein Patent auf Verbesserungen im Betriebe von Eisenhämmern, dessen Wesen indeß nicht mehr genau zu ermitteln ist.

Gerade in der letzterwähnten Schwierigkeit lag der Grund, daß das geradlinige Auf- und Niedersteigen der Kolbenstange der Dampfmaschine sich eigentlich ohne Weiteres als diejenige Gestalt mechanischer Kraft kundgeben mußte, die für Hervorbringung eines verticalen Schlages von beliebiger Fallhöhe und Intensität wie geschaffen schien. Am wenigsten konnte dies dem durchdringenden Blicke des Mannes entgehen, dessen großer Genius in der Entwickelung der Dampfmaschine die ganze Arbeit gethan hat, zu der es, beim Heranbilden anderer Erfindungen, der Thätigkeit von Generationen bedurfte.

James Watt, der die Dampfmaschine als formlosen, kaum lebensfähigen Embryo empfing und als reiche Individualität, als mächtigstes Rüstzeug des Geistes unserer Zeit aus den „sinnbegabten“ Händen stellte, der uns nur das Häufen der Zinsen jenes gewaltigen Capitals von Ideen übrig ließ, mit denen er, in wahrhaft apokalyptischem Geiste, die ganze Gegenwart und Zukunft der Dampfmaschine umfaßt hat: James Watt erkannte sofort, nachdem ihm seine doppelt wirkende Maschine gelungen war, daß es, um ein wirksames Werkzeug herzustellen, eigentlich nichts bedürfe, als einen gewöhnlichen Hammer mit dem Balancier dieser Maschine in Verbindung zu bringen und von diesem aufheben und fallen zu lassen.

Der große Vater der Dampfmaschine nahm auf diese Idee ein Patent, das vom 28. April 1784 datirt ist. Sie kam während seines Lebens nicht zur Ausführung und wie die Patente, die er auf Verwendung der Dampfmaschine zum Treiben von Schiffen und Wagen entnommen, erlosch auch dieses unbenutzt. Die Zeit für die Idee war noch nicht da. Aus gleichem Grunde besaß die Wiedererfindung derselben Vorrichtung durch W. Deverell, dessen Patent vom 6. Juni 1806 ist, keine Lebensfähigkeit. Da erschien der Geist der Zeit, der zu Ende des vorigen und Anfang des jetzigen Jahrhunderts die riesenhaften Kämpfe seiner politischen Reformation geschlagen hatte, nach mehr als zehnjähriger Ruhe mit neuer Kraft, aber in friedlicher Gestalt, auf dem Schauplatze der Civilisation. Die bewegliche Dampfmaschine, diese Personification des Verkehrs, war sein eingebornes Organ. Mit anderen Verkehren nahm auch der auf der Hauptstraße, welche die Civilisation auf ihrem Wege von Ost nach West um den Erdball wandelt, der Transatlantischen, ungewohnte Dimensionen an. In gleichem Maße wuchsen die der Fahrzeuge, welche ihn vermittelten, und ihre Theile.

Rathlos stand daher der Eigenthümer der berühmtesten Schmiedewerkstatt der Welt, John Nasmyth zu Patricroft, vor der ihm gestellten Aufgabe, als die Eigenthümer der neu begründeten Cunard-Dampfschifffahrt-Gesellschaft für ihr später so unglückliches Schiff „Präsident“ eine Welle mit Luftpumpenkrummachse von fünfzehn Zoll Durchmesser und zweiundzwanzig Fuß Länge durch ihn ausgeführt zu sehen wünschten. Die Noth zwang ihn endlich, einen Versuch mit dem directen Heben eines Hammerblockes durch einen darübergestellten Dampfcylinder zu machen. Der Versuch gelang über Erwarten, obwohl das Werkzeug blos aus einem alten Dampfcylinder bestand, der, auf einem Holzgerüste umgekehrt befestigt, an der Stange des in ihm spielenden Kolbens einen Block von circa zweitausend Pfund Gewicht ungefähr vier Fuß hoch hob und dann wieder fallen ließ, wenn man dem wirkenden Dampfe die Entweichung gestattete. Die Schläge, welche diese rohe Vorrichtung auf das zu bearbeitende Stück führte, waren so mächtig, so correct, so wirksam, daß die Constructeure derselben, Nasmyth, Gaskell und Crawdon, den Apparat mit großer Freude umstanden, der die glühenden Blöcke so gründlich durcharbeitete und die Schweißschlacke, selbst aus dem innersten Kerne desselben, so lustig herausspritzen ließ.

Aber die Herren waren noch weit von derjenigen Lösung der Aufgabe entfernt, durch welche das neue Werkzeug die Gestalt erhalten sollte, die es dazu befähigte, die ihm bestimmte große Rolle in der Entwickelungsgeschichte der neuen Technik zu spielen. Der erste Dampfhammer, den die Bridgewater Foundry zu Patricroft im Jahre 1842 vollendete, hob den Kolben mit dem daranhängenden Blocke nur dann, wenn ein Ventil in Schieberform, welches dem Dampfe gestattete, aus dem Kessel unter den Kolben zu treten, mittels eines langen Hebels von der Hand des Schmiedes geöffnet wurde. Dieser mußte nun alle Aufmerksamkeit darauf verwenden, daß dies nur während der gehörigen Zeit geschah. Erfolgte es nicht lange genug, so hob sich der Kolben und Hammer nicht zur vollen Höhe, während zu lange einströmender Dampf verloren ging. Es gehörte daher große Geschicklichkeit, Geistesgegenwart und auch Körperkraft dazu, mit der Vorrichtung einigermaßen regelmäßige Schläge auszuführen.

Ueberdies ergab es sich als geradehin unmöglich, mit der Vorrichtung so schnell zu schmieden, wie es erforderlich war, wenn die Glühhitze der Stücke, während deren sie am zweckmäßigsten bearbeitbar sind, genügend ausgenützt werden sollte. Im Ganzen zeigte sich daher noch im Jahre 1843 die neue, mächtige Vorrichtung zu Patricroft so unbehülflich, daß die Eigenthümer des berühmtesten Eisenwerks in England, dessen zu Low Moor, die Herren Hird, Dawson und Hardy, die im März des genannten Jahres nach Patricroft kamen, um den Apparat zu sehen und einen solchen von großen Dimensionen für ihr riesiges Etablissement bauen zu lassen, enttäuscht wieder abreisten. Bei dem ihnen zu Ehren gegebenen Diner äußerte einer der Herren, daß sie mit Bedauern die Banknoten wieder mitnähmen, die sie gern zu Patricroft gelassen hätten. Da sprang John Nasmyth auf und rief: „Legen Sie sie bei Seite! Legen Sie sie bei Seite und noch zehn Mal mehr dazu, und sie sollen doch nicht ausreichen, uns den Tribut zu bezahlen, den wir von Ihnen noch erheben werden!“

Die Thatsache gab den genialen Technikern zu Patricroft einen gewaltigen Stimulus, das ungelenke Kind ihres Talentes zum brauchbaren Manne heranzubilden. Mit zwei Eigenschaften mußten sie den Hammer vor allen Dingen ausstatten. Er mußte schneller arbeiten lernen und seine Function mußte von der unmittelbaren Leitung der Menschenhand unabhängig werden. Schon Deverell hatte 1806 den Weg zu Erreichung des ersteren Zweckes gezeigt. Er verschloß den Obertheil des Cylinders, in dem der hebende Kolben spielte, und ließ von diesem bei seinem Steigen die darin befindliche Luft zusammendrücken, so daß, wenn die Wirkung des Dampfes aufhörte, die Elasticität dieser Luft den Kolben rasch zurückschleuderte. In ähnlicher, jedoch nicht unwesentlich modificirter Weise, stellten die Ingenieure von Patricroft aus Luft ein Prallkissen, einen unzerstörbaren und nie versagenden Puffer her, der ihrem Hammerblocke die nöthige Geschwindigkeit verlieh. Blieb noch die Abhängigkeit von der Steuerung durch die Menschenhand zu beseitigen, und dies war die schwerere Aufgabe!

Der Eifer und eiserne Fleiß, mit dem die Constructeure an ihre Lösung gingen, war ohne Gleichen in der Bridgewater Foundry. Das Wort ihres berühmten Chefs, die Ehre des Werkes war verpfändet. Es handelte sich nicht mehr darum, ob die Erfindung gemacht werden könne, sondern nur darum, wann sie reif und fertig vom Zeichentische der Techniker in die Ateliers zur Ausführung wandern mußte. Das Constructionsbureau erklärte sich in Permanenz, es wurde zum Cardinalconclave, das fast nicht essen, trinken und schlafen durfte, bis der Papst gewählt, d. h. die Erfindung gemacht wäre.

Robert Wilson, einer der Chef-Techniker des Werkes, war der glückliche Finder der Ideen zu der „automatischen Steuerung des Hammers“, die von allen seinen Collegen, die mit ihm gebrütet und fast Tag und Nacht die Stirnen über die Reißbreter und Skizzenblätter gebeugt hatten, als vollständige Lösung der Aufgabe erklärt wurde. Die Wilson’sche Hammersteuerung gehört [491] zu jenen seltenen Constructionen, die reif und fertig im ersten Entwurfe aus dem Stifte ihres Erfinders hervorgehen. Alle späteren Verbesserungen haben nichts thun können, als ihr Nebenwerk abzuändern, zu dem Principe der Wilson’schen Vorrichtung ist man immer wieder zurückgekehrt.

Es würde zu weit führen, wenn wir hier den Versuch machen wollten, eine Idee vom Functioniren seines bewundernswürdigen Apparates zu geben. Genug, die Regulirung der Bewegung des Hammers wurde von dieser selbst hergeleitet. Der gewaltige Hammerblock berührt, auf- und absteigend, leicht bewegliche, verhältnißmäßig zarte, mechanische Organe, vorübergleitend, kaum streifend, öffnet durch diese leicht verschiebliche Ventile und erschließt so selbst den ihn auf- und abtreibenden, gewaltigen Dampfkräften den Weg zur Wirkung. Die Vorrichtung überließ dem Menschen gleichsam nur das Denken für den Hammer. Die Idee Wilson’s frappirte des Erfinders Genossen mit der vollen Kraft ihrer Evidenz. Der ganze rastlose Eifer, der auf das Produciren des Gedankens gewandt worden war, lenkte sich jetzt auf die Ausführung. Aus Hand in Hand arbeiteten sich Zeichner, Gießer. Schmiede, Dreher, Hobler, Monteure zu, und acht Tage nach Mittheilung von Wilson’s Skizze stand Crawdon, einer der Theilhaber an dem Werke zu Patricroft, der früher selbst Schmied gewesen war, an einem fertigen, mit vollständiger automatischer Steuerung ausgerüsteten, dreihundert Pfund schweren Hammer und ließ ihn lustig, dem Drucke seines Fingers gehorchend, dreihundert Mal in der Minute auf das sprühende Eisen energisch schlagen oder in der Luft auf- und abschnellen, oder auf halbem Wege umkehren, oder eben das Schmiedestück nur berühren und dann wieder aufhüpfen, kurz, er spielte vor den Augen der Techniker von Patricroft mit dem Blocke des Eisenhammers, wie ein geschickter Jongleur mit Eiern oder Aepfeln spielt. Die Wilson’sche „automatische Steuerung“ war auf den ersten Wurf gelungen! Thomas Crawdon sagt selbst von ihr: „Die Erfindung hatte keine Kindheit; sie trat mit voller Wirkungskraft in’s Leben, wie ein Product jahrelanger Studien und Erfahrungen.“

Wie erzählt, waren die Eigenthümer des Low Moor-Eisenwerkes im März 1843 enttäuscht aus Nasmyth’s Schmiede geschieden. Schon am 18. August desselben Jahres mußten sie die damals „mit Bedauern wieder mitgenommenen Banknoten“ nach Patricroft für „einen Dampfhammer mächtigster und vollkommenster Leistung“ einsenden, mit dessen Lieferung der berühmte Besitzer jenes Werkes sein fünf Monate vorher gesprochenes, kühnes Wort einlöste. Aber auch mit dieser außerordentlichen Leistungsfähigkeit, Bequemlichkeit und Sicherheit der Behandlung ausgerüstet, genügte der Apparat bald den steigenden Ansprüchen an Schnelligkeit und Energie des Schlages nicht mehr. Es wurde zur Ausführung gewisser schwieriger Stücke, an die sich jetzt die Kunst des Schmiedens zu wagen begann, z. B. der Steven der Schiffe, die Schweißung breiter Platten etc., erforderlich, mit verhältnißmäßig geringem Hammergewichte ungemein kräftig auf die Schmiedestücke zu wirken.

Auch hier wußte die Werkstatt zu Patricroft Rath. Statt den Kolben des Dampfes beim Auftrieb von einem Prallkissen aus Luft zurückstoßen zu lassen, gab man dem hochgespannten Dampfe, mit dem man den Kolben gehoben hatte, Zutritt über denselben und ließ ihn den Hammerblock, wie ein Projectil, von oben her mit außerordentlicher Geschwindigkeit auf die Arbeitsstücke schleudern, so die Wirksamkeit des Werkzeuges in Zeit und Energie vervielfältigend. Schnell nacheinander wurden jetzt zu Patricroft die mächtigsten Werkzeuge vollendeter Wirksamkeit geliefert, eines das andere an Dimensionen und Gewicht überbietend. Keines verließ die berühmten Ateliers, das nicht neue Vorzüge gezeigt hätte. Das unbequeme, die Manipulation beengende Gestell der ersten Hämmer verwandelte sich bald in kühne, leicht und doch solid construirte Gerüste, deren Gestalt nach den speciellen Zwecken des Hammers auf das Vielfältigste wechselte. Aber auch von allen Seiten tauchten Fabriken auf, die dem gewaltigen Werkzeuge andere Formen gaben, um sich, trotz dem Patente des Erfinders mit seiner Herstellung beschäftigen zu können. Einige dieser Veränderungen waren wirkliche Verbesserungen, wie z. B. die Construction von Diron, der den Hammerblock nicht mehr an die Kolbenstange eines hochstehenden Cylinders hing, sondern den in schweren Massen gegossenen Cylinder selbst zum Hammer machte und an dem feststehenden Kolben auf- und abspielen ließ, so die schwankende Höhe des Hammergerüstes wesentlich vermindernd. Bald nachdem große, unter Dampfhämmern ausgeführte Schmiedestücke von rundem Querschnitt hie und da gebrochen waren, zeigte es sich, daß sonderbarer Weise die Gewalt des Werkzeuges in seiner damaligen Form für die zu schaffende Arbeit zu bedeutend war. Die Kerne großer Achsen und Wellen erschienen nämlich porös mit sternförmig vom Mittelpunkt ausgehenden Blätterungen. Nasmyth’s Scharfsinn fand zugleich die Ursache der anfangs unerklärlichen Erscheinungen und das Mittel dagegen. Der unwiderstehliche Druck des Hammers quetschte bei jedem Schlag des Schmiedens auf dem bis dahin üblichen, flachen Ambose die runde Welle etwas breit, so eine Ellipse herstellend, in deren längerer Achse das Eisen eine Dehnung oder Zerreißung erlitten haben mußte. Bei den rund um die Welle schreitenden Schlägen mußte eine völlige Zerstörung von deren Kern stattfinden.

Dem Genie lag die Abhülfe mit bewundernswürdig einfachem Mittel nahe. Nasmyth gab dem Ambos einen dreieckigen Ausschnitt, in dem beim Schmieden die Welle, die Achse ruhte, so daß der Schlag des Hammers sie nicht mehr breitdrückte oder ausdehnte, sondern von drei Punkten her jederzeit mächtig zusammenquetschte, sie solcherweise bis in’s Innerste verdichtend. Die Gestalt, in der Nasmyth’s Dampfhammer jetzt erschien und der sich seit zwanzig Jahren eigentlich nur im Aeußeren, nicht im Wesentlichen verändert hat, war ungefähr folgende:

Auf zwei schweren, sehr stabilen Gerüststücken von Gußeisen ist oben ein Dampfcylinder festgebolzt, in dem ein Kolben durch sehr hoch, meist bis zu sechs und acht Atmosphären gespannten Dampf auf und nieder geschoben wird. Die stählerne Stange dieses Kolbens tritt unten aus dem Cylinder und an ihr ist der schwere gußeiserne, zwischen Gradführungen im Gerüste gleitende Hammerblock festgekeilt, an dem unten wieder sehr solid die schmiedeeiserne verstählte Hammerbahn befestigt ist. Das Ganze spielt mit dem Kolben auf und nieder. Um diesen Zutritt des Dampfes ganz nach dem Belieben des Hammerschmieds reguliren zu können, der aus einer Plattform am Hammergerüste steht, dazu ist der Mechanismus, „Steuerung“ genannt, an dem Apparate angebracht, dessen bewundernswürdige Anordnungen zu den interessantesten Schöpfungen der neuen Mechanik gehören, aber doch nicht so einfach sind, daß sie sich ohne technische, nicht hierher passende Zeichnung genügend deutlich machen ließen. Genug, mittels der Handhabung eines Griffs bestimmt der Schmied auf das Genauste die Höhe des Hubes und mit einem andern die Zahl und das Maß der Energie der Schläge.

Und dies geschieht mit solcher Sicherheit und Genauigkeit, ja Unfehlbarkeit, daß sich Schmiede oft den Scherz machen, vor den Augen der erstaunten Zuschauer mit einem Hammer von Hunderten von Centnern an Gewicht eine Nuß aufzuknacken, ohne deren Kern zu verletzen, oder zum Entsetzen, das fast Jedem einen Schrei entlockt, den Kopf auf den Ambos legen und den Riesenhammer bis zum Berühren der Nase auf und ab spielen lassen! Natürlich sind die Schläge so gewaltig hart herabfallender Massen wie Hämmer von mehreren hundert Centnern Gewicht mit Erschütterungen des umliegenden Bodens verknüpft, welche die sichere Begründung des Standes der Hämmer und ihrer Ambose mit großen Schwierigkeiten verknüpfen, besonders da die der letzteren, um dem Schlage ganze Wirksamkeit zu geben, einer gewissen Elasticität nicht entbehren darf. Von der Anwendung von Stein muß daher hierbei fast ganz abgesehen werden, und die Fundamente großer Hämmer enthalten oft wahre Wälder starker, kreuzweis aufeinander geschichteter Eichenstämme, auf dem die Riesenwerkzeuge zitternd und schwankend und doch sicher stehen.

Auch die Gebäude, in denen sie arbeiten, müssen dem gemäß construirt sein und werden in neuester Zeit meist leicht und elastisch, zum großen Theile aus Eisen und Blech hergestellt. Der Besitz von Dampfhämmern von mehr oder weniger Macht, geringerer oder größerer Dimension wurde bald ein Bedürfniß aller größeren mechanischen Ateliers und ist jetzt ein Lebenselement jeder Werkstatt, die größere Stücke producirt, für jedes Eisen- und jedes Walzwerk, eine Nothwendigkeit für mittlere Anstalten dieser Art und wünschenswerth auch für das kleinste Atelier. Es giebt in England, Westphalen, Rheinpreußen, Berlin, Oberschlesien, Frankreich, Belgien Werkstätten und Eisenwerke, in denen jetzt Dampfhämmer, vom kleinen, zierlichen kaum centnerschweren Schmiedehammer an bis zum dröhnenden und stöhnenden Ungeheuer von fünf- bis sechshundert Centner Gewicht, zu Dutzenden in Reih und Glied stehen. Die Vorwelt konnte nur Riesen bekämpfen [492] und tödten, die Zeit der Humanität und Association thut mehr, sie zwingt sie für Cultur und Verkehr zu arbeiten! Fast jede gute Maschinenfabrik producirt jetzt Dampfhämmer und die Ateliers von Fernley, Rigby, D. Ivy, Condie, Thwaistle und Carbutt, Molar und Whaley in England, Schwarzkopf, Borsig, Wöhlert, Haswell und Zimmermann in Deutschland, und Cavé in Frankreich haben sich um die Verbesserung der Constructionen wahre Verdienste erworben.

Je nach Bedarf und Moralität hat man auch zum Betriebe von Apparaten, die dem Nasmyth’schen Dampfhammer im Princip ähnlich sind, comprimirte Luft und Wasserdruck angewandt und Armstrong’s und Haswell’s hydraulische Hämmer haben sich für gewisse Zwecke großer Vorzüge vor den Dampfhämmern zu rühmen. Der Raum verbietet, auf diese Constructionen sowie auf die Vorrichtungen einzugehen, durch die man in letzter Zeit versucht hat, den von der Menschenhand geführten leichten Schlag beim Schmieden complicirter Stücke nachzuahmen. Balmforth in Leeds hat darin das meiste Glück gehabt. In den letzten Jahren, wo der gigantische Aufschwung des Verkehrs, der Drang dem Ocean seine Schrecken zu nehmen, auf der heitern Seite menschlicher Thätigkeit, die Kriege in der Krim und in Nordamerika auf der düstern Seite, den Menschen gedrängt haben, mit immer gewichtigeren Waffen die feindliche Natur und den feindlichen Bruder zu bekämpfen, sich eben so ängstlich hier zu sichern, wie dort emsig zu tödten, gipfelt sich die Production ungeheuerer Schmiedeeisenstücke in den Steven, Schrauben und Schaufelwellen der Oceandampfer, in den Panzerplatten der „Monitors“ und in den Rohren der ungeheuren Marine- und Wallgeschütze. Mit diesen Producten sind die Schmiedewerkzeuge, die Hämmer, gewachsen, deren Riesen von vier-, fünf- und sechshundert Centner Gewicht aber Friedrich Krupp’s Hammer in seiner Stahlfabrik zu Essen kopfeslang noch überragt.

Nicht mehr wie ein Hammergerüst steigt das Gestell dieses Giganten in der kirchenhohen Halle empor, in der er arbeitet, sondern wie ein eiserner gegliederter Thurm, in dem der fast tausend Centner schwere, schmiedende Theil zehn Fuß hoch auf- und niedersteigt. Der Block, auf dem der Ambos ruht, wiegt hier fast siebentausend Centner, das Ganze an zwölftausend Centner. Zwei große Dampfkrahne heben die ungeheueren Schmiedeblöcke, bis vierzigtausend Pfund an Gewicht, aus den Oefen und schieben und wälzen sie auf den Ambos, wo der Hammerblock mit dumpfem Donner und mehrere tausend Fuß im Umkreis fühlbarer Erschütterung auf sie niederfällt, dem Stahl zu Kanonenrohren, Achsen, Radreifen, Schiffswellen, Schienen etc. jene unvergleichliche Dichtheit verleihend, die Krupp’s Artikel vor allen andern ihrer Art auszeichnet.

Der Hammer allein absorbirt so viel Dampf zu seinem Betriebe, wie eine Maschine von fast eintausend Pferdekraft, und wenn er sich mit mächtigem Brüllen aus dem Cylinder entladet, die Erde vom Schlag des Hammers bebt und der Stahl wie Brei vom Ambos sprüht und alles dies dem Druck der Hand von wenig Männern gehorcht, die wie Pygmäen unter den arbeitenden Riesengliedern des Mechanismus umhereilen, so fühlt wohl Jeder mit stolzem Schauer, daß für einen Geist der Zeit, der mit solchen Werkzeugen an seinen Schutz- und Trutzwaffen schmiedet, kein menschgebornes Wesen mehr Ketten schmieden kann.




Land und Leute.
Nr. 20. Wurzelgraben und Rautenholen.

Wir haben die trefflichen Aufsätze des Doctor Bock in der Gartenlaube oft mit Vergnügen gelesen, ein Universalmittel kennt er aber trotz aller Gelehrsamkeit doch nicht. Und das wäre?

Du kannst es im ganzen Land Tirol erfragen, jede Kellnerin weiß es, und kommst Du Abends müde im Achenthal bei der Scholastika an oder seufzest Du über Uebelkeit, so schaut Dich das blonde Moidele mitleidig an und sagt: „Trinken’s Enzeler, der ist für Alles gut!“ Sie bringt Dir ein kleines Gläschen, neben dem einige überzuckerte Mandeln liegen, Du riechst daran. „Puh! und das soll man trinken?“

Ja freilich, es ist Enzeler, und noch dazu echter, den man nicht überall kriegt. Trink nur, lieber Freund; hast Du so viel überstanden, bringt Dich dieses Schnäpschen auch nicht um und Du bist dann halb und halb in den Alpen naturalisirt oder nationalisirt.

Wie der Schotte seinen Whiskey, der Berliner seinen Kümmel, so preist der Tiroler den Enzeler und betrachtet diesen Branntwein und das Murmentelschmalz – das Fett des Murmelthieres – als Universaltincturen; wer’s glaubt, wird gesund, wenn ihm nicht viel fehlt. Wir wollen kein zweites Gläschen Enzeler verlangen, sondern gehen in den Wald; bald führt ein Pfad über den Abhang neben dem schäumenden Wildbach vorbei, wir erreichen eine Hütte, die wie ein Blockhaus aus behauenen Balken aufgeführt ist. Die Wände sind vom Wetter gebräunt, aus den Fugen hängt das Moos, durch jede Ritze dringt ein unangenehmer Qualm. Zu hinterst lodert ein Feuer unter einer kupfernen Destillirblase, ein alter Mann in zerlumptem Gewand tritt uns entgegen.

„Grüß Gott, Hies, ich hab Dich lang nicht mehr gesehen; das letzte Mal haben wir auf Stegen miteinander geredet.“

„Ja, ja, auf Stegen!“ erwiderte Hies traurig. „Da krefle ich auch nicht mehr hin; mit dem Sennern ist’s aus, ich bin zu alt und schwach geworden. Seht, da hab ich mir das Hüttel gepachtet und brenn’ Schnaps; bring’ mich just schon durch. Aber kosten mußt ihn doch, ich hab’ einen prächtigen Enzeler!“

„Enzeler!“ rufst Du schaudernd.

Wer A gesagt hat, soll sich vor dem B nicht fürchten. „Bring’ ein Glasl, Hies – sollst leben!“

Wir setzen uns auf einen Block vor die Thür. Dort droben prangen im herrlichsten Grün üppige Alpenmatten, ein leises Bimmeln klingt zu uns herab und hellauf jauchzt der Senner von der Höhe. Auf jenen Bergwiesen wachsen die Gentianen. Die Familie ist sehr zahlreich, nicht alle Glieder derselben sind so vornehm, wie das Tausendgüldenkraut oder der blaue Enzian mit dem großen, tiefen Kelche, den der Tourist, welcher die Alpen besucht, so gern betrachtet. Auf allen Wiesen Deutschlands legt im Frühling das Schusternägelein (Gentiana verna) die blauen Sternchen auf und die Rispen einer violetten Art schmücken Hochsommer und Herbst, der König des Geschlechtes bleibt jedoch der gelbe Enzian (Gentiana lutea). Schon Albrecht von Haller, dessen „Alpen“ an Werth so manches neuromantische modische Gedicht à la Amaranth weit überstrahlen, wenn sie auch nunmehr selten Leser finden, besingt ihn; da wir seine Schilderung nicht zu erreichen hoffen, entlehnen wir ihm die Verse:

„Dort ragt das hohe Haupt vom edlen Enziane
Weit übern niedern Chor der Pöbelkräuter hin,
Ein ganzes Blumenvolk dient unter seiner Fahne,
Sein blauer Bruder selbst bückt sich und ehret ihn.
Der Blumen helles Gold in Strahlen umgebogen,
Thürmt sich am Stengel auf und krönt sein grau Gewand,
Der Blätter glattes Weiß mit tiefem Grün durchzogen
Bestrahlt der bunte Blitz vom feuchten Diamant.
Gerechtestes Gesetz, daß Kraft sich Zier vermähle,
In einem schönen Leib wohnt eine schönre Seele.“

Der Vetter dieser prächtigen Pflanze ist der violette Enzian (Gentiana pannonica), ebenfalls von hohem Wuchse mit großen Blättern, welche in Quirlen um den Schaft gereiht sind. Diesem nahe steht der röthliche Enzian (Gentiana purpurea), eine schöne Pflanze, die jedoch den Arlberg nicht übersteigt und auf die Mähder westlich desselben beschränkt bleibt. In diesen Kreis gehört auch der gefleckte Enzian (Gentiana maculata); seine Blüthe ist fahl mit dunklen Tupfen.

Der Leser wird bei diesem botanischen Excurs ungeduldig; nun, wir sind zu Ende und haben denselben auch nur begonnen, um ihm zu sagen, daß diese Arten den Enzeler liefern. Ihre derben und großen Wurzelstöcke, deren Bitterstoff ihnen einen Ruf als magenstärkende Mittel verschaffte, werden sorgfältig aufgesammelt, zerhackt und mit Wasser begossen, um den köstlichen Schnaps zu destilliren. Das Geschäft des Wurzelgrabens ist nur dann gefährlich, wenn die Pflanzen, welche nicht steile Felsen erklimmen, an stark geneigten Berglehnen wachsen. Die Alpenreviere werden verpachtet

[493]

Das Rautenholen in Tirol.
Originalzeichnung von Mathias Schmid.

und nicht von Jahr zu Jahr, sondern nach längeren Zeiträumen abgesucht. Das Wurzelgraben trägt nicht viel, es wird daher meistens von älteren Weibern betrieben, die in den Almen übernachten und dort mit dem Abhub der Milchwirthschaft zufrieden sind oder ihn auch manchmal mit den Schweinen theilen. Will man im Zillerthal eine arme Haut bezeichnen, so sagt man: „Sie ist halt eine Wurzelgräberin!“ Hie und da fällt aber ein kleiner Nebengewinnst ab. In Tirol braut man aus allen möglichen Dingen Schnaps; jede Art hat ihre besondere Wirkung, der Enzeler hilft freilich für Alles. Dort im Bottich gährt die Maulbeere, hier die Heidelbeere, in jenem Winkel sollen große Geschirre die Wachholderbeere, die Schlehe, die Preißelbeere aufnehmen, da giebt es Arbeit vollauf bis zum November, wo es einschneit. Auch die Köpfchen der Arnica werden geklaubt und für Tincturen benützt; bisweilen bestellt ein Schütz die Zwiesel von Allermannsharnischwurz (Allium victoriale), einem Lauch, der beim Wildern Glück bringen soll. Wäre nur erst die alttirolische Indolenz, die sich starrköpfig in ihre Glaubenseinheit verpuppt, überwunden, man könnte den armen Leuten noch manche Erwerbsquelle öffnen: die Versteinerungen der Alpen würden gewiß um theures Geld gekauft und mancher Fremde möchte gern ein Album seltener Gebirgspflanzen heimbringen. Die Schweizer verstehen dies besser, und man braucht unsern Tirolern nicht gerade die Routine zu wünschen, mit der jene Aelpler Geld zu schneiden wissen, es könnte aber gar Vieles besser sein. Was das Schnapsbrennen betrifft, so wird es sehr durch die österreichischen Finanzgesetze beeinträchtigt; diese sind, um jeden Pfennig herauszuzwicken, mit so vielen Quälereien verbunden, daß mancher Bauer lieber die Beeren im Wald [494] verfaulen läßt, anstatt daraus die zwei Eimer Branntwein, die er für sein Haus destilliren darf, zu ziehen. Leider hat in den letzten Jahren der Branntweintrunk in Tirol sehr um sich gegriffen; in Folge der Traubenkrankheit, welche so manches Bäuerlein des Etschlandes mit Pfändung und Gant bedroht, war der Wein theuer und schlecht und das Bier wegen der hohen Accise weder gut noch wohlfeil, da griff man denn zur Schnapsflasche oder mischte einfach Alkohol, aus dem das Fuselöl stinkt, mit Wasser, das ist der sogenannte „Eisenbahneler“.

Auch die Mädchen verschmähen bei uns den Schnaps nicht; ja es ist sogar nationale Sitte, daß der Bub, wenn er fensterln geht, eine tüchtige Flasche Branntwein mitbringt. Dieses geschieht vorzüglich beim Heimgarten zu Weihnacht; er stellt der Geliebten den Schnaps auf, sie holt aus dem Schrank einen großen Gelten oder Kletzenbrod, in dessen Teig Mandeln, Rosinen und trockene Birnen eingebacken sind. Der Bua muß anschneiden; hat er den Besuch versäumt, so gilt das als Aufkündigung der Liebe und dann ist das Mädchen los und ledig. Los und ledig! ja, es fließt aber dabei manches Thränchen, vielleicht wird es im Fasching getrocknet. Auch im Hochsommer giebt es einen Feierabend, wo der Bursch seinem Dirndl die Flasche ans Fenster bringt, er hat sie diesesmal mit „echtem“ gefüllt, bei dem keine Faser vom Glöcklkraut, einem schönen Enzian, der auch an den Felsen des Thales wächst, verwandt wurde. Der Hies hat ihn aus dem besten Faß gezapft, und so wird auch ihm ein Hoch gebracht. Der Abend oder die Nacht. an der das geschieht, ist vor dem Feste der Himmelfahrt Mariä, welche die Landmädchen als Beschützerin der Jungfrauen – wenigstens im Gebet brünstig verehren. Ob sie aber gerade mit dem Buben, wenn er fensterlt, Rosenkranz beten, lassen wir dahingestellt: Kenner der Volkssitte sind so ungalant, das Gegentheil zu behaupten. Die jungen Bursche, welche sich auf den Almen den ganzen Sommer mit dem Vieh beschäftigen, wollen wenigstens diesen Feiertag, wo die Blumen in der Kirche geweiht werden, im Thal zubringen. Da ist es nun ihr Stolz, den Hut mit einem Strauß geschmückt vor die Geliebte hinzutreten.

„Mit Edelweiß!“ denkt mancher.

Dieses zierliche Blümchen, welches jetzt fast jeder Berliner Gemsenjäger am Hut trägt, wird in Tirol nicht so sehr geschätzt wie in Baiern. in neuester Zeit suchen es jedoch die Kräutersammler und Wurzelgräber auch dort sehr emsig, um durch den Handel einige Kreuzer zu verdienen. Im Flachland meint man freilich, daß sich fast an jeden Stern von Edelweiß ein Abenteuer knüpfe, als ob, wie am Kaffee der Schweiß des Negers, das Blut des Aelplers daran klebe. Dem ist nicht so, es giebt Gegenden, wo man es mit der Sense mähen kann, da hat es eben so wenig Werth wie die Almrose, von welcher der Tiroler behauptet, daß sie nicht blos schnell welke, sondern auch den Blitz anziehe.

Edelweiß und Almrose schätzt ein kecker Tirolerbua selten; sein Stolz ist eine Staude der Jochraute, die er mit der goldenen Hutschnur befestigt. Oft schon mehrere Wochen vor Mariä Himmelfahrt späht er das steile Geschröf aus, um einen schönen Stock auszufinden; weiß er einen, so schweigt er, damit ja Niemand davon erfahre. So Mancher stürzte schon von der Wand und lag zerschmettert, die Jochraute in blutiger Hand, auf der Schutthalde. Wer sich vermißt, Jochraute zu bringen, und leer zurück kehrt, wird lang ausgelacht, daher wagen die kecken Bursche Leib und Leben, um vor dem Mädel zu prangen. Wo es unmöglich ist barfuß oder mit Steigeisen hinzuklettern, wird ein Seil angepflöckt oder von einem Cameraden gehalten, an dem man sich in den schrecklichen Abgrund hinabläßt. Sind Buben und Dirnen in der Höhe um Wildheu zu holen und hat einer Rauten entdeckt, so nimmt er wohl den Schatz an Ort und Stelle. Wie bebt da das Mädchen, wenn es dem kecken Gesellen auf seiner Fahrt zuschaut, und küßt ihn, kehrt er zurück, um so lieber. Eine Episode bei einem solchen Rautenzug hat unser hochwürdiger Freund Mathias Schmid, ein wackerer Tirolerkünstler, in der beigefügten Zeichnung mit viel Humor dargestellt; das Mädchen hält den Buben, der sich in den Abgrund beugt, ängstlich bei der Joppe. Ein verliebtes Dirndl heißt seinen Buben wohl auch: „Mein Rautenstock.“

Wie sieht denn aber dieser gepriesene echte Rautenstock aus? Wie eine Wermuthstaude, mit der er, was schon sein Name: Artemisia glacialis und mutellina, verkündet, nahe verwandt ist. Also sehr unansehnlich, dafür hat er einen würzigen Geruch und wird an manchen Orten dem Branntwein zugesetzt. Der Werth desselben besteht daher, wie bei so vielen Dingen dieser Welt, in der Einbildung, aber:

„Ein lebfrischer Bua
Muß an Rautenstock hab’n!“

A. P.




Eine gefahrvolle Luftfahrt.
Von Johann Heinrich Runge.[1]

Der botanische Garten von Belfast in Nordirland bot ein anmuthig bewegtes Bild. Auf den breiten sauberen Wegen, auf dem frischen grünen Rasen tummelten sich Tausende von Schaulustigen jeden Standes. Der Tag, der dritte Juli d. J., war schön, kaum ein Wölkchen war an dem tiefblauen Himmel zu sehen, und ein sanfter Wind fächelte Kühlung. Der größte Theil der Fabriken und Geschäftshäuser war, dem erwarteten Schauspiel, einer Luftfahrt des berühmten Aeronauten Coxwell, zu Ehren, geschlossen, und außer den zahlreichen Einwohnern unserer gewerbthätigen Stadt, die hinausgeströmt waren, hatten Eisenbahnen und Dampfschiffe noch eine Menge Fremde zugeführt. Alle wollten den „großen Ballon“ sehen.

Damit die zudringende Menge nicht bei der Füllung des Ballons hinderlich sei, war auf einem großen Rasenplatze eine niedrige, aber starke hölzerne Brüstung aufgeführt, aus deren Mitte sich der Koloß erhob. Man mag sich einen Begriff von den Dimensionen des Ballons machen, wenn ich bemerke, daß einhundertzwölftausend Cubikfuß Gas zu seiner Füllung erforderlich waren.

Etwa um fünf Uhr Nachmittags war der Ballon gefüllt; das Schiff, ein viereckiger Korb aus starkem Weidengeflecht von einem Durchmesser von etwa acht bei sechs Fuß und einer Tiefe von vier Fuß, wurde darunter mit Stricken befestigt, Ballast und die nöthigen Apparate, wie ein starkes Tau mit Anker, Karte etc. wurden eingenommen und gegen fünf ein halb Uhr stiegen die Passagiere ein. Mit unserm Capitän, Herrn Coxwell zählten wir eilf Personen; mehr Passagiere konnte der Korb nicht fassen. Ungefähr eine Viertelstunde lang, bevor Alles zur Abfahrt bereit war, schwankte der Riese von einer Seite der Umzäunung zur andern, wie ungeduldig, sich seiner Fesseln zu entledigen, und bei jeder Schwankung wurden Massen der Umstehenden, die ihn zu halten suchten, zu Boden geworfen. Endlich erscholl das Wort „fertig“, ein Druck auf die Feder, an welcher das Haupttau befestigt war – und der Riesenball schwebte ruhig und majestätisch empor unter dem Jubel der Menge. Wir kamen einem Baume nahe. „Ballast hinaus!“ Einige Sandsäcke wurden in die Augen und auf den Sonntagsstaat der Untenstehenden entladen, und die Gefahr war beseitigt.

Eine leichte Brise trieb uns über die Stadt hin in einer nordöstlichen Richtung. Wir stiegen höher und höher. Immer kleiner wurden die Gegenstände unten, ohne indessen viel an Deutlichkeit zu verlieren. Die Menge von über fünfzigtausend Menschen glich bald einem bunten Farbengewirr. Da lag die Stadt mit ihren zahllosen Fabriken, Prachtgebäuden, Schulen, Casernen und öffentlichen Instituten, mit ihrem mastenreichen Hafen unter uns ausgebreitet wie ein niedliches Kunstgebilde. Alle groben Contouren, aller Schmutz, alles Widerliche war verschwunden, man erblickte nur Schönheit und Harmonie. Da war die herrliche Bai von Belfast mit ihren zahllosen Ortschaften und Villen und weiterhin erglänzte endlos das Meer. Wir segelten über den achthundert Fuß hohen Cave Hill, der uns wie eine Gartenmauer [495] erschien. Zur Linken schimmerte ein silbernes Viereck in der bunten Ebene; es war der Lough Neagh, ein Binnensee von einer Länge von vier und einer Breite von zwei deutschen Meilen. Die kleinen Teiche und Gewässer glitzerten wie Silberflittern auf einem buntgewirkten Teppiche. Es war zauberisch schön; die bebauten Felder, die reinlichen Landstraßen und Eisenbahnen, der herrliche Lagan, der sich, ein silbernes Band, durch die Landschaft schlängelte, Alles klar und bestimmt und doch der Blick fast unbegrenzt – aber ich beginne Unmögliches. Worte genügen nicht, auch nur schwach meine Empfindungen wiederzugeben! Wir standen wie gebannt, kein Laut entfuhr den Lippen, es waren heilige Augenblicke. Die unendliche Schönheit der Scene war überwältigend: das Auge schwamm im überschwänglichen Genusse der herrlichen Natur. Erst als Herr Coxwell Gas ausströmen ließ und wir uns der Erde wieder näherten, erst da kehrten die verschiedenen Gemüther wieder in ihre Normalstimmung zurück. Man sprach, man scherzte, man machte einander aufmerksam auf dies und jenes. Wir sahen deutlich den Schatten des Ballons uns folgen mit einem hellen Schimmer, wie mit einem Glorienscheine umgeben. Kamen wir über ein Gehöft, so flatterte das Federvieh ängstlich umher und suchte Schutz in den Ställen. Die Menschen jauchzten uns entgegen.

Beim Sinken waren wir in eine andere Luftströmung gerathen, die uns nördlich landeinwärts trieb. Wir schwebten nun über eine wilde Gebirgsgegend hin, öde, felsig, von rohen Steinwällen durchzogen. Das Land war gänzlich unbebaut, und die dünne Erddecke lieferte Heerden von Rindern und halbwilden Ponies kärgliche Weide. Die Ponies, so bald sie uns gewahrten, stürzten in wilder Flucht mit fliegenden Mähnen über die Steinwälle dahin. Die Rinder suchten gleichfalls in der Flucht Rettung vor der unerwarteten Erscheinung; auch das war ein schönes Schauspiel. In einem mächtigen Stiere schienen Muth und Schrecken zu kämpfen. Er stampfte die Erde, wühlte den Rasen mit seinen Hörnern, dann blickte er uns einige Augenblicke schnaubend an, den Schweif starr in die Luft; endlich siegte der Schrecken über ihn; er machte Kehrt und stürzte in wilder Flucht seiner Heerde nach.

Da wir uns der See näherten, beschloß Herr Coxvell zu landen und gab uns die nöthigen Verhaltungsbefehle. Wir sollten uns auf den Boden des Korbes niedersetzen, den Rücken gegen das Flechtwerk gekehrt, die Glieder in einer bequemen, schlaffen Lage, um die zu erwartenden Stöße besser ertragen zu können; er machte uns auf herzhafte Püffe gefaßt. Bei der Landung sollten wir Einer nach dem Andern das Schiff verlassen und vor allen Dingen am Korbe festhalten, bis Alles heraus und der Ballon befestigt sei. Leider verloren einige der Passagiere ihre Geistesgegenwart und waren weder durch Güte noch Drohungen zum Niedersitzen zu bewegen. Der Anker schlug ein, und jeder Schlag versetzte das Schiff in heftiges Schwanken. Die Stehenden traten und stürzten rücksichtslos auf uns hin und her. Unglücklicherweise vermochte die dünne Erdkruste nicht den Anker zu halten; bald schlug der Korb mit Heftigkeit zu Boden und das Ungethüm brauste wild über die Erde dahin, Felsen und Steine wie Kiesel von sich schleudernd. Wir armen Reisenden mußten jedem Stoße Rechnung tragen. Der Schrecken und die Aufregung erreichten nun ihren Höhepunkt. Einige jammerten; Andere beteten laut; Andere schrieen: „wir sind verloren!“ es war eine furchtbare Scene. „Lassen Sie das Gas aus, um des Himmels willen!“ rief man Herrn Coxwell zu, und zwei oder drei zogen mit aller Kraft am Ventilseil. Endlich faßte der Anker und das Schiff stand bald senkrecht und fest auf der Erde. Jetzt gab unser Führer Befehl zum Aussteigen, aber beschwor uns, Einer nach dem Andern den Korb zu verlassen und vor allen Dingen das Flechtwerk fest zu halten. Doch was nützten Ermahnungen bei Halbrasenden? Man stürzte über die Seiten des Schiffes, als gälte es Leben oder Tod. Die Starken drängten die Schwachen zurück. Einige, unter denen Herr Coxwell, hielten fest am Flechtwerk; andere ließen los, so bald sie die Erde berührten. Der Ballon, von der Last einiger Personen befreit, stieg empor; als ich über die Seile klettern wollte, war ich schon wieder fünfzehn Fuß hoch über der Erde. Diejenigen, welche am Korbe festgehalten hatten, waren gezwungen gewesen fahren zu lassen, um ihr eignes Leben zu retten. Alles dieses geschah in wenigen Augenblicken. Pfeilschnell schoß der Ballon in die Luft. Man versuchte das Ankertau zu halten, vergebens, der Anker riß los und höher und höher stiegen wir.

Da war ich nun allein, ohne Führer, mit einem einzigen Gefährten, einem jungen Irländer. „Barmherziger Gott,“ rief mein armer Freund, „wir sind rettungslos verloren, erwarten wir gefaßt den Tod!“ Ich suchte vergebens das Ventilseil, endlich entdeckte ich es im Netze verschlungen, ich zog – hilf Himmel! es war gerissen.

Mein Gefährte, der mich mit dem Tauwerk beschäftigt sah, schien wie von einem Hoffnungsstrahl erleuchtet. „Verstehen Sie etwas vom Luftschiffen?“ fragte er lebhaft.

„Armer Freund,“ war meine Antwort, „und wenn ich es verstände, so könnte ich nicht mehr helfen – das Ventilseil ist gerissen – keine Rettung mehr!“ Wir standen einen Augenblick rathlos, verzweifelnd. Da bemerkte ich, daß wir wieder fielen. „Muth!“ rief ich entzückt, „wir sinken, es ist noch Rettung möglich!“ Mehr und mehr näherten wir uns der Erde. Schon schlägt der Anker den Boden, aber ohne Halt zu gewinnen: ich blicke aus nach Hülfe – ach, wo ist menschliche Hülfe in dieser Wildniß! Da sehe ich einige Hirten. „Helft, rettet!“ rufe ich. „Hülfe!“ Sie stehen starr vor Entsetzen, regungslos, Statuen gleich – weiter – weiter wieder Menschen! Derselbe Hülferuf, derselbe Erfolg. Ein Mann und eine Frau rennen davon, von Entsetzen gejagt; ein großer, vierschrötiger Kerl stürzt mit dem Gesicht zu Boden, wie von Schrecken niedergedonnert.

Fort brausen wir, da – eine heftige Erschütterung des Schiffes – der Anker hatte gefaßt. „Achtung, ein Stoß!“ rufe ich meinem Gefährten zu. Der Ballon schwankt zur Erde und der Korb schlägt mit solcher Vehemenz zu Boden, daß mein Freund hinausfliegt und ich gegen das Tauwerk geschleudert werde. Ich versuchte durch die Taue zu klettern – wehe! ich war schon wieder haushoch. Der Ballon, von dem Gewicht meines Gefährten befreit, stieg kerzengerade in die Luft. Umsonst suchte mein Freund mit ziemlicher Geistesgegenwart Kabel und Anker zu halten, fort jagte ich. Ich stieg nicht sehr hoch, sondern der Wind führte mich in etwa doppelter Kabellänge über der Erde fort in gerader Richtung dem Meere zu. „Könnte ich doch dem Ballon Wunden beibringen!“ Ich kletterte am Netzwerk hinauf, um die Seide mit den Zähnen zu zerreißen, da mir ein Messer fehlte. Als ich oben hing, fiel mir jedoch ein, daß, sobald Gas ausströmte, der Ballon, oder wenigstens der Anker, zu Boden schlagen werde und ich, ermattet wie ich war, mich unmöglich bei der Erschütterung im Seilwerk halten könne. Ich gab also meine Arbeit auf und kletterte unverrichteter Sache in den Korb zurück.

Das war mein Heil. Sei es, daß das Wenige, was ich gethan, schon Gas hatte entströmen lassen, sei es aus anderen Ursachen, der Ballon näherte sich wieder der Erde. Der Anker schlug ein; Gras, Gestrüpp und Steine flogen umher, wohin er schlug, aber kein Halt! Ich kam in ein bebautes Thal. An einige Arbeiter im Felde ließ ich meinen Hülferuf erschallen: „Um Gottes willen, rettet! helft! haltet den Anker!“ Endlich verstanden sie meinen Ruf, aber zu spät. Fort jagte ich vor ihnen her: der Anker pflügte das Getreide mehrere Morgen weit. Ich näherte mich einer Farm. Da war Hoffnung! Die Leute erfreuten sich des ungewohnten Anblickes, unbewußt, in welcher Gefahr ich schwebte. „Hülfe!“ rief ich ihnen entgegen, „oder ich bin verloren. Haltet den Anker fest!“ Einige Frauen mit dem raschen Instincte des Weibes begriffen zuerst meine Gefahr und ermunterten die Männer zur Rettung. Bald war Alles in Bewegung; der Anker schlug in einen Weidenbaum. „Bindet Tau und Anker mit Stricken fest!“ rief ich: es geschah. Der Wind hatte nachgelassen; der Abend war still und lieblich, kaum ein Lüftchen regte sich mehr und der Ballon schwebte ruhig vor Anker über dem Pachthofe.

„Haben Sie Taue oder wie wollen Sie zur Erde gelangen?“ rief man mir zu.

„Macht nur den Anker sicher und fest,“ war meine Antwort, „so ist keine Gefahr, der Ballon wird nach und nach von selbst sinken.“

Ach! ich hatte nicht auf den Wind gezählt! Schon wünschte ich mir Glück zu meiner nahen Rettung – da sprang eine Brise auf und schleuderte den Ballon wie ein großes Segel umher. Der Weidenbaum konnte nicht widerstehen, ein Krach – los war der Anker! Wild peitscht er durch die Bäume; Zweige und Aeste fliegen umher, er streift das Dach des Wohnhauses, Schornstein und Schiefer klirren herab wie Glasscherben; fort – fort – Hecken und Mauern, nichts widersteht. Ich nähere mich einer zweiten [496] Farm. „Hülfe! Hülfe! Macht den Anker am Fuße eines Baumes fest! Haltet! Helft oder ich bin verloren!“ Der Anker sitzt bald fest, ich athme auf, aber nur einen Augenblick. Der Wind füllt den halbleeren Ballon wie ein Segel – der Kabel spannt – ein dumpfer Ton – ein Ruck – der Korb schüttert – fort brause ich – der Anker, meine letzte Hoffnung, war verloren. Der Wind trug mich dem nahen Meere zu, der Anker fort – jetzt war keine Rettung mehr zu hoffen. Ich setzte mich gefaßt auf den Boden des Schiffes nieder und bereitete mich, vor auf mein nahes Ende.

Da entdeckte ich, daß ein Seitenwind mich den Bergen zutrieb. Nieder schlug der Korb und raste am Berge hin mit furchtbarer Schnelle; Mauern, Hecken, Steine, Felsen, was nicht fest war, wurde mit fortgeschleudert. Ich wurde im Korbe hin- und hergeworfen wie eine Erbse in einer Klapperbüchse; daß meine Knochen heil geblieben sind, daß ich nicht betäubt wurde, ist mir noch ein Räthsel. Sicherer Tod stand mir bevor, stürzte ich in die See, ebenso sicher wurde ich zerschmettert, hätte ich auf dieser Fahrt hinauszuspringen versucht. Die Stöße wurden seltener, ich flog über bebautes Land. Das Schiff strich über die Saaten und streifte die Hecken, ich sah eine dicke Dornenhecke vor mir, da ist Rettung! Ich springe auf den Rand des Schiffes und stürze mich in die Hecke. Auf einen heftigen Fall war ich gefaßt, aber sanft glitt ich an der andern Seite der Hecke hinunter. Der Ballon, erleichtert, schoß in die Höhe; ich erhob mich, versuchte meine Glieder – Gott sei Dank! ich war heil und gesund. – –

Nachdem ich mich gesammelt, blickte ich meinem unbändigen Luftschiffe nach. Hoch schwebte es in den Lüften über der See. Jetzt erst fühlte ich den ganzen Schrecken der Gefahr, der ich eben entronnen. Fast versagten mir meine Glieder den Dienst, die dürren Lippen lechzten nach einem Tropfen Wasser. Ich sank zusammen, auf dem Berge erwartete mich der Tod vor Erschöpfung; ich nahm dann die letzte Kraft zusammen und schleppte mich langsam den Berg hinunter dem nahen Dorfe Waterfoot zu. Ich sah Menschen in einiger Entfernung, ich wollte rufen, umsonst, ich konnte keinen Ton hervorbringen. Nach und nach kehrten meine Kräfte wieder, und als ich in Waterfoot ankam, war ich bereits ziemlich wieder wohl, ein Schluck Whiskey brachte mich ganz zu mir selbst. Die guten Bewohner des Fischerdorfes empfingen mich mit Freundlichkeit und Theilnahme. Während ich ausruhte, fragte ein Herr aus der Nachbarschaft nach mir und bot mir einen Sitz in seinem Wagen und ein Nachtlager in seinem Hause an. Dankbar nahm ich die freundliche Einladung an, und nach dreistündiger Fahrt langten wir um Mitternacht auf seinem Gute an. Als ich mich eben durch ein Nachtessen stärkte, fuhr eine Kutsche vor – es war mein letzter Reisegefährte, der von meiner Rettung gehört hatte. Die hellen Thränen stürzten ihm aus den Augen, als er mich wieder lebend und gesund vor sich sah.

Am andern Morgen fuhren wir nach Belfast zurück. Dort hatte man uns todt gesagt. Die lebhafte Freude über unsere Rettung und die rührende Theilnahme, die uns überall begegneten, entschädigten uns einigermaßen für die Schrecken unserer Luftfahrt. Der Ballon wurde am andern Morgen zerfetzt am Strande der schottischen Insel Islay gefunden.




Blätter und Blüthen.

Ein blinder Wegweiser, Sagenforscher, Dichter. Aus dem Seeberg bei Salzungen, dem meiningischen Städtchen, welches sich durch seine ergiebigen Salzquellen, seine Badeanstalt und den einzigen See Thüringens auszeichnet, begegnet der Gast während der Saison wohl täglich einem hohen, ernsten Mann, der seines Weges meist allein geht, obwohl kein Menschenfeind aus den edlen Zügen seines Antlitzes spricht. Oft finden wir ihn an alten Lieblingsplätzchen, wo die Fernsicht am weitesten oder lieblichsten ist, wie im Anschauen der Herrlichkeit der Natur versunken. Und wenn dann ein Fremder zu ihm tritt, der des Mannes Schicksal nicht kennt, so entspinnt sich wohl ein Gespräch über die Reize der Landschaft, und der Gast des Berges ist dankbar erfreut, einen so genauen Kenner derselben gefunden zu haben. Im weiten Umkreise nennt der Andere ihm jede Bergspitze, bis zu den fernsten duftigen Höhen, jede Ortschaft, deren Kirchthurmspitze hervorragt, jeden überhaupt bemerkenswerthen Gegenstand. Und wie erstaunt erst der Fremde, wenn er seinem Mann in’s Auge schauen will und in ihm den Strahl des Lichtes erloschen findet!

Noch mehr geschieht dies, wenn der einsame stille Wanderer auf seinem Gange von Gästen angesprochen wird, die sich bei ihm nach irgend einer Wegrichtung nach einer sehenswerthen Stelle des Gebirges erkundigen. Mit der ausführlichsten Genauigkeit beschreibt er ihnen die Richtungen und die Merkmale, jeden Fels, jeden Baum, jeden Bach, jede Quelle, die den Wanderer zum Ziele führen hilft, – und wenn sie von ihm scheiden, merken sie oft erst, daß er selbst den Stab zum Wegweiser braucht, aber sonst keinen andern Führer, als sein treues Heimathsgedächtniß.

Wenn wir den Mann einen „Wegweiser“ nannten, so verzeihe der Leser, sollte diese Ueberschrift ihn getäuscht haben. Wir meinten damit keinen „Fremdenführer“, der um Lohn dient, sondern den freundlichen Ortskundigen, der gern Jedem auf den rechten Weg hilft. Der Leser merkt vielleicht unsere Absicht, aber ohne verstimmt zu sein.

Und derselbe Mann benutzt seine Landeskunde, um die alten geistigen Schätze des Volksthums zu heben. Mit dem Dichtergefühl, das am richtigsten und darum am leichtesten den schweren Pfad zum Volksherzen findet, wandert er von Ort zu Ort, um die mehr und mehr verklingenden Sagen des Landes zu sammeln, um von ihnen zu retten, was noch zu retten ist, und um sie der Gegenwart in einer Form wiederzugeben, die durch ihre klare, anschauliche Einfachheit und kernige Gediegenheit ihnen auch eine Zukunft im Volke sichert. Waren die Brüder Grimm für die deutsche und Ludw. Bechstein für die thüringische Sagenwelt darin seine Vorbilder, so gebührt ihm die Anerkennung, daß er hinter Beiden in keiner Beziehung zurückgeblieben, daß er sie in der edlen ungeschminkten Darstellung erreicht, in der Vollständigkeit der Ausbeute aber nicht unbeutend übertroffen hat.

Die Werra-Sagen von C. Ludwig Wucke – so heißt unser Mann – verdienen die allgemeinste Beachtung. Nicht blos der Fachmann, der Literator und Ethnograph findet hier eine neue reiche Fundgrube für die Kunde deutschen Volksthums von den ältesten Religionsgebräuchen, dem ältesten Aberglauben bis zu den späteren Volkssitten und zum Theil längst verschollenen Gebräuchen, sammt vielen geschichtlichen Anklängen; das Volk selbst erhält mit Wucke’s Sagen einen treuen Spiegel seines eigenen Wesens, kurz ein rechtes Buch für den Abendtisch des Hauses in jeder Familie, die ihres deutschen Wesens bewußt und froh ist.

Aber nicht blos zur Sagenforschung leitet und half ihm sein Dichtergefühl, es spricht sich selbstständig und beredt und mit immer frischer Schaffenskraft in Dichtungen aus, die ebenso oft den reichen Geist, wie selten das schwere Schicksal verrathen, das die poetische Ader in ihm erst flüssig gemacht hat. Um diese Andeutung zu erklären, vergönnen uns die Leser, sie in die Vergangenheit unseres Mannes zurückzuführen.

Ludwig Wucke, ein geborener Salzunger, ist jetzt ein Mann von achtundfünfzig Jahren. Er wurde für das Rechtsfach bestimmt, während das Herz ihn zu den Naturwissenschaften und der Malerei hinzog. Der Widerwille gegen den drohenden Actendienst verleitete ihn am Ende seiner Studienzeit, statt nach Hildburghausen an den Accessistentisch ohne Weiteres nach Holland unter die Kriegsfahne zu gehen. Dahin lockte ihn die Aussicht, nach Ostindien gelangen und dort in der Tropennatur als Forscher und Maler schwelgen zu können. Wirklich wurde der blühende, schöne und kräftige junge Mann nicht nur gern aufgenommen, sondern durch seinen Diensteifer rasch über die ersten Rangstufen hinweggeführt und zum Corporal befördert. Dabei fand er noch Zeit, eine höchst interessante Sammlung von Skizzen holländischer Orte und Scenen aus dem Volks- und Lagerleben theils zu zeichnen, theils in Farben auszuführen. Ein gediegener Kunstkenner rief später bei ihrem Anblick aus: „Hier blickt uns ein ganzer Claude Lorrain entgegen.“

Indeß Wucke auf das Commando lauerte, das ihn nach Ostindien versetzen sollte, brach die belgische Revolution aus und entschied auch sein Schicksal. Fröhlich zog er mit in’s Feld und ertrug mit glücklichem Jugendmuth alle Strapazen des strengen Vorpostendienstes seines Corps. Allein die ungewohnten klimatischen Verhältnisse übten bald auch auf ihn ihren Einfluß aus, seine vielleicht ohnedies durch Ueberarbeit angegriffnen Augen verfielen einer Entzündung, die, trotz aller Sorge, die den geliebten Kranken umgab, in die sogenannte ägyptische Augenentzündung (Ophthalmia aegyptiaca) ausartete, welche damals viele Opfer dem holländischen Heere forderte und der auch Ludwig Wucke’s Augenlicht erlag. Vollständige Erblindung war das Loos des jungen Mannes mit der glühenden Kunstseele. Aber eine wunderbare Wandelung ging nun in ihm vor. Seitdem das Reich der Farben ihm für immer verschlossen war, übte sein Geist die Gestaltungslust in der Sprache der Dichtkunst aus: er, der früher sich nie viel mit Versemachen abgegeben, ward nun zum Dicher, und nicht etwa zu einem gewöhnlichen, sondern zu einem unserer vorzüglicheren, dem eben so großer Gedankenreichthum wie Gefühlstiefe und zu beiden eine bedeutende Gewandtheit in der Beherrschung der Sprache zu Gebote steht. Wenige seiner Gedichte sind veröffentlicht, die meisten in meinem „Weihnachtsbaum“. Nur selten stürmt der alte Schmerz in ihm auf, und es ist sicherlich das höchste Glück in diesem Wehe, daß selbst jener Schmerz ihm zum Gedichte werden kann. Der bittere Schluß eines solchen lautet:

Sieh, wie wild der Sturm die Wipfel
Jener dunkeln Tanne schlägt!
Sieh nach jenes Berges Gipfel,
Der den ersten Schnee schon trägt!
Sieh den schönen Christbaum prangen,
Von dem Kerzenglanz umstrahlt;
Wie sich Freude und Verlangen
In dem Aug’ der Kleinen malt!
Siehe! Siehe! rufst Du immer,
Erdenwelt, Dir unbewußt!
Doch mir Armen blieb kein Schimmer –
Gott! mir sprengt der Schmerz die Brust!

F. H.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Der Verfasser dieser sehr interessanten Mittheilung ist ein junger Deutscher, der, schon frühzeitig nach England gekommen, seit eilf Jahren in Belfast in Irland, dem Mittelpunkt der irischen Leinwandfabrikation, lebt. Er sendet uns die Beschreibung seiner merkwürdigen Luftfahrt, hauptsächlich um durch unser „Weltblatt“ – wir dürfen es wohl selbst so nennen – den Uebertreibungen entgegenzutreten, mit denen die englische Presse die gefahrvolle Luftreise erzählt hatte, welche wahrhaftig nicht noch poetischer Ausschmückungen bedarf, um schreckenerregend genug zu sein.
    D. Red.