Die Gartenlaube (1865)/Heft 37

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 37. 1865.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Die zwölf Apostel.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Der alte Jacob hatte, während er noch mit Werner sprach, einige Luken zugemacht, schüttelte sich den Staub von Rock und Mütze, der hier oben massenhaft bei jedem Schritt aufwirbelte, und verließ darauf, nachdem er noch liebkosend mit der Hand über die große, prächtige Glocke gestrichen hatte, mit dem jungen Manne den Thurm. Sie schritten durch mehrere Straßen, bis sie vor einem großen, etwas düster aussehenden Gebäude – Werner’s Hause – stehen blieben. Hier sagte der junge Mann:

„Um in die Schwemme zu reiten, bist Du nun zu alt, lieber Jacob; die Aepfel vom Baume kann ich mir jetzt auch selbst holen, denn ich habe ein Paar tüchtige Arme, wie Du siehst. Aber eine männliche Aufsicht in meinem Haus und Garten und ein treues, ehrliches Gesicht, welches mir jeden Augenblick meine fröhliche Kinderzeit zurückruft, das kann ich brauchen. Wenn Du also willst, guter Alter, so kannst Du sammt Deiner Frau jeden Tag in die hübsche Hofwohnung meines Hauses einziehen. Es ist mir eine Freude, für Deine alten Tage zu sorgen. Deshalb aber bleibt es Dir doch unverwehrt, den Glocken und Deinem scheuen Liebling aus dem Thurme jeden Sonntag Deinen Besuch zu machen.“

Jacob sah ihn an, als träume er. Zitternd faßte er die Hand Werner’s, brachte aber in all seiner Glückseligkeit nichts weiter heraus, als: „Ach, Herr, ob ich will! … Mit tausend Freuden, ja! Aber lassen Sie mich jetzt geschwind heim. … Was wird nur meine Alte dazu sagen, die springt deckenhoch vor Freude, wenn’s noch geht mit ihren alten Beinen!“

Und damit rannte er spornstreichs die Straße hinab. Werner faßte den blanken Messingknopf an der Hausthür und läutete. Alsbald erschien droben im schrägen Spiegel am Fenster ein altes Damengesicht mit hochmüthigen, harten Zügen, von einer sehr gesteiften, schneeweißen Haube umgeben; es verschwand ebenso schnell wieder und sogleich öffnete sich der Thorflügel mit jener Schwerfälligkeit und Vornehmheit, wie sich massive Thorflügel in alten und reichen Häusern zu öffnen pflegen.

Der junge Werner war das einzige Kind sehr vermögender, angesehener Eltern, die er jedoch schon im fünfzehnten Jahre verlor. Ein alter Onkel, geistlichen Standes und in einer entfernten Stadt wohnend, wurde sein Vormund und nahm ihn zu sich. Hier erhielt er eine vortreffliche Erziehung. Er besuchte das dortige Gymnasium, bezog später die Universität und ging dann nach Italien, dem Ziel seiner heißesten Jugendwünsche. Er hatte ein ausgezeichnetes Malertalent und lebte dort, völlig unabhängig durch sein Vermögen, nur der Kunst. Nach sechsjährigem Aufenthalt im Süden erfaßte ihn jedoch mit einem Male das Heimweh und er kehrte nach Deutschland zurück, um wenigstens auf einige Zeit wieder an dem Orte zu leben, wo er ein glückliches, vorzüglich von der Mutter zärtlich geliebtes Kind gewesen war. Eine alte, verwittwete Tante hatte während seiner langen Abwesenheit sein Vaterhaus bewohnt und im Stand erhalten, und so fand er bei seiner Zurückkunft wenigstens eine bequeme Häuslichkeit, wenn auch kein treuer Mutterarm ihn mehr empfing und jener Liebesstrahl des mütterlichen Auges erloschen war, der seine Kindheit verklärt hatte.


Wer zu der Seejungfer wollte, der mußte durch den düstern, von alten verfallenen Gebäuden eingeschlossenen Klosterhof. Im Flügel rechts befand sich eine Thür, deren hoher, gewölbter Bogen noch sehr schöne Spuren eines kunstreichen Meißels trug; an der Thür selbst aber waren einzelne Breter aus dem Gefüge gewichen, was seltsam contrastirte mit dem ungeheuren Schloß und den massiven, eisernen Beschlägen, die für alle Zeiten gemacht zu sein schienen. Dieser Eingang führte in ein kellerartiges Gewölbe; am Ende dieses tiefen Ganges lief eine schiefe, halsbrechende Treppe in das obere Stockwerk. Hier wohnte die Seejungfer und da war es licht und sonnenhell, wenn auch klein und eng – man vergaß in dem sauberen Wohnstübchen mit dem ungeheuren Kachelofen und den weißgescheuerten tannenen Möbeln sofort den unheimlichen Eingang.

An dem offenen Fenster, das hinaus auf die Mauer führte, saß Magdalene. Zu ihren Füßen stand ein Korb mit frisch gebügelter Wäsche, und der Fingerhut an der Hand und ein Stück Leinenzeug auf ihrem Schooße zeigten, daß sie beschäftigt war, die Wäsche auszubessern. Aber die Nadel ruhte. Betrachtete man diese hohe Mädchengestalt, so mußte sich unwillkürlich der Blick des Beschauers fragend nach der Zimmerdecke richten, ob sie wirklich beabsichtige, so niedrig, schief und angeräuchert hängen zu bleiben über diesem schönen Haupte, das so stolz auf dem Nacken saß, über dieser ausdrucksvollen Stirn und den wunderbaren Augen darunter. …

Das altmodische Schränkchen mit den Glasthüren und den grünen Wollvorhängen stand offen. Die Bücherreihen darin sahen nicht mehr neu aus, einige davon erschienen sogar recht abgegriffen, auch standen sie durchaus nicht so schön steif da, wie die wohlgeordneten Truppen vornehmer Bibliotheken, die zwar ausgezeichnet equipirt werden, sehr selten aber in’s Treffen kommen – man sah vielmehr einzelne, die flüchtig und halb hineingesteckt waren, [578] um vielleicht in Folge eines raschen Gedankens gleich wieder bei der Hand zu sein. Es standen ehrenwerthe Namen auf den kleinen, rothen Vignetten, Namen, vor denen die ganze Welt sich beugt und die hier in einem ärmlichen Erdenwinkel den ganzen Segen ihres Wirkens in ein von der sogenannten Welt völlig ausgeschlossenes Gemüth streuten. Der alte Maler, der Magdalene im Zeichnen unterrichtet hatte, war ein vielseitig gebildeter Mann gewesen. Er hatte das junge Mädchen zuerst auf den kostbaren Schatz im Glasschranke aufmerksam gemacht und ihr nach und nach selbst die Bücher in die Hand gegeben, wie sie in strenger Reihenfolge ihrem sich ungemein rasch entwickelnden, feurigen Geist nützen mußten. Nach stillschweigender Uebereinkunft zwischen ihm und der Seejungfer brachte er stets die langen Winterabende im warmen, gemüthlichen Stübchen derselben zu und las, von Suschens unermüdlich schnurrendem Spinnrad traulich accompagnirt, Magdalenen vor, oder erklärte ihr die Stellen, die ihr dunkel geblieben waren. Als ein von der undankbaren Welt vergessener Mann war er jedoch nicht ohne Bitterkeit. Ein entschiedener Feind der meisten socialen Einrichtungen, zog er oft mit schneidender Ironie gegen dieselben zu Felde und beleuchtete grell ihre Lächerlichkeiten und Widersprüche. Daß diese Saat üppig ausschoß in einem jungen Herzen, dessen heißes Empfinden überall an die zurückweisenden Schranken der Welt stieß und so in sich verglühen mußte, konnte wohl nicht anders sein. Auf diese Weise kam es, daß, während der Geist des jungen Mädchens jubelnd das Reich der Ideale betrat, welches ihr alter Freund in den Werken großer Meister vor ihr aufschloß, ihr Gemüth einem finsteren Dämon verfiel, dem tiefsten Mißtrauen gegen die Menschen, geschöpft aus den Lebenserfahrungen des verbitterten Alten und aus einer trüben Kindheit.

Magdalene hatte den Kopf an die Fensterbekleidung gelehnt. Sie merkte es nicht, daß eine kleine Weinranke von draußen hereinkam und sich schmeichelnd auf ihr Haar legte; auch den kleinen, vorwitzigen Sperling sah sie nicht, der nahe an ihre Schulter herantrippelte und Brodkrumen suchte, die sie ihm oft hinstreute. Sie blickte träumerisch vor sich hin und hielt in der herabgesunkenen Hand mehrere zusammengeheftete Papiere. Es waren alte, vergilbte Blätter, eine Anzahl von dem verstorbenen Leberecht zierlich geschriebener Verse enthaltend – Gedichte voll Schwung und Gluth, voll tiefen Leidens und schmerzlicher Resignation. Auf dem Titelblatt stand „An Friederike“.

Langsame Tritte draußen auf der knarrenden Treppe schreckten das junge Mädchen aus ihrem Nachsinnen auf. Sie eilte nach der Thür und nahm der eintretenden Seejungfer einen leeren Korb und den Mantel ab, den sie sorgfältig an den Nagel hing, dann schob sie der Muhme den alten Sorgenstuhl des verstorbenen Schusters hin und holte den Nachmittagskaffee aus der Küche. Die Seejungfer sah ihrer Geschäftigkeit freundlich zu, gleichwohl hatte sie einen etwas mürrischen, unzufriedenen Zug um den Mund, der sich auch durchaus nicht unterdrücken lassen wollte. Sie sagte deshalb, nachdem sie die schwarze Bürgerhaube der Schonung wegen mit einer buntkattunenen Hausmütze vertauscht hatte:

„Höre, Lenchen, ich bin der Frau Schmidt begegnet. Sie wollte mir zehn Groschen geben, weil Du sie durchaus nicht genommen hättest, sagte sie. Guck, mein Töchterchen,“ fuhr die Alte fort, „es heißt in der Bibel: ‚Brich dem Hungrigen dein Brod’, das hat mir mein seliger Vater oft genug gesagt, obgleich es bei uns nicht ein einziges Mal vorgekommen ist, daß sich ein Anderer an den Spruch gehalten hätte, und wir waren manchmal recht in Noth. Na, das thut nichts, ich hab’ mich mein Lebtag an das Wort Gottes gehalten, so viel ich konnte: aber es hat Alles seine Grenzen … Da hast Du nun einen ganzen Tag fest gearbeitet an dem Leichencarmen für der Schmidt ihr Kind, hast viel schönere Rosen und andere Sachen darauf gemalt, als Du bei weit reicheren Leuten schon gemacht hast – und nun nimmst Du nicht einmal das Geld dafür, das Du sauer genug verdient hast … Zehn Groschen sind für uns viel Geld, Lenchen, und der Schmidt ihr Kind wär’ ebenso selig geworden, wenn sie ihm ein Sträußchen Buchsbaum aus den Sarg gelegt hätte, statt des Sprüchleins und der gemalten Blumen auf dem weißen Seidenband.“

„Muhme, das ist nicht Euer Ernst!“ entgegnete das Mädchen und seine erst von einer sanften Freundlichkeit beseelten Züge nahmen einen Ausdruck von Strenge an. „Seht mich einmal an, Muhme. Wißt Ihr noch, wie die Schmidt die Hände fast blutig rang und verzweiflungsvoll weinte und schrie, als ihr der liebe Gott das kleine Mädchen, den Trost ihrer Augen, ihre ganze Glückseligkeit aus dieser Welt, nahm? … Könnt Ihr Euch nicht denken, daß darin noch ein geringer Trost, eine wehmüthige Freude liegt, wenn wir das, was wir begraben müssen, wenigstens bis zu dem Augenblicke, wo es unseren Blicken entzogen wird, mit den höchsten äußeren Ehren, die wir zu geben vermögen, mit jedem sichtbaren Ausdruck unserer Zärtlichkeit überhäufen können? Und soll eine arme Mutter darin nicht gerade so fühlen, wie eine reiche? … Seid nicht bös, Muhme, ich konnte das Geld nicht nehmen, an dem die Thränen des armen Weibes hingen.“

„Ja, da sprichst Du nun wieder wie ein Buch, und Unsereins kann nichts darauf sagen. Aber, Lenchen, wenn Du’s immer so machen willst, da wirst Du Dein Lebtag zu nichts kommen.“

„Seid ohne Sorgen, Muhme,“ erwiderte das junge Mädchen nicht ohne einen Anflug von Bitterkeit. „Ihr wißt selbst am Besten, wie viel Leichencarmen mir schon bezahlt worden sind, ohne daß ich nöthig gehabt hätte, mich zu weigern … Ihr habt das Geld der Schmidt gelassen, nicht wahr, Muhme?“

„I freilich, da Du’s nicht nehmen wolltest, da durft’ ich schon gar nicht, aber geärgert hab’ ich mich doch, hab’s auch gleich dem Jacob gesagt, der gerade dazukam. Aber der ist nicht um ein Haar anders, als Du; ‚Recht hat das Veilchen’, sagte er und ließ mich stehen.“

Der Blick der Seejungfer fiel jetzt auf das geschriebene Heft, das noch auf dem Tische lag.

„Was hast Du denn da?“ fragte sie.

„Geschriebenes vom Vetter Leberecht,“ sagte das Mädchen. „Es lag in einem Buch ganz droben im Glasschrank. Ich hatte bis jetzt die Klammern daran nicht aufgemacht; aber heute, als ich den Schrank innen säubern wollte, da stürzte es herunter und da fiel das Heft heraus.“

„Ja,“ sagte die Alte, und eine tiefe Rührung überflog ihre Züge, „das sind schöne Liederverschen, die der Leberecht wahrscheinlich aus seinen Büchern abgeschrieben hat … Ich hab’ ihm oft in seiner Krankheit dies Schreibbüchlein auf’s Bett legen müssen, bis er’s am Tage vor seinem Tode selbst in das große Buch geschoben hat.“

„Muhme Suschen, hat denn der Vetter Leberecht ein Mädchen lieb gehabt?“ fragte plötzlich Magdalene.

Die Seejungfer, die bei aller Rührung eben ein Stück Semmel zum Munde führen wollte, hielt so erstaunt inne, als sei sie eben gefragt worden, ob der Wald blau sei und der Himmel grün.

„Was Du aber auch immer für närrisches Zeug auf’s Tapet bringst!“ sagte sie endlich. „Der Leberecht, der stille, ernsthafte Mensch, der weder rechts noch links sah und immer seinen Weg fein gesetzt ging – nein!“

„Nun, deswegen könnte er doch geliebt haben.“

„Ja, wen denn? … Es gab freilich damals hübsche Bürgerstöchter genug und die Weiberstühle waren immer zum Brechen voll, wenn er predigte, aber angesehen hat er Keine. Er ging ja auch zu gar keiner Menschenseele und steckte den ganzen Tag zu Hause. Nur einigemal in der Woche kam er zu dem gestrengen Herrn Bürgermeister Werner und gab dem Jungen Stunden.“

„Waren auch Töchter da?“

„Freilich, eine – nu, Du wirst doch nicht gar glauben, daß der Leberecht so dumm gewesen sei, sich in die Friederike zu verlieben, das stolzeste Mädchen in der ganzen Stadt? … Nein, das hätte der Leberecht nie gethan, und wenn er’s auch bis zum Candidaten gebracht hatte – er war doch nur ein Schusterssohn, und das hat er nie vergessen. Da wäre er aber auch schlecht angekommen, denn Werner’s ganze Sippschaft hatte einen gar erschrecklichen Stolz. Nu, sie wären ja auch reich und vornehm genug! … Tausend noch einmal, in dem Hause soll’s hoch hergegangen sein! Manchmal Sonnabends kam der Bediente und lud den Herrn Candidaten’ auf einen Löffel Suppe zum Sonntag ein. Da ging denn der Leberecht auch immer hin und nahm seine Geige mit – er soll recht schön gespielt haben, ich verstand’s nicht. Und da mußte er immer nach Tische der Familie ein Stückchen ausspielen und die Friederike sang auch … Aber er hat auch viel Aerger dort gehabt, denn der Junge, dem er das Lateinische beibringen mußte, hat ihm viel zu schaffen gemacht, es war gar eine böse, nichtsnutzige Range … ist nachher aber doch ein vornehmer Mann und Bürgermeister geworden.“

[579] „War denn Friederike schön?“

„Na, ob die schön war! Das will ich meinen … Du kennst sie ja, es ist die jetzige alte Frau Räthin Bauer. Man sieht freilich jetzt nichts mehr davon; sie hat ein ebenso runzeliges Gesicht, wie ich auch – junge Springer, alte Stelzner – lautet das Sprüchwort; aber damals, ja damals! … Ich habe sie einmal gesehen, wie sie zu einer Hochzeit ging, und das habe ich mein Lebelang nicht vergessen können. Da hatte sie ein steifseidenes Kleid an, das war blau wie der Himmel; es schleppte hinten lang nach und rauschte entsetzlich, und die ganze hohe Frisur war mit Rosen besteckt, frisch vom Stock, wie sie im Garten gewachsen waren. … Ach ja, ich weiß noch, dazumal war’s mit dem Leberecht nahe am Ende. Ich wollte ihm noch eine kleine Freude machen und setzte mich an sein Bett und erzählte ihm vom Hochzeitszug und von Werner’s Friederiken, die er doch so gut kannte – wie lustig und stolz sie ausgesehen hatte und was für ein stattlicher Herr sie führte. … Da machte er mir aber ein Paar Augen, die vergeß’ ich in meinem ganzen Leben nicht – nachher steckte er den Kopf tief in’s Kissen, und am anderen Morgen ist er gestorben. Ich mein’ immer, er hat da noch einmal an den vielen Aerger gedacht, den er mit dem bösen Jungen gehabt hat.“

Magdalene sah tiefbewegt auf die alte Frau, die so ahnungslos und ruhig erzählte, wie sie dem über Alles geliebten Bruder unwissend den letzten Todesstoß beigebracht hatte. Während ihrer Erzählung hatte die Alte die Brille aufgesetzt und einen schadhaften Strumpf auf die linke Hand gestülpt, dem sie wacker mit Nadel und Faden zusetzte.

„Die Friederike hat nachher den Rath Bauer geheirathet,“ fuhr die Seejungfer in ihren Mittheilungen fort, „und es ist dazumal ein Gesperr in der Stadt gewesen über den vornehmen Bräutigam, daß kein Kaiser und kein König neben ihm auskommen konnte. Aber Hochmuth kommt vor dem Falle, und man soll den Tag nicht vor dein Abend loben. Der Herr Rath hat kein Geld in der Hand leiden können – es mußte Alles hinaus, und wie er gestorben ist, da war nichts mehr zu finden, und in der Friederike ihrem großen Geldkasten, da hielten die Mäuse Kirchtag… Dazu kam nun noch das Unglück, daß ihre Tochter im ersten Kindbett starb, und ihr Tochtermann, weil er schlechte Streiche gemacht hatte, davonging. Dazumal hat sie mich gedauert – aber alle das Schicksal hat sie nicht mürbe gemacht; sie hielt sich strack und steif wie immer, und in den Trauerkleidern hat sie eben nicht anders ausgesehen, als vorher auch.“

„Ihr Enkelkind, die Antonie, kenne ich wohl von der Schule her,“ sagte Magdalene, und um ihre Lippen glitt ein herber Zug. „Sie saß immer so steif eingeschnürt in den tadellos gehaltenen Kleidern auf ihrem Platz, und ihr gelbes Haar war so glatt an die Schläfe gestrichen, daß es wie ein Spiegel glänzte. Sie that unendlich vornehm, so daß die anderen Kinder mit einer wahren Ehrfurcht zu ihr aufsahen… Ich haßte sie, denn sie hinterbrachte stets dem Lehrer die kleinsten Vergehen, die in der Classe vorkamen, und konnte so zufrieden lächeln, wenn recht harte Strafen zudictirt wurden. Es empörte mich, wenn sie uns auch noch als Muster eines wohlgesitteten Kindes vorgestellt wurde.“

„Ja, Lenchen, das ist nun einmal der Welt Lauf. Zu meiner Zeit war’s gerade so, da waren die Rathstöchter auch immer die gescheidtesten und die besten – das muß wohl so in der Art liegen… Das kannst Du mir aber glauben, wenn die Frau Räthin ihren Bruderssohn, den jungen Herrn Werner, nicht hätte …“

Ein Klopfen an der Thür unterbrach sie, und viel eher hätte sie wohl des Himmels Einsturz erwartet, als das, was sie sah. Der junge Mann, dessen Name noch halb auf ihren Lippen schwebte, trat, sich tief unter der niedrigen Thür bückend, in das Stübchen und bat, nachdem er freundlich gegrüßt, um den Schlüssel zu der Liebfrauenkirche, den, wie er höre, die Jungfer Hartmann seit letzterer Zeit in Verwahrung habe.

Die Seejungfer knixte und riß ihre gläsernen Augen weit auf; das junge Mädchen aber schrie diesmal nicht, wie vor einigen Tagen auf dem Thurm; sie machte auch keine Bewegung, um fortzulaufen – langsam erhob sich ihre schlanke Gestalt vom Stuhle, ja, es sah fast aus, als wüchse sie zusehends. Ihr Gesicht war schneeweiß geworden bis in die festgeschlossenen Lippen; aber in ihren Augen, die sie auf den Eintretenden richtete, funkelte es wie ein zorniger Blitz.

Während die Seejungfer in die anstoßende Kammer eilte, um den begehrten Schlüssel zu holen, näherte sich Werner Magdalenen. Die Abendsonne fiel in dem Augenblick auf seine Züge – sie waren wie von Marmor, so edel, fest, aber auch so ruhig und so kalt. Er schien das Zurückweisende in der ganzen Haltung des jungen Mädchens nicht zu bemerken und sagte höflich:

„Ich habe Sie neulich erschreckt, wie ich mit Bedauern sehen mußte.“

„Ich hatte eben Herrliches geträumt und war nicht darauf vorbereitet, einen Menschen zu sehen.“

„Es ist traurig, so unsanft geweckt zu werden.“

„Ich bin mit Enttäuschungen vertraut, seit ich denken gelernt habe.“

„So jung – und schon so bitter?“

„Erfahrungsreich wollen Sie sagen.“

„Nein, das wollte ich durchaus nicht sagen; ich müßte denn diese Erfahrungen doch erst kennen – von Ihrer Vergangenheit aber weiß ich sehr wenig.“

„Es ist auch der Mühe gar nicht werth, sie näher zu besichtigen.“

„Wenn ich mir nun aber doch diese Mühe nehmen wollte?“

„So würden Sie alsbald finden, daß Sie schon viel zu lange mit mir gesprochen haben.“

„Ich könnte in diesem Augenblick leicht in den Fall kommen, Ihre Bitterkeit für Unhöflichkeit zu halten, die mir die Thür weist.“

„Wenn Sie vielleicht wissen, daß ein armes, unbedeutendes Mädchen auch Tact haben kann, so brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen, daß eine solche Unhöflichkeit in diesem Augenblick nicht denkbar ist.“

Magdalene hatte während dieses Gespräches die linke Hand auf den Fenstersims gelegt. Sie stand halb abgewendet und bog nur den Kopf stolz nach dem Sprechenden zurück. An das, was er sagte, reihte sich ihre Antwort stets wie ein Blitz; nur ihr Auge und ein jäher Farbenwechsel auf den Wangen verriethen ihr rasches Denken, ihre innere Bewegung, sonst blieb das Gesicht völlig ruhig.

Die Seejungfer war indessen ängstlich hin und her getrippelt, dann und wann einen scheuen Blick auf die Sprechenden werfend. Magdalenens Haltung, ihre kurzen Antworten wollten ihr ganz und gar nicht gefallen. Wo, in aller Welt, nahm dies junge Ding den Muth her, dem Herrn, der so vornehm und in so seinem Rock vor ihr stand, so knapp und bündig auf Alles, was er sagte, zu dienen? Die unglückliche alte Jungfer verstand von dem, was gesprochen wurde, nicht ein Wort. Es summte um ihre Ohren, bis das verhängnißvolle „die Thür weisen“ ihr plötzlich Licht über Lenchens unseliges Beginnen verschaffte. Sie verließ eiligst das wohlthätige Dunkel hinter dem Kachelofen, das sie soeben aufgesucht, und sagte mit einem Anflug von Strenge, der aber sehr kläglich ausfiel:

„Ja, Lenchen, was fällt denn Dir ein, daß Du so grob bist mit dem Herrn?“

„Beruhigt Euch, Jungfer Hartmann,“ sagte Werner, gelassen lächelnd, während er das große, blaue Auge auf Magdalene richtete. „Ich bin so eine Art Schatzgräber und lasse mich nicht so leicht zurückschrecken, wenn es sich darum handelt, Gold zu finden.“

Du lieber Gott, der sprach ja fast noch verwirrter, als das Lenchen! … „Ein Schatzgräber“ hatte er gesagt, einer der’s mit der schwarzen Kunst hielt! … Arme Seejungfer! ihr wirbelte der Kopf, und sie zog sich schleunigst in ihr Versteck zurück, denn ihre Prüfung war noch nicht am Ende.

„Wenn Sie Gold suchten, mein Herr,“ nahm Magdalene das Wort, und ein ironischer Blick glitt über das enge Stübchen mit der verräucherten Decke und den getünchten Wänden, „so werden Sie sich nun wohl überzeugt haben, daß Ihre Wünschelruthe den Ort schlecht angezeigt hat… Indeß, die Sage wird Ihnen vielleicht nicht unbekannt sein, daß dies Kloster unterirdische Gänge hat, in denen die zwölf Apostel, massiv von Silber, versteckt liegen, bis ein glücklicher Finder sie an’s Tageslicht bringt. … Wenn ich Ihnen rathen dürfte …“

„Ich danke Ihnen für den freundlichen Wink. Da ich jedoch bis jetzt nicht den mindesten Appetit nach diesen todten Schätzen hege, so werde ich mich an den Apostel halten, in dessen wundervoller Lehre mir ein neues Leben aufgeht, der zu allen Zeiten die Welt durchstreift und liebliche Botschaft bringt. Er entzündet plötzlich ein strahlendes Licht in den armen Menschenkindern, die bis dahin in Blindheit wandelten.“

[580] Die Seejungfer dachte in ihrer dunklen Ecke, das sei geradezu gottlos gesprochen; denn die zwölf Apostel, die jeder Christenmensch schon in der Schule auswendig lernen müsse, seien längst im Himmelreich, und Zeichen und Wunder geschähen nicht mehr. Sie hütete sich indeß wohlweislich, ihre Selbstbetrachtungen laut werden zu lassen, und begnügte sich, in ihrer Aufregung mittelst des Schürzenzipfels die dicke Rostschicht von dem alten Kirchenschlüssel abzureiben – eine Restauration, die sie später, bei ruhigem Nachdenken bitter bereute, denn sie kostete eine frische Schürze.

Magdalene sah den jungen Mann an, als er so mit tiefer, wohlklingender Stimme sprach. Aus seiner mehr breiten, als hohen Stirne, die aber glatt und fest wie von Erz sich wölbte, lag eine merkwürdige Klarheit und Ruhe; das ganze übrige Gesicht trug dasselbe Gepräge, und nur ein leises Zucken der sehr beweglichen, seinen Nasenflügel und ein leichten Beben der festgeschlossenen Kippen ließen dann und wann einen erhöhten Wellenschlag in seinem Inneren vermuthen. Auch jetzt erschien jener eigenthümliche Zug, begleitet von einem seltsamen Aufleuchten seiner Augen, und Magdalene, die durchaus, trotz alles Nachdenkens, den Sinn seiner Worte nicht zu erforschen vermochte, fand in dieser einen Bewegung den Schlüssel zu seinen Reden – es war Spott, abscheulicher Spott. Er sprach absichtlich in nebelhaften Bildern, auf die sie nichts erwidern konnte, um sie für ihre ersten, raschen Antworten büßen zu lassen. Ihr südliches Blut wallte auf. Sie wandte sich hastig und unmuthig ab und sagte, indem sie die kleine, naseweise Weinranke von draußen abriß:

„Ihr Apostel scheint sehr parteiisch zu sein, was seine Gnadenbeweise betrifft. An unserem armen Kloster wenigstens ist er bis jetzt vorübergegangen, und doch thäte gerade hier mancher belasteten Menschenseele ein wenig Sonnenschein recht noth.“

Jetzt erschien in der That ein schelmisches Lächeln auf den Kippen des jungen Mannes.

„Wahrhaftig? Ist er bis jetzt vorübergegangen?“ fragte er. „Nun, dann kann ich Ihnen wohl versichern, daß ich von ganzem Herzen wünsche, er möge so schnell wie möglich hier einkehren.“

Er bog sich bei diesen Worten nieder, um in ihr Gesicht zu sehen. Mit einer heftigen Bewegung fuhr sie in die Höhe, wobei eine ihrer langen Flechten sich löste und am Fensterkreuz hängen blieb.

„Sieh da, Ihr schönes Haar!“ sagte Werner, indem er sie befreite. Magdalenens Gesicht aber war plötzlich mit einer flammenden Nöthe übergossen. Sie warf dem jungen Mann einen zornsprühenden Blick zu und war mit zwei Sprüngen zur Thür hinaus.

Werner sah ihr erstaunt nach. Die Seejungfer aber kam aus ihrem Winkel hervor und sagte schüchtern und verlegen, indem sie ihm den Kirchenschlüssel hinhielt:

„Nehmen Sie’s nur ja nicht übel, Herr Werner, daß das Lenchen so fortgelaufen ist. Aber so was, wie von schönen Haaren, das darf man dem Mädchen nicht sagen… Sie weiß wohl, daß sie von Kindesbeinen an der arme, häßliche Tater gewesen ist, und aus einem Raben kann sein Lebtag keine Taube werden – das weiß sie auch… Die Nachbarsleute können die hellen Haare meiner seligen Schwester nicht vergessen – ich freilich auch nicht – und da hat’s das Lenchen gar manchmal anzuhören gekriegt, daß sie so aus der Art geschlagen ist. Sie kann ihre pechschwarzen Haare nicht ausstehen, und wenn ihr manchmal so ein Zopf vornüber fällt, da erschrickt sie ordentlich… Sie guckt das ganze Jahr in keinen Spiegel, und wir haben auch keinen im ganzen Hause. Je nu, warum denn auch? Setze ich am Sonntag meine Kirchenhaube schief auf, so rückt sie’s Lenchen wieder gerade.“

Werner lächelte und nahm schweigend den Schlüssel in Empfang. Die Seejungfer begleitete ihn an die Treppe und knixte, bis er drunten im dunklen Gang verschwunden war. Gleich darauf trat Magdalene wieder in die Stube. Ihr Gesicht glühte und ihre Züge waren in heftiger Bewegung. Die Seejungfer sah sie ängstlich von der Seite an, wie sie sich schweigend an’s Fenster setzte und ihre Arbeit wieder aufnehmen wollte; aber die sonst so feste Hand zitterte, und nach allen Seiten flogen Fingerhut, Scheere und Arbeit vom Tisch herunter. Als sie sich danach bückte und etwas von „ungeschickt“ und dergleichen murmelte, sagte die Muhme:

„Laß jetzt gut sein, Lenchen; Du bringst im Augenblick doch nichts zurecht… Wie kannst Du nur aber auch gleich so wild werden! … Er hat Dir ja doch eigentlich nichts gethan.“

„Ausgespottet hat er mich!“ rief jetzt das Mädchen mit ausbrechender Heftigkeit, und in ihren glühenden Augen funkelten Thränen. „Verhöhnt hat er mich! … O, diese Herzlosen, da stehen sie auf ihren Geldsäcken und sehen vornehm und spöttisch auf die herab, die, wie sie wähnen, im Staube ihr elendes Dasein hinschleppen! … Weil ich mit diesen meinen Händen mir mühsam den Unterhalt gewinnen muß, darum bin ich schlechter, als der, den das Glück in eine goldene Wiege legte, der seine feinen Finger bedachtsam ansieht und meint, sie seien nur da, um seinen hochgeborenen Körper zu vervollständigen… Weint und lacht das reiche, in Spitzen gewickelte Kind etwa anders, als das im groben Kissen? … Und sieht das brechende Auge des reichen Sterbenden in einen anderen Himmel, als das des Bettlers? … Ich kann bewundernd zur Geistesgröße aufblicken, kann mich demuthsvoll vor der Tugend beugen, kann das Talent verehren – aber niemals werde ich dem Mammon huldigen, der seinen Fuß grob und schwerfällig Allem und Jedem auf den Nacken setzen will und da schonungslos und kalt hintritt, wo der wärmste und weichste Punkt im Herzen des Armen sitzt! … Und darum wehre ich mich auch bis zum letzten Athemzug, wenn solch ein Gewaltiger daherkömmt und meint, mich beleidigen zu können.“

Nach diesem leidenschaftlichen Ausbruch schwieg Magdalene einen Moment. Die Seejungfer, gewöhnt, Alles, was das junge Mädchen in solcher Aufregung sprach, unverstanden an ihren Ohren vorüberbrausen zu lassen – es war aber auch für diese Ohren eigentlich nicht gesagt – hatte ihre Arbeit wieder aufgenommen und benutzte nun diesen stillen Augenblick, indem sie sagte:

„Ja, siehst Du, Lenchen, so geht’s, wenn man vornehmen Leuten allzu dreist antwortet. Hättest fein artig Deinen Knix machen sollen und weiter nichts – so war’s zu meiner Zeit, und darum ist mir auch Keiner zu nahe gekommen.“

„Muhme,“ rief das junge Mädchen wie außer sich, „wenn Ihr mich ein wenig lieb habt, so sagt mir nicht solche Dinge! Bedenkt Ihr denn nicht, daß Ihr mich damit schwer kränkt? … Inwiefern habe ich den Mann herausgefordert? … Ich habe ihm geantwortet, wie ich antworten mußte! … Was hat er hier in unserer armen Wohnung zu suchen? … Ist noch je einer der Herren selbst gekommen, den Schlüssel von Euch zu holen? … Das ist so Einer, der sich das Elend ansieht, um es nachher beschreiben zu können. Man muß nur in dies Gesicht blicken. So mag seine Tante, die alte Räthin Bauer, in ihrer Jugend ausgesehen haben – das sind Züge von Erz und Eis, an denen mag wohl die Gluth und das Empfinden anderer Herzen ungefühlt und unverstanden zerstieben.“

„Es kann schon sein, wie Du sagst; davon verstehe ich nichts,“ meinte die Seejungfer, „aber ein schöner Herr ist er doch, und gegen den Jacob ist er auch gut,“ fuhr sie fort. „Der Alte weiß vor Freuden über sein neues Logis nicht aus, noch ein, und ich habe ihm in die Hand hinein versprochen, daß ich heute Abend, wenn es dunkel ist, mit Dir hinkommen will – er hat keine Ruhe, bis wir Alles gesehen haben.“

Magdalene antwortete nicht. Sie hatte das Heft mit Leberecht’s Gedichten leise in das große Buch gelegt, und als sie die Klammern schloß, da rollten ein paar heiße Thränen auf den alten Folianten herab – da drinnen lagen ja die ganzen Qualen eines gebrochenen Herzens eingesargt!

(Fortsetzung folgt.)




Die Pferde der Diligence.

Oft schon ist darüber geklagt worden, daß mit den Eisenbahnen und den Dampfern die Poesie des Reisens von der Erde verschwunden sei, und nicht selten schweift der Blick des älteren Geschlechts bedauernd, ja fast verlangend zurück in die schönen Zeiten, in welchen fechtende Handwerksburschen die malerische Staffage der Landschaft bildeten, der Hauderer wie ein Pascha über das Leben seiner Mitmenschen verfügte und die gelbe Kutsche das gefeierte Wahrzeichen des durch sie mit der übrigen Welt verbundenen Landstriches

[581]

Percheron-Pferd des Herrn Nathusius.
Nach der Natur gezeichnet von H. Leutemann.

[582] bildete. Und eine gelbe Kutsche ist es in der That, welche mir in diesem Augenblicke vor die Erinnerung tritt, deren Bild ich noch einmal aufzufrischen versuchen will, ehe der allmächtige Schwamm der Zeit es gänzlich von der Tafel des Gedächtnisses löscht. Es ist die Diligence und zwar die französische der Messageries royales, später impériales oder Lafitte, welche ehedem zwischen Straßburg und Paris fuhr und heutzutage fast schon eine verschollene Mythe ist. Das war doch noch eine Fahrt, zu der eine Vorbereitung der Mühe lohnte; da konnte man doch noch Etwas sehen und erleben, sich des Weges und der Natur freuen; da ließen sich Bekanntschaften anknüpfen und durch tagelangen Umgang festigen! Man gewöhnte sich ordentlich ein in das wandernde Haus, ward vertraut mit dessen Winkeln und geheimnißvollen Taschen, und wenn man Abschied von ihm nahm auf dem Hofe der Messageries in der Weltstadt, so warf man gewiß einen Blick des Bedauerns und des Dankes auf das zuverlässige Ungethüm, welches Einen sicher beherbergt und treulich über Stock und Stein geführt hatte.

Es ist im hohen Nachmittag. Ich komme zurück von einer Razzia in den Läden der Bäcker, Fleischer und Weinhändler, woselbst ich mich in weiser Voraussicht mit Proviant auf alle Fälle versehen habe. Die vor den Bureaux aufgefahrenen Wagen umdrängt ein Gewühl von Reisenden und Abschiednehmenden, von Packern und Neugierigen; die fremdartigsten Gestalten und Charaktere caramboliren hier in einer Weise, die den Müßigen wohl eine Weile fesseln kann. Nichtsdestoweniger geht Alles mit einer gewissen Behäbigkeit vor sich, weit verschieden von der fieberhaften Hast, welche heutzutage auf den Bahnhöfen zu gewahren ist. Vor und in der Diligence herrscht ein Wille, derjenige des Conducteurs; er ist ihr Capitain und Supercargo, für sie und ihren Inhalt verantwortlich bis zum Bestimmungsort. Unser Conducteur ist ein Musterexemplar seines Standes. Ein geborner Hamburger, war er frühzeitig den väterlichen Laren abhanden gekommen; er hatte sich in England und Spanien, in Frankreich und Aegypten, in Italien und der Türkei toll umhergetrieben und war nach einem längeren Spaziergang mit der Fremdenlegion in Algier zu seiner jetzigen hohen Würde befördert worden. Er war unerschöpflich im Erzählen, wobei es ihm auf das Idiom durchaus nicht ankam; seine ethnographischen Kenntnisse haben mich wesentlich in der Völkerkunde gefördert und mich um einen wahren Schatz drastischer Anekdoten bereichert. Seht doch einmal in der Gegenwart, ob und wo euch Solches geboten wird! Der Conducteur der Bahn hat kein Wort für euch, als die bis zur Verzweiflung wiederkehrenden „Die Billets, wenn’s beliebt!“, „Station Dingskirch, drei Minuten Aufenthalt!“ und ihr könnt Gott danken, wenn er euch blos den Rockschoß und nicht irgend ein nothwendiges Körperglied zwischen die zugeschlagene Wagenthür klemmt.

Endlich ist das Gepäck untergestaut, der Abschied genommen, und es beginnt das Einladen der lebendigen Fracht. Kein Belegen, kein Streit um die Plätze, Jedermann hat seine Nummer und Abtheilung, Unordnung kann nicht vorkommen. Der bevorzugte Sitz ist der Vordertheil des Wagens, das Coupé oder die Berline, welche drei Personen faßt, diese zahlen am Meisten; daran schließt sich in der Mitte der Fond oder das Interieur mit sechs Plätzen, und hinten angeklebt schwebt die Rotonde für drei Personen, welche rückwärts fahren, oder auch für sechs einander gegenüber, der billigste Platz. Der begehrteste ist jedoch das Banquette oder die Imperiale in der zweiten Etage, hier sitzt der Conducteur mit zwei Passagieren. Dahinter befindet sich die geräumige Vache, in welcher die größeren Gepäckstücke untergebracht werden. Der Postillon reitet auf dem Sattelpferd, es wird immer mit Viergespann gefahren. Im Anfang sitzt man auf diesem hohen Throne vielleicht etwas unbequem, aber nach und nach wird man zurechtgerüttelt bis in völlige Behaglichkeit. Die Romantik des Posthorns, welche sich jetzt in die entlegensten Theile Deutschlands geflüchtet hat, ist in Frankreich unbekannt – ebenso aber auch glücklicherweise der Zustand der Lebensmüdigkeit deutscher Postklepper. Und so geht es lustig hinaus durch die Straßen mit ihren alterthümlichen Giebelhäusern, die drohenden Basteien, über hallende Brücken aus fester, baumbegrenzter Straße in die sonnige Landschaft. Wie ein Garten liegt es da, das schöne Elsaß, die schmählich verlorene Perle der deutschen Krone. Acker und Wald, Weinberge und Wiesen, Berg und Thal fliegen in zierlichem Wechsel an uns vorüber; näher rücken die Hügel zusammen, Felsen wachsen daraus empor, Wildwasser schäumen zu ihren Füßen und von der Höhe schauen die Trümmer der Vorzeit melancholisch herab in das bewegte Leben einer neuen Welt. Das Alles kannst du deutlich bequem betrachten ohne Ueberstürzung; jedes Bild haftet gerade lange genug in deinem Auge, um es in’s Gedächtniß aufzunehmen, ohne seiner überdrüssig zu werden. Diese Gunst ist dem heutigen Reisen verloren gegangen.

Aber ich will keine Reisebeschreibung liefern, zumal die Diligence Gegenden durchfährt, welche Jedermann bekannt sind. Wer auf der Imperiale sitzt und halbwegs ein Herz für Pferde hat, den wird und muß alsbald das Gespann fesseln. Unser Zug aber ist mir unvergeßlich eines Ereignisses halber, dessen ganze Scene mir heute noch nach vielen Jahren deutlich vor Augen steht. Es sind prachtvolle Thiere, welche uns fahren, sämmtlich Apfelschimmel von schöner Zeichnung, mit weichen, gelben Mähnen und Schweifen, die letzteren aufgebunden, in einen derben Knoten geschürzt. Sie sind wahre Kolosse, in den Einschnitt ihrer Kruppe kann man eine Hand legen; den etwas kurzen, fleischigen Hals tragen sie schön gebogen, ihre Köpfe, vielleicht etwas zu schwer, sind gut und trocken modellirt. Die ganzen gedrungenen, sehr starkgliedrigen Gestalten machen den Eindruck des Riesenhaften, Unbezähmbaren, und dennoch traben sie leicht und flüchtig dahin, als spielten sie nur mit der schweren Maschine, welche sie so hinter sich schleppen, daß man ihnen vertrauen darf, sie würden sie auch in den schwierigsten Verhältnissen nicht stecken lassen. Der ganze Zug sieht so gleichförmig aus, als bestände er aus Geschwistern, und ebenso gleichförmig sind die Bewegungen jedes einzelnen Thieres. Da ist nichts zu gewahren von Unart oder bösem Willen; es ist eine wahre Freude, diese flotten Gänger vor sich zu sehen, und je länger man sie betrachtet, um so mehr Interesse gewinnt man an ihnen. Dasselbe steigert sich zur Bewunderung, wenn man beobachtet, wie wenig Neigung der Postillon zu seinen Thieren zeigt; er behandelt sie hart, fast roh, wie denn überhaupt der Franzose nur geringe Liebe zu seinen treuen Arbeitsgehülfen hegt.

Schon wurden die Schatten länger, als plötzlich die Diligence einen heftigen Ruck empfing; es erfolgte ein Sturz und ein Schrei, die beiden Vorderpferde prallten jäh zur Seite, die Hinteren stemmten sich an den Aufhaltern, der Wagen erzitterte bis in sein innerstes Mark, dann stand er wie eine Mauer. Aus seinem Innern drangen Rufe des Schreckens und der Bestürzung, laut schnaubten die bebenden Pferde, mit einem „mille tonnères de Dieu, qu’est ce que c’est que cela?“ rutschte der Conducteur an der Außenwand herab, ich folgte ihm, ein Gleiches thaten die übrigen Passagiere. Da ergab sich denn das Unheil: der Postillon lag stöhnend im Geleise, er ward sofort aufgerichtet und schien unbeschädigt. Aber eine viel wunderbarere Fügung hatte über einem anderen Leben gewaltet. Dicht vor den Pferden stand inmitten der Straße ein Schiebkarren mit Körben beladen und in einem dieser Körbe lag – ein ruhig schlafendes Kind! Wahrscheinlich war der Postillon im Sattel eingeschlafen gewesen, glücklicherweise waren die Thiere klüger als der Mensch, die Pferde des Vordergespanns hatten sich vor dem Hinderniß im raschesten Laufe zur Seite geworfen und standen hier, wie festgewurzelt; ebenso hatten es die Deichselrosse vermocht, mit Anspannung aller Sehnen inne- und den schweren Wagen zurückzuhalten. Nur noch einen Schritt weiter und das arme, unschuldige Kind wäre unrettbar verloren gewesen. Dasselbe wurde sofort ein Gegenstand zärtlichster Aufmerksamkeit von Seiten der Frauen aus dem Interieur, welche es gleichsam dem hülflosen Wesen abbitten zu wollen schienen, daß ihr Vehikel beinahe ein Werkzeug zu seinem Verderben geworden wäre. Der Postillon erholte sich sehr rasch von seinem Sturz unter den kräftig schüttelnden Fäusten des Conducteurs; ich will gern gestehen, daß ich etwas dabei half. Ueber dem Lärm kamen denn auch die Eltern des verlassenen Kindes hinter dem Zaun hervor, woselbst sie Brennholz gesammelt hatten; sie nahmen die Sache äußerst kühl, antworteten auf die Grobheiten und Flüche des Conducteurs mit noch derberen Grobheiten und Flüchen, bedankten sich kaum für die ihrem Kinde reichlich gespendeten Gaben und zogen trotzig in entgegengesetzter Richtung davon, wobei die Frau Vorspanndienste verrichtete. Auch wir waren bald wieder in Ordnung unterwegs und erreichten ohne Gefährde die nächste Station, woselbst der Postillon, trotzdem er himmelhoch um gut Wetter gebeten hatte, der wohlverdienten Ordnungsstrafe verfiel. Auf der Eisenbahn wäre ein derartiges Abenteuer wohl nicht ganz so glatt abgelaufen; mich hat es in der guten Meinung bestärkt, die ich [583] von dem Urteilsvermögen der höher organisirten Thiere, namentlich der Pferde, hege.

In besonderem Bezug auf die Gespanne unserer Diligence, welche sich von Station zu Station immer gleich, oft bis zum Verwechseln gleich blieben, hatte ich im Verlauf der Fahrt noch häufig Gelegenheit, Belege dafür zu finden. Fast ausschließlich hatten wir Hengste und zwar junge feurige Thiere vorgehängt; oft kam es nun, daß wir an Stationen hielten, woselbst vieles Karrenfuhrwerk sich versammelt hatte, dessen Anblick malerisch genug war. Vor den hochräderigen, langbäumigen Karren mit ihrer segeltuchbedeckten Ladung gingen oft sechs bis acht Pferde und zwar eines hinter dem anderen gespannt, meistens ungeheuere Ardenner Stuten, deren riesig hohe Kummete mit glänzenden Messingstollen, metallenen Kämmen, Glöckchen, Muscheln und anderen Zierrathen, darunter besonders in die Augen fallend scharlachrothe befranzte Wollenschärpen, geschmückt waren. Mitten in diesem Gewühl standen unsere Hengste wie die Lämmer ohne jegliche Aufsicht, bis endlich ein kleiner, barfüßiger Junge daherkam und die vier Kolosse mir nichts dir nichts kategorisch in den Stall zog. Später habe ich bei großen Volksfesten in der Umgegend von Paris die Pferde der Gensdarmen, gleichfalls meistens Hengste, welche derselben Race angehören, eben so fromm und artig gesehen; im dichtesten Gewühl der Menschenmenge, von dieser gestreift und gestoßen, standen sie, ohne sich zu rühren, und ließen naseweise Gamins gemüthlich unter ihrem Bauche durchkriechen. Es ist, als gäbe das Bewußtsein der unwiderstehlichen Kraft diesen edlen Thieren die Milde und Frömmigkeit ihres Charakters. Und darin ist das Percheronpferd fast einzig in seiner Art. Denn aus der Perche, einer Landschaft nördlich der Seine, stammen die Pferde der Diligencen und der Gensdarmen, und Frankreich besitzt in ihnen eine Arbeitsrace, um welche andere Länder es beneiden. Erst neuerdings ist man auch im Ausland auf ihren Werth aufmerksam geworden, und die Bemühungen, welche man gegenwärtig in Deutschland macht, um sie einzubürgern, sind es, die mir meine Fahrt auf der Diligence und das kleine Abenteuer derselben in’s Gedächtniß zurückgerufen haben.

In der That sieht man bei uns jetzt von Jahr zu Jahr mehr Percherons verwendet, vorzugsweise zum Lastfuhrwerk und im Ackerbau. Es fehlt in Deutschland entschieden an einem kräftigen Pferdeschlag für die Arbeit, weil alle bisherigen, von den Regierungen geleiteten oder begünstigten Züchtungsbestrebungen entschieden das Interesse der Cavalerie weit mehr zum Ziele hatten, als dasjenige der Production und des Verkehrs. „Der Bauer braucht keine Pferde, für den sind Ochsen gut genug!“ hat bekanntlich jener X’sche Gestütsdirector der Deputation um Reform geantwortet. Indessen zwingt die Nothwendigkeit zur Selbsthülfe, und so sehen wir gegenwärtig neben der Bewegung zu Gunsten des britischen Vollbluts durch die Rennen eine zweite – jedenfalls berechtigtere – in der deutschen Pferdehaltung für die Einführung der Arbeitspferderacen. Frankreich liefert von denselben in erster Reihe die Percherons, in zweiter die leichteren Normannen und die ungefügen Ardenner; Großbritannien concurrirt mit den Suffolks und Clydesdales. Das britische Fleischerpferd, das man vor den Karren der Hauptstadt bewundert, ist eine Merkwürdigkeit, aber kein Gebrauchsthier.

Welchen Werth man schon gegenwärtig in Deutschland auf die Percherons legt, davon gaben die diesjährigen großen Ausstellungen zu Stettin und Dresden redendes Zeugniß durch die Zahl und die Schönheit der daselbst aufgestellten Exemplare ihrer Race. Eines der edelsten darunter, der wahre Typus der Prachtrosse der Perche, ist der Schimmelhengst Diamant des Gutsbesitzers Nathusius in Meyendorf (Provinz Sachsen), dessen höchst gelungene Abbildung wir dem Leser vorführen, um ihm einen Begriff zu geben von dem imposanten Eindruck, welchen ein solches schönes Thier in der Action auf Jeden, selbst den nicht Sachverständigen, hervorbringt. Dieses Bild der unbewußten Kraft, der höchsten Entwickelung thierischer Stärke in ansprechender Form erinnert unfehlbar an die Darstellungen des Herkules in der Antike. Dem Diamant ist in Dresden der erste Preis zuerkannt worden, wie er denselben auch schon 1863 auf der großen internationalen Ausstellung in Hamburg erhalten hat. Das auf unserem Bild dem Schimmelhengst folgende, sich bäumende Pferd ist der fünfjährige Suffolk-Hengst Crisp des Herrn von Jagow in Crüden (Altmark), welcher gleichfalls in Dresden und Hamburg prämiirt worden ist. Die Suffolks – meist Kohlfüchse mit gelben Mähnen – sind noch gedrungener, stuffiger, als die Percherons, und sollen die letzteren an Ausdauer im weichen Boden – also beim Ackerbau – übertreffen, stehen ihnen aber nach an Gelehrigkeit und Frömmigkeit. Durch Kreuzungen dieser kräftigen Ausländer mit dem deutschen Landschlag könnte man letzteren leicht veredeln und so mit der Zeit das schwere Gebrauchspferd züchten, an dem es Deutschland noch entschieden fehlt. Bei der Ausstellung zu Dresden, welcher unsere Erinnerung und das dazu gehörige Bild die Entstehung verdanken, zog die Musterung jener gewaltigen Hengste stets das größte Publicum an, welches nicht müde wurde, seine Bewunderung zu äußern. Sogar die Vollblut-Araber und Engländer, die Orloff-Traber und Trakehner errangen weder den Beifall, noch die Aufmerksamkeit und – Kauflust, deren sich jene zu erfreuen hatten.

Ich bin etwas abgekommen von meinem Wege: aus der französischen Diligence auf der großen Heerstraße durch Lothringen und die Champagne nach dem deutschen Florenz an der Elbe. Aber diese Association der Gedanken und Oertlichkeiten ist erklärlich und entschuldbar durch den Gegenstand, der sie vermittelt hat, und das sind die Percheron-Pferde; denn so oft ich sie sehe, die edlen, geduldigen Riesenthiere mit ihren runden Formen, so muß ich unwillkürlich gedenken der heiteren Tage und sonnigen Nächte auf der Diligence.




Die Judengasse in Frankfurt a. M. und die Familie Rothschild.
Von G. L. Kriegk.
(Schluß.)
Die neue Judengasse. – Die verbundenen Keller der Judenhäuser. – Ursprung vieler jüdischer Familiennamen. – Börne’s Geburtshaus. – Das Stammhaus der Familie Rothschild. – Amschel Moses Rothschild und Maier Amschel Rothschild. – Gründung seines Geschäfts. – Seine Frau Gutta Schnapper. – Erstes Begegnen Maier Amschel’s mit dem Landgrafen von Hessen-Kassel. – Die Geldlieferungen an das in Spanien kämpfende englische Heer. – Maier Amschel’s fünf Söhne.

Ungeachtet der größeren Breite, welche man nach dem Brande von 1711 der Judengasse gegeben hat, ist diese noch immer enge und düster, da die dreistöckigen und mit hohen Giebeln versehenen Häuser auch damals wieder dicht an einander gebaut worden waren. Erst in den drei letzten Jahrzehnten hat die Judengasse ihren finsteren und beengenden Charakter verloren, weil eine beträchtliche Zahl von Häusern ihrer Baufälligkeit wegen durch die städtische Behörde zum Abbruch verurtheilt wurde und das Einreißen derselben auf beiden Seiten der Gasse mehr und minder große Lücken geschaffen hat. Dadurch hat sie endlich auch den ihr früher mangelnden Luftwechsel erhalten. Neuerdings hat die Judengasse auch darin eine wesentliche Aenderung erlitten, daß jetzt etwa die Hälfte ihrer Bewohner aus armen Christen besteht.

Die Häuser sind, mit Ausnahme eines einzigen, des sogenannten steinernen Hauses, aus Gebälk mit Fachwerk erbaut. Wegen ihrer großen Schmalheit und Tiefe sind die meisten im Inneren fast dunkel. In manchen von ihnen hatte man früher, aus Furcht vor Verfolgungen und Plünderungen, keine zum Dachstuhl führende Treppe, sondern statt derselben war eine Leiter angebracht, welche der unter das Dach Fliehende hinter sich hinauf ziehen konnte. Aus dem gleichen Grunde war in manchen Häusern der Keller mit dem des Nachbarhauses durch eine Thür verbunden, welche gewöhnlich durch einen vorgestellten Schrank verdeckt war und im Nothfalle die Flucht in den nächsten Keller, sowie aus ihm in mehrere andere ermöglichte. Diese Einrichtung kam vor etwa vierzig Jahren zu Tage. Als nämlich im Fuldaischen viele Hirschgeweihe gestohlen worden waren und die Frankfurter Polizeibehörde die Anzeige davon erhalten hatte, ordnete diese an den [584] Stadtthoren ein besonderes Augenmerk auf verdächtige Wagen und ein geheimes Verfolgen derselben bis zu dem Hause an, in welches sie abgeladen würden. Wirklich kam ein Wagen an, der mit Hirschgeweihen beladen zu sein schien, und fuhr in die Judengasse. Auf die Anzeige davon ließ man das betreffende Haus dieser Gasse in allen seinen Räumen durchsuchen. Es fand sich jedoch in ihm nichts von dem Gesuchten; da aber die Sache außer allem Zweifel stand, so ging man sorgfältiger zu Werke und entdeckte endlich eine jener verborgenen Kellerthüren. Auch in dem Nachbarhause, in welches diese führte, war indeß nichts von dem Gestohlenen zu finden; dieses zeigte sich aber endlich, als man auf gleiche Weise noch durch mehrere andere Keller gedrungen war. Uebrigens hatten auch an anderen Orten die Juden die gleiche Einrichtung in ihren Kellern gemacht: in Regensburg sollen früher sogar alle Judenhäuser auf solche Weise mit einander verbunden gewesen sein.

Die Häuser der Frankfurter Judengasse waren, wie die der übrigen Stadttheile, bis zum Jahre 1759 nicht mit Nummern versehen, sondern man hatte sie dadurch von einander unterschieden, daß jedes Haus einen bestimmten Namen trug, welcher auf ein über der Thür angebrachtes Schild gemalt war. Von den alten Namen der Frankfurter Judenhäuser sind manche als Personennamen auf die diese besitzenden Familien übergegangen, wie die Namen Bär, Haas, Hahn, Hirsch, Hecht, Kann, Ochs, Reuß, Rindsfuß, zum rothen Schild, Schiff, Schloß, zum schwarzen Schild, Sichel, Stern, Stiefel, Strauß und andere. Wahrscheinlich hat auch die Familie Rothschild ihren Namen von dem „zum rothen Schild“ benannten Hause (es war das jetzt abgerissene Haus Nr. 69) erhalten. Doch führt dasjenige Haus, welches der Stifter des Rothschild’schen Handelshauses, Maier Amschel von Rothschild, um das Jahr 1780 erkaufte und in welchem alle Kinder desselben geboren wurden, nicht jenen Namen, sondern den „zum grünen Schild“.

Die interessantesten Häuser der Frankfurter Judengasse sind die mit Nr. 118 und Nr. 148 bezeichneten, weil im ersteren Börne geboren wurde und letzteres das Stammhaus der Familie Rothschild ist. Beide Häuser unterscheiden sich durch nichts von den übrigen; namentlich haben sie, wie diese fast insgesammt, eine Breite von nur sechs Schritten und sind von ihren Nachbarhäusern nur durch eine dünne Wand getrennt. Das Börne’sche Geburtshaus hat neuerdings eine Marmortafel erhalten, deren Inschrift besagt, daß in ihm 1786 Börne geboren sei. Das Rothschild’sche dagegen ist durch nichts als solches erkenntlich und wird von der Familie Rothschild unverändert in dem Zustande erhalten, in welchem es von ihrer 1849 gestorbenen Stamm-Mutter bis zu deren Ende bewohnt worden war. Es liegt gerade dem Gäßchen gegenüber, welches den mittleren Ausgang aus der Judengasse bildet. Auf unserer Abbildung in letzter Nummer ist es nicht sichtbar; es stößt gerade an das erste Haus linker Hand an, mit welchem die Illustration beginnt. Dreißig Hänser weiter steht auf derselben Seite das Geburtshaus von Börne.

Die Frankfurter Judengasse geht jetzt ihrem völligen Untergange entgegen, da man die Absicht hat dieselbe sammt ihrer nächsten Umgebung abzubrechen, um neue Straßenanlagen zu machen. Mit ihr wird ein Denkmal der härtesten Beschränkung und Mißhandlung schwinden, welche Tausende von Menschen, ihres Glaubens, ihrer Abstammung und ihrer Sitten wegen Jahrhunderte lang hatten erdulden müssen. Von dem traurigen früheren Zustande der Juden wird dann in Frankfurt keine sichtbare Spur mehr vorhanden sein, während dagegen diese Stadt schon jetzt viele palastartige Privatgebäude, zwei schöne neue Synagogen, ein großartiges Krankenhaus, eine ebenfalls großartige Realschule und zwei schöne Freimaurerlogen darbietet, welche die Nachkommen der noch vor sechzig Jahren in eine finstere Gasse eingeengten Juden mit ihrem neuerdings erworbenen Reichthum sich theils erbaut, theils erkauft haben. Die denkwürdigste Erscheinung aber, die sich an die Frankfurter Judengasse anknüpft, wird immer die Familie Rothschild sein, die, aus einem jener engen und finsteren Häuser hervorgegangen, schon in ihrer zweiten Generation sich einen Reichthum und eine Stellung erworben hat, welche beide nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in allen Zeiten der Vergangenheit ihres Gleichen nicht haben. Es wird sich daher auch wohl eignen, der Schilderung der Frankfurter Judengasse Einiges über die Geschichte jener Familie beizufügen.

Diese Geschichte kann über den Frankfurter Handelsmann Amschel Moses Rothschild hinaus nicht zurückgeführt werden. Von dem Leben und den Verhältnissen desselben hat sich keine Nachricht erhalten. Er war der Vater Maier Amschel’s von Rothschild, welcher das nach ihm benannte weltberühmte Handlungshaus gegründet hat. Maier Amschel selbst war sechs Jahre vor Frankfurts größtem Sohne, vor Goethe, geboren. Als Knabe wurde er von seinem Vater dazu verwendet, daß er mit einem Geldsäckchen bei den Bankiers umhergehen mußte, um Münzen gegen grobes Geld umzuwechseln. Diese Beschäftigung ward für ihn später aus dem Grunde wichtig, weil er dabei mitunter seltene Münzen eintauschte und in Folge davon Interesse an der Münzkunde gewann. Als Jüngling brachte er, da er Rabbiner werden sollte, einige Zeit in Fürth zu und studirte dort jüdische Theologie, gab dies jedoch bald wieder auf, um sich dem Handel zu widmen. In seine Vaterstadt zurückgekehrt, blieb er vorerst nicht in derselben, sondern nahm im Oppenheim’schen Bankierhause zu Hannover die Stelle eines Comptoiristen an, welche er mehrere Jahre mit solcher Geschicklichkeit bekleidete, daß sein Principal ihm die wichtigsten Geschäfte anvertraute. Als er endlich nach Frankfurt heimkehrte, war er bereits ein so tüchtiger Kaufmann, daß er mit Erfolg ein selbstständiges Geschäft gründen konnte. In diesem war er zugleich als Geldwechsler und als Makler thätig, trieb außerdem Handel mit seltenen Münzen, sowie mit altem Silber und Gold und verwandte die erworbenen Geldmittel nach und nach immer mehr zu den Unternehmungen eines eigentlichen Bankiers. Im Jahre 1770 verheirathete er sich mit der Frankfurterin Gutta Schnapper, welche erst 1849 im sechsundneunzigsten Lebensjahre starb und so das Glück hatte, das stets zunehmende Gedeihen der Geschäfte ihres Gatten und ihrer Söhne, ja sogar noch das Emporsteigen ihrer Familie bis zur ersten Geldmacht der Welt zu erleben. Da außerdem zur Zeit ihrer Kindheit die Frankfurter Judenschaft sich noch in der drückendsten Lage befand, das Schicksal derselben aber nachher von Jahrzehnt zu Jahrzehnt sich immer besser gestaltete, bis zuerst 1811 und dann wieder ein Jahr vor dem Tode der alten Rothschild die Frankfurter Juden völlige Gleichheit der Rechte mit den Christen erlangten: so hatte die glückliche Frau zugleich noch die Freude, einen der segensreichsten Abschnitte in der Geschichte ihres Volkes sich vor ihren Augen entwickeln zu sehen. Sie blieb dabei des Dankes, welchen sie und ihre Kinder der Gottheit schuldeten, stets eingedenk und bewahrte sich bis zum Ende ihrer Tage vor dem Uebermuth, welcher sonst so leicht das Herz des Glücklichen beschleicht. Nie verließ sie das finstere, unbequeme Haus, in welchem sie und die Ihrigen glücklich geworden waren. Sie selbst sprach zuweilen aus, daß das Aufgeben dieser Wohnung ihr als eine Sünde erscheinen würde und daß sie überzeugt sei, das Glück werde von ihrer Familie weichen, wenn sie selbst sich überhebend die Hütte verlasse, in welcher dieses Glück gegründet worden sei. Es liegt etwas Großes in diesem Ausspruche der alten Rothschild, dessen Grundgedanke ganz mit dem übereinstimmt, was die alten Griechen vom Neid der Götter und die neueren Dichter von der Eifersucht der Schicksalsmächte gesagt haben, und man muß der alten Frau diese demuthsvolle Lebensansicht um so höher anrechnen, da dieselbe bei ihr nicht auf intellectueller Betrachtung oder historischer Anschauung beruhte, sondern aus tiefer religiöser Empfindung hervorgegangen ist.

Um das Jahr 1780 kauften und bezogen Maier Ämschel und seine Gattin das Haus zum grünen Schild, welches Beide nicht wieder verließen, bis sie als Leichen aus ihm herausgetragen wurden. Dem Sinne der Mutter entsprechend, hat später ihr ältester Sohn, Amschel Maier, dieses Haus auf ewige Zeiten zu frommen und wohlthätigen Zwecken bestimmt. Er hat nämlich in seinem Testament 1,200,000 Gulden zu einer sogenannten „milden Stiftung für die armen Israeliten der Stadt Frankfurt a. M.“ ausgesetzt, deren Zinsen theils für wöchentliche Almosenspenden, theils für Holzaustheilungen an Frankfurter Juden verwendet werden sollen, mit Ausnahme von 7500 Gulden, welche jährlich an arme Juden aus dem Umkreise von zehn Meilen um Frankfurt herum als Almosen zu geben sind. Die Austheilung der Almosen soll im Rothschild’schen Stammhause stattfinden, in welchem ein hiermit beauftragter Beamter der Stiftung seine Wohnung hat und die Sitzungs- und Bureaulocale des leitenden Comités sich befinden. Endlich sollen in dem Hause noch sogenannte Gebetsversammlungen durch zehn dafür bezahlte Israeliten gehalten [585] werden, und zwar an den Todestagen des Testators, seiner Eltern, seiner Gattin und seiner Brüder. Seit dem 1855 erfolgten Tode des Testators wird das Rothschild’sche Stammhaus zu den angegebenen Zwecken verwendet.

Um nun wieder auf Maier Amschel zurückzukommen, so trieb dieser seine Handelsgeschäfte mit dem größten Geschicke und mit ungewöhnlichem Erfolge. Er hatte daher nicht nur schon 1798 die nöthigen Mittel, um neben seinem Frankfurter Handlungshause ein zweites in London gründen zu können, sondern er war auch im Stande, in der Zeit von 1804 bis 1812 mit dem Staate Dänemark Anleihegeschäfte im Gesammtbetrage von zehn Millionen zu machen, ja sogar 1808 die Jahre lang dauernde Besorgung der Geldlieferungen an das englische Heer zu übernehmen, welches in Spanien mit den Franzosen kämpfte. Diese bedeutenden Geldlieferungen, welche kein anderes englisches Haus zu übernehmen gewagt hatte, wurden von Maier Amschel und seinem das Londoner Haus leitenden Sohne Nathan mit solcher Geschicklichkeit besorgt, daß sie insgesammt glücklich von Statten gingen und ihren Besorgern einen Gewinn von vielen Millionen abwarfen. Die Uebernahme dieses Geschäftes war, wegen der dabei zu leistenden bedeutenden Caution. aber nur in Folge eines Umstandes möglich gewesen, welcher mehr als alles Andere das Glück des Hauses Rothschild gegründet hat.

Dieser Umstand ist das Verhältniß, in welchem Maier Amschel seit 1801 zu dem sehr reichen Landgrafen Wilhelm dem Neunten von Hessen-Kassel stand. Er ward in jenem Jahre (vielleicht auch schon früher) hessen-kasselischer Hofagent und erwarb sich als solcher das unbegrenzte Vertrauen des von 1785 bis 1821 regierenden Landgrafen und nachherigen Kurfürsten Wilhelm des Neunten. Als dieser 1806, beim Ausbruch des Krieges der Franzosen mit Preußen und Rußland, vom Hasse Napoleon’s verfolgt, sein Land verlassen mußte, vertraute er den größten Theil seines Vermögens seinem Hofagenten in Frankfurt zur geheimen Aufbewahrung an. Die anvertrauten Millionen bewahrte und verwaltete Maier Amschel mit Sorgfalt und Treue. Als der Kurfürst bald nach seiner Flucht durch Napoleon für abgesetzt erklärt wurde, war zu befürchten, daß die Franzosen seine Millionen in Frankfurt aufspüren und wegnehmen würden. Dies geschah jedoch nicht, weil die wenigen Leute, welche um die Sache wußten, nichts verriethen und Rothschild die kurfürstlichen Gelder in Weinfässer seines Kellers versteckt hatte.

Maier Amschel war nebst seinem Sohne Nathan durch den Kurfürsten auch noch bevollmächtigt worden, für diesen die Zinsen seiner in der englischen Bank angelegten Gelder zu erheben, um sie an den Kurfürsten zu übermachen. Er that dies in der gewohnten, das Vertrauen des Kurfürsten rechtfertigenden Weise. Als nun das Haus Rothschild die oben erwähnten Lieferungen an die englische Armee übernehmen wollte, gestattete ihm der Kurfürst, von jenen Geldern einen bedeutenden Theil zu erheben, um die geforderte große Cautionssumme zahlen zu können. Nur dadurch ward es dem Hause Rothschild möglich, ein Geschäft zu übernehmen, dessen großer Gewinn die Hauptquelle seines nachherigen Reichthums bildete.

Einer, wie es scheint, begründeten Sage nach verdankte Maier Amschel die Bekanntschaft mit dem Kurfürsten und somit die Grundlage des kolossalen Reichthums seiner Familie einem Umstande, welcher auf’s Glänzendste zeigt, daß die Art, wie der Mensch schon in seiner Jugend sich in Geschäften benimmt, oft ungeahnte glückliche Folgen für seine ganze Zukunft hat. Der hannöverische General von Estorff, ein vertrauter Freund jenes Fürsten, schlug, als derselbe ihn wegen der Anstellung eines neuen Hof-Agenten zu Rathe zog, Maier Amschel Rothschild vor, den er im Bankierhause Oppenheim zu Hannover kennen gelernt, mit welchem er als großer Gutsbesitzer mancherlei Geldgeschäfte zu machen hatte. Man erzählt übrigens von dem ersten Erscheinen Maier Amschel’s vor dem Landgrafen Folgendes. Er ward dem Letzteren gerade zu einer Stunde angemeldet, in welcher dieser eine Partie Schach mit Estorff spielte. Der Landgraf ließ ihn eintreten, nahm aber, in das Spiel vertieft, eine Zeitlang keine Notiz von dem hinter ihm stehenden Juden. Endlich blickte er im Unmuth über das für ihn sehr schlecht stehende Spiel um sich und sah seinen neuen Hof-Agenten. „Versteht Er auch das Schachspiel?“ redete er ihn an. Rothschild antwortete mit Ja, bat um Erlaubniß, seinen Rath zur Rettung der Partie ertheilen zu dürfen, und gab dann mehrere Züge an, durch welche das Spiel zum Vortheil des Fürsten entschieden wurde. Dies und die darauf folgende Unterhaltung des Landgrafen mit Maier Amschel machte einen so günstigen Eindruck auf Ersteren, daß er zu Estorff sagte: „Herr General, Sie haben mir keinen dummen Mann empfohlen!“

Maier Amschel starb im Jahre 1812 mit der seinen Söhnen gegebenen und von ihnen auch befolgten Ermahnung, stets in brüderlicher Eintracht zu leben und zu handeln. Er war, ungeachtet seines erworbenen Reichthums, in Lebensweise und Kleidung stets seiner früheren Gewohnheit treu geblieben und hatte sich während seines Lebens nicht nur durch Rechtlichkeit und kaufmännische Tüchtigkeit, sondern auch durch Frömmigkeit und Menschenliebe ausgezeichnet. Stets hatte er gern Almosen ausgetheilt; er war deshalb beim Ausgehen gewöhnlich von Leuten umgeben, welche seine Mildthätigkeit in Anspruch nahmen. Nicht selten pflegte er auf eine ganz besondere Weise Almosen zu spenden. Da er nämlich wie mancher andere Jude den Glauben hatte, daß Gott diejenigen Wohlthaten am meisten belohne, für welche ihr Spender keinen Dank empfangen habe, so ging er mitunter im Abenddunkel durch die Judengasse, drückte jedem ärmlich Aussehenden, der ihm begegnete, einige Geldstücke in die Hand und lief dann schnell weiter. Auch noch in seinem Testament sorgte er auf freigebige Weise für die Armen: er legte jedem seiner fünf Söhne die Verpflichtung auf, bis zu seinem Lebensende an das Rothschild’sche Haus in Frankfurt jährlich fünftausend Gulden zu senden, welche von diesem an Arme ausgetheilt werden mußten.

Er hatte fünf Söhne und fünf Töchter. Seine Söhne waren: Amschel Maier, Chef des Frankfurter Hauses, welcher im December 1855 kinderlos starb; Salomon Maier, Chef des in Wien gegründeten Hauses Rothschild, gestorben 1854; Nathan Maier, Chef des Londoner Hauses, 1836 zu Frankfurt, wohin er bei Gelegenheit eines Familien-Congresses gekommen war, gestorben; Karl Maier, Chef des Hauses in Neapel und gestorben 1855; Jakob, genannt James, Chef des Pariser Hauses, welcher noch lebt.

Von diesen fünf Brüdern war Nathan der geistig am meisten begabte und in Bezug auf Gewandtheit und Tact in Geschäften dem Vater am meisten ähnlich. Für die Stadt Frankfurt hat er eine bleibende Bedeutung dadurch erhalten, daß er, wie man behauptet, der Schöpfer des dort so wichtigen Handels mit Werthpapieren gewesen ist. Er soll nämlich schon früh das Dahinschwinden des früher in Frankfurt blühenden Waarenhandels vorausgesehen und deshalb seinen Brüdern und Freunden den Rath ertheilt haben, ihre Capitalien auf Staats- und andere Werthpapiere zu verwenden und diese zum Hauptgegenstand des Frankfurter Handels zu machen.

Der Mutter glich am meisten Amschel Maier. Auch theilte er mehr als seine Brüder deren Anschauungsweise. Er hielt fest an den alten Sitten und Gebräuchen, legte keinen großen Werth auf den Freiherrn-Titel, den man der Familie Rothschild ertheilt hatte, und äußerte öfters die Befürchtung, daß die folgenden Generationen derselben durch Ueberhebung, Prachtliebe und Genußsucht dem Geiste und Glauben ihrer Väter entfremdet werden möchten. Als einst Karl Maier von Rothschild mit ihm von seinen Söhnen sprach und diese die jungen Barone nannte, fuhr Amschel ihn mit den Worten an: „Lasse mir diesen Ausdruck hinweg und sei darauf bedacht, daß Deine Buben tüchtige Kaufleute werden! denn mit dem Baronstitel können sie nichts verdienen.“ Ein christlicher Bankier erzählte dem Schreiber dieses einst Folgendes. Amschel unterhielt sich eines Abends mit ihm im Casino, wurde aber zu wiederholten Malen durch vornehme Herren, die ihn zum Kartenspielen aufforderten, gestört. Er gab endlich widerwillig ihrer Aufforderung nach und sagte dabei: „Wie übel bin ich doch daran! Von Arbeiten ermüdet, wollte ich hier durch mündliche Unterhaltung mich erholen, muß aber aus Rücksicht auf diese Leute, welche mir doch nur Geld abgewinnen wollen, mich an den mir unangenehmen Spieltisch setzen. Wie viel glücklicher war ich da in meiner Kindheit, als ich Abends in der Dachkammer meines väterlichen Hauses, die unser Schlafzimmer war, mit meinen Brüdern zusammensaß und wir unter heiteren Gesprächen unser aus Käse und Bier bestehendes Abendessen hielten!“

Gegen Leute, welche Amschel in früherer Zeit kennen und schätzen gelernt hatte, blieb der überreiche und durch sein Geld [586] übermächtige Mann bis zu seinem Tode ebenso freundlich, wie er früher gewesen war, mochten dieselben auch in noch so weiten Abstand von ihm gekommen sein. Dabei erkannte er sie, selbst wenn er ihrer Jahre lang nicht ansichtig geworden war, beim Begegnen stets wieder und redete selbst sie an. Dem Sohne eines in der Nähe der Judengasse wohnenden Bierbrauers, welcher als Knabe oft mit den jungen Rothschilds gespielt und sie gegen die höhnenden Straßenjungen in Schutz genommen hatte, blieb Amschel bis zu dessen Tode dankbar dafür, er behandelte ihn stets als einen seiner besten Freunde und war ihm behülflich, sich ein Vermögen zu erwerben, von dessen Zinsen er die letzten Jahrzehnte seines Lebens behaglich zubringen konnte. Ein Buchhalter in einem christlichen Handelshause, der Sohn eines Rentmeisters, hatte als Knabe den jungen Amschel oft in seines Vaters Stube gesehen, in welche er Geldgeschäfte halber geschickt worden war und in der man ihn oft mit den damals gegen Juden gebräuchlichen barschen Worten vor der Thür hatte warten heißen. Nichtsdestoweniger redete Amschel diesen Mann, so oft er ihm begegnete, freundlich an. Einst fragte er denselben, welcher gleich ihm selbst alt geworden war, wie es ihm gehe. „Nun,“ war die Antwort, „wie es eben einem Buchhalter geht, der es im Leben nicht so gut hat, wie Sie.“

Amschel erwiderte: „Ei, zwischen uns Beiden findet kein großer Unterschied statt; denn wir werden bald Beide im Grabe liegen, und dann wird Niemand mehr den Einen von uns glücklicher preisen als den Andern.“

Wie die Familie Rothschild in unserem Jahrhundert die erste Macht im pecuniären Getriebe der Dinge geworden ist, so ist zu derselben Zeit auch die (jetzt aus sechstausend Seelen bestehende) Frankfurter Judenschaft nicht blos ebenfalls immer reicher geworden, sondern sie hat auch 1864 zum dritten und sicherlich zugleich zum letzten Male völlige Gleichheit der Rechte mit den Christen erlangt. Seit dem Herbste jenes Jahres besteht zwischen den Christen und Juden Frankfurts kein anderer Unterschied mehr, als der des Glaubens; denn damals wurde den Juden auf verfassungsmäßige Weise die vollständige Gleichstellung mit den Christen zuerkannt, nachdem diese ihnen zweimal (1813 und 1850) wieder entzogen worden war. Auch in den Sitten und im geselligen Verkehr sind Juden und Christen einander immer näher gekommen; der Judenhaß früherer Zeiten ist aus den Anschauungen und der Empfindung der heutigen Frankfurter längst geschwunden, und bald wird es voraussichtlich dahin kommen, daß den Christen sogar der letzte schwache Nachklang der früheren Judenverfolgungen, das 1817 durch ganz Deutschland erschollene „Hepp! Hepp!“, kaum als ein möglich gewesenes Factum erscheinen wird.




Sancta Libertas.
Eine literarische Erinnerung.

Es war ein rauher, kalter Octoberabend; der Wind fegte durch die Straßen Berlins und machte die Laternen noch düsterer flammen, als es dazumal gewöhnlich schon der Fall war. In einem engen, nur spärlich erleuchteten Zimmer des Hauses Nr. 7 der kleinen Hamburger Straße, einer Straße, die sich zu jener Zeit – es war um die Mitte der dreißiger Jahre – keiner besonderen Schönheit erfreute, saßen vier junge Leute, alle ziemlich in gleichem Alter stehend, und redeten gar klug über Welt, Bestimmung des Menschen, dichterische Größe und unvergänglichen Nachruhm. Denn, daß wir es kurz sagen: die Leutchen waren Poeten. Und die träumen, reden und sinnen zuweilen gar viel.

Und ob auch der eine von ihnen auf dem blonden Haar die blaue Militärmütze trug und sich durch dieselbe und seine aufgeknöpfte Interimsuniform als Officier kennzeichnete, so war er dennoch durch und durch Poet; ein Poet, den es vor Kurzem erst getrieben, die Auswüchse und Uebelstände seines Standes in einer satirischen Novelle zu behandeln, wofür ihm, nachdem dieselbe in den „Hessischen Blättern“ veröffentlicht worden war, eine Verurtheilung zu Cassation und zehnjährigem Festungsarrest zuerkannt worden war. Wohl war dies Urtheil selbst dem Könige zu hart erschienen, und er hatte die Sache nochmals einem zweiten Kriegsgericht übergeben. Als auch dies auf zwei Jahre Festungsstrafe erkannte, war es wieder der König gewesen, der diese auf zwei Monate herabgesetzt und den jungen Delinquenten nach Trier in Garnison gesendet, nachdem derselbe seine Haft in Jülich abgebüßt. Jetzt war er zurückgekehrt, um die Kriegsschule mit allem Eifer zu besuchen, was ihn freilich nicht abhielt, zugleich der edlen Poesie zu huldigen. Der junge Mann hatte etwas Kaltes in seinem Wesen, das selbst an Theilnahmlosigkeit zu streifen schien, besonders wenn die klaren blauen Augen vor sich hinstarrten, während in dem scharfgeschnittenen hageren, aber schön geformten Gesicht sich keine Muskel rührte. Eine angeborene Schüchternheit ließ ihn zumeist mehr den Hörer, als den Redner in dem Kreise seiner Freunde machen, wie dies denn auch heut, an dem erwähnten Abend, der Fall war. Als jedoch sein Nachbar zur Rechten, eine untersetzte, schmächtige Natur wie er selbst, mit tiefbewegter Stimme – er war seinem Brodstudium nach Mediciner – des Ausspruches seines Collegen Rademacher gedachte, wonach Selbstmordgedanken, in der Brust eines Menschen einmal ernstlich aufgetaucht, niemals wieder vergingen, sondern von Zeit zu Zeit, wenn auch unterdrückt, hervorbrächen, bis der Gedanke zur That geworden sei, wies er diese Ansicht mit Entschiedenheit zurück. Er konnte und wollte sich mit diesem Gedanken nicht befreunden. Aufspringend rief er: „Jeder von uns, wie jeder Mensch, trägt Etwas von einem Columbus in sich. Wir steuern Alle einem fremden, unbekannten Lande entgegen. Sollen wir von unsern eigenen Gedanken, die den muthlosen Genossen des Columbus gleichen, uns zwingen lassen, über Bord zu springen, ehe der Matrose im Mastkorbe ‚Land‘ gerufen? Sancta libertas, ich halte Dich, heil’ger Strand!“

Wie aber, als wäre er über seine eigene Erregtheit erschreckt und als fürchte er den Genossen und Freund, dessen tiefes inneres Leid er mehr ahnte als wußte, durch seine Worte verletzt zu haben, setzte er ruhiger hinzu: „Und doch hat auch wieder der Gedanke Etwas für sich. Ist es mir doch ähnlich mit einer Idee ergangen. Ihr kennt alle Drei mein Märchen ‚Schön Irla‘! Und während Ihr denkt und meint, dasselbe sei erst jetzt gleichsam empfangen und geboren, ist es doch nur ein verklärter Nachhall einer meiner frühesten Erinnerungen aus schöner Kindheit. Mein lieber Stiefbruder Carl, mit dem ich, wie Ihr wißt, Percy’s Ueberreste altenglischer Poesie übersetze, spielte mir jüngst ein schwedisches Wiegenlied. Die Melodie blieb mir im Kopf, sie summte mir im Ohr, ich konnte sie nicht vergessen, und so gab ich mich endlich diesen Träumen hin, wurde im Traume wieder ein Kind und rief, wie damals, wenn ich im Zimmer allein war, der eintretenden Mutter zu: ‚Schau! die Irla kommt‘, während ich zugleich freudig hinzusetzte: ‚Lieb Irla, bist Du da?‘ Wenn mich dann die Mutter fragte: ‚Wen meinst Du, närrisch Kind? Und mit wem sprichst Du? es ist Niemand hier!‘ hab’ ich unwillig gerufen: ‚Siehst Du sie nicht? Die Irla ist’s!‘ Mehr ist damals nicht aus mir heraus zu bekommen gewesen. Jetzt hab’ ich jenem Kindheitstraum Leben und Gestalt gegeben – und das Märchen ist entstanden!“

„Ja! ja!“ rief der Dritte, eine starkknochige, große hagere Figur, während er die braune Pelzmütze sich tiefer über das struppige, schwarze Haar zog. „Jeder Mensch besitzt einen Schatz von Kleinigkeiten, die nur für ihn Werth haben. Wir Poeten machen aus solchen Kleinigkeiten höchst geistreiche, unsterbliche Lieder – denn die meisten Dichter können nur dichten, wenn sie verliebt sind oder wenn sie zuvor dem beseligend heitersten Gott gehuldigt haben. Es ist nur fatal, daß selbst diesem schönen Doppelrausche ein Zustand folgt, den die schnöde Welt mit dem prosaischen Ausdruck ‚Katzenjammer‘ benamset. Als ich aus dem Weinkeller der Burgstraße stieg, mußte ich sogar eines Verses denken, der letzthin im ‚Gesellschafter‘ unter schönem Bilde stand:

‚So leb’ denn wohl, du Jungfer Kanne,
Du Fräulein Flasche nun, ade!
Und muß ich jetzund auch von danne,
Denk wohl, daß ich euch wiederseh.‘

Ich kann den Vers nicht los werden und dabei ist es mir immer, [587] als wäre die Flasche, die ich vor mir hatte, wahnsinnig geworden und komme nun und locke mich immer wieder in den Keller zurück. Was meint Ihr Brüder in Apoll zu diesem Vorschlage?“

Und sich zu dem Vierten des Bundes wendend, einer echt jüdischen Physiognomie, der, den Hut auf dem Kopf, unruhig im Zimmer hin- und herging, rief er: „Nun, Arno, Du philosophischer Ex-Talmudist, laß Dein Singen sein:

‚Was soll ich in der Fremde thun?
Es ist ja hier so schön!‘

und gehe zur Thür hinaus, damit wir folgen können!“

Doch der Angeredete, statt dem Worte Gehör zu geben, wendete sich und sagte unter Lachen, dem aber der bittere Ernst nicht fehlte: „Lieber Ferrand, Du hast Vermögen und kannst ganz Deinen Neigungen leben; ich habe dem Talmud und mit ihm meinen Freitischen und sonstigen Unterstützungen Valet gesagt. Ich bin angehender Journalist, und deren Jahresrente ist, wie Du weißt, verdammt klein, zumal wenn man noch einen Bruder auf den Hals gesendet bekommt, den man unterstützen soll. Laßt uns gehen. Aber nicht in den dumpfigen Keller hinein, sondern hinaus in Sturm und Wind! Iacta alea est. Ich hab’s gewagt!“

Und sofort wieder in seinen alten, heiteren, gemüthlichen Ton einfallend, schritt er zur Thür hinaus und summte vor sich hin, während die drei Freunde folgten:

„Habt Recht! das jetz’ge Leben ist
So fade und so triste!
Drum mög’ ein bessres mir erblüh’n
Als großer Journaliste!“

und fort ging’s, die Treppe hinab, zum Hause hinaus, die Straße entlang.

Unwillkürlich schlug man die Richtung nach dem Thore ein. Gesprochen wurde nicht, nur der Officier sagte einmal flüchtig, sich zu seinem Begleiter wendend: „Das war eine köstliche Idee von Dir: wahnsinnige Flasche. Der Gedanke verläßt mich nicht. Was wird aus demselben und durch denselben zu Tage kommen! Nun, was es auch werden möge, Dir soll es gewidmet sein!“

Man war durch das Hamburger Thor gegangen und schritt das düstere, unheimliche Voigtland entlang, jene damals noch tief verrufene Gegend, wo unheimliche Gestalten scheu an den Häusern entlang schlichen, wo in den Kellern und Spelunken wilde Orgien gefeiert wurden, die sich jeder Beschreibung entzogen. Lampen brannten nicht mehr, der Mond schaute durch wildzerrissene Wolken auf die Erde nieder. Hastiger, ruheloser schritten sie dahin. Und immer einsamer, düsterer, unheimlicher wurde es. Der Mond hatte sich hinter Wolken verborgen, jetzt blickte er wieder durch die wild vom Winde zerrissenen hindurch, sie sahen auf, Häuser fanden sich nicht mehr, sie waren auf freiem Felde, sie standen am Fuße des – Galgens.

Einen Augenblick stutzten die jugendlichen Genossen, es fröstelte sie doch beim Anblick der Richtstätte; war doch erst vor Kurzem ein Mörder gerichtet worden. Dann aber mit Gewalt alle unheimlichen, düsteren Gedanken von sich abschüttelnd, sprangen sie, wie verabredet, wie auf Commando, den Galgen hinauf, drei von ihnen lehnten jeder an einem Pfeiler, und der, welcher den Vorschlag zum Ausgehen gegeben, der Ex-Talmudist, war in der Mitte stehen geblieben, nahm den Hut vom Kopfe und hob begeisterungsvoll zu sprechen an. O, es war eine tiefdurchdachte, glühende, wild phantastische Rede, und nie ist den Zuhörern diese Stunde aus dem Gedächtniß gekommen. Er sprach über den Ort, wo er stand, und über den Mangel an Liebe in der Welt, über die schöne Erde, den gestirnten Himmel, immer denkend und meinend, daß alle jene Tausende von Sternen auch bewohnt seien von denkenden Geschöpfen, daß unser Leben hier nicht abgeschlossen sei, sondern in andern Welten seine Fortsetzung fände. „Gott hat uns das Gemüth aufgehängt in der Mitte zwischen das Spitzchen von Herz und das Spitzchen von der Seele. Wenn die Seele krank ist, legt sich das Gemüth auf das Herz und das thut weh; und wenn das Herz krank ist, legt sich das Gemüth auf die Seele und das thut gut. In wem aber die Seele lacht, in dem tanzt das Gemüth hin und her vor Freude und klopft an unser Herz und unsere Seele, und das ist ein Lachen, welches Gott gefällt.“ Heut leben wir. Wie werden wir enden? Wer wird sich von uns nach zehn, zwanzig Jahren dieser Stunde erinnern?

Es war eine eigenthümliche Rede, die er hielt, wild phantastisch, mit bitterem Spott gewürzt, aber auch zugleich und namentlich von ernster, unendlicher Liebe durchzogen. Seine drei Zuhörer standen lautlos still, Niemand sprach. Und als er geendet, zuletzt noch den Gerichteten Ruhe und Frieden wünschend, hoffend, daß Humanität und allgemeine Menschenliebe alle Richtstätten verschwinden machen werde, stiegen sie die Stufen von dem Galgen hinab und schritten der Stadt wieder zu. Mitternacht war nahe, es war rauh und kalt.

Vor dem Hause Nummer sieben der kleinen Hamburger Straße reichten die Drei dem militärischen Freunde die Hand. „Gute Nacht, Sallet!“ sagten sie und gingen weiter.

An der Ecke der nächsten Straße verabschiedete sich der Mediciner. Es war Julius Minding, der Verfasser des Lehrgedichts „Das Leben der Pflanze“, später bekannter geworden durch seine Lieder vom alten Fritz und sein Gedicht vom großen Kurfürsten. In hastigen Schritten, von tiefer, innerer Sehnsucht getrieben, eilte er der Oranienburger Straße zu. Und hier, dem Hause nahe, wo der große Alexander von Humboldt starb, mäßigte er seinen Fuß, er blieb stehen und blickte zu einem Fenster des nahestehenden Hauses auf. Wie lange er hier gestanden, wer kann es wissen? Ruhelos fast die ganze Nacht hindurch, ging er hier vor dem Hause auf und nieder. Sein wunderschöner, formvollendeter Sonettenkranz: „Daß ich dich liebe, ist’s, warum ich leide,“ war nicht erdichtet, er war erlebt. Er liebte die Frau seines Freundes.

Die beiden andern Freunde aber gingen Arm in Arm der Königsstadt zu. Am Alexanderplatz, wo sie sich trennten, begegnete ihnen Wilhelm Müller, der Herausgeber und Verfasser des in vielen Jahrgängen erschienenen Taschenbuchs: „Des Bettlers Gabe.“ Er war vor Kurzem erst von Pommern nach Berlin übergesiedelt. Der Mann soll tief schmerzliche Lebensschicksale erfahren haben; er war, wie es hieß, lange Zeit in Rußland, woher es also auch kam, daß die meisten seiner wild-düsteren, überreich phantastischen Geschichten auf jenem Boden spielten. Seine früheren Genossen, Schauspieler, dem, auch dies sollte er lange Zeit gewesen sein, nannten ihn zum Unterschiede von Andern seines Namens den Todtenkopf-Müller. Woher dieser Name rührte, haben wir nie erfahren können, wie wir denn auch nicht einmal wissen, ob der selbe überhaupt noch lebt oder nur in dem großen, weiten Berlin vergessen und verschollen ist, wie seine vielen Erzählungen und Romane vergessen sind. Die Woge der Zeit hat ihn dahingespült. Das Glück stand nie an seiner Seite. Und doch war er eine so überaus reichbegabte Natur!

Bald darauf, nach dem Mitgetheilten, kehrte Friedrich von Sallet nach dem Rhein in seine Garnison zurück. Von hier aus sendete er sein heroisches Epos in zwei Sitzungen: „Die wahnsinnige Flasche“, versprochenermaßen seinem Freunde E. Ferrand, dem das Werkchen auch gewidmet war. Es ist gänzlich verfehlt und Sallet’s unwerth. Er würde es selbst später niemals unter seine Gesammtwerke aufgenommen haben, denn Sallet war überaus streng gegen sich selbst, wie er denn auch an die Menschheit ernste Forderungen stellte. Als Verfasser des „Laien-Evangeliums“, „der Atheisten und Gottlosen unserer Zeit“ war er sich dies schuldig.

Dem Freunde schrieb er: „Ich versumpfe und vertrockne in meiner Stellung. Drei Jahre bekomme ich Pension. Außerdem stehe ich nicht gerade hülflos da. Meine Absicht ist, durch literarische Arbeiten mir fortzuhelfen, dabei aber mich ernsten Studien, namentlich denen des classischen Alterthums, hinzugeben und auf eine Professur loszuarbeiten.“

Er trat mit dem Ende des Jahres 1838 aus dem Officierstande, verließ Trier und ging nach Breslau. Das Journal, welches er hier zu gründen beabsichtigte, kam nicht zu Stande. Ihm zum Glück, denn seine Natur war nicht dazu angethan, Redacteur eines Journals zu sein, besonders bei seinem Hange zum einsamen Leben und bei seinem Studium der Hegel’schen Philosophie. Wie schön aber schrieb er einem Freunde: „Das Leben ist kurz, doch vorwärts! erst wenn wir ermattet am Ziele des Lebens stehen, wollen wir uns umsehen, wen wir hinter uns haben; für jetzt nur daran gedacht, wie unendlich viel noch vor uns liegt!“ So dachte und schrieb er. Allein es war ihm nicht vergönnt, lange auf der Bahn des Lebens dahinzuschreiten. Ein früher Tod machte seinem Streben ein Ende, nachdem er vorher noch an der Seite einer überaus geliebten Frau wenige Jahre in angestrengter Thätigkeit, ganz seinen Ideen und Neigungen gemäß gelebt hatte. Mit Recht [588] konnte er sagen: „Wie thöricht und klein sind doch die Menschen, daß sie sich Fabeln dichten und Fratzen schnitzen, um ein Heiliges zu haben! Ist denn nicht Alles, Alles heilig? Wie göttlich aber ist das Weib, da es so beglücken und begeistern kann! Wem in der Liebe das Heilige nicht aufgeht, für den kann sie nur ein todter Name sein!“

Am 21. Februar des Jahres 1843 riß ihn der Tod nach längerem Lungenleiden in bestem Schaffen von der Seile eines geliebten Weibes und Kindes. Wenige Monate vorher, im October des vorangegangenen Jahres, war sein Freund (E. Ferrand, dem Theodor Storm in der Vorrede zu seiner Sammlung deutscher Liebeslieder ein so schönes anerkennendes Zeichen der Erinnerung gesetzt hat, aus diesem Leben abgerufen worden. Auch dort standen am Todtenbett eine Gattin und zwei Kinder. Aber während die Kinder in ihrer Unschuld und ihrem Unverstande den tiefen Schmerz des Verlustes nicht fühlten, lehnte sich die Frau in tiefem, tiefem Leid an die Brust des Freundes des gestorbenen Gatten und sagte unendlich vielsagend, eine ganze Geschichte, ein ganzes Lebensschicksal umschließend: „Seit dem Tode O… hat er sich nie wieder erholt!“ Die Genannte war als ein junges, überaus schönes Mädchen vor kurzem gestorben!

Das letzte Gedicht, das Sallet vor seinem Tode schrieb, war die kleine Ballade: „Der Wind“. Seiner Frau gab er eine Stunde vor seinem Tode den Ring zurück und bat um ein stilles, möglichst einfaches Begräbniß. „Und als er im Sarge lag, das Lorbeerreis um seine hohe Stirn geschlungen, da erschien er mir,“ sagte der Bruder, „schön und freundlich. Noch in seiner Leiche zeigte es sich, daß er mit seinem Geiste zu den Besten und Vollendetsten seiner Zeit gehört. So haben die Dichter einer schöneren Zeit ausgesehen. Man sah in dem Todten nur den Dichter des Laien-Evangeliums; er war verklärt wie Christus auf Tabor!“

Der Stein auf seinem Grabe trägt, außer seinem Namen, dem Geburts- und Sterbetage, die Worte aus seinem Gedicht: „Der neue Columbus.“ ‚Sancta libertas, heil’ger Strand, dich halt’ ich!‘

Und die Woge der Zeit rauschte dahin. Noch lebten die beiden übrigen Genossen des erwähnten Abends. Aber das Sturmjahr 1848 kam. Der Traum des schmerzlich schönen Sonettenkranzes war dahin. Die Frau, der Gegenstand seiner Liebe, war längst gestorben. Minding, der Poesie mehr und mehr untreu werdend, war durch Speculation unermeßlich reich geworden. Das Sturmjahr zertrümmerte auch dieses Gebäude. Arm, verlassen, flüchtete er nach Amerika, wo er am 7. September 1850 in einem Gasthause zu New-York seinem verfehlten Leben durch Blausäure ein Ende machte. Es war, als ob der alte Rademacher mit seiner Aeußerung doch Recht behalten sollte!

Und der Vierte? Noch lebt und wirkt er. Drum nennen wir seinen Namen nicht. Er steht viel angefeindet, aber auch hoch geachtet da. Ein Kranz von Kindern umgiebt ihn. Seine Gattin ist todt. Er hat ihr in seinen Schriften ein unvergängliches Denkmal gesetzt. Einem Freunde, dem er Hülfe und Unterstützung angedeihen ließ, schrieb er: „Lieber! ich bitte Dich, weise die Kleinigkeit nicht zurück. Es ist heute der Todestag meiner Unvergeßlichen, und da –“ Doch genug der Worte. Sein Haar ist dünn geworden, er reicht dem Schreiber dieser Zeilen die Hand und sagt, jener erwähnten Zeit gedenkend: „Es war doch die schönste meines Lebens. O, die Jugend, die süße Jugend!“

Und wie als schäme er sich der gethanen Aeußerung, fährt er sich mit der Hand über die hohe Stirn und den etwas kahl gewordenen Scheitel und sagt lächelnd: „Du siehst, die Müdigkeit des herannahenden Alters macht sich auch mir bemerkbar! Die schöne Jugend!“
F. Brunold.




Der „erste Arbeiter Frankreichs“.

Als nach der Einnahme der Tuilerien und nach Louis Philipps Flucht Ledru-Rollin am 24. Februar 1848 auf dem Pariser Stadthause, welches in allen französischen Revolutionen eine so bedeutende Stelle eingenommen hat, die Republik proclamirte und Marie und Arago die Meinung aussprachen, daß Frankreich als Republik nicht bestehen könne, war Louis Blanc derjenige, welcher die sofortige Proclamation der Republik verlangte. Er und Albert vertraten dann in der provisorischen Regierung der jungen Februarrepublik das republikanische und sociale Element, während alle übrigen Mitglieder derselben, auch Ledru-Rollin, Gegner des Socialismus waren.

Von diesem Gegensatz aus, welcher bereits am Tage der Proclamation der Republik in Frankreich eine Spaltung unter den Mitgliedern der Regierung hervorrief und binnen wenigen Wochen eine weite Kluft zwischen der Pariser Bevölkerung aufriß, ist das Schicksal der Februarrepublik und die Entwickelung der französischen Zustände seit den letzten sechszehn Jahren einzig und allein richtig zu beurtheilen. Auch die Thätigkeit Louis Blanc’s als Mitglieds der Regierung der Republik erscheint nur dann in richtigem Lichte, wenn man sie unter dem Drucke dieser Spaltung schildert und beurtheilt. Ich werde der Schilderung der Persönlichkeit des großen französischen Socialisten, des „premier ouvrier de France“ und eines der ersten und bedeutendsten Geschichtsschreiber Frankreichs, der seit sechszehn Jahren als Flüchtling auf englischer Erde lebt, eine kurze Darstellung seiner Regierungsthätigkeit im Jahre 1848 vorausschicken. Meine Darstellung wird sich in allen Punkten auf actenmäßige Quellen und Urkunden, welche ich zu diesem Zwecke zusammengestellt habe, stützen und wird, hoffe ich, Louis Blanc für immer in Deutschland von dem Vorwurfe befreien, den seine Feinde immer wieder von Neuem gegen ihn erheben, von dem, daß er mit der Gründung und Verwaltung des ebenso abgeschmackten wie planlosen Instituts der Nationalwerkstätten jemals das Mindeste zu thun gehabt habe.

Die provisorische Regierung hatte in ihren Erlassen das „Recht auf Arbeit“ ausdrücklich anerkannt. Mit dem bloßen Aussprechen eines Grundsatzes war nichts gethan, man bedurfte eines Planes, einer Organisation, und um über diese zu berathen, berief man ein Arbeiterparlament, dem man den Saal des Luxembourg öffnete, in dem eben noch die vergoldeten Sessel der Pairs des Bürgerkönigthums gestanden hatten. Es waren dreihundert Abgeordnete, Vertrauensmänner der Pariser Arbeiter, die hier unter Louis Blanc’s Vorsitz tagten. Er erklärte ihnen sein System der Organisation der Arbeit, zu dem der Staat die Mittel liefern solle, ohne daß eine Erhöhung der Steuern nöthig werde. Die Arbeiter jedes Gewerks sollten sich zu Genossenschaften vereinigen, in denen ein jeder auf eigene Rechnung arbeite. Sein System bezweckte ferner eine Vorsorge für Alte und Kranke, eine Unschädlichmachung von Krisen durch ein solidarisches Einstehen aller Gewerke für die momentan leidenden Geschäftszweige und eine Herbeischaffung der Geldmittel durch eine Vergesellschaftung von Capitalisten, welcher der Staat die Interessen ihres Capitals verbürge. Man ging gleich insofern zur That über, als man in Paris und mehreren großen Städten Genossenschaften errichtete, die zu Resultaten gelangt sein würden, wenn die Verhältnisse nicht bald die ihnen ungünstigste Gestalt angenommen hätten.

Inzwischen hatte die provisorische Regierung Nationalwerkstätten errichtet. Es war zu einem Gebot der Nothwendigkeit geworden, den vielen Arbeitern, die durch die eingetretene Stockung des Handels und der Gewerbe arbeitslos geworden waren, eine nährende Beschäftigung anzuweisen. Mit der Einrichtung dieser Nationalwerkstätten hatte Louis Blanc, den sein Arbeiterparlament und dessen Ausschuß vollauf beschäftigten, nichts zu thun. Er wurde nicht einmal zu der Berathung des betreffenden Decrets zugezogen. Auch an der Organisation der Werkstätten, die von Emil Thomas ausging, hatte Louis Blanc nicht den entferntesten Antheil. Von dem, was er hinsichtlich der Organisation der Arbeit erstrebte, geschah das Gegentheil. Man errichtete keine Genossenschaften von Arbeitern desselben Gewerks, sondern allgemeine Werkstätten, in denen Kunsttischler und Handlanger, Weber und Maurer durch einander beschäftigt wurden. Man bezahlte nicht Jeden nach seiner Arbeit, sondern gab Allen den gleichen Lohn. Geradezu unsinnig war die Leitung der Nationalwerkstätten eingerichtet. Sie war bureaukratisch und zugleich militärisch, stellte ein ganzes Beamtenheer auf von Vorstehern, Aufsehern und Zahlmeistern, theilte die Arbeiter in Brigaden, Compagnien und Rotten [589] ein und ließ sie jeden Morgen mit wehenden Fahnen und klingendem Spiel zu den Werkstätten ziehen und jeden Abend ebenso zurückkehren. Nach Berichten, die allerdings von Gegnern der Arbeiterbewegung ausgehen und der Uebertreibung verdächtig sind, soll die Zahl der in den Nationalwerkstätten Beschäftigten auf 150,000 gewachsen sein.

Die Nationalversammlung war kaum eröffnet, als ein Bericht über diese Werkstätten gefordert wurde. Trelat erstattete ihn und gelangte zu dem Urtheil: Es wird wenig gearbeitet und dieses Wenige ist nicht verkäuflich. Ein in einer spätern Sitzung gefaßter Beschluß, die Werkstätten von ihren gefährlichen Elementen zu reinigen und die Mitglieder zu entwaffnen, rief den Juniaufstand hervor. So furchtbar gestaltete sich der Kampf dieser Tage und so entschieden bestärkte er die Kleinbürger (bourgeois) von Paris in der reactionairen Stimmung, die unter ihnen bereits Platz gegriffen hatte, daß sie zwischen Reform und Revolution nicht mehr unterschieden, Arbeiterparlament und Nationalwerkstätten durch einander warfen und Louis Blanc für Alles verantwortlich machten. Trotz aller Proteste des Verleumdeten, trotz der Beweise vom Gegentheil, die er beibrachte und die sich selbst in den Schriften seiner Gegner finden, ist die unsinnige Anklage immer wieder aufgetaucht, und es ist mit der Zweck dieser Zeilen den wackern Volksmann von dieser Beschuldigung beim deutschen Publicum zu reinigen.

Louis Blanc.

Fünfzehn Jahre nach dieser merkwürdigsten Epoche seines Lebens sah ich Louis Blanc als Flüchtling in London wieder. Als der Juniaufstand niedergeworfen war, ging das erste Bestreben der antisocialistischen Partei dahin, sich Louis Blanc’s zu entledigen, der an der Spitze der Arbeitercommission im Luxembourg und sämmtlicher Socialwerkstätten stand. Um seiner Verhaftung zu entgehen, floh er in der Nacht des 26. August von Boulogne über das Meer. Es war bei einem Mittagsessen im gastlichen Hause meines Freundes Carl Blind in dem Londoner Stadtbezirke St. John’s Wood, wo ich nach den stürmischen Tagen in Paris dem ehemaligen Minister der französischen Republik wieder begegnete. Es giebt Menschen, auf deren Aeußeres Alter, Schmerzen und getäuschte Hoffnungen wenig oder gar keinen Einfluß ausüben; die Jahre rauschen an ihnen vorüber, ohne ihr Haar zu bleichen, ohne ihre Gestalt zu verändern, ohne den Glanz ihres Auges zu trüben; denn die Schönheit und der Reichthum ihres Geistes drücken auf ihr Antlitz den Stempel ewiger Jugend, den selbst der scharfe Zahn der Zeit nicht zu zerstören vermag. Zu diesen bevorzugten Menschen gehört Louis Blanc. Ich war erstaunt, als ich ihn eintreten sah. Lagen wirklich fünfzehn Jahre zwischen heute und damals, wo die Arbeiter ihn mit dem Titel eines „premier ouvrier de France“ beehrten? Oder träumte ich? Schrieben wir nicht heute 1849 statt 1864 und war es nicht erst vor wenigen Monaten, daß Louis Blanc vor den Häschern der französischen Polizei nach England floh? Gerade so wie heute sah ich ihn vor fünfzehn Jahren, als die Pariser Volksmassen unter der Anführung Blanqui’s, Raspail’s und Barbès’ den Sitzungssaal der Nationalversammlung im ehemaligen Palais Bourbon überflutheten, auf der äußern Galerie des Palastes stehen, die dreifarbige Fahne Frankreichs in der Hand, ganz in ihre Falten eingehüllt, von den tausendfachen Hochs der Arbeiter empfangen, als sie ihren Liebling erblickten. Die Rufe „vive Louis Blanc, vive la république sociale!“ übertönten, wie der Donner des Himmels, das Waffengeklirr und die Commandoworte; jedes andere Geräusch ging unter und verschwand in diesen hochgehenden Wogen des Jubels und der Begeisterung. Das war ein glänzender Festtag in dem einfachen Leben Louis Blanc’s, der, selbst als er an der Spitze der französischen Republik stand, immer sein Diner zu dem mäßigen Preise von zwei Franken verzehrte. Ganz so, wie damals, sah ich ihn heute. Es fehlte nur die äußere Decoration, die Galerie des Palastes, der Faltenwurf der bunten Fahne, die jubelnden Hochs der Tausende, die begeisternde Atmosphäre der Revolution. Aber er war derselbe geblieben. Dieselbe zarte und geschmeidige Gestalt, dasselbe braune, volle Haar, die großen flammenden Augen, aus denen mich der geistvolle Denker und der glühende Politiker anschauten, dieselben lebensfrischen und intelligenten Züge, in denen sich die Humanität des Socialisten mit dem scharfen Verstande des Logikers vereinigte. Als ich nicht umhin konnte, ihm mein Erstaunen darüber zu erkennen zu geben, daß die Zeit keinen Einfluß auf ihn zu haben scheine, sagte er lachend: „Nicht wahr, ich habe mich sogar verschönert!“

Seit jenem Tage habe ich Louis Blanc während meines damaligen Aufenthalts in London häufig gesehen. Er wohnte in demselben Stadtviertel, wo auch Blind, Mazzini, Ledru-Rollin und Kinkel wohnen, in dem schönen, stillen St. John’s Wood, wo man von dem geschäftlichen Geräusch der ungeheueren Weltstadt nichts hört, wo die Blumen duften und der feuchte Westwind im Laube der Ulmen und Kastanien flüstert. Das ganze Viertel besteht aus eleganten und geschmackvollen Landhäusern, von Blumengärten, duftigen Rasenplätzen und schönen Baumgruppen umgeben. Eines von diesen Landhäusern am Melina-Place, ein einfaches zweistöckiges Häuschen im Rahmen von Rasenplätzen und stattlichen Bäumen, bewohnt Louis Blanc. Der Vorübergehende sieht nichts von seiner stillen Einsamkeit; eine hohe Mauer trennt Haus und Garten von der staubigen Straße. Ein Klingelzug öffnet die kleine Thür in der Mauer, und überrascht erblickt das Auge des Eintretenden den duftigen Rasen und die farbigen Blumen. Das Haus gehört einer jungen Dame mit ihrer ältern Tante – Louis Blanc hat während seines ganzen Aufenthalts in England bei dieser Familie gewohnt – sie sind Deutsche von Geburt, leben aber schon seit Jahren in England. Auch die Dienstboten sind Deutsche. Ich war aufs Höchste überrascht, als ich Louis Blanc zum ersten Male in seiner Wohnung am Melina-Place besuchte und im Hause überall Deutsch sprechen hörte. Louis Blanc’s Arbeitszimmer befindet sich im ersten Stock; es ist ein großes, hohes, in comfortabler Weise eingerichtetes Gemach, die Fenster mit Blumen geschmückt, die Aussicht auf Feld und Wald. Da stand der große, mit Büchern, Papieren und Zeitungen bedeckte Schreibtisch, an dem der berühmte Historiker sein Werk über die erste große französische Revolution während seines Exils beendigte – hätte Louis Blanc während seines ganzen Lebens nichts gethan, als dies Werk und „die Geschichte der zehn Jahre“ geschrieben, [590] beide Werke allein würden seinen Namen unsterblich machen; – der ehemalige Minister der französischen Republik bringt an diesem Schreibtische täglich viele Stunden zu, um mit der Feder das zu erwerben, was sein schlichter Haushalt kostet. Selbst das einfachste Leben in England ist theuer. Er brachte nichts mit hinüber, als er vor fünfzehn Jahren von Paris über das Meer floh, als seinen unbefleckten Namen und sein Talent. Aber die Arbeit ist ja einer der idealen Grundgedanken seines Systems.

Eines Tages speiste der Sohn des früheren Deputirten Barrère, der ebenfalls als Flüchtling in London lebt, mit uns, ein schöner, schlanker Knabe mit blauen Augen und blondem Lockenhaar. „Hören Sie, was vor einigen Tagen dem Kinde da und seinem Vater, der Lehrer an der Militärakademie in Woolwich war, passirt ist,“ sagte Louis Blanc, wie es schien entrüstet, zu mir, „doch, erzähle selbst, Emil.“

„Nun,“ sagte der Knabe, „vor der Schule in Woolwich kamen mir zwei englische Knaben entgegen, welche mit mir in der selben Classe sitzen. Der eine, der Sohn eines Lehrers an der Militärakademie, an der auch mein Vater angestellt war, rief mir zu: ‚Du bist ein elender Franzose; ich könnte mit zehn, wie Du bist, fechten.‘ ‚Versuche es,‘ erwiderte ich. Dann griff er mich an, aber ich warf ihn nieder und habe ihm ordentlich zugesetzt. Währenddem lief der andere Knabe zurück und holte noch drei englische Jungen herbei. Alle auf einmal fielen sie nun über mich her. Aber ich habe sie alle fünf zusammen niedergeworfen und zerzaust.“

„Nun hören Sie weiter,“ unterbrach Louis Blanc das Kind, „ich werde den Schluß dieser miserablen Geschichte erzählen. Der zuerst geprügelte Knabe ging mit zerzaustem Haar und geschwollenem Gesicht zu seinem Vater, und dieser wandte sich mit einer Klage an die Verwaltung der Akademie. Die Verwaltung gab Herrn Barrère auf, seinen Sohn exemplarisch zu züchtigen. Natürlich weigerte sich mein Freund diesem Befehle nachzukommen, sondern rief vielmehr seinen Sohn, lobte seine Energie und seinen Muth und theilte dies der Verwaltung mit. Und was that die Verwaltung? Sie entsetzte Herrn Barrère seiner Stelle. Was sagen Sie dazu? solche Dinge können auch nur in England vorkommen!“

Uebrigens hat sich Louis Blanc in das englische Leben leichter und besser hineingefunden, als irgend ein anderer von den französischen Flüchtlingen. Er hat die englische Sprache so fertig sprechen gelernt, daß er in dieser Sprache in London eine Reihe von wissenschaftlichen Vorträgen gehalten hat. Die Conversation mit den Damen in seinem Hause wird ebenfalls in englischer Sprache geführt, da dieselben nur deutsch und englisch, aber nicht französisch sprechen. Auch unterhält er einen regen, gesellschaftlichen Verkehr mit englischen Familien. Unter den deutschen Flüchtlingen verkehrt er am meisten mit Blind, dessen Umgange er eine so genaue Kenntniß der deutschen politischen Verhältnisse verdankt, wie ich sie nie bei einem Franzosen gefunden habe. Zu Ledru-Rollin hat er wenig Beziehungen. Der Grund liegt wohl in ihrer wesentlich verschiedenen politischen Stellung und Anschauung. Mit tiefer sittlicher Entrüstung spricht er von Louis Bonaparte, dem jetzigen Kaiser der Franzosen. Louis Blanc ist bekanntlich Corse von Geburt; er betrachtet deshalb Italien als sein zweites Vaterland und sprach von der Auferstehung seines schönen und tapfern Volkes mit der Liebe und Zuneigung, welche dem Franzosen eigen ist, wenn er seines Schwesterlandes gedenkt. Mit großer Begeisterung und Verehrung äußerte er sich über Garibaldi, den er damals noch nicht persönlich kannte. „Ich habe kurz nach dem Verrath von Aspromonte bei dem Banket Victor Hugo’s in Brüssel in meiner Rede den Helden gefeiert,“ sagte er in seiner bescheidenen Weise zu mir, „es war gerade in der Zeit, wo die Feinde und die Schwachen ihn schmähten; die große Masse der Menschen geht ja immer mit dem Erfolge.“

Auch im Hause der bekannten englischen Freundin Garibaldi’s, Frau Julie Salis-Schwabe, in Hanover-House im Park von Richmond, begegnete ich an einem jener glänzenden Gartenfeste, welche die Dame in jeder Saison giebt, Louis Blanc. Die Dame ist besonders stolz darauf, daß der „premier ouvrier de France“ ihre glänzenden Salons mit seinem Besuche beehrt. Am Tage vor meiner Abreise nach der Normandie ging ich nochmals zu Louis Blanc, obschon ich bereits Abschied von ihm genommen hatte. Er war mir unter allen Flüchtlingen in London besonders sympathisch geworden, und so schieden wir denn in der herzlichsten Weise von einander.
Gustav Rasch.




Aus deutschen Bädern.
2. Von Wiesbaden nach Homburg.

„Von Raubritterburgen und Flußpiraten sprachen Sie soeben mit gewisser Beziehung auf mein engeres Vaterland,“ bemerkte ein junger Rheingauer zu mir gewendet, als wir von dem Spielparadies Wiesbaden mit Dampfkraft nach der Spielhölle Homburg eilten, und wünschte eine nähere Erklärung. Da erst faßte ich den kühnen Fremdling, der mich, ohne mir vorgestellt zu sein, bismarcken zu wollen schien, in’s Auge und gewahrte eine unbedeutende Gaunerphysiognomie, wie man sie in den rheinischen Bädern täglich zu sehen gewöhnt ist. Der junge Mann verstand nur Winke mit dem Scheunenthor, und ich gewährte ihm deshalb gern die nähere, engere und weitere Erklärung, daß Raubritterburgen Burgen von Rittern vom Raube und Flußpiraten Inhaber von Schiffen seien, die Flüsse auf nähere oder weitere Strecken unsicher zu machen pflegen. Er schwieg eine Weile verblüfft, jedenfalls ob meiner biderben Deutlichkeit, machte aber dann die gelehrte Bemerkung: „Es wird dadurch bei uns doch nichts geändert!“ „Nein,“ lachte ich, „es wird bei Euch Alles geentert!“ Hiermit hatte ich leichtsinniger Weise einen gewiß ganz netten Calembourg an den jungen Rheingauer Gauner – denn ein solcher war es – vergeudet, ich hätte sagen sollen „bei Euch wird ruhig fortbarbiert,“ und deshalb schwieg ich nun selbst verblüfft.

Wiesbaden – Homburg! Sie liegen sich recht hübsch und bequem in der Nähe, diese Burgen der Ritter vom Raube, damit ja ein gerupfter Gimpel, der noch einige Haare zu lassen vermag, von hier nach dort natürlich nur der Gegend halber in möglichst kurzer Zeit gelangen kann. Aber diese Ritter vom Raube nennen wir sie getrost Gaunerbande, da sie, ganz abgesehen von dem Jedem freistehenden und von Jedem zu meidenden Spiel, schon durch ihr freches Wesen keinen andern Namen verdienen. überhaupt auch mit dieser Censur ganz zufrieden sind – aber diese Gaunerbande, will ich sagen, versteht es gründlich. wie man es von Gaunern von Profession wohl auch erwarten darf, ihre Spinnennetze zu den strahlendsten, von Marmor, Gold, Sammet und Krystallen prunkenden und die raffinirtesten Genüsse in sich vereinigenden „Erholungsplätzen“ auszustatten; diese ganze Gaunerbande, wie ich sie in Wiesbaden und in Homburg vom Directionsmitglied an bis herab zum Lakaien sah, der in bessern Zeiten als Commis an demselben Pulte mit dem Directionsmitgliede gesessen und „auch einmal“ irgendwo Croupier war, ehe er an der grünen Tafel einen kühnen Griff in seine Tabaksdose machte und dabei aus Versehen einige Friedrichsd’or hineinfallen ließ: diese ganze Gaunerbande, hündisch devot gegen die Masse und straßenbubenfrech gegen den Einzelnen, macht inmitten der von Natur und Kunst entfalteten Pracht auf den Beschauer selbstverständlich den ekelhaftesten Eindruck, bietet aber zugleich die reichste Galerie zu physiognomischen Studien und anderen ähnlichen Beobachtungen der sogenannten feinen Welt sammt der ihr anklebenden halben, Viertel- und Achtelwelt. In Wiesbaden fand ich an den grünen Tischen noch den größtmöglichen Anstand gewahrt und als Croupiers überhaupt eine bessere Sorte von Gaunern, die über ihre Fäulniß wenigstens noch anständige Manieren breiteten; das roheste, frechste und innen wie außen lumpenhafteste Gaunergesindel weisen dagegen die Homburger Spieltische auf. Hier sieht man in diesen Galgen- und Galeerengesichtern die wahren Prostituirten des starken Geschlechts, die sich der öffentlichen Schande für den täglichen Lohn von fünf Thalern preisgeben.

Man glaubt zu träumen, wenn man dem Treiben an diesen Tischen zuschaut und Zeuge der widerwärtigsten Vorfälle ist, die, fast immer in Schwindeleien entweder der Bank oder der Pointeurs bestehend, gewöhnlich auf Mißverständnisse zurückgeführt werden, und man fragt sich, ob diese Stätte des Fluches, der Verzweiflung, des Betrugs, des Diebstahls, Selbstmordes und Mordes eine Scholle deutscher Erde, jenem vielgerühmten Deutschland angehörig ist, das allen Ländern immer so gern als Muster vorstrahlen will. Es ist jedoch auch hier in der That Alles nichtdeutsch, und der deutsche Hans Taps wandelt auf diesem Marmor oder läßt sich an den Spieltischen schieben und zurückdrängen von den Angehörigen aller Nationen der Erde, als ob er, der sogenannte deutsche Michel, hier der „Etranger“ sei. O über den ewigen deutschen Hans Taps! Es ist das ein berechtigter Seufzer, wenn man hier und da und dort am Rhein die deutschen Hans Tapse von französischen Schwadroneurs, russischen Grobsäcken und englischen Flegeln bei Seite geschoben sieht, als ob sie hier Nichts zu suchen haben, nicht hierher gehören. Und wahrhaftig, der deutsche Michel gehört nicht hierher, man spricht hier nur französisch bis herab zum Kellnerburschen aus Hanau, der auf eine Frage in gutem Deutsch sich nicht entsinnen kann, in Hanau geboren zu sein, und eben deutsch zu radebrechen beginnt, als ihn ein „Sie Lausbub!“ noch zu rechter Zeit an seinen Namen und seine Heimath erinnert und er nunmehr sofort das fließendste Deutsch hanauert. „Ein bischen Französisch ist ja so wunderschön“, und die Sprache in der „Frankforter“ Gegend klingt gar so knollig!

Die Stunden eines diesen paradiesischen Spielhöllen in Wiesbaden oder Homburg gewidmeten Nachmittags schwinden bei den hier verschwenderisch ausgestreuten Reizen, durch die der Besucher berauscht oder auch berückt werden soll, im Fluge dahin, denn Jeder muß hier Etwas finden, was ihn fesselt oder zerstreut, und selbst wenn er sich auf eine einsame Bank im [591] zauberisch beleuchteten Parke zurückzieht. Wie aber Park, Terrasse und die pomphaften Concert-, Lese- und Billardsäle zu gewissen Stunden ihre Besucher haben, so sind die Spielsalons zu allen Stunden frequentirt. Die edle Goldgier läßt hier ein fortwährendes Zuströmen und Abfließen von Besuchern bemerken, bis sich nach und nach der Kreis der Pointeurs um die langen Tafeln mehr und mehr verdichtet und in den Abendstunden in „drangvoll fürchterliche Enge“ geräth.

Auch solch ein grüner Tisch mit dem Aas, dem Gold und Silber darauf, den bissigen Croupierwölfen, welche die Beute zähnefletschend hüten, und dem verehrungswürdigen Publicum als lüsternen Aasgeiern herum hat seine komische Seite, von der ich diese Gaunergeschichte stellenweise aufzufassen mir gestattete. Beim ersten Anblick eines wohlbesetzten und wohlumstandenen Roulettetisches sammt seiner Croupierbedienung, dem Obergauner auf erhöhtem Sitze und der traurig-ernsten Spielgelellschaft rings herum, habe ich in der Stille herzlich lachen müssen und meine Heiterkeit war um so anhaltender, als sie bei einem Theile der respectablen Gesellschaft das Befremden zu erregen schien, wie man bei einer so traurigen Geschichte so frivol lachen könne. Aber das wechselvolle Bild, das sich an einem solchen Tische kaleidoskopisch neu und immer wieder neu entrollt, packt und fesselt endlich das Interesse des „Studirens halber“ sich hier aufhaltenden Besuchers, und sein bewaffnetes Recensentenauge nimmt ein photographisch treues Bild von diesem bunten Treiben in sich auf. Wie die Croupiers oder der erhöhte Herr Controleur, der immer die „Rouleaux“, d. i. Goldrollen, im Auge behalten muß, oder das bleiche Gaunergesicht von einem der Herren Chefs des Geschäfts den Lakaien winken, wenn eine Spielernotabilität dem Tische naht, daß sie Platz machen und der Notabilität Karte mit Nadel vorlegen, und wie der nur einen Gulden wagende Plebs dann achtungsvoll vor dem General Klapka und vor der auf ihren Krücken hereinwankenden Fürstin Kisseleff, einer immer brav verlierenden leidenschaftlichen Spielerin, zurückweicht, damit Jene ihr Spielchen bequemer haben!

Nur zu häufig kommen Differenzen vor zwischen Pointeurs und Croupiers, und bei derlei Meinungsverschiedenheiten betrugen sich die Homburger Croupiers, wenn nicht einer der Herrn Obergauner vermittelnd einschritt, im höchsten Maße pöbelhaft, selbst auch gegen das schwache, im Spiel besonders sehr schwache Geschlecht, das in leibhaftiger Fieberhitze sich dem Spiele zu widmen pflegte und vielleicht oft – sonst wäre es ja nicht das schwache Geschlecht – irren mochte. Ein Croupier ist aber eben nur ein Dienstknecht dieser privilegirten Gaunerbande, ein raddrehendes und geldauszahlendes oder einziehendes Individuum, das, als Kauwerkzeug in dem Schlunde der Spielbank thätig, nur sein Rad zu drehen und seine Harke hin und herzubewegen hat, als solcher Dienstknecht aber dem Publicum gegenüber stumm oder doch bescheiden sein muß. Dem aufmerksamen Beobachter wird es schon in den ersten Minuten seines Besuchs der Homburger Spielbank augenfällig, welch saubere „Direction“ hier waltet, die solche Croupiers in Dienst genommen, leitet und überwacht, und daß der Herr wie der Knecht ist. In den wenigen Stunden meines Besuches dieser Spielsäle bin ich von mindestens zehn geradezu empörenden Fällen von Maltraitirung des Publicums Seiten der Croupiers Zeuge gewesen, mein Erstaunen war aber größer als meine Entrüstung, als ich wahrnehmen mußte, welch’ dickes Fell so ein Pointeurrücken in der edlen Hitze des Spiels sich angerbt, so daß er im Gewinn einen wirklich respectablen Puff vertragen konnte, und wie seelensruhig und ergeben in ihr Schicksal eine erhitzte „Pointrice“, die ihrem Verlust gar so gern wieder beikommen wollte, die unverschämtesten Grobheiten eines Croupiers hinnahm. Es mag das auch von den Maltraitirten als das einzig Richtige angenommen werden, da Lakaien und Gensd’armen immer bereit gehalten werden, störende Elemente aus dem Wege zu räumen, sind diese Elemente auch Personen, die betrogen worden sind und ihr Recht fordern. Gewinnende Pointeurs scheinen den Croupiers Dornen im Auge zu sein – sie finden jedenfalls einen point d’honneur im Geldeinharken denn als einer derselben, überhaupt ein unsauberer, siecher Strolch, einem verzweifelten Spieler dreimal hintereinander zwei- und fünfzig Friedrichsd’or auszahlen mußte und dieser den Gewinn nur oberflächlich nachzählte, äußerte er, Gold und Gewinner bei Seite schiebend, grob, „daß es nach Adam Riesen zweiundfünfzig seien,“ während ein anderer Croupier, der eine an der Seite ihres Flitterwochen-Gatten Satz auf Satz gewinnende junge Frau mit der Auszahlung pflichtschuldigst zu bedienen hatte, bei dem letzten großen Treffer, welcher die beiden Neuvermählten in noch größere Flitterwochen-Heiterkeit versetzte, in allgemein vernehmlichem Tone zu seinem Spießgesellen sagte: „Nu haben se den Hals voll und gehn!“ Das ist der Ton, der in diesen prunkvollen Sälen herrscht, wo der Fuß nur über Marmor und Parquet gleitet, wo, da nun einmal Gold und Schlamm unzertrennlich sind, neben der Hefe auch die Crème der Gesellschaft stündlich zu finden, wo die raffinirteste Eleganz zu einem Ensemble ausgesucht ist, um auf den Besucher, wenn auch als Blendwerk der Hölle, den angenehmsten Eindruck zu machen – hier herrschen Sitte und Manieren der Frankfurter Gassenjungen, und zwar unter den Augen der Directoren der sauberen Bande!

Als eine der heitersten Erinnerungen an Homburg bewahre ich die an einen jungen Mann, der, den Spielsaal verlassend, an der Thür mit voller Lunge das vielsagende Wort „Gauner!“ ausrief und ruhig weiter schritt: ferner die an eine den besseren Ständen angehörende Dame, die mit ihrem etwa zwanzigjährigen Sprößling um die Wette rasend spielte und des Abends spät im Park ihrem Stifte unter mütterlichen Thränenfluthen die heftigsten Vorwürfe machte, daß er nicht aufgehört zu spielen und daß er sie nicht abgehalten habe zu spielen, wäbrend ich Beide noch desselbigen Abends am Trente et Quarante ihr Spielchen wieder fortsetzen sah, Beide mit hocherrötheten Wangen und höchst sorgenvoller Stirn; ferner die an eine junge, hübsche Frau, die ihren Mann zum Spiel verführte und, als der brave Gatte und Vater stark blieb und ruhig mehr und mehr zurückwich, lustig einen Gulden setzte, verlor und zum unaussprechlichen Entsetzen der Croupiers und der ganzen Gaunerdirection mit schallender Stimme ihrem äußerst gespannten Männchen die Worte zurief: „Weg is er!“ –

„Wer Pech angreift, besudelt sich,“ ist zwar ein sehr wahres Wort, aber wir sind ja hier in Hombourg-ès-monts in der besten Gesellschaft, greifen wir zur Abwechselung dieses Pech an – wir reinigen uns, ehe wir Frankfurt, ehe wir deutsche Erde wieder betreten, von dem Homburger Pech.“

So denkend, tritt die Legion der deutschen Jünglinge, abgerechnet andere deutsche Mitbürger und Mütter, an den grünen Tisch und erlegt ihren Tribut an den alten Herrn Landesherrn, der Jahr aus Jahr ein wie ein ergrauter Chaussee-Einnehmer an seinem Schlagbaum sitzt und den Chausseezettel gegen sofortige baare Bezahlung vermittels eines Beutelstocks oder Stockbeutels durch sein Fenster reicht. Es giebt zwar noch zwei oder drei solche Chaussee-Einnehmer, ihre Straße ist aber bei Weitem nicht so stark befahren und ihr Einkommen steht deshalb dem ihres Herrn Collegen, des Homburger Obereinnehmers, bedeutend nach. Was soll nun aber aus dieser ganzen Spielbankgesellschaft, dem Herrn Obereinnehmer, den Herren Directoren, Cassirern und Controleuren und dem übrigen Gaunergeschmeiß werden, wenn einst die Zipfelmütze unseres Michel am Schalter des Herrn Obereinnehmer sichtbar wird und das Donnerwort erklingt: „Rien ne vas plus!“ gerade das Wort, das ihm jetzt noch das tägliche Brod bringt?

Aber wir wollen uns um Gotteswillen nicht um den alten Herrn Chaussee-Einnehmer ängstigen, ängstigen wir uns um uns, daß wir nicht auf das hier mit weiser Berechnung ausgestellte Fliegenpapier gerathen und unseren Leichtsinn mit unserer Reisecasse bezahlen.

Wenn in andern Dingen aller Anfang schwer ist, so ist er auf diesem glatten Boden recht leicht, aber das Aufhören und gar das Ende ist um so schwerer. Wahrlich, lachte ich im Selbstgespräch, dort der kleine, blonde, junge Mann an der Seite des unteren Croupiers repräsentirt vom Kopf bis zur Zehe das vom Laster des Spiels abschreckende Beispiel, wie man es so oft gelesen hat, – „wie es im Buche steht“, nämlich sehr bleiche Gesichtsfarbe, zu Berge stehende Haare, die endlich diese Richtung annehmen müssen, da bei jedem verlorenen Satze fünf Finger durch sie bergwärts fahren; sehr fest zusammengepreßte Lippen, welche „trotz alledem“ noch ein schmerzliches Lächeln bilden; unheimlich bald stier, bald stechend, bald stumpf blickendes Augenpaar, das sich bei einem verzweifelten Satze kurz vor dem entscheidenden Augenblicke circa zehn Secunden lang schießt; einfache, aber etwas derangirte Kleidung, u. A. umgefallener Hemdkragen, stark nach links strebende Cravatte, verdächtigste Manchetten etc.; besondere Kennzeichen: hört und sieht nicht, als nur auf Rouge und Noir, hält in der Linken fünfzig bis hundert Goldstücke, verschränkt, wenn er sie nicht mehr in der Linken, das heißt, auch nicht in der Rechten hält, die Arme und lächelt, wie oben, schmerzlich krampfhaft, spielt seit Vormittag elf Uhr bis sechs Uhr Abends auf derselben Stelle ohne Nahrung und Getränke, nur auf Loßbeck’s Pariser Nummer 2 angewiesen, verschwindet nach sechs Uhr auf eine Stunde in den Speisesaal, dejeunirt, dinirt und soupirt hier auf einem Sitze „etwas schnell“, wie er zum Garçon sagt, und steht über ein Kleines wieder so ziemlich auf der alten Stelle am grünen Tische, wo er leiblich gestärkt mit frischen Kräften und mit einem kolossalen Vertrauen den Kampf mit den Goldrollen der Bank wieder aufnimmt. Das ist das ungefähre Signalement des unerfahrenen Spielers, „wie er im Buche steht“, des blonden jungen Mannes, der schwermüthig seinem Nachbar klagte, daß er sein Geld „von diesem Nachmittag immer noch nicht wieder habe“, während er fünf hundert gewonnene Friedrichsd’or auf der rothen Sammtbank im Hintergrunde wieder und wieder zählte. Diese drollige Erscheinung ist aber eben nur ein Spieler, wie sie nach Hunderttausenden zählen, kein Spieler „von Fach“, kein Habitué der Spielbank.

Die sogenannte feine Welt und der Spieler von Fach spielen ruhigen Blutes, ohne Uebereilung, con amore, mit Pausen von einer Stunde nach Befinden, aber immer dabei mit der Nadel auf der Karte über Rouge und Noir Buch führend, sie spielen ihr Spiel leidenschaftlich gern, allein ohne Leidenschaft. Wie sie da bedächtig den Fall der Karten oder der Kugel verzeichnend dasitzen, die alten, würdigen Herren, die alten Damen der feinen und die jungen der halben Welt; dann die im bedächtigen Spiel ergrauten Habitués; ferner diese Backfische der russischen und polnischen Aristokratie, die noch im Flügelkleide schon recht emsig die Nadel führen, wenn diese Nadel auch nicht die richtige ist; ferner jene maskenartig herausgeputzten Femmes entretenues mit goldgefüllten Börsen und diese Courtisanen ohne Börse! Das sind die Gold- und Silberfische und Gründlinge, die den Haifisch umschwärmen.

Dort das blasse Kind von vierzehn Jahren führt die vom Croupier geliehene Krücke ganz erstaunlich gewandt, und wie graziös verliert das Kind, wie sanft lächelt das feine Antlitz, wenn das mit zehn Friedrichsd’or besetzte Quarré nicht gewann, und wie zierlich dirigirt sie den neuen Satz mit der Krücke auf Zéro! Neben ihr berechnet eine Dame mit weißen Locken wieder und wieder, wie oft Rouge in der letzten Stunde gewonnen, und ist ganz in ihr Kärtchen versunken; dann setzt sie plötzlich auf Noir ein Zweiguldenstück, gewinnt, macht einen Stich und darauf rechnet sie wieder ganz tiefsinnig.

Ihr Nachbar, eine dürftige Erscheinung in hier auffälliger sehr ärmlicher Toilette, aber vor sich respectable Haufen Gold und Silberstücke, rechnet ebenfalls krampfhaft und zwar im Schweiße seines Angesichts. Das ist jedenfalls eine bemerkenswerthe Erscheinung. Ein abgehärmtes Gesicht mit Struwwelpeterfrisur, ein elend abgemagerter Körper in abgetragener Kleidung, sitzt der Mann in tief gebückter Haltung und durchbohrt seine Karte mit Nadel und Auge; er macht viertelstündige und längere Pausen, sieht nichts als seine Karte, achtet nur auf den Fall der Kugel, setzt selten, aber dann nur entweder zwei Friedrichsd’or oder zwei Gulden, gewinnt fast immer und schüttelt dabei wie verwundert oder unzufrieden sein alterndes Haupt, indem er die betreffenden Stiche in die Karte macht; er spricht halblaut vor sich hin und gesticulirt dabei, als wollte er sagen: „Wer hätte das gedacht! Noir konnte fast nicht kommen! Zwei Gulden gewonnen! Ich hätte zwei Friedrichsd’or setzen sollen!“ So monologt er in der Pause, rechnend und unter dem Tische die Hände reibend; der Mann ist ein Spieler von Fach, aber der unschuldigsten Art, der sich langsam zu Tode rechnet, [592] sorgt und härmt. Am Abend sah ich ihn im Speisesaale, seinem abgehungerten Leibe eine halbe Flasche Wein mit Imbiß zuwendend, und welche lucullische Table d’hôte hatte sich der Arme für einen seiner vielen Goldsätze erzeugen können, wenn es eben nicht der Grundsatz der Spieler von Fach wäre, Alles auf den Zufall und Nichts auf den Körper zu wenden. Glückliche Spieler werden als eine Sehenswürdigkeit gezeigt, finden aber stets in ihren unglücklichen Collegen die lebhaftesten Sympathien, denn es geht nichts über die Freude, wenn einer dem Hai ein tüchtiges Stück vom Leibe reißt. Da verzerren sich die Gesichter der Spieler zu einem Lächeln teuflischer Freude über die der Bank versetzte Schlappe, einer wirklich teufelmäßigen Freude, die von neidischen Gefühlen gegen den glücklichen Collegen nicht im Geringsten alterirt wird, und als Pendant zu diesem schönen Götterfunken affectiren die Visagen der Croupiers eine himmlische mit kolossaler Gleichgültigkeit gepaarte Ruhe, als ob den Kerls Alles Eins sei, ob sie Geld hätten oder keins. Ich hatte an jenem Nachmittage das Vergnügen, zwei solche Glückliche zu schauen, eine junge Pariserin, die ganz anständige Packete von Tausend-Francs-Billets in die Tiefe ihrer Kleidtasche senkte und lachend der Bank den Rücken wandte, und einen riesigen Russen, ein echtes Baschkirengesicht. der unter den Goldrollen-Bergen am Trente et Quarante gründlich aufräumte.

Auf der nach dem Park gelegenen Terrasse erholt sich, wer genug sein läßt des grausamen Spiels, wer des Drängens und Treibens müde, wer das Gewonnene nicht verlieren, wer die Häupter seiner Lieben zählen will, aber vor Allem wer nichts mehr zu zählen, sondern Alles verloren hat, nur die Ehre nicht – hier noch eine Tasse kräftigen Kaffee zu trinken. Hier läßt sich manche heitere Beobachtung machen, besonders die, in wie verschiedener Weise sich die Wonne- und Schmerzensgefühle der von den Spielsälen Kommenden kundgeben. Da schreitet ein ernster Jüngling möglichst unbefangen über die Terrasse, läßt sich mit einem tiefen Seufzer nieder und schaut schwermüthig hinab in den herrlichen Park, aus dem gerade die lustigsten Weisen von Keler Bela heraufschallen, und unwillkürlich fielen mir beim Anblick dieses Jünglings die Worte ein: „Und sie trugen einen Todten hinaus und der war stumm!“ Da kommt die alte Mutter mit dem jungen Sohne, Beide roth wie Krebse, und flüstern ärgerlich, nachdem sie am äußersten Ende der Colonnade Platz genommen. Der junge Tausendsasa scheint noch eine Force auf diverse Nummern machen zu wollen, aber die Mama, die selbst die Hälfte der Reisecasse „versockt“ hat, schüttelt den Kopf, weht den erhitzten Fettwangen mit dem Fächer Kühlung zu und hält die Ledertasche mit dem Rest der Reisecasse fest. Da erscheinen zwei Husarenofficiere in leichtem „Sommercivil“ an der Schwelle des auf die Terrasse führenden Saales, und der eine bestellt lachend eine Wittwe Cliquot. „Wie stehst denn Du?“ fragt er den andern. „Ich stehe jar nich! Futsch!“ sagt der und lorgnont eine zwei Ellen Schleppe vorübertragende Camelliendame. „Weiß Gott,“ höre ich hinter mir eine Stimme aus dem Herzen Deutschlands, „ich habe Sie Habchen und Pabchen verloren, aber der Kaffee is kräftig!“

Das war, als ich diese Bilder dem immer wechselnden Leben auf diesem Ruhepunkte entnahm, genau die Stunde, in der die Abendstille eines bei Offenbach gelegenen Wäldchens durch einen Schuß unterbrochen wurde, dann waltete wieder Friede und Ruhe wie vorher, und die Vögelchen wagten ihr Abendlied fortzusetzen und die Grillen zirpten weiter. Auch der Mann in dem dichtern Theile des Wäldchens, der mit dem Gesicht auf dem Moosboden liegt, regt sich nicht mehr, – rien ne va plus!




Blätter und Blüthen.

Humor und Poesie auf Cassenscheinen. Die Casse der Niedersächsischcn Bank in Bückeburg, der berühmten Hauptstadt des deutschen Großstaates Lippe-Schaumburg, hat im Jahre 1856 Banknoten im Betrage von je zehn Thalern ausgegeben, welche eine Merkwürdigkeit zeigen, die gewiß nur von den Wenigsten bisher beachtet worden ist. Es hat nämlich einer der Bankbegründer – Manche wollen, der Fürst selber, nach Andern der betheiligte Prinz von Hohenlohe – den sublimen Einfall gehabt, die einzelnen Cassenscheine so zu zieren und zur Controle zu bezeichnen, daß darauf Verse aus Volksliedern, bekannten Gedichten und deutschen Sprüchwörtern derartig Wort für Wort niedergeschrieben (mit Tinte!) sind, daß eine gewisse Serie den ganzen Satz bildet. So liegt vor uns die mühsam zusammengebrachte Reihe Nr. 323,300–323,307. Auf dem ersten Schein trägt der Revers in dem flatternden Band unterhalb des Wappens links die Nummer „323,300“, rechts das Wörtchen „Ich“ (und darunter den classischen Namen „Spindler“). Die folgende Nummer trägt:

  323,301 = hab’
ferner 323,302 = mein’
  323,303 = Sach’
  323,304 = auf
  323,305 = Nichts
  323,306 = gestellt,
  323,307 = Juchhe!

Und da alle Noten der Niedersächsischen Bank in gleich origineller Weise beschrieben oder vielmehr gezeichnet sind, so bildet ihre Gesammtheit jedenfalls das wunderlichste und kostbarste Spruch- und Liederbuch der Welt! Wer sich die Mühe des Suchens und Sammelns nehmen will (und nota bene die Mittel dazu besitzt), der wird finden:

„Wer niemals einen Rausch gehabt,
Der ist kein braver Mann!“

oder:

„Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang,
Der bleibt ein Narr sein Leben lang!“

Und

„Willst du immer weiter schweifen?
Sieh, das Gute liegt so nah.
Lerne nur das Glück ergreifen
Denn das Glück ist immer da!“

Von diesen und vielen andern guten Reimen sind untrügliche Bruchstücke gefunden worden. Ob nicht die berühmte Scene der Papiergelderfindung im zweiten Theile des Faust ebenfalls benutzt worden ist? Nun weiß doch ein jeder Eigner von Bückeburger Banknoten, wenn ein früheres Besitzthum dieser Art wieder zu ihm rückkehrt, und kann ihm gerührt entgegenrufen: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten!“ Sage Niemand fürder, im Geld und Bankwesen sei keine Poesie zu finden – oder wir senden ihn nach Bückeburg!




Aus Mecklenburg. Als ein Seitenstück zu dem, was sich mecklenburgische Ritter namentlich den kleinen Landstädten gegenüber, welche theilweise ihre Nahrung aus den großen Gütern ziehen, erlauben dürfen, ohne dafür exemplarisch gestraft zu werden, will ich Ihnen einen Fall mittheilen, der die kürzlich in der Gartenlaube geschilderten Uebergriffe des Herrn von Arenstorff noch hinter sich zurückläßt. In der Nähe des Städtchens Krakow wohnt ein Herr von S…, auf dessen Besitzthum eines Abends in den vierziger Jahren ein armer Handelsjude aus der genannten Stadt hausirend einkehrte und, weil sich plötzlich heftiges Regenwetter eingestellt hatte, das ihn vorher ganz durchnäßte, um ein Obdach für die Nacht bat und es auch erhielt. In der Nacht wurde der alte Mann krank und starb gegen Morgen, ohne daß ihm Hülfe gegeben werden konnte. Dem Herrn wird die unangenehme Meldung gemacht und er schickt sofort seinen Reitknecht mit der Todesanzeige an die Stadtbehörde, der er die Aufforderung, die Leiche abzuholen, beifügte. Zu seiner Ueberraschung und größten Entrüstung lautet die Antwort ablehnend und auf die Verordnung verweisend, daß er für Bestattung des Gestorbenen zu sorgen habe. Kurz entschlossen läßt er anspannen und den Todten auf einen Büschel Stroh in einem Leiterwagen legen und zur Stadt führen. Zwei starke Knechte mußten mit aufsitzen und vorwärts ging’s bis zum Kirchhof. Dort angekommen, fuhr der Wagen dicht an die Mauer heran, die beiden vorerwähnten Knechte packten die Leiche je an Kopf und Füßen und schleuderten sie eins, zwei, drei über die Mauer. „Da habt Ihr Euren Juden!“ jubelten die Knechte und heim ging’s im sausenden Galopp.

Die Sache bedarf keines Commentars, um in ihrer ganzer Scheußlichkeit zu erscheinen; für die Wahrheit bürge ich Ihnen, und wer in Mecklenburg bekannt ist, wird von diesem Stück des edlen Ritters wohl wissen.
W.




Gedenkt der Invaliden! Ueber ein Jahr schon ist dahin seit den siegreichen Tagen des schleswig-holsteinischen Feldzuges, und daß die so hoch gehenden Wogen des Enthusiasmus inzwischen wieder sich gelegt, ist nicht weniger eine natürliche Wirkung der Zeit, als die leicht erklärliche Folge des unerquicklichen Verlaufes, den diese uns so tief berührende Angelegenheit genommen hat. Frei von aller Verstimmung, hoch über jeder Parteinahme aber muß ein Gefühl bestehen bleiben: das der Dankbarkeit gegen die Tapfern von Oeversee, Oberselk, Düppel, Alsen etc. und heilig sei uns Allen die Pflicht, diesem Gefühle der Dankbarkeit den Invaliden jenes Feldzuges gegenüber thatsächlichen Ausdruck zu geben. Hier muß das gesammte deutsche Volk warmen Herzens und mit offener Hand um so bereitwilliger eintreten, als Jeder weiß, wie unzulänglich der Staat für seine hülflosen Krieger sorgt; dies ist ein unabweisbarer Fall edelster Selbsthülfe! Eine Anzahl von Patrioten in preußisch und österreichisch Schlesien hat sich zu dem der Anerkennung wie der Unterstützung gleich werthen Unternehmen vereinigt, dem Einzelnen die Erfüllung seiner Dankespflicht zu erleichtern. Das Comité hat einen freundlichst ihm überlassenen Carton des rühmlich bekannten Künstlers P. J. N. Geiger, Professors an der Akademie der bildenden Künste in Wien, durch den Photographen G. Jägermeier in Wien vervielfältigen lassen und ladet nun zur Subscription auf dieses in jeder Beziehung vorzügliche und seiner Größe halber namentlich auch zum Zimmerschmuck geeignete „Erinnerungsblatt an die glorreiche Befreiung Schleswig-Holsteins“ mit dem Bemerken ein, daß der gesammte Reingewinn den im schleswig-holsteinischen Feldzuge von 1864 invalid ge- gewordenen Kriegern Preußens und Oesterreichs durch Vermittelung der Kriegsministerien zukommt, des guten Glaubens, „die deutsche Nation werde sich in diesem Gefühle der Dankbarkeit und seiner Bethätigung als ‚ein einig Volk von Brüdern‘ zeigen“. Mag dieser Glaube nicht getäuscht werden! Indem wir das Unternehmen unsern Freunden und Lesern zu geneigter thatkräftigster Unterstützung empfehlen, uns auch zur Entgegennahme von Subscriptionen gern bereit erklären, bemerken wir noch, daß der Preis des neunundzwanzig Zoll breiten und zwanzig Zoll hohen Kunstblattes vier Gulden ö. W. oder zwei Thaler zwanzig Silbergroschen beträgt und daß alle directen Bestellungen und Sendungen aus Preußen an Herrn Robert Scholz, königl. preuß. Kreis-Steuereinnehmer in Pleß in preußisch Schlesien, jene aus Oesterreich und allen andern Staaten aber an Herrn Eduard Klimett in Bielitz in österreichisch Schlesien erbeten werden.




Zur Beachtung für unsere Abonnenten in Schleswig-Holstein. In wenigen Wochen wird Schleswig sowohl als Holstein preußische Post besitzen, diese aber, früheren Erfahrungen nach, obwohl sie in dem fremden Lande kein Recht zu solcher Weigerung hat, die Beförderung unseres Blattes an die betreffenden Postabonnenten nicht mehr übernehmen. Wir ersuchen die letzteren daher, fortan die Gartenlaube auf dem Wege des dortigen Buchhandels beziehen zu wollen.
Die Expedition der Gartenlaube.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.