Die Gartenlaube (1868)/Heft 44

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 44.   1868.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.




An alle Lehrer und Erzieher.

Unter denjenigen Unterrichtsgegenständen, welche mit der fortschreitenden allgemeinen Bildung eine fort und fort wachsende Bedeutung erlangt haben, darum aber auch einer immer weiteren Verbreitung und sorglicheren Pflege bedürfen, steht die „Lehre vom Menschen (Anthropologie)“ in erster Reihe. Ueber die Wichtigkeit dieses Lehrgegenstandes noch Worte zu machen, hieße Wasser in’s Meer tragen, da es gegenwärtig sicher keinen auf Bildung Anspruch Erhebenden giebt, der nicht das „Lerne Dich selbst kennen“ auch in Bezug auf sein leibliches Selbst als obersten Grundsatz der Lebensweisheit anerkennte. Wohl glauben wir aber allen Eltern und Lehrern einen Dienst zu erweisen, wenn wir sie auf das so eben erschienene Buch

Bau, Leben und Pflege des menschlichen Körpers
in Wort und Bild.
Unter Mitwirkung von Schulmännern für Schüler dargestellt von Prof. Dr. Bock.
Preis 5 Sgr.

aufmerksam machen, das ihnen die Unterweisung in jenem für das Wohl ihrer Kinder und Zöglinge so unentbehrlichen Zweige des Wissens nicht allein leicht, sondern selbst angenehm und anregend zu machen versteht. Für die praktische Brauchbarkeit dieses Werkchens erlauben wir uns das Urtheil des Leipziger Lehrervereins darüber mitzutheilen, welcher in der Sitzung, in welcher ihm Bericht über das Werkchen gegeben wurde, nach einer eingehenden Debatte seine Ansicht dahin aussprach: daß das vorliegende Schulbuch die bisher über diesen Gegenstand erschienenen und den Anwesenden bekannten Leitfäden ebensowohl durch Reichthum und dabei doch maßvolle Auswahl des Stoffes, als in Bezug auf durchsichtige Anordnung, einfache, leichtverständliche und tactvolle Darstellung übertreffe, daß es, als treffliche Vorschule für des Verfassers ausführlichere Werke über den gleichen Gegenstand, im hohen Grade geeignet sei, das Interesse am Gegenstande aus der Schule in das häusliche und Berufsleben überzuführen, und daß daher die Anwesenden sich verpflichtet achteten nach Kräften für Verbreitung und Benutzung dieses Buches zu wirken.

Dr. E. Bornemann, z. Z. Vorsitzender des Leipziger Lehrervereins.

Das oben empfohlene Schulbuch ist nichts weniger, als ein Erzeugniß pecuniären Interesses, wie Jeder sofort aus dem Preise (von 5 Sgr.) und der Ausstattung (11 Bogen Text und 46 Illustrationen) ersehen wird. Es ging nur aus dem Streben der Unterzeichneten hervor, der Menschheit durch dieses Werkchen insofern zu dienen, als dieses schon im Kinde den Grund zur Kenntniß von dem, was dem menschlichen Körper nützt und schadet, legen soll.

Bock, Verfasser   Ernst Keil, Verleger.



Süden und Norden.
Eine baierische Dorfgeschichte von 1866.
Von Herman Schmid.
(Schluß.)


Die Bäuerin war beklommen. Sonst so gewandt und rasch entschlossen in allen Verhältnissen, befand sie sich der Fremden und ihren Worten gegenüber in so eigenthümlicher Lage, daß sie die Augen niederschlagen und erst mit sich selbst zu Rathe gehen mußte, ehe sie etwas zu erwidern vermochte.

„Wo ist Eure Tochter, wo ist Toni?“ fragte Frau Schulze, um das verlegene Schweigen zu unterbrechen.

„Sie hat sich entfernt,“ erwiderte Alwine, vom Rande des Gebüsches zurückkommend. „Sie kniet dort oben an der Wegcapelle; sie will der Begrüßung mit uns ausweichen, wie es scheint, und wenn ich das auch begreiflich finde, weil sie wohl den schwersten Grund hat zu grollen, so ist es doch für mich nicht minder schmerzlich.“

„Sie ist noch jung,“ sagte Frau Schulze. „In dem Alter sind Empfindungen und Leidenschaften noch heftig! Wenn die [690] Zeit ihre verderbliche und doch auch wieder so segensreiche Macht auch an ihr bewährt haben wird, wird auch sie freundlich an uns denken – wenn dann auch das Grab sich über uns geschlossen hat. Wir Beide, ich und Ihr, Funkenhauser-Bäuerin, wir sind wohl die Nächsten an dem ernsthaften Schritt … drum haben wenigstens wir Frieden gemacht. Wir sind nicht mehr Feinde, und wenn wir uns einmal in der Ewigkeit wiedersehen, so werden wir wohl auch wieder Freunde werden.“

Die Funkenhauserin sah ihr ernsthaft und bewegt in’s Gesicht. „Werden wir uns denn wiedersehen in der Ewigkeit?“ fragte sie dann.

„Ich verstehe, was Ihr meint!“ rief Frau Schulze entgegen; „aber habt deswegen keine Sorge! Wir sehen uns wieder in der Ewigkeit.“

Die Bäuerin erwiderte nichts; sie nahm die dargebotene Hand der Scheidenden und stand noch eine Weile regungslos, als Beide schon aus dem Haine getreten waren und den Seeweg hinunterwandelten. Erst nach einigen Augenblicken wandte sie sich und schritt tiefsinnig dem Pfade nach, den Tonerl vor ihr eingeschlagen hatte. Als sie bei der Capelle ankam, traf sie Tonerl auf der Betbank knieend, die Arme aufgestützt und das Antlitz in den gefalteten Händen verbergend, durch deren Finger sich einzelne Tropfen hervorstahlen.

„Hast sie verstanden, Mutter?“ sagte sie leise, als diese neben ihr niederkniete. „Weißt, für wen die Frau Schulze und das Fräul’n Trauer anhaben?“

„Wie kann ich das wissen?“ entgegnete die Bäuerin. „Hab’ sie auch nit fragen wollen. Aber errathen kann ich’s leider Gottes!“

„Mutter, ich weiß’s,“ sagte Toni, indem sie sich gefaßt die Thränen abtrocknete. „Ich g’spür’s inwendig auch ohne Fragen. Du hast jetz nix mehr vor mir voraus wegen dem Ledigbleiben.“

Die Bäuerin erwiderte nichts; sie schien zu beten, und ihre Augen hingen an dem Heiland, dessen kunstloses Bild in der Capelle dargestellt war, wie er, das Kreuz schleppend, mühselig unter der Last desselben zusammenbricht. Er wendete das Antlitz nach den Betern hin, und es war, als ob sein Blick mit gramvoll flehender Bitte auf ihnen hafte. Die Funkenhauserin weinte nicht; aber auch sie schlug die Hände vor das Gesicht und verharrte noch einige Augenblicke schweigend, der Blick mahnte sie wie strafend an eine frühere Stunde. Plötzlich erhob sie sich, auch Tonerl stand auf; Beider Blicke trafen sich und hingen mit einer unausgesprochenen und doch von Jeder verstandenen Frage fest in einander. Von der Stelle, wo sie standen, konnten sie den Weg gewahr werden, der sich am See hinzog, und sahen das Fräulein, von der sorglichen Mutter geleitet, langsam auf demselben dahinwandeln.

Einen Augenblick schien die Bäuerin noch mit sich zu kämpfen; ihre Lippen bewegten sich in stillem Selbstgespräch; bald aber ging es in Murmeln und dann in laute Worte über. „Und meinetwegen kann er sagen, was er will,“ rief sie dann. „Ich kann einmal nit anders … Tonerl, Du hast junge Füß’. Geh’ voraus nach’m Hof! Ich will noch einmal hinunter in’s Dorf – ich hab’ was vergessen.“

Toni trat vor die Mutter hin und sah ihr mit feuchten Augen und herzinnigem Lächeln in’s Gesicht. „Was hast denn vergessen, Mutterl?“ fragte sie. „Ich glaub’, das kann ich noch besser errathen, als das wegen dem Kloster!“

„Wenn Du’s errathen kannst,“ sagte ihre Mutter rasch, „nachher mach’, daß Du heimkommst! Ich will Dir’s nur eingesteh’n: ich bring’s nit über’s Herz, daß das arme, kranke Fräul’n, das vielleicht noch ein paar Wochen zu leben hat, so von uns fort soll. Ich bin vor der Frau Schulze dag’standen, wie Ein’s, das ein schlecht’s G’wissen hat, und hab’ die Augen nit aufschlagen können. Das ist mir in meinem Leben noch nicht passirt. Ich hab’ sie selbigesmal in den Funkenhauserhof aufg’nommen, und es ist mir nit schwer worden. D’rum will ich mein gut’s Werk, wenn’s eins ist, nit halb thun, sondern will’s durchführen, wenn’s auch ein Bissel Beißen braucht … Richt’ die gute Stuben her auf ’m Hof, Tonerl! Ich will der Frau Schulze und dem Fräul’n nach; ich will ihnen sagen, sie sollen auf’m Funkenhauserhof bleiben, so lang sie wollen – wir wollen d’ Freundschaft nit auf die ungewisse Ewigkeit verschieben.“

Obwohl die Botschaft den Frauen unerwartet und überraschend kam, klang sie ihnen doch sehr willkommen und wurde besonders von Alwinen mit Entzücken aufgenommen. Ein Widerschein der Rosen, die einst auf ihren Wangen heimisch gewesen, erblühte auf Augenblicke wieder, einmal, als sie die Nachricht vernahm, und dann, als sie nach langsamer, beschwerlicher und sorgfältiger Fahrt den Funkenhauserhof erreicht hatte. Trotz ihrer Schwäche eilte sie von ihrem Wohnzimmer auf den Gang hinaus, der wie eine Altane sich an dem Hause hinzog, und breitete die Arme dem ihr entgegenlachenden Landschaftsbilde zu begeistertem Gruße entgegen. „O Dank, Dank,“ rief sie, „daß ich wieder hier bin! Dank dem Himmel und den guten Herzen Dank, durch die ich es erreichte! O diese Luft! Sie ist so balsamisch und weich, als käme sie über die Blumen des Paradieses. Von diesem Orte möchte ich mich nicht wieder trennen; hier möchte ich bleiben!“

Es währte nur wenige Tage, so war auf dem Hofe unter dessen Bewohnern und Gästen das frühere trauliche Verhältniß hergestellt, und wer sie so ruhig und freundlich mit einander verkehren sah, hätte es nicht für möglich gehalten, daß noch vor kurzer Zeit ein so ernstes Zerwürfniß zwischen ihnen bestanden, daß sogar verwandtes Blut zwischen ihnen geflossen und vergossen worden. Das Meiste trug dazu bei, daß die Gäste aus Klugheit, die Bewohner aus richtigem Gefühl auch nicht mit einer Silbe des Vorgefallenen gedachten; es war, als ob Ambros nie gelebt und im Hause nie eine Stelle gehabt hätte. Den Dienstboten wurde in der Stille auf’s Strengste eingeschärft, niemals und in keiner Weise seiner Erwähnung zu thun und ebenso Alles zu vermeiden, was sich auf den Sohn und Bruder der Gäste, auf Günther, bezog. So kam es, daß der Name desselben von Seite der Hofbewohner unausgesprochen blieb, während die Anderen dasselbe thaten, um hinwieder keine Erinnerung an Ambros hervorzurufen. Es folgte sich eine Reihe stiller Tage, nicht vom hellen Sonnenglanze der Freude erfüllt, wie früher, aber warm beleuchtet von einem schönen Abendroth derselben, friedlich und angenehm.

Die einzige und bitterste Störung brachte der Zustand Alwinens in den kleinen Kreis; denn so sehr in den ersten Tagen die unerwartete Erfüllung ihres Lieblingswunsches und der Einzug auf dem Hofe ihre Lebensgeister angefrischt und den Funken ihrer Kraft zu neuen Flammen angehaucht hatte, zeigte sich doch nur zu bald, daß dieser neuen Flamme der Stoff fehlte, um auszudauern, daß, je heller sie brannte, sie nur um so schneller den Rest desselben aufzehrte und dem Erlöschen immer näher zuflackerte.

Es war bald völlige Gewißheit, daß auch ihr letzter bei der Ankunft ausgesprochener Wunsch sich erfüllen werde: es sollte ihr vergönnt sein, an dem Lieblingsorte, von dem sie Genesung gehofft, die Heilung für immer zu finden und sich von der geliebten Gegend nicht mehr trennen zu müssen. Frau Schulze war davon auf’s Tiefste ergriffen und litt um so schmerzlicher, als sie ihre Besorgniß vor Alwinen, die, als ob sie das Bedenkliche ihres Zustandes nicht ahne, immer gleich heiter und liebenswürdig blieb, hinter einem stets lächelnden Antlitz verbergen zu müssen glaubte. Sie schrieb viele Briefe; andere kamen an und gaben ihr erwünschten Anlaß, vom Krankenbette der Tochter, das sie sonst nur selten verließ, wegkommen und ungestört sich ausweinen zu können. Niemand störte sie dabei; kein Mensch kümmerte sich, wohin die Briefe gingen und woher sie kamen; die Funkenhauserin beobachtete sie wohl, aber sie schwieg und litt mit der braven Frau, die, wie sie glaubte, den einzigen Sohn verloren hatte und nun in so kurzer Zeit ganz kinderlos werden sollte.

Der Einzige, der mit den Vorgängen auf dem Funkenhauserhofe nicht zufrieden und einverstanden war, war der Cooperator. Schon in den nächsten Tagen, als die unglaubliche Mähr sich im Dorfe verbreitete, die Preußen, die lutt’rischen Leut’, die in früheren Jahren auf dem Funkenhauser Hofe gewohnt, seien wieder gekommen und von der Bäuerin eigens zu sich hinaufgeholt worden, kam er ganz gegen seine sonstige Art in finsterer Hast herangeschritten. Die Bäuerin war eben beschäftigt, für Alwinen auf der Hausbank vor dem Hofe einen bequemen Ruhesitz aus Kissen zurecht zu machen, und die sonst so entschiedene Frau konnte sich einer leichten Befangenheit nicht erwehren, als sie den jungen Mann mit dem ernsten, streng blickenden Antlitz auf sich und auf das Haus zukommen sah. Dennoch war sie schnell wieder gefaßt, geleitete den dunklen Gast mit ehrerbietigen Bücklingen in’s Haus und wollte ihn an der großen Gesindestube, vor deren offenem Fenster sich draußen die Gröd mit der Bank hinzog, vorüber nach [691] ihrem Zimmer führen. „Laßt uns gleich hier eintreten!“ sagte der Geistliche ernst, indem er den Fuß in die geöffnete Thür setzte, obwohl die Bäuerin dagegen Einsprache that, daß das kein gerechter Platz sei für den hochwürdigen Herrn.

„Ihr errathet ohne Zweifel, was mich zu Euch führt,“ begann der Geistliche, nachdem sie hinter sich die Thür zugezogen, „ich habe es Euch schon bei unserem jüngsten Gespräche an der Kirche angedeutet. Leider war ich damals verhindert, die Sache durchzusprechen; allein hoffentlich ist dieselbe inzwischen durch Ueberlegung nur reifer geworden. Ihr wißt, es betrifft die Zukunft, das irdische wie das geistige Wohl Eures Kindes!“

Der Bäuerin, welche sich nichts Anderes erwartet hatte, als daß er sogleich wieder mit einer Strafpredigt wegen der Wiederaufnahme der Fremden beginnen würde, fiel es bei diesen Worten wie ein Stein vom Herzen. „Ich weiß schon, was Hochwürden meinen,“ sagte sie geläufig. „Es ist von wegen dem Klostergehen. Sie haben g’sagt, ich soll schauen, ob ich den Sinn meiner Tochter net erforschen kann.“

„Allerdings. Und habt Ihr Gelegenheit gefunden, das zu thun?“

„Jawohl, an der G’legenheit hat’s net g’fehlt; aber g’holfen hat’s nix. Sie will eben vom Klostergehen nix wissen. Es ist mir schon lieber, wenn Sie’s selber probiren und mit ihr reden; aber ich glaub’ allweil, viel werden S’ auch net ausrichten mit ihr.“

„Ich werde es versuchen,“ entgegnete der Geistliche, „obwohl das Zureden einer Mutter, der es Ernst ist mit der Sache, das Meiste vermöchte. Ihr hättet ihr eben eindringlicher zureden sollen. Ich wundere mich, daß trotz der schweren Heimsuchung, die über sie gekommen ist, ihr Sinn doch noch so sehr an der Welt hängt und an ihrer Eitelkeit.“

„No, das kann ich just net sagen, Hochwürden,“ sagte achselzuckend die Bäuerin. „Die Eitelkeit thut Unsereinem net viel, wenn man den ganzen g’schlagenen Tag arbeiten muß. Das Tonerl meint halt, sie könnt’ in der Welt auch brav sein und beten.“

„In der Welt!“ rief eifrig der Cooperator. „In dieser verderbten Welt, welche dem arglosen, unerfahrnen Gemüthe stündlich in hundert verschiedenen Gestalten der Verlockung erscheint, und die für jeden Fehltritt eine Verkleidung, für jedes Laster eine Entschuldigung bereit hat! Steil und schlüpfrig ist die Bahn, welche durch die Welt zum Heile führt. Sie ist wie ein über einen Abgrund gespanntes Haar, auf dem man wandeln soll, und nur die Verblendung kann es wagen, sich zu rühmen und zu sagen: Ich falle nicht! Der sorgt am besten für sein Heil, der diese Bahn gar nicht betritt, sondern sogleich einläuft in den Hafen der Ruhe und der Sicherheit!“

„Freilich wohl,“ entgegnete die Funkenhauserin. „Aber da müßten nachher alle Leut’ in’s Kloster geh’n, und das wird sich doch net gut machen lassen.“

„Wollte Gott, es gelänge, in Allen den Klostersinn zu erwecken! Den Sinn der Ergebung, die Erkenntniß der eigenen Hinfälligkeit, die stete Reue und Zerknirschung über die menschliche Verworfenheit, über den Gräuel unserer Sünden!“

„Sie müssen das freilich besser verstehen, Hochwürden,“ sagte die Bäuerin; „es ist ja Ihr Geschäft, aber ich kann mir net helfen, mir fällt dabei immer mein Seliger ein, mein Mann, der Mathies. Der hat g’sagt, die größte Straf’, die man Einem anthun könnt’ nach dem Gesetz, wär’ die, daß man ihn einsperrt auf seiner Lebtag, und da mein’ ich halt, so große und schwere Sünden wird mein Dirndl doch net auf’m G’wissen haben, daß sie eine so schwere Straf’ verdient hätt’.“

„Ihr scheint meiner spotten zu wollen,“ rief der Geistliche mit blitzenden Augen. „Ich sehe wohl, wie es mit Euch steht. In den Zeiten der Trübsal waret Ihr zerknirscht! Als die Hand des Herrn schwer auf Euch lastete, da trieb es Euch, ihn zu suchen; da waret Ihr bereit, meiner Mahnung zu folgen. Nun, da kaum noch das Gras über den Gräbern der Märtyrer und Opfer gewachsen ist, hat die Saat des Bösen die besseren Regungen in Euch schon wieder überwuchert.“

Der Bäuerin wurde es warm unter der Haube; sie rückte dieselbe hin und her. „Mit Verlaub, Hochwürden,“ – wollte sie sagen.

„Schweigt!“ rief er, sie unterbrechend, aus. „Macht keinen Versuch, Euch zu vertheidigen, wo Eure üble Gesinnung durch den Augenschein erwiesen ist! Habt Ihr nicht trotz meines Rathes, trotz meiner angelegenen Warnung die ketzerischen Preußen wieder in Euer Haus aufgenommen?“

„No, ich sollt’ doch meinen,“ sagte die Bäuerin in steigender Befremdung, „in meinem Haus sollt’ ich doch Herr sein!“

„Wohlan,“ fuhr er fort, „wenn Ihr denn in der Verstocktheit verharrt und die sanften Mahnungen nicht hört, sollt Ihr statt des schmeichelnden Rufes des Hirten dessen strafende Zornesworte vernehmen! Wer nicht hören will, muß fühlen. In Dingen Eures Seelenheils seid Ihr mir untergeben und Gehorsam schuldig. Kraft meiner geistlichen Macht trag’ ich Euch auf und befehle Euch, die Protestanten zu entfernen, durch deren Umgang Ihr zu dieser sträflichen Lauigkeit im Glauben verführt werdet …“

„Befehlen?“ sagte die Bäuerin. „Das ist sonderbar. Ich weiß net viel von dem, was Gesetz ist bei uns; aber ich hab’ doch sagen hören, daß’s bei uns im Baierland auch lutt’rische Leut’ giebt, und daß sie so gut sein sollen wie die Andern.“

„Das habt Ihr nicht zu untersuchen,“ rief der Priester gebieterisch. „Eure Sache ist, zu gehorchen, wenn Ihr nicht selber von Eurem Glauben abtrünnig werden wollt. Mögen die amtlichen Gesetze bestimmen, was sie wollen! Gesetze kann man wieder aufheben! Wer weiß, ob diese unglücklichen Verirrten von der reinen Heerde nicht wieder ausgeschieden werden können! Jedenfalls soll dafür gesorgt werden, daß sie, wo sie noch nicht sind, sich nicht einschleichen. Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen; denn es steht geschrieben –“

Mitten im Redeflusse unterbrach er sich selbst und blickte befremdet nach der Thür, welche sich leise geöffnet hatte. Alwine, welche durch die offenen Fenster die laut geführte Unterredung vernommen, stand auf der Schwelle im weiten, weißen Krankengewande, eine erhebende, Ehrfurcht gebietende Erscheinung, mit wallendem Haar und begeisterten Blicken, einer Verklärten gleich. „Es steht geschrieben,“ sagte sie mit feierlicher Stimme: „‚Liebet einander, meine Kindlein! Daran will ich erkennen, ob Ihr meine Jünger seid, daß Ihr einander liebet.‘ Sie, mein Herr, nennen sich einen Diener dessen, der so gesprochen? Sie tragen das Kleid eines Trägers seiner Lehre und predigen Haß! Ist das im Sinn und im Geiste Ihres Meisters gehandelt?“

„Ja,“ rief der Geistliche, welcher die augenblickliche Ueberraschung schnell überwunden hatte, „ja; denn die Liebe ist nicht jenes weichliche, weibische Gefühl, das die Welt so nennt; die Liebe ist stark und eifrig. Wer seine Pflicht thut, der übt die Liebe; denn wen der Herr lieb hat, den züchtigt er.“

„So spricht der Ewige von sich in der Fülle seiner Unendlichkeit,“ rief Alwine. „Er vermag, so zu thun; denn vor ihm liegt Alles ausgebreitet vom Beginn bis zum Ende. Er erkennt Ursache und Folge, er wägt Schuld und That, Wollen und Vollbringen gegen einander ab. Dem Menschen aber, dem schwachen Geschöpfe, dessen Dasein nur vom Morgen bis zum Abend währt, der nur das Nächste sieht, was vor ihm liegt und geschieht, dem hat er ein anderes Maß für das gegeben, was seine Pflicht sein soll; denn er sagt: ‚Liebe den Nächsten wie Dich selbst! Füge keinem Andern zu, was Du nicht willst, daß Dir geschehe!‘ Sie wollen uns aus diesem Hause, aus dieser Freistätte der Ruhe und des Glückes, welche uns gütige Menschen bereitet, verstoßen; – fühlen Sie nicht, daß die Waffe, die Sie führen, auch eine Schneide gegen Sie hat?“

„Die haben wir nicht zu fürchten,“ sagte der Kaplan gelassen. „Auf unserer Seite ist die Wahrheit.“

„Die Wahrheit? Wer bürgt Ihnen dafür? Wer dafür, daß unser Glaube falsch ist? Uns ist er nicht minder wahr als der Ihrige! Er hat Millionen beseligt, hat sie in allen Wechselfällen des Lebens ruhig und sicher geleitet, hat ihnen Trost und Zuversicht gegeben in der Sterbstunde… Wir glauben all’ an Einen Gott!“

„Und doch giebt es nur Eine Wahrheit.“

„Auch nur Ein Licht,“ rief Alwine feurig, „und doch leuchtet Gottes Erde in unzähliger Farbenpracht. Sagen Sie an, womit erproben Sie die Wahrheit?“

„Die Kirche lehrt, die Wissenschaft behauptet, die Geschichte beweist sie!“

„Dann müßte Gottes Walten hienieden übereinstimmen mit dem, was Kirche, Wissenschaft und Geschichte lehren. Thut es [692] das? Es stimmt nicht damit überein. Sind wir Ungläubigen von Gott gestraft, sind wir von ihm gezeichnet? Versagt er unseren Händen das Glück, das Gelingen, unserem Denken den Erfolg? sind unsere Saaten minder grün, unsere Ernten minder fruchtbar? Nein, der Ewige läßt Sonnenschein und Regen auch auf unsere Fluren herniederträufeln; er fragt nicht, wessen Glaubens der Säemann sei.“

„Das ist sein unerforschlicher Rathschluß,“ sagte der Geistliche nach einigem Zögern, „dem wir hienieden uns beugen müssen.“

„So thun Sie es,“ rief Alwine begeistert, „beugen Sie sich und versuchen Sie nicht, diesen Rathschluß zu durchdringen! Wenn er ein Geheimniß mit einem Schleier bedeckt hat vor irdischen Augen, so überlassen Sie es dem Ewigen, ihn aufzudecken! Greifen Sie ihm nicht vor und richten Sie nicht – Wir glauben All’ an Einen Gott.“

Das Gespräch war lauter geworden und hatte außer Toni auch einige der Hausgenossen herbeigelockt. Frau Schulze kam ebenfalls und wollte beruhigend dazwischen treten, aber Alwine hatte sie von sich gewiesen. Mit flammenden Augen stand sie da, einer Prophetin ähnlich, hoch aufgerichtet, wie in voller Lebenskraft; ihre Stimme klang so mächtig, als käme sie nicht aus einer kranken Brust, als entströmte sie einem Körper von ungebrochener Jugendfülle. Bald aber vermochte sie die ungewöhnliche Spannung nicht länger zu ertragen; die Schwäche des Körpers gewann die Oberhand über die Erregung der Seele. Mit den letzten Worten sank sie in die Arme der hinzu eilenden Mutter; erschrocken bemühten sich Alle, die Ohnmächtige in ihr Zimmer und auf ihr Lager zu bringen; Niemand achtete darüber auf den Kaplan. Als die Bäuerin nach dem ersten Schrecken sich nach ihm umsah, war er verschwunden. „Verzeih’ mir Gott die Sünde, wenn’s eine ist!“ rief sie, die Hände zusammenschlagend. „Aber ich bin fast froh, daß er fort ist. Das Fräulein aber kann reden, daß es Einem durch’s Herz geht. Schade, daß die kein Bub’ ’worden ist!“

Die ungewöhnliche Erregung hatte Alwinen heftiger ergriffen, als es anfangs den Anschein hatte; sie vermochte nicht mehr das Lager zu verlassen und bat nur, es so zu stellen, daß sie von demselben aus durch das Fenster sehen und einen Theil der Gegend überblicken konnte. Die meiste Zeit lag sie in einem ruhigen Schlummer der Erschöpfung da; außer der zunehmenden Kürze des Athems hatte sie wenig zu leiden – sanft, wie ihr Leben gewesen, schien auch der Tod ihr nahen zu wollen. Die Mutter verließ sie so wenig als möglich. Sie wollte keinen Augenblick verlieren; denn es war auch dem Unbefangensten klar, daß ihre Lebensdauer nur noch nach Stunden zu zählen war.

Wieder war eine Nacht unruhig und schmerzvoll vorübergegangen. Frau Schulze, dem unablässigen Bitten und Drängen nachgebend, war einen Augenblick zur Ruhe gegangen. Tonerl hatte ihre Stelle eingenommen und bewachte mit liebenden Schwesteraugen den sanften und doch heißathmigen Schlummer der Kranken. In der Zimmerecke verstellt, flimmerte die Lampe; draußen aber begann schon der Morgen, und obwohl es in den Thälern noch vollständig dunkel war, fing es über den Bergen nach Osten hin schon zu grauen an; denn nicht auf einmal quillt das Licht hervor: langsam und steigend entfaltet es seinen unwiderstehlichen Glanz, damit die sterblichen Augen lernen, sich daran zu gewöhnen, und nicht erblinden von dem plötzlichen Uebergang. Tiefes Schweigen herrschte in der Stube. Nur ein Nachtfalter war vom Lampenschein verlockt durch das wegen der Kühle offen gelassene Seitenfenster hereingeflattert; er vermochte nun den Ausgang nicht wieder zu finden, und zerstieß sich die immer matter werdenden Flügel an der Decke und an den dämmernden Glasscheiben. Toni sah ernst vor sich hin; die Hände im Schooße und in den Händen den Rosenkranz, hatte sie nach ihrer frommen Weise für die Andersglaubende gebetet und war darüber in Sinnen und Denken verfallen, daß ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft träumerisch ineinander flossen. Die Vergangenheit zog an ihr vorüber, wie ein flüchtiges Schiff, mit schönen, lichten Gestalten besetzt, dahin gleitet durch eine heitere Gegend voll Sonnenschein. Dann kam es herauf mit finsterem und immer düsterer werdendem Gewölk; das Gewitter brach los und brachte die Nacht und den Blitz, der die Gräber beleuchtete, und hinter diesen in trostloser Finsterniß gähnte der Abgruud der Zukunft. Ueber ihrem Sinnen gewahrte sie nicht, daß Alwine erwacht war und, ohne sich zu regen, sie lange mit den milden, seelenvollen Augen betrachtete. „Du bist bei mir!“ sagte sie endlich leise. „Das ist mir lieb. Ich hätte Dich schon lange gern allein gesprochen, um Dir für Deine Sorge und Liebe zu danken.“

„Wie können Sie so was sagen, Fräulein?“ erwiderte Toni. „Ich thu’s ja gern.“

„Deine Sorge,“ fuhr Alwine fort, „ist mir doppelt wohlthuend, weil gerade Du, wenn auch ohne unsere Schuld, durch uns den bittersten Schmerz erfahren hast. Du hast Deinen Bräutigam verloren. Es war klug und gut, daß wir von allem Geschehenen nie gesprochen haben; aber unter uns Beiden besteht kein Grund, weshalb wir davon schweigen sollten. Ich habe süß geruht, und ein freundlicher Traum hat mich erquickt. Mir war, als zögen wir aufwärts durch den Wald nach der Blümelalm. Ich saß zu Pferde und Ambros stand neben mir und wollte mir eben die Hand reichen, mich herunterzuheben, als ich darüber erwachte. Sein Gesicht war so hell und freundlich, wie ich es selten gesehen. Der Sturm in seinem Gemüth hatte ausgetobt und ein stiller Ausdruck der Versöhnung lag in seinen Zügen.“

„So ist er auch in die Ewigkeit hinübergegangen,“ sagte Toni. „Ihr Name, Fräulein, ist das letzte Wort gewesen, das er auf der Zunge gehabt hat. Die Erinnerung an Sie hat ihn im letzten Augenblick noch dahin gebracht, daß er Allen verziehen hat.“

„Er war ein guter Mensch,“ flüsterte Alwine, „ein trefflicher Kern, wenn auch in stachliger Schale. Ich freue mich, ihm drüben wieder zu begegnen, frei von der unseligen Heftigkeit seines Gemüthes, die hienieden sein Unglück war und auch seinen Tod herbeiführte.“

„Seinen Tod?“ fragte Toni verwundert. „Ich wüßt’ net, wie Sie das meinen.“

„Ich kann mir wohl denken, daß Du nicht erfahren hast, wie es in jenem entsetzlichen Augenblicke zuging, als sich die Beiden in der Schlacht begegneten. Mein Bruder hat Alles aufgeboten, einen Kampf zu vermeiden. Er vertheidigte sich blos; aber Ambros in seinem wilden Grimme stürzte auf ihn los und rannte sich selbst das tödtliche Eisen in die Brust.“

Toni saß unbeweglich, mit weit geöffneten, erwartenden Augen. „Was sagen Sie? Woher können Sie das wissen?“

„Mein Bruder hat es mir erzählt.“

„Ihr Bruder!“ rief Toni enttäuscht. „Freilich, der kann’s wohl wissen. O, ich weiß net, was ich drum geben wollt’, wenn’s so wär’, wie Sie sagen. Ich hab’s ihm nie verzeihen können, daß er den armen Menschen net verschont hat.“

„Er konnte es nicht. Ambros kannte sich selbst nicht mehr vor Wuth. Er glaubte sich von meinem Bruder betrogen; er glaubte, Günther habe ihm heimlich Dein Herz abwendig gemacht; er glaubte ihn von Dir geliebt.“

Dunkle Gluth überzog Toni’s Angesicht; sie vermochte nichts zu erwidern.

„Und er hat Recht gehabt, wie ich jetzt sehe,“ fuhr Alwine fort; „denn Dein Erröthen zeigt, was ich manchmal geahnt. Du liebst meinen Bruder wie er Dich.“

Sachte, und so gut sie es vermochte, rückte sie auf dem Kissen näher und streckte Toni die Hand entgegen, die sich schweigend darauf niederbeugte. „Sie mögen es in der Ewigkeit ausmachen,“ sagte sie dann, nach einem Augenblick der Sammlung sich erhebend. „Sie stehen ja alle zwei vor unserem Herrgott.“

„Wie sagst Du?“ rief Alwine staunend. „Alle Beide? Du hältst meinen Bruder für todt?“

„Nicht? Ist er nicht todt?“ schrie Toni und sprang auf in freudigem Schrecken über die unerwartete Botschaft. „Er ist nicht im Kriege geblieben? Er lebt?“

„Er lebt. Er konnte uns auf der Reise nicht begleiten, weil er den Verkauf unseres Gutes besorgen mußte. Es war verabredet, daß er nach Tirol nachkommen sollte.“

„Er lebt … lebt!“ stammelte Toni, indem sie die Hände an Stirn und Herz drückte. „Und ich hab’ um ihn geweint, wie um ein’n Todten, und hab’ mein schwach’s Herz gegen Sie verrathen! Aber wie is denn das möglich? Haben Sie denn net selber g’sagt, daß Sie einen gleichen Verlust erlitten haben wie wir? Gehen Sie net selber in der Klag’?“

„Der Bruder meiner Mutter, ein höherer Officier, ist gefallen. –

[693]

Die Martinsgans in Schwaben. Originalzeichnung von C. Offterdinger.

[694] Das ist auch die Ursache, warum wir das Gut verkauft haben.“

„Er lebt!“ flüsterte Toni wieder, welche sich noch immer von der Ueberraschung nicht zu erholen vermochte und eben beginnen wollte, zu fragen und weitere Aufklärung über Alles zu fordern, was ihr noch undeutlich und unmöglich schien. Da wurde von draußen durch den anbrechenden Morgen Geräusch von Schritten hörbar und Stimmen sich nähernder Menschen. „Heiliger Gott!“ rief sie auffahrend. „Die Stimm’ –“ sie wollte der Thüre zu, als dieselbe rasch geöffnet wurde und Frau Schulze hereineilte.

„Er ist da, mein Kind!“ rief sie. „Dein Bruder kommt, Dich zu sehen. Er hat meinen Brief erhalten. Bist Du stark genug? Darf ich ihn hereinführen?“

Die Kranke nickte nur mit seligem Lächeln. Ihr Blick hing an Toni, die wie verwirrt an dem nächsten Kasten stand, im Begriff zu entfliehen, und doch unfähig es zu thun. In demselben Augenblicke trat Günther in die Stube und flog mit ausgebreiteten Armen auf die Schwester zu, auf die er sich niederbeugte und sie mit heißen Küssen überdeckte. Auf der Schwelle, noch im Nachtgewande, blaß wie ein Geist oder Jemand, der einen vom Tode Erstandenen erblickt hat, stand die Funkenhauserin.

„Dank Dir, mein Bruder,“ flüsterte Alwine, „daß Du noch gekommen bist! Dank dem Himmel, daß er mir vergönnt, von Dir Abschied zu nehmen!“

„O, rede nicht so!“ rief Günther. „Noch ist die Gefahr nicht so dringend. Du wirst Dich wieder erholen.“

„Ich werde bald keiner Erholung mehr bedürfen,“ entgegnete sie matt. „Du kommst eben zur rechten Zeit. Vielleicht nur noch wenige Augenblicke, und Du hättest mich nicht mehr getroffen. Warum will Eure sorgliche Liebe mir verhehlen, was ich am besten fühle? Glaubt Ihr, daß ich mich vor dem Tode fürchte? Aber Du siehst ja nicht, Günther –“ fuhr sie mit schönem Lächeln fort. „Hier ist noch Jemand, den Du begrüßen mußt, – eine Freundin, die Dich todt geglaubt und als todt beweint hat.“

„Toni!“ rief Günther, sich gegen diese wendend, indem er ihr die Hand bot. „Du hier? Wirst Du meinen Gruß auch jetzt zurückweisen wie damals, als Du von jenem anderen Leidensbette kamst? Nein, Du wirst nicht – ich lese es in Deinen Augen! Du weißt jetzt, daß diese Hand schuldlos ist an jenem Blute. Die Versöhnung ist eingezogen in Deiner Brust; sonst träfe ich Mutter und Schwester nicht hier.“

Sie widerstrebte nicht, als er ihre Hand ergriff; Alwine winkte ihm lächelnd zu, mit Toni trat er an das Lager der Kranken. „Mutter,“ rief dieselbe, „komm’ hieher! Kommt her, Funkenhauserin! Du verlierst mich, liebe Mutter; für diese Welt müssen wir aus einander. Funkenhauserin, Ihr habt an Ambros so zu sagen einen Sohn verloren. Hier ist Ersatz für Euch Beide: Sohn und Tochter … Lasset diese gemeinsam Eure Kinder sein! Sie gehören einander ja längst, und sie wollen bei einander bleiben für’s ganze Leben; nicht wahr?“

Die Beiden antworteten nichts; aber sie sahen einander an, und wie vom gleichen Gedanken durchdrungen, sanken sie am Lager der Sterbenden in die Kniee.

„Aber das geht doch net,“ rief die Funkenhauserin, obwohl sie so ergriffen war, daß ihr dicke Thränen über die Wangen kugelten, „ein Stadtherr und eine Bauerntochter!“

„Ich verlange kein anderes Glück, als sie mir bieten kann,“ rief Günther.

„Ich kann sie auch net auf’m Hofe entbehren,“ rief die Bäuerin wieder; „ich kann sie net fort lassen von hier.“

„Das sollt Ihr auch nicht. Wir haben unser Gut verkauft. Wenn Ihr einwilligt, wollen wir bei Euch bleiben. Ich will ein Landmann sein mit Euch und nach dem Brauch Eures Landes. Ich will hier eine neue Heimath haben.“

„Aber es geht halt doch g’wiß und wahrhaftig net,“ schluchzte die Frau. „Vergeßt Ihr denn ganz und gar auf d’ Hauptsach’, auf den andern Glauben?“

„Mutter!“ rief Alwine. „Davon nichts mehr auf dieser Welt! Seht,“ fuhr sie, sich emporhebend, fort, indem die Mutter sie mit Kissen und Armen stützend unterfing, „die Sonne geht auf, herrlich, erhaben. Wohl mir, daß ich dich noch einmal sehe, seliges Gestirn des Lichtes!“ Sie breitete die Arme wie grüßend gegen die Sonne; dann tastete sie nach Günther’s und Toni’s Händen, legte sie fest in einander und schloß sie zwischen die ihrigen. „So verlobe ich Euch einander,“ sagte sie mit erlöschendem Tone. „Es ist Morgen; … liebet einander und seid glücklich … wir glauben all’ an Einen Gott.“

Ruhig, ohne Seufzer, ohne Zuckung glitt sie auf das Lager zurück und war entschlafen. Lautlos standen Alle um dasselbe gereiht; ihr Schmerz war zu groß, um Worte zu finden – wie ein frommer Spruch besagt, flog wirklich ein entschwebender Engel durch das schweigende Zimmer. –

Groß war der Andrang, als das fremde „lutt’rische“ Fräulein auf dem Kirchhof des Dorfes begraben wurde. Statt des Kaplans, der schnell abberufen worden war, um seines erprobten Eifers wegen ein Lehramt an einer geistlichen Erziehungsanstalt zu übernehmen, segnete der alte, edle Pfarrherr ihre letzte Ruhestätte ein, an der Kirchenwand, hart unter der Tafel, die an Ambros erinnerte. Der Pfarrer vollzog auch die Trauung, als unter noch zahlreicherem Zusammenströmen des Volkes das seltene Brautpaar zum Altare trat. Es war ein Ereigniß, wie es die ganze Gegend noch nicht geschaut, von Vielen mit unklarem Widerwillen betrachtet und mit heimlichem Groll; doch ging im Ganzen ein Gefühl der Befriedigung durch die offenen Gemüther des Landvolks: sie ahnten, daß wieder ein Kette weniger geworden auf Erden.

Einer der Fröhlichsten unter den Hochzeitsgästen war der alte Maler. „Es ist eine seltene Hochzeit, die wir feiern,“ rief er, als beim Mahle die Gläser an einander klangen. „Die Liebe hat zusammengeführt, was sich fremd und weit entfernt war; sie hat das Feindliche versöhnt – Liebe, die Zauberin, welche Abgründe überbrückt und Ewigkeiten ausfüllt! Möge sie immer mit diesem Paare sein, und sie wird es, wenn dasselbe nie verlernt, in dem großen Gebetbuche zu lesen, was vor ihr aufgeschlagen ist, – in der Natur! Ob der Süden oder der Norden uns geboren, die Herzen schlagen unter allen Himmelsstrichen denselben Schlag und sagen uns, daß wir Menschen sind, alle verschieden und doch einander so gleich, – Alle so vergänglich, daß jeder stündlich daran denken mag, den Andern als Menschen zu achten und gelten zu lassen, für sich allein und Jeden in seinem Volke. Wie schön ist der Grashalm, den der Frühling sprießen macht! Wenn allein betrachtet, ist er eins der erhabensten Wunder der Schöpfung; aber erst zu Millionen anderer gesellt, bildet er die herrliche[WS 1] Wiese! Schön ist der einzelne Baum mit den festen Wurzeln, dem kräftigen Stamme und der erhabenen Krone; aber die Herrlichkeit des Waldes ist höher als der Baum – im majestätischen Rauschen des Waldes hören wir Gottes Stimme! Viel und vielerlei sind der Bäume in ihm – Eiche und Buche, Laubholz und Nadelstamm, jedes soll wachsen nach seiner Art, frei und groß und doch wieder ein Theil des größeren Ganzen, denn miteinander machen sie ja erst den Wald! So steht es geschrieben im Buche der Natur, und ihm wollen wir folgen und in diesem Sinne dem Brautpaar doppelt Glück wünschen, dem Brautpaar, das uns vorangeht zur Versöhnung und zur Eintracht!“

Nach einigen Tagen stand die junge Frau nachdenklich unter der Thür des Funkenhauserhofes und sah in die Gegend hinaus. Günther trat hinzu. „Ich habe das Buch, das ich Dir im vorigen Jahre schenkte, noch nicht bei Dir gesehen, meine Liebe!“ sagte er. „Gieb es mir, damit ich den schwarzen Einband ändern lasse.“

Toni sah ihn lächelnd an. „Nein,“ sagte sie, „ich will’s net ändern lassen; es soll schwarz bleiben aus einem guten Grund. Ich will’s als ein Andenken und als ein Wahrzeichen dazu! Aber Du schau’ da hinaus in den Himmel über uns! Siehst, wie schön rein und klar er ist? Das Gewitter ist vorbei, und das Weiß und Blau ist doch stehn ’blieben!“ – –

Wo der Funkenhauserhof liegt? Das muß mich der Leser nicht fragen. Genug, daß ich ihn im Geiste dahingeführt und ihm zur Bekanntschaft eines glücklichen Paares verholfen habe. Mancher könnte in Versuchung kommen, dasselbe kennen lernen und die schöne Gegend, wo sie hausen, aufsuchen zu wollen. Ich denke aber, es ist besser, sie bleiben allein mit ihrem jungen und so neuen, gewiß aber dauernden Glücke.




[695]
Die Martinsgans.
Mit Abbildung.

Es ist ein frostiger Novembermorgen. Die Berge haben die grauen Nebelkappen tief über die Ohren gezogen; still wie im Vorschlummer auf den Winter ruht mit bleichem Lächeln die Flur. Durch den entlaubten Hag huscht der muntere, anmuthige Gnom der deutschen Vogelwelt, der Zaunkönig, während der Edelfink auf blätterlosem Zweige klagend trauert um Frühling, Minne und um die entflohene Gattin, welche der Wanderzug nach milderen Gefilden getrieben.

Im ländlichen Gehöft dort ist es schon lange lebendig. Jetzt tritt der Hausherr aus der Thür, doch nur mit flüchtigem Blick späht er heute nach Wind und Wetter. Wichtigeres beschäftigt ihn. Er schreitet über den Hof, öffnet einen verschlossenen Raum, und alsbald verkündet fröhliches Geschnatter, welchen Gefangenen er die Kerkerthür geöffnet. Wohlgefällig ruht das Auge des Landmanns auf den feisten Gänsen, und ehe die Aermsten sich dessen versehen, ergreift seine rauhe Hand zwei der Arglosen an den schönen gebogenen Hälsen, und er trägt, ungeachtet ihres Sträubens, die kläglich Trompetenden dem Hause zu, von wo ihm die Bäuerin entgegenkommt und sein ältester flachshaariger Junge mit einem mächtigen Butterbrod in der Hand. Auch der Knecht und die Magd eilen herbei, das ehrwürdige Antlitz Großmütterchens zeigt sich am Fenster, und Allen läuft das Wasser im Munde zusammen; denn bald wird lieblicher Duft das Haus erfüllen, heute ist der elfte November, den Tisch ziert Mittags die mit köstlicher brauner Kruste überkleidete, fettglänzende Martinsgans. Und Großmütterchen, das Fenster öffnend, mahnt, doch ja die Borsdorfer Aepfel und den Beifuß nicht zu vergessen.

Die Martinsgans ist das Festgericht des elften November. An keinem andern Tage werden unter den „geflügelten Schweinen“ in germanischen Landen so arge Verheerungen angerichtet. Nur in wenigen Gegenden entzieht man sich der allgemeinen Sitte, z. B. am Niederrhein, wo frische Wurst mit Reisbrei, oder an der Ahr, wo „kalte Milch und Wecksupp“ an die Stelle der Gans treten.

Welchen Ursprung aber mag ein Gebrauch haben, der fast über das ganze germanische Europa verbreitet und deshalb wohl geeignet ist, unsere Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen?

Der elfte November ist der Tag des heiligen Martin; doch weder dessen Lebensbeschreibung noch der Auszug daraus in der Aurea Legenda geben Aufschluß über die wunderliche Verbindung zwischen dem ehrwürdigen Bischof von Tours und einem ganz gewöhnlichen Gänsebraten. Der Heilige wird hoch zu Roß abgebildet; die Gans aber ist ein „Cavalerist zu Fuß“, wie sie Masius wegen ihres watschelnden Ganges treffend nennt. Erst spätere Sagen melden, der Heilige sei durch Gänse im Predigen gestört worden, oder, wie Andere wollen, er habe sich, als er sehr jung zum Bischof gewählt werden sollte, aus Bescheidenheit im Gänsestalle versteckt, sei jedoch durch das Geschnatter der befiederten Inwohner verrathen worden. Hierauf spielt die „Einladung zur Martinsgans“ in „Des Knaben Wunderhorn“ an:

„Wann der heil’ge Sanct Martin
Will der Bischofsehr’ entflieh’n,
Sitzt er in dem Gänsestall,
Niemand find’t ihn überall,
Bis der Gänse groß Geschrei
Seine Sucher führt herbei.

Nun dieweil das Gickgackslied
Diesen heil’gen Mann verrieth,
Dafür thut am Martinstag
Man den Gänsen diese Plag’,
Daß ein strenges Todesrecht
Geh’n muß über ihr Geschlecht.“

Eine weitere Erklärung versucht die Verbindung des Bischofs mit der Gans davon herzuleiten, daß bei der Beerdigung desselben, am 11. November 402, die stattliche Anzahl von zweitausend Mönchen zugegen gewesen und bei dieser Gelegenheit eine ungeheure Menge von Gänsen aufgezehrt worden sei. Noch Andere meinen, die Zeit der fetten Gänse treffe gerade mit Martini zusammen, der Bischof stehe aber in keiner nähern Beziehung zu ihnen, außer daß früher an dem ihm geweihten Tage Gänse in die Klöster geschenkt worden seien. Letzterer Deutung schließen sich bereits alte Priameln an: „Iß gens Martini, wurst in kesto Nicolai!“ Nicht weniger ist der biedere kaiserlich gekrönte Poet und Pfarrer zu Effelder und Meschenbach[WS 2], Büttner, der Meinung, man gehe den Gänsen deshalb um Martini an den Kragen,

„Weil sie alsdenn recht flück’ im vollen Fleische steh’n,
Auch von der Weide ab- und in die Ställe geh’n,“

wozu der Most komme, der den Gänsebraten vorzüglich hinunterspüle.

Doch alle diese Erklärungen können nicht genügen. Der Sitte Ursprung ist ein ganz anderer; nicht christlichem Boden ist sie entwachsen, sondern wurzelt, um es sogleich zu sagen, im Götterglauben unserer Voreltern. Dahin deutet schon eine flüchtige Zusammenstellung dessen, was der Brauch am Martinstage zu beobachten gebietet. Merkwürdige Züge treten uns in diesen Gebräuchen entgegen. Im Böhmerwalde z. B. trinkt das Landvolk sich am Martinstage Schönheit und Stärke zu. War aber nicht ganz dieselbe Sitte bereits an den Wuotansfesten der heidnischen Deutschen üblich? In Schlesien, Böhmen, Sachsen und Schwaben bäckt man zu Martini die sogenannten „Märtenshörnchen“. Hat man aber in diesen gleich den Brezeln der Fastenzeit nicht schon längst einen Rest uralter Opferspeisen nachgewiesen? Am Niederrhein loderten noch zu Anfang dieses Jahrhunderts am Vorabend des Martinstages riesige Feuer auf allen Höhen zum nächtlichen winterlichen Himmel empor, und noch jetzt entzündet man hin und wieder an jenem Abend gewaltige Scheiterhaufen. Zu diesem „Martinsfeuer“ bettelt die Jugend singend Holz und Stroh; als dankenswerthe Zugabe sieht man Aepfel, Kuchen, Würste, Speck und Rauchfleisch an und heischt sie ohne Ziererei. Dem Gewährenden wird ein Danklied gesungen, dem Geizigen dagegen Uebles gewünscht in einem Reime, welcher schließt:

„Und eine Eule fliegt um’s Haus,
Die kratzt ihm noch die Augen aus.“

Sobald das Martinsfeuer entweder im Dorfe oder auf einer nahen Anhöhe mit seinen rothen Flammen die Umgebung beleuchtet, erhebt sich um dasselbe wildjubelnder Reigen, und „Sanct Märten“, ein in Stroh gehüllter Bursch, umreitet auf seltsamem Rosse – einem vorn mit einem Pferdekopf gezierten Stecken – den glühenden Scheiterhaufen. Wunderkräftig ist, nach dem Volksglauben, die Asche, die vor Schneckenfraß schützen soll und deshalb über die mit Winterkorn besäeten Felder gestreut wird. Rechnet man hinzu, daß der heilige Martin auf alten Bildern als Ritter zu Roß und angethan mit einem langen, weißen Mantel dargestellt wird, und daß die im Herbst ziehenden Raben und Krähen nicht blos Martinsheerden oder Martinsvögel, sondern sogar Godes-, d. h. Wodes oder Wuotanshühner genannt werden, so bleibt kaum ein berechtigter Zweifel übrig, daß wir in dem frommen Rittersmanne Martin keinen anderen, als den gewaltigen Himmelsriesen und Göttervater Wuotan selbst, und in der Rolle, die er dabei spielt, Anklänge an die Vorfeier des altdeutschen Mittwinterfestes vor uns haben. Man vergegenwärtige sich zum bessern Verständniß Folgendes.

Als die alten Götter noch nicht vor den siegreichen Strahlen des andringenden Christenthums erbleicht waren, bestand ein großer Theil des Cultus in dramatischen Darstellungen, welche Götterthaten verherrlichten. Wenn daher, nach Bestellung der Wintersaat, um Martini eine Art Vorfeier zum Jul-Fest begann, „da zogen die Götter zu Wagen und zu Roß durch die Gauen, empfingen Opfergaben und spendeten Segen dem keimenden Getreide. Es war ein frommer Mummenschanz, bei welchem das menschliche Wesen Derer, die ihn aufführten, dadurch angedeutet war, daß sie sich in weiße Gewänder, in die Farbe des Lichts kleideten.“ Unter den Opferspenden nahm, wie bei den Opfern überhaupt, die Gans, deren Zucht frühzeitig in Deutschland betrieben wurde, eine hervorragende Stelle ein. An die Gotterumzüge und Opfer schlossen sich Schmausereien an, bei welchen das Fleisch der Opferthiere verzehrt und deren vom Priester aufgefangenes Blut dem Meth beigemischt getrunken wurde. Mit Einführung des Christenthums verwandelten sich die Götter in Teufel und grauenvolle Spukgestalten oder in Heilige, und so wurde auch frühzeitig Odhin’s Walten auf Sanct Martin übertragen, wobei das Odhin dargebrachte Opfer, die Gans, folgerichtig als Martinsgans sich vererbte und [696] das ehemalige Opfer der gehörnten Thiere durch die Martinshörner angedeutet wurde, während die gewaltigen Feuer, welche einst dein Anfang einer neuen Jahreszeit entgegen loderten, vom Volk den Namen „Martinsfeuer“ erhielten.

Die Gans ist also ein Opferthier, und wenn sich in Frankreich lange die Sitte erhielt, an der Kirchweih auf dem Lande eine Gans aufzuhängen und langsam zu Tode zu martern, so wiederholte hier christlicher Brauch nur grausam, was der heidnische Cultus in minder qualvoller Ausführung vollzog. Auch bei den Römern war die Gans Opferthier und wurde der als Nebenbuhlerin von der Juno verfolgten Io (Isis) dargebracht. Möglich ist es immerhin, daß dieser Cultus von Rom nach Germanien sich verpflanzte, und da man in Rom vorzugsweise die Leber opferte, wird, als in Deutschland die Opfer zu Mahlzeiten wurden, wohl auch dieser Leckerbissen den Beiwohnenden trefflich gemundet haben. Bei solchen Opfermahlzeiten, später auch bei häuslichen Gelagen, war es nun Brauch, der Götter „Minne“, d. h. ihr Gedächtniß zu trinken. Diesen Brauch, den „Minnetrunk“, wollte man auch in christlicher Zeit nicht aufgeben, nur traten auch hier Heilige an die Stelle der Götter, so Sanct Martin, dessen Trunk, der „Martinstrunk“ oder „Martinswein“, hier und da als Sitte bis zur Gegenwart gekommen ist. Man veranstaltete nun auch Lustbarkeiten und Schmausereien zu Ehren des an Odhin’s Stelle getretenen heiligen Martin, doch zu dessen Nachtheil; denn diese mit Ausschweifungen aller Art verbundenen Gelage brachten den Bischof allmählich in den wenig beneidenswerthen Ruf eines Schlemmers, so daß in der Folge Jeder, der sein Hab und Gut verpraßt hatte, ein „Martinsmann“ genannt wurde. Im Französischen erinnern an sie noch die Ausdrücke martiner und faire la St.-Martin, d. i. schmausen, und mal de St.-Martin, d. i. verdorbener Magen. Zu seinem Gedächtniß entstanden besondere Brüderschaften, „Martinsgilden“, die sich bei ihren geselligen Zusammenkünften eigener Lieder bedienten, um das Fest und das Mahl zu verherrlichen. So sang man:

„O Marten, o Marten!
Der Korb muß verbrannt sein,
Das Geld aus den Taschen,
Der Wein in die Flaschen,
Die Gans vom Spieß!“ u. s. f.

So erniedrigte rohe Völlerei den Heiligen zum Schutzpatron der Trinker. Dabei galt Sanct Martin zugleich als Patron der Freigebigkeit, und namentlich in den Niederlanden tritt er als Beschenker der Kinder auf. Die Legende erzählt, daß er einem ihm begegnenden Bettler, um ihn gegen Kälte zu schützen, die Hälfte seines Mantels gegeben habe. In den Ländern, welche Weinbau treiben, herrschte früher der Brauch, an Martini den ersten Wein zu kosten, weshalb es sprüchwörtlich heißt: „Heb’ an Martini, trink Wein per circulum anni!“ Der Volksglaube behauptet nun, der heilige Martin verwandele den Most in Wein, ja die Kinder der Halloren in Halle rangiren ihn noch höher, indem sie ihn das Wunder Christi bei der Hochzeit zu Kana nachahmen und Wasser in Wein verwandeln lassen. Sie stellen daher am Martinstage Krüge mit Wasser in die Saline, welches die Eltern heimlich ausgießen und die Gefäße dafür mit Most füllen. Auf jedes wird ein Martinshörnchen gelegt und Alles wieder sorgsam versteckt. Die Kinder bitten, auf das Geheiß der Eltern, den „lieben Martin“, daß er das Wasser in Wein verwandele, worauf sie sich Abends in die Saline begeben und die Krüge suchen, indem sie rufen:

„Marteine, Marteine,
Mach das Wasser zu Weine.“

Zu der Sitte tritt noch die blaue Wunderblume der Sage, welche vielfach Spuren der Beziehung der Gans zu Whotan trägt. Als weissagendes Thier galt die Gans schon den alten Briten, welche Flug und Geschrei unsers Vogel deuteten. Der Volksglaube des Mittelalters erblickte in der Mißgestalt junger Gänse, etwa einer solchen mit drei Füßen, ein Unheil verkündendes Vorzeichen; noch heute aber wird das Brustbein der Martinsgans benutzt, um die Witterung des bevorstehenden Winters zu erfahren: ist es weiß, wird es strenge Kälte, ist es dunkel, viel Schnee und laues Wetter geben.

Alles dies deutet auf ein hohes Alter der damit zusammenhängenden Sitte, am Martinstage eine Gans zu essen, d. h. zu opfern. Urkundlich wird die Sitte 1171 zum ersten Mal erwähnt, wo Othelrich von Swalenberg (Ulrich von Schwalenberg) der Abtei von Corvei am Tage St. Martini eine silberne Gans widmete „für die Fraternität“, d. h. dafür, daß ihn Mönche ihrer bruderschaftlichen Gebete theilhaftig gemacht hatten, ganz wie es noch heutzutage an einigen Orten in Schwaben üblich ist, den Lehrern ein Geschenk für die Martinsgans, die ihnen sonst in natura geliefert wurde, zu machen; doch wird auch die Gans selbst dargebracht.

Die „Märtesgans“ ist in Schwaben ein Fest für sämmtliche Volksschulen. Schon ungefähr acht Tage vor Martini regt es sich geheimnißvoll unter dem jungen Völkchen in den Schulstuben, Knaben und Mädchen wispern heimlich miteinander, und ebenso heimlich werden Liebesspenden gesammelt; der Lehrer darf es aber beileibe nicht merken, denn es gilt, ihm eine Freude zu machen. Einige größere Schüler und Schülerinnen nehmen die Sache in die Hand und besorgen die Einkäufe. So sieht Alles voll Erwartung dem Martinstage entgegen. Ist dieser endlich erschienen, so werden dem Lehrer im Beisein der ganzen Schule und im Namen sämmtlicher Schüler und Schülerinnen die für ihn bestimmten Geschenke überreicht: vor Allen eine prächtig aufgeputzte Gans und der zum Mästen derselben erforderliche Mais, ferner Wein, Trauben und ein möglichst großer Kuchen oder „Heffenkranz“. Laut und lauter wird alsbald die Freude – die Kinder hängen sich an Hand und Arm des geliebten Lehrers, und schnattert einmal die Gans, gleichsam theilnehmend an der allgemeinen Lust, dazwischen, so erhebt sich allenthalben fröhliches Gelächter. Zum Schluß werden sämmtliche Gaben in des Lehrers Wohnung abgeliefert. So sehen wir den uralt heidnischen Gebrauch in der christlichen Volksschule der Gegenwart in geläuterter Gestalt sich fortspinnen – ein sinniges „Opfer“ mit dem ganzen unaussprechlichen wohlthuenden Reize kindlichfröhlichen Gebens. Im Mittelalter lieferte frommer Glaube fette Gänse an noch fettere Mönche; den hin und wieder noch sehr mager besoldeten Volksschullehrern sind sie unstreitig weit dienlicher.

Wenn wir uns heute an den Tisch setzen, um der Martinsgans ihr Recht widerfahren zu lassen, fühlen wir uns in unserm protestantischen Gewissen durchaus nicht beunruhigt. Ehemals glaubte man hierbei mit größerer Vorsicht zu Werke gehen zu müssen. Thomas Neageorgius und Andere verurtheilen mit heiligem Ingrimm das Essen der Martinsgans als „papistischen Unfug“, ja, Martinus Schockius wirft im Ernste die Frage auf, ob es erlaubt sei, am Martinstage eine Gans zu speisen. Milder urtheilen die Lutheraner, weil der große Reformator den Namen des Heiligen von Tours trägt.

Bedeutsamer als der Gegenwart mußte die Sitte früher erscheinen, zu einer Zeit, wo dem Vogel des heiligen Martin auch medicinische Eigenchaften zugeschrieben wurden. Der biedere Büttner reimt in seinem „Lobgedicht auf die Gänse“:

„Man pflegt auch von der Gans Arzneyen zu bereiten,
Mit Gänse Schmalz und Blut hilft man gar vielen Leuten.
Die Gall’, der Koth, die Zung’, die Leber und die Nier’n,
Die Fußhaut, Eingeweid’ sind gut sammt dem Gehirn.“

Für besonders heilkräftig wurden namentlich die „Platschen“ angesehen. Das Fett sollte gegen den Krampf, das Blut wider Gift dienlich sein, Gänsekoth gegen Gelb und Wassersucht sowie gegen den Scharbock helfen! Heutzutage glaubt Niemand mehr an solche Heilmittel; höchstens nimmt der Volksglaube zur Gans seine Zuflucht, wenn ein Kind von einer solchen gebissen worden und heftig erschrocken ist – die üblen Folgen abzuwehren, wird der Uebelthäterin eine Feder ausgezogen, zu Asche gebrannt und das Pulver dem Kinde eingegeben. Aber ist auch der Nimbus der Heilkräftigkeit längst dem Vogel des heiligen Martin entzogen: noch immer wird das zarte Fleisch einer jugendlichen Gans geschätzt und ihre Leber bildet das Entzücken aller Feinschmecker.



[697]
Mirabeau in Berlin.

Es war am 20. Juli 1786, als dem französischen Gesandten in Berlin, dem Grafen Esternon die Karte eines Landsmannes überreicht wurde, der, von Paris kommend, einige Zeit in Berlin zu verweilen gedenke. Auf der Karte stand: „Honoré Gabriel Riquety, comte de Mirabeau.“ Esternon hatte kaum den Namen gelesen, als er sich unwillig zu seinem Secretär wandte und ihm sagte: „Melden Sie dem Herrn Grafen mein Bedauern; Geschäfte machen es mir unmöglich, ihn zu empfangen, und,“ setzte er hinzu, „bringen Sie das Alles mit einer so abweisenden Miene vor, daß er das Wiederkommen vergißt.“ Etwas erstaunt führte der Secretär den Befehl aus; als er zurückkam, setzte ihm sein Herr huldvollst die Gründe dieses Verfahrens auseinander.

Der Graf von Mirabeau war in den Kreisen des Hofes und des Adels nicht beliebt, den Einen war er zu bedeutend, den Andern zu verrufen, und in der That, seine Vergangenheit giebt so recht ein Bild der damals herrschenden Verwirrung aller sittlichen Anschauungen.

Er entsprang einer altadeligen Familie. Sein Vater, der Marquis Mirabeau, war einer jener verschrobenen Nationalökonomen, die unter der Maske biederer Grobheit die feilste Gesinnung verbargen: eine vierzehntägige Ungnade brachte ihn fast zur Verzweiflung. Seine Frau trennte sich von ihm, als er ihr seine Geliebte zur Gesellschafterin aufdringen wollte, und hieraus entsprang ein scandalöser Scheidungsproceß, in welchem der Marquis seine Frau und seinen Sohn, der für die Mutter auftrat, mit den schmählichsten Verleumdungen überhäufte. Der junge Mirabeau hatte nie an ihm einen zärtlichen Vater gehabt; der Marquis schrieb einmal über seinen Sprößling: „Dieses Kind gleicht nicht übel dem Policinell, denn es ist ganz Bauch und Rücken, es scheint mir Talent zu einer Schildkröte zu haben: es zeigt den Rücken und läßt sich schlagen.“ Fünf Jahre, von 1767 bis 1772, that der Graf Militärdienste; dabei begegnete es ihm, daß er im Spiel vierzig Louisd’or verlor und seinen Obersten in der Gunst einer Dame ausstach, für Beides steckte ihn sein Vater vermittelst eines lettre de cachet in’s Gefängniß auf der Insel Rhé. Darauf kam Mirabeau junior mit seinem Regiment nach Corsica. Hier begann er Geschmack an seinem Berufe zu finden und erwarb sich Kenntnisse. Als aber der Papa dies merkte, nahm er ihn nach Hause, um ihn „rural“ zu machen, d. h. ihn zu verbauern. Zu dieser Zeit verwandelte sich die Abneigung des Vaters in unversöhnlichsten Haß, der gewiß einzig in seiner Art ist: der Marquis wurde auf die Begabung seines Sohnes eifersüchtig, er fürchtete, von ihm verdunkelt zu werden! Der Ehezwist vollendete den Bruch.

Nun beginnt die eigentliche Leidens- und Festungsperiode des jungen Mirabeau. Auf nicht sehr ehrenhafte Weise gewann er die Hand einer reichen Erbin, jedoch ohne einen Thaler Mitgift. Auf seinem kleinen Gute spielte er nun den großen Herrn, bald hatte er hundertsechszigtausend Franken Schulden. Sein sehr reicher Vater ließ den Sohn unter Vormundschaft stellen und in das Schloß If bringen, wo er in kargem Gewahrsam büßen und bereuen sollte. Er that dies zwar nicht, aber etwas Anderes: er verführte die Frau des Gefangenwärters. Dies wurde ruchbar, der gekränkte Ehemann schlug Lärm, und Mirabeau wurde auf eine einsame Festung im Jura versetzt. Das Schloß Joux, das war der Name des neuen Verwahrungsortes, war aber in der Nähe des Städtchens Pontarlier; der Graf erhielt die Erlaubniß, die Gesellschaft des kleinen Ortes zu besuchen, und machte bald die nähere Bekanntschaft der zwanzigjährigen Frau des siebzigjährigen Herrn von Monier. Er entfloh mit seiner Geliebten erst nach der Schweiz, dann nach Holland. In Amsterdam ließ sich das Pärchen nieder, und es ist wirklich rührend, wie der Graf Alles aufbietet, um sich eine bescheidene Existenz zu verschaffen. Er lebte von literarischen Arbeiten, die sein damals schon berühmter Name empfahl. Als er aber eines Abends nach Hause kam, fand er seine Sophie in den Händen französischer Polizeiagenten, die ihn nun auch mitnahmen, obgleich das nicht in ihrer Instruction stand. In verschlossenem Wagen brachte man sie über die Grenze, in Paris wurde die junge Frau in ein Kloster gebracht, ihr Verführer aber nach dem Gefängnisse zu Vincennes. Vier Jahre blieb er daselbst und schrieb geistreiche Briefe an seine Sophie, die zu seinen besten schriftlichen Leistungen gehören, selbst in Versen versuchte er sich und bewies durch sie, daß ihm die Natur nicht alle Talente verliehen habe. Durch ein gerichtliches Urtheil wurde er der Entführung schuldig erklärt und in effigie umgebracht. Nach seiner Entlassung strebte er eine Revision des Processes an, doch ohne großen Erfolg.

Seine Gattin, die ihm ohnehin nur mit halbem Herzen die Hand gereicht hatte, lebte auch nach seiner Freilassung von ihm getrennt. Von aller Welt gemieden, von seinen Blutsverwandten verstoßen, ohne Hülfsquellen, aber doch stolz auf seinen Adel, zersplitterte Mirabeau nun seine Gaben in allerlei Gelegenheitsschriften, die ihm dürftiges Honorar, aber reichliche Feinde einbrachten. In einem Processe mit seiner Gemahlin entwickelte er zum ersten Male seine Rednergabe, die ihm eine ehrenvolle Stelle in der Geschichte verschafft hat. Der Advocat seiner Gegner zerbrach in Verzweiflung den Stift, mit dem er sich Notizen gemacht hatte, seine Gemahlin selbst wurde zur Bewunderung hingerissen.

Einige Bekanntschaft mit den Ministern Vergennes und Calonne erweckte in ihm die Hoffnung, in Staatsdiensten emporzukommen; er suchte nur die Gelegenheit, seine Talente anwenden zu können, des Erfolges war er gewiß. Schon hier zeigt sich das Verhängniß, das in spätern Jahren so erschreckend hervortritt: der Hof stieß mit Ekel den einzigen Menschen zurück, der es sich zur Lebensaufgabe machte, das Königthum zu retten, den Einzigen, dem dies vielleicht möglich war. Auf unablässiges Drängen erhielt er endlich eine geheime Sendung nach Preußen, doch ohne jede Vollmacht oder Beglaubigung; man willfahrte ihm, um ihn los zu sein.

Diesmal hatte also Graf Esternon einen Fehler begangen, der ihm auch einen Verweis des Ministeriums zuzog. Mirabeau war gekommen, um im Interesse des französischen Staates den großen Proceß zu beobachten, der sich eben vollzog: den Uebergang des Staatsruders aus den Händen Friedrich’s des Zweiten in die seines Neffen. Nebenbei sollte er auch andere Länder seiner Aufmerksamkeit würdigen und Fäden anknüpfen, die sich gegebenen Falles zu einem artigen Netze verweben ließen.

Der französische Gesandte war wohl nicht sehr entzückt, als er dem Mann mit dem berüchtigten Namen in einer großen Audienz den Zutritt in die höchsten Kreise formell eröffnete, und auch hier stieß Mirabeau auf manches Gesicht, das sich unwillig verzog, wie es den Fremden gewahr wurde. Man hatte überhaupt die Sendlinge der großen Nation ein für allemal satt bekommen; unter dem verstorbenen Könige waren sie lange genug mächtig gewesen, um sich vollständig verhaßt zu machen. Ueber die Unverschämtheit dieser welschen Glücksritter hielten sich selbst ihre Landsleute zuweilen auf, und in den Briefen jener Zeit ist uns mancher bezeichnende Zug erhalten worden. So fragte einmal einer dieser Edelleute den kriegsberühmten und allbekannten Feldherrn Friedrich’s des Zweiten, den Herzog von Braunschweig: „Beiläufig, Sie, haben Sie auch gedient, Monseigneur?“ Der Gleiche meinte, als ihm der Kurfürst von Sachsen seine Edelsteine zeigte, bekanntlich die reichste Sammlung in ganz Europa: „Sehr artig, gewiß, sehr artig; wie viel hat Sie das gekostet?“ Ein anderer dieser Muster französischer Höflichkeit sah in Prag den Truppen zu, die ihrem Kaiser zu Ehren manövrirten, und schüttelte schließlich dem erstaunten Monarchen freundlich die Hand, freute sich, seine Bekanntschaft zu erneuern, und sprach sich sehr anerkennend über die Tüchtigkeit der kaiserlichen Soldaten aus. Einige Wochen später saß er in Berlin an der Tafel des Kronprinzen, als das Gespräch auf einen[WS 3] seiner Freunde kam; plözlich fährt der Franzose in die Tasche, reißt einen Brief heraus und wirft ihn quer über den Tisch dem Prinzen zu mit den Worten: „Ach, ich hätte es beinah vergessen! Da habe ich Ihnen etwas von ihm abzugeben!“

Traf also Mirabeau auf ungünstige Vorurtheile mancher Art, so wurden diese durch seine äußere Erscheinung nicht gehoben. Er war von hoher, breitschultriger Gestalt; das ohnehin übergroße Haupt wurde durch eine riesige Frisur in’s Ungeheuerliche vergrößert; die Gesichtszüge hatten die Blattern schon in seinem dritten Jahre entstellt. Sein Kleid war mit farbigen Knöpfen [698] von unmäßigem Umfange besetzt, desgleichen seine Schuhe. Die ganze Toilette zeigte eine übertriebene Nachäffung der Tagesmode. Er wollte sich höflich zeigen und übertrieb seine Verbeugungen; seine ersten Worte waren gespreizte und ziemlich gewöhnliche Complimente.

Mirabeau schildert uns das neue Regiment in scharfen, aber nicht ungerechten Zügen. Der König war in den Händen des Sachsen Bischoffswerder und des Preußen Wöllner, die ihn mit sanfter Mystik zu verdummen begannen; seine Geliebte war damals ein Fräulein von Voß; die Intriguen, die ihr die zweifelhafte Ehre einer morganatischen Ehe verschaffen sollten, nehmen einen nicht geringen Theil der Berichte des Franzosen ein. Mit den französisirenden Einrichtungen, mit den Monopolen und Verpachtungen Friedrich’s des Zweiten wurde auch sehr viel Gutes über Bord geworfen, durch die Bevorzugung seiner Landsleute machte Bischoffswerder sich und den König verhaßt. Ein Regiment, dem man einen sächsischen Grafen Totleben als Major zuschickte, „um den Dienst zu lehren“, schrieb zurück: „Hat man uns den Herrn von Totleben geschickt, um uns zu unterrichten, so ist dies eine Erniedrigung, die wir nicht verdient haben und nicht ertragen werden; soll er aber sich unterrichten, so kann er nicht als Major eintreten!“ Vor dem geheimnißvollen Treiben der Geistesumnebler konnten die ehrlichen Feldsoldaten der vergangenen Zeit nicht Stand halten, sie fielen sämmtlich in Ungnade. Ja, es kam so weit, daß selbst in bürgerlichen Kreisen der große Todte klein gemacht wurde. Der französische Spion Mirabeau lehrt diese Deutschen deutsch denken, indem er ausruft: „O, wenn seine großen Augen, mit denen er nach dem Belieben seiner Heldenseele verführte oder schreckte, sich einen Augenblick wieder öffneten, – hätten sie den Muth, vor Scham zu sterben, diese unsinnigen Götzenanbeter!“

Dem gewandten und geistreichen Sendlinge gelang es bald genug, sich Freunde und Gönner zu erwerben. Besonders begünstigte ihn der Prinz Heinrich, der Oheim des Königs, und machte ihn zu einem Vertrauten aller kleinen Zurücksetzungen, die er erleiden mußte und die den alten Herrn tief kränkten. Mirabeau nahm die Freundschaft und Gastlichkeit des Prinzen gern an, wenn er aber des Abends spät in seiner Wohnung ankam, so setzte sich er hin und machte sich in einem Berichte an seine Auftraggeber über den Ehrgeiz im Kleinen und andere Schwächen seines Protectors lustig.

Eine wichtigere Bekanntschaft machte er in dem Herzog von Braunschweig, von dem er schon auf seiner Herreise in Braunschweig selbst freundlich aufgenommen worden war. Da der Herzog aber für’s Erste selbst ein Mann von Geist war und zweitens in seinem Einflusse bei dem Könige durch Wöllner und Bischoffswerder verdrängt wurde, so konnte Mirabeau von ihm nicht die Vortheile ziehen, die er wünschte. Immerhin vernahm er genug, um seiner Regierung nicht unwichtige Andeutungen geben zu können; der Herzog war jedem Kriege in den gegenwärtigen Verhältnissen entgegen und machte aus dieser Ansicht kein Hehl; da er der einzig mögliche Heerführer war, so hatte seine persönliche Meinung doppeltes Gewicht.

Mehrere Male kam Mirabeau mit dem Könige, Friedrich Wilhelm dem Zweiten, zusammen, der den Grafen nicht ungern sah. Dieser durfte es sogar wagen, ihm einmal über gewisse Maßregeln der Administration Vorstellungen zu machen. Unter den Monopolen, die fallen sollten, war auch das der Tuchfabrication, das sich in den Händen eines gewissen Smits befand. Mirabeau gab dem Könige zu verstehen, ehe man das alte Haus niederreiße, müsse man wissen, wo man sein Haupt hinlegen könne, bis das neue fertig sei.

„Ah,“ sagte der König lächelnd, „Smits ist Ihr Bankier!“

„Allerdings,“ erwiderte der Graf, „aber er hat mir von dem Gelde, das ich durch ihn erhalten, nichts geschenkt.“

Ein andermal wurde Mirabeau zur Abendtafel geladen, an welcher auch Fräulein von Voß erschien. Der König hatte von einem Mitgliede der französischen Akademie ein Buch über die Hazardspiele erhalten nebst einer sehr schmeichelhaften Dedication „an den ersten Fürsten, der durch Verbot und Abschaffung des Lotto den Vortheil seiner Cassen dem der Bevölkerung nachgesetzt habe“! Es war nun fatal, daß diese Abschaffung des Lotto in der That eine schöne Fabel war, die dem französischen Gelehrten irgendwer aufgebunden haben mußte; Mirabeau wußte indessen den König zu beruhigen, indem er hervorhob, daß schon der bloße Wille, den Wilhelm geäußert, höchst lobenswerth sei, worauf der König wieder heiter und zufrieden wurde und entschuldigend anführte, daß ja zudem mehrere Institute, wie z. B. die Militärschule, auf den Ertrag des Lotto angewiesen seien.

Selbstverständlich erweckte die wenn auch noch so geringe Begünstigung Mirabeau’s den Neid der Höflinge. Als wenige Zeit nachher der König beim Spiele fragte: „Wo bleibt denn der Graf von Mirabeau? Ich habe ihn seit tausend Jahren nicht mehr gesehen!“ da entgegnete man ihm: „O, das ist leicht begreiflich, er bringt sein Leben bei Struensee mit Biester und Nikolai zu!“ Biester und Nikolai waren aber arge Feinde der Dunkelmänner, wie sie ja auch mit dem eingebildetsten der Lichtauslöscher jener Zeit, mit Lavater, in Streit geriethen, und daher beim Könige gar nicht gut angeschrieben.

Unter all den kleinen Intriguen und Eintagswichtigkeiten waltete Mirabeau seines Amtes. Mit schweren Kosten wußte er sich eine Copie der sehr geheim gehaltenen so eben vollendeten topographischen Karte Sachsens zu verschaffen; ebenso ließ er insgeheim einen Kataster des Kurfürstenthums, welcher ein genaues und eingehendes Verzeichniß der Hülfsquellen aller Art bot, abschreiben; Beides Dinge, die damals überall fremden Augen möglichst entzogen wurden. Ueber die politische Lage im Norden, namentlich Kurlands, arbeitete er mehrere Denkschriften aus, die an tiefen Wahrheiten und vortrefflichen Räthen überreich sind – und nicht gelesen wurden. Seine eingehenden Studien über Preußen hat er nachher in sieben Foliobänden der Öffentlichkeit übergeben, die freilich zum wenigsten seine eigene Arbeit sein sollen. Daneben erfreute er die Minister mit manchen piquanten Geschichtchen, zu denen Hof und Stadt reichlichen Stoff lieferten.

Eine nicht sehr willkommene Unterstützung erhielt er in einer abenteuernden Dame, die, nachdem sie in Paris ihre Rolle ausgespielt hatte, sich nach Deutschland wandte und mit großem Gefolge gekommen war, mit der ausgesprochenen Absicht, den König zu erobern. Empfehlungsbriefe brachte sie nur Einen mit: den an ihren Bankier. Im Gefühle der Seelenverwandtschaft schloß sie sich sogleich eng an den Grafen Mirabeau, beehrte ihn mit ihrem Vertrauen, das er „gern zum Teufel geschickt hätte“, und bot ihm ein gegenseitiges Schutz- und Trutzbündniß an. Es war für unsern Helden eine fatale Lage; er wollte sich die Donna nicht zum Feinde machen, weil man doch nicht wissen konnte etc.; denn bei Gott und den Fürsten war kein Ding unmöglich – so verschaffte er ihr denn den Zutritt am Hofe, verwahrte sich aber ernstlich gegen jede Verantwortlichkeit. – Die holde Schöne erhielt denn auch wirklich eine Audienz beim König und schied nicht ohne Hoffnung, denn Ihre Majestät waren sehr leutselig gewesen und hatten sich bitterlich über das Ennuyante ihres Metiers beklagt. Doch war sie allzu bekannt in der galanten Welt, um ernstlich auf Erfolg rechnen zu können. Nachdem sie noch einige Wochen lang die Berliner durch ihr tolles Wesen geärgert, verschwand sie zur großen Freude Mirabeau’s; sie ging nach Warschau, um dort ihr Glück zu versuchen.

So verstrich ein Monat um den andern; immer mehr fühlte der Graf das Schmähliche seiner Stellung. Bereits dämmerte in ihm der Gedanke auf, daß er sich vielleicht geirrt habe, als er die erste Staffel der Ruhmes- und Aemterleiter zu besteigen glaubte. Auf die dringendsten Anfragen erhielt er keine Antwort; die lebhaftesten Vorstellungen wurden nicht beachtet. Da begann er immer mehr für sich zu intriguiren.

Sein nächstes Augenmerk richtete er auf den Gesandtschaftsposten in Berlin. Manche seiner Briefe wimmeln förmlich von Invectiven, von feinen und groben Sticheleien auf den damaligen Gesandten Esternon. Das Kleinste weiß er zu einer ungeheueren Kugel aufzublasen, die er diesem in den Weg wirft, damit er darüber stolpere. – Eines Abends war durch ein Mißverständniß der russische Gesandte an den Spieltisch der Königin, der französische aber nebst den Andern nur an den der Prinzessin Friederike gekommen. Das war natürlich eine schwere Beleidigung; Graf Esternon wies die ihm zugedachte Ehre in harten Worten zurück, erklärte, daß er heute nicht spiele, und ging im Bewußtsein gekränkter Unschuld nach Hause. Hierauf großes diplomatisches Kunstboxen; der englische Gesandte beeilte sich zu erklären, daß er zwar vor Keinem den Vortritt verlange, o gar nicht; daß er aber nie, nie dulden werde, daß ihm Jemand vorangehe. Aehnlich [699] ließen sich die Vertreter anderer Nationen vernehmen; die Königin wußte jeden der erhitzten Kämpen durch ein eigenhändiges Begütigungsschreiben wieder zufriedenzustellen.

Dies war für Mirabeau eine erwünschte Gelegenheit, den Gesandten der Tactlosigkeit zu beschuldigen und als unmöglich zu erklären. „Ich,“ meinte er dann, „ich hätte einfach nach dem Tisch der Königin gesehen und gesagt: ‚Ich sehe, daß wir hier durcheinander sitzen, und daß Loos konnte nur nicht günstiger fallen.‘ Mit dem letzteren nämlich,“ so erläuterte er des Weitern, „konnte man zugleich ein Compliment für die Prinzessin verbinden.“

Leider blieb dies wie früher wirkungslos, und nicht besser ging es mit anderen Plänen. Er anerbietet sich, das russische Reich in einer Verkleidung zu durchforschen. Man geht nicht darauf ein. – Dann bittet er um eine diplomatische Stellung in Baiern und wird abschlägig beschieden. – Später wünscht er von Hamburg aus den Norden zu beobachten. Auch dieses erhält er nicht. – Mit Berufung auf sein Verhältniß zum Herzoge sucht er um eine Beglaubigung in Braunschweig nach. wird wieder abgewiesen. Ebensowenig kann er eine Stellung in Kurland erhalten. – Da anerbietet sich der holländische Gesandte in Paris, seine Verwendung bei den Verhandlungen mit der Prinzessin von Oranien zu erwirken. Das Ministerium will nichts von der Candidatur Mirabeau’s wissen. – Auf’s Aeußerste gebracht rief der Graf endlich seinen Auftraggebern zu: „Das sind schlechte Menschenkenner, die mich zu einem Neuigkeitskrämer machen möchten, und noch schlechtere die, die glauben, daß ich mich hiezu brauchen lassen werde!“

Um diese Zeit begann in Frankreich das Gewitter loszubrechen, das bei seiner Abreise in schweren schwarzen Wolken aufgezogen war. Der König sah sich zur Einberufung der Ständeversammlung gezwungen. Hier eröffnete sich dem Grafen ein neuere Wirkungskreis.

Als er auf nochmalige Anfrage bei Gelegenheit der Abreise Esternon’s die alte Antwort erhalten hatte, verließ er nach einjährigem Aufenthalte Berlin und Deutschland. Einige Zeit später wurde er von dem Volke seines Wahlkreises jubelnd gewählt und auf seiner Reise nach Paris mit Triumphbögen und Ehrenfesten gefeiert. Er hatte sich zuerst seinen Standesgenossen als Vertreter angeboten, war aber nicht nur verworfen, sondern auf Grund eines Formfehlers in schmählichster Weise von ihren Berathungen ausgeschlossen worden.

Durch Mangel gezwungen, hatte er die Berichte, die er dem Ministerium zuschickte, einem Buchhändler verkauft, und sie erschienen unter dem Titel: Correspondance secrète sur la cour de Berlin. – Das Werk erregte großes Aufsehen; noch nie waren die Schwächen eines Hofes mit solcher Offenheit enthüllt worden, es gereichte aber nicht weniger dem französischen Minister zur Unehre, daß er in dieser Weise eine Spionage ausüben ließ. Auf Reclamation Preußens wurde das Buch durch Henkershand verbrannt. Es war anonym erschienen und Mirabeau fand für gut, seine Vaterschaft abzuleugnen. Rettete dies ihn aber vor den Gerichten, so rettete es ihn doch nicht vor der öffentlichen Meinung, die sich nicht beirren ließ. Es wurde auch bald nach seinem Tode unter die gesammelten Werke des Grafen aufgenommen.

Das war also nicht jener Sendlinge, wie sie zu Hunderten an allen Höfen zu finden waren und wohl noch zu finden sind. Doch wird sich wohl kein Zweiter von solcher geistigen Bedeutung unter ihnen finden, und noch weniger wird ein Zweiter durch so großartige spätere Leistungen die Schmach der Vergangenheit vergessen machen. Denn Mirabeau’s That ist und bleibt es, den in bürgerlicher Gewohnheit dem Glanz der Krone gegenüber noch befangenen Männern des dritten Standes der Nationalversammlung durch seinen Widerstand gegen den königlichen Auflösungsbefehl, durch sein kühnes Wort: „Wir sitzen hier im Namen des französischen Volks und weichen nur der Gewalt der Bajonnete!“ den Muth der Revolution erst eingehaucht und dadurch der neuen Zeit zum Aufleben verholfen zu haben.

Ingo Ettmüller.


Ein deutscher Gruß von Australien her.

Im Sommer dieses Jahres lief die Nachricht durch die Zeitungen, daß den verdienstvollen deutschen Arzt Dr. J. F. Berini zu Brisbane in der australischen Colonie Queensland der schwere Unfall betroffen habe, daß er und seine Gattin, an einem heißen Märzabend in ihrem Garten sitzend, von ihrem großen Haushund plötzlich angefallen und mit vielen Bissen verwundet worden seien. Kurze Zeit vorher hatte Herr Berini uns durch Einsendung eines Briefs erfreut, aus welchem das Nachstehende gewiß auch die Theilnahme unserer Leser zu fesseln geeignet sein wird.

Unter der Datumangabe, 28. Januar 1868, heißt es: „Hoher Antipodal-Sommer, Thermometer heute im Schatten hundertunddreizehn Grad Fahrenheit, Sonne hundertneunundfünfzig Grad, gehirnausdorrende Hitze.“ Der Brief lautet dann:

„Verehrter Herr Keil!

Ihnen und der ganzen Gartenlaube den herzlichsten Glückwunsch! Herr Professor Dr. Bock war so freundlich, mir unter Anderm mitzutheilen, daß es Sie freuen würde, von mir Einsendungen über meine seither in fremden Ländern gesammelten Erfahrungen zu erhalten. Ich bin gern bereit, obschon nicht Schriftsteller von Profession, Ihnen mit meinen schwachen Kräften zu dienen, jedoch bitte ich um Geduld und Nachsicht. Material ist genug vorhanden, nur muß es vorher geordnet und genießbar gemacht werden, ehe es geeignet ist, seinen Weg in die Oeffentlichkeit durch die Vermittelung eines so weitverbreiteten Blattes, wie die Gartenlaube, zu nehmen. Ich verweile ja selbst so gern im Schatten derselben und halte es schon deshalb für eine Pflicht, ein neues bescheidenes Pflänzchen zu ihrer Vermehrung dort einzustecken. Für jetzt, lieber Herr Keil, wollen Sie mich durch die Beilage, beziehungsweise einen gelungenen Holzschnitt derselben in Ihr ausgedehntes Blatt, dessen Lesern vorstellen, vorausgesetzt, daß Sie es der Mühe werth halten, einen Mann dort einzuführen, welchem es seither weniger darum zu thun war, Lorbeeren in der Oeffentlichkeit zu suchen, als vielmehr möglichst ungekannt in seiner Eigenschaft als Naturforscher, zunächst im Reiche der Fauna und Flora Australiens, seinen eifrigen Studien obzuliegen.

Wenn sich Ihre freundlichen Leser die Mühe nehmen wollen, mich in den unwirthlichen und unwegsamen, aber nichts destoweniger schönen Urwald Australiens zu begleiten, so sollen sie reichlich entschädigt werden für ihre Mühe, denn ich will sie führen an Stellen, wo das staunende Auge an der Pracht und Majestät der ewig schaffenden Natur kaum sich satt sehen kann. Weil ich aber gedenke, einen gar weiten Gang mit ihnen zu thun, der sie am Ende doch allzu sehr anstrengen dürfte, so werde ich sie zur Erholung von den mannigfachen Mühen und Strapazen an der Hand geleiten zu einem gar traulichen Punkte am Ocean. Daher sei Ihnen, werthester Herr Keil, für die Gartenlaube mit meinem nächsten Briefe versprochen: ‚Ein Stück australischer Urwald‘, und ‚Ein lauschiges Plätzchen am stillen Meere.‘ Wenn auch diese Abhandlungen nur schwache Streiflichter in die großartige Werkstätte der Natur erzeugen werden, so möchten sie doch Manches ziemlich klar enthüllen, was bis jetzt in diesem noch so wenig erforschten Lande dem Auge tief verborgen lag. Es ist schwer, hier die Natur zu belauschen, hier ihr abzuringen, was sie seit so vielen Jahren vor den Menschen geheim gehalten, denn es ist wahrlich kein Spaziergang, in Australiens Busche sich näher umzusehen und einzudringen in seine mit jedem Jahre mehr sich entfaltende Schönheit und Größe. Daß die letzte Expedition zum Zwecke der Constatirung des Schicksals Ihres verdienstvollen Landsmannes Leichhardt auch wieder gänzlich fehlschlug, werden Sie bereits durch englische Blätter wissen, und ich glaube, daß Sie gewiß auch meine Ansicht theilen, er werde gleich Burke und Wills sein Ende gefunden haben und in Queenslands Erde den Schlaf der Ehre und des in größter Uneigennützigkeit errungenen Ruhms schlafen.

Alle Skizzen, die ich Ihnen seiner Zeit übermachen werde, basiren sich durchweg auf Selbstgesehenes und Selbsterlebtes, und [700] meine Illustrationen sind photographisch direct der Natur entnommen. Es wird kaum nöthig sein, Ihnen als Fachmann zu bemerken, wie schwer, ganz abgesehen von den außerordentlichen Kosten, es ist, den Apparat in solchen Fällen an Ort und Stelle zu schaffen und namentlich die Schwarzen zu veranlassen, auch nur für einen Moment stille zu halten. Eine gelungene Probe davon liefert Ihnen die beigehende Photographie, welche meine Wenigkeit inmitten eines Theiles meines Gefolges darstellt. Die australischen Wilden dieses Bildes gehören zwei verschiedenen Stämmen an, von welchen der eine dem Gebrauch huldigt, den Oberkörper mit einer besondern weißen Farbe, die aus einer fetten Erdart zu bestehen scheint, zu bemalen, während der andere, mehr kriegerischer Natur, sich in seinen eigenthümlichen Waffen übt.

Dr. Berini mit seinem Gefolge im Busch.
Nach einer Photographie

Der mit dem Speer Bewaffnete ist eine Art Häuptling, der neben ihm Stehende ein verwundeter Krieger. Der Korbträger auf dem Bilde ist von mir und meiner Frau nur als der ‚Uebergang‘ bezeichnet, denn denkt man sich ihn zwischen einen ausgewachsenen Chimpanse und den eigentlichen homo sapiens und zieht des Schwarzen eigenthümliche Bewegungen, seine Art und Weise des Sitzens und des Gehens, hauptsächlich aber die affenähnliche Manier, seine Nahrung zum Munde zu führen, in Betracht, so ist in der That die ‚Transition‘ fertig. Der Korb selbst, zur Aufnahme von Nahrungsmitteln (nur Wurzeln und rohes Fleisch) bestimmt, ist äußerst künstlich aus einer gewissen Pflanzenfaser geflochten. Als zweites Curiosum darf ich nicht vergessen, hier einzuschalten, daß der Schwarze, welchem ich auf dem Bilde die Hand auf die Schulter lege, genau das Gewicht (selbstverständlich das physische) eines Jahrganges der Gartenlaube kennt, da er oft beauftragt ist, mir solche auf nicht zu entfernte Stationen, um die Monotonie des Busches einigermaßen zu heben, nachzutragen, und kann mit seinen Collegen kaum begreifen, was für einen Affen ich an den dicken Büchern gefressen! – Wie werden aber die Kerls, beziehungsweise ihre Fratzen grinsen, wenn sie ihr wohlgetroffenes Ebenbild selbst in der Folge darin sehen! Es ist, lieber Herr Keil, ein nicht ganz unbeachtenswerthes, im Gegentheil, ich möchte sagen, erhebendes Factum: die Gartenlaube inmitten des australischen Busches und Urwaldes beim Lagerfeuer der Eingeborenen! Weiteres der Zukunft, d. h. meinem Nächsten aufbewahrend, erlaube ich mir noch schließlich anzuführen, daß ich bis jetzt in Bezug auf meine Erfahrungen im Auslande noch nichts in deutsche Blätter schrieb, die Gartenlaube also das erste Blatt ist, dem ich jene übergebe. Unter Bezeigung vorzüglicher Hochachtung grüße ich Sie innig, hinüber über’s weite Meer,

Ihr Ergebener Dr. Berini.“ 
Soweit unser trefflicher Gewährsmann und Freund der Gartenlaube auf der andern Seite unserer Erdkugel. Da wir seinen gegenwärtigen Aufenthalt nicht kennen, so bringen wir ihm auf diesem Wege unsern Dank und Gruß und bitten ihn, die oben versprochenen Mittheilungen recht bald an uns gelangen zu lassen.
D. Red. 


Noch einmal Langensalza.
Erinnerungen von Kurt Greß.

Am siebenundzwanzigsten Juni vorvorigen Jahres – das weiß Jedermann und besonders jeder aufmerksam Leser dieses Blattes – war die verhängnißvolle Schlacht bei Langensalza geschlagen worden. Hunderte tapferer Soldaten lagen, dem Moloch der militärischen Ehre geopfert, entweder todt an den Ufern der Unstrut. die von dem geflossenen Blute geröthet war, oder dort in dem großen Grabe auf dem Dorfkirchhofe zu Merxleben, oder wo man sie sonst zur letzten Ruhe gebetet hatte, oder auf dem Schmerzenslager, [701] in den Lazarethen, nicht wenige vielleicht die Gefallenen und Schlafenden um ihr Loos beneidend.

Unterdessen bereitete sich das Ende der blutigen Episode des großen vorvorjährigen Krieges langsam, aber sicher vor; die Verhandlungen mit dem König von Hannover begannen, die Capitulation der tapfern hannoverischen Armee erfolgte; die Preußen nahmen die ihnen zugefallene reiche Beute an Pferden, Kanonen und Flinten in Empfang; die hannoverischen Soldaten wurden in ihre Heimath entlassen, nachdem sie Alles, was dem Krieger theuer ist, abgeliefert hatten. Auch König Georg rüstete sich zum Abzug von der Stätte des Unglücks, um in fremdem Land, zunächst bei seinen hohen Verwandten auf dem Jagdschlosse Fröhlichewiederkunft im Herzogthum Sachsen-Altenburg seine Wohnung aufzuschlagen.

Wie überall, so war auch in Jena, der kleinen thüringischen Universitätsstadt, Aller Erwartung auf den Ausgang dieses Alle greifenden Schauspiels gerichtet, und besonders die Jenenser Studenten nahmen regen und lebhaften Antheil an den Dingen, die sich zugetragen hatten und die da kommen sollten.

So konnte es denn nicht fehlen, daß, als am dreißigsten Juni frühmorgens die Nachricht nach Jena kam, der König von Hannover werde mit seinem ganzen Hofstaat nach Apolda kommen, um von dort aus nach dem Jagdschloß Fröhlichewiederkunft zu fahren, dieselbe unter dem Bruder Studio eine mächtige Aufregung hervorrief. Zudem war es ja Sonnabend, der uralt heilige dies academicus, den der Jenenser Student nicht gern durch profanes Arbeiten und Collegiengehen entwürdigt; ein schöner, frischer Sommermorgen lag goldig über den Jenenser Bergen und lockte zur fröhlichen Wanderschaft: was Wunder also, daß sich eine gute Anzahl Studenten auf den Weg nach der Eisenbahnstation Apolda machten, entweder stolz zu Fuß oder hoch zu Wagen das heißt, auf den seltsamen Fahrzeugen, die man zu Jena „Spritzen“ nennt und welche von jenen Rossen, vulgo Spritzgäulen, gezogen werden, welche, wahre Naturseltenheiten, ein charakteristisches Wahrzeichen Jena’s sind und gegen die, weiland Don Quixote’s treffliche Mähre Rosinante ein gar respektables Rößlein gewesen sein mag.

Auch ich und einige Freunde schlossen uns der Expedition nach Apolda an und fanden, als wir den Bahnhof der aufblühenden Fabrikstadt erreichten, schon viel Volks daselbst versammelt.

Unsere Geduld sollte auf keine lange Probe gestellt werden. Denn kurz nach unserer Ankunft, etwa gegen ein Uhr, traf der ersehnte Extrazug ein. Die Conducteure sprangen von ihren Sitzen, rissen die Wagenthüren auf, und die Reisenden stiegen aus. Der Zufall war mir günstig. Ich wurde an ein Coupé erster Classe gedrängt, aus welchem ein ältlicher, großer Mann in einfacher, dunkelblauer Uniform, fast der preußischen ähnlich, gestützt auf einen jungen Mann in weißer Uniform, gefolgt von zwei andern älteren Herren, ausstieg.

Waren auch nicht Aller Augen auf den stattlichen, aber gebeugt daherschreitenden Mann gerichtet gewesen, hätte ich auch nicht die trüben, großen, weit vor sich hin starrenden Augen des Mannes gesehen, ich hätte ihn doch erkannt, doch von Allen herausgefunden, den König Georg von Hannover. Wie unglücklich, wie müde, wie zerschmettert sah er aus, der arme Monarch, der so Viel erfahren, der so Viel verloren hatte! Mit auffälliger Besorgtheit strengte er sich an, den Weg selbst zu finden, mit peinlicher Sorgfalt suchte er zu zeigen, daß er der Führung des jungen Mannes in der hellen Uniform, des Kronprinzen, nicht bedürfe – und er zeigte dadurch doch nur, wie blind er war und wie nöthig er jene Führung hatte.

Und alle die Leute, die nur theilnahmlose Neugierde zusammengeführt und die noch vor wenigen Minuten den verblendeten König schonungslos verdammt hatten, sie Alle waren still und neigten ihr Haupt vor der Macht des Unglücks, die diesen Mann so schwer getroffen hatte, die sich auf diesem Antlitz so ergreifend spiegelte.

Während die Menge den angekommenen Hofstaat, die Uniformen der Officiere, die geschäftig umhereilenden Diener, das ganze Gefolge, und vor Allem die herrlichen Rosse des königlichen Marstalls betrachtete und bewunderte, saß der König in einem der Wartezimmer des Bahnhofs, einige Erfrischungen zu sich nehmend.

Unterdessen stolzirte der Kronprinz in eleganter Uniform, ein Glas im eingeklemmten Auge, lächelnd und bisweilen auch einige Worte hervorschnarrend, auf dem Perron des Bahnhofes einher, besah sich die versammelte Menge und widmete seine allerhöchste Aufmerksamkeit besonders den anwesenden Studenten, deren Farbenmützen ihn vor Allen und ausnehmend zu interessiren schienen, während sein Vater eine schwere Stunde, eine der schwersten durchkämpfte, die Stunde des Abschieds von seinen Generälen, von seinen treuen Dienern.

Wahrlich, uns Studenten und der versammelten Menge ging der arme König Nichts an, aber der Aermste und Geringste von Allen, die bei dieser Scene zugegen waren, war bewegter, als der Sohn des Mannes, der da eben heraustrat aus der Thür des kleinen Bahnhofs und seine zitternde Hand den treuen Generälen entgegenstreckte, die sie heiß und heftig drückten, des Mannes, der da eben Abschied nahm von Denen, die treu bei ihm gestanden hatten in guter und in böser Zeit und nun auch die letzte und schwerste mit ihm durchgemacht hatten und die er nun auf immer lassen mußte!

Ich sah ein paar Thränen aus den großen, lichtlosen Augen des Königs rinnen und langsam seine Wangen herabrollen. Dann stieg er, geführt von dem Kronprinzen und in Begleitung zweier Generäle, in den einfachen, zweispännigen Postwagen, der ihn weiter bringen sollte; dann grüßte er noch einmal, der Kronprinz nickte und dienerte – dann ging es fort – fort in die Fremde.

Nun fuhr auch der Extrazug mit des Königs Gefolge wieder ab, die Menge verlief sich, Lärm und Getöse verhallten; es ward wieder still auf dem kleinen Bahnhof. Doch nicht so schnell wie die äußere Ruhe stellte sich unsere innere wieder her; die aufgeregten Gemüther der jungen Leute waren noch lange nicht beruhigt, als draußen auf dem Bahnhof schon lange Nichts mehr von dem Tosen und Lärmen übrig war, das da vor Kurzem geherrscht hatte.

Da gab die Ankunft einiger jungen Doctoren aus Jena der Aufregung eine andere Bahn. Dieselben waren nämlich im Begriffe, mit dem nächsten Zuge nach Erfurt und von da nach Langensalza zu reisen.

Hurrah! das war eine Idee! das war ja ein prächtiger Einfall! Wer fährt mit nach Langensalza? hieß es, und nicht lange, so war eine Anzahl entschlossen, die Doctoren zu begleiten, und schnell, wie der Entschluß gefaßt war, wurde er ausgeführt. Der Zug brauste heran, die Billete wurden gelöst, fort schnaubte wieder die Locomotive und nach rasch verflogener Frist fuhren wir, eine Gesellschaft von etwa zehn Mann, vor Erfurt an, um von da nach Langensalza zu eilen.

Bei dem regen lebendigen Treiben in der Festungsstadt gelang es uns kaum, einen Wagen aufzutreiben, und wir waren herzlich froh, endlich einen Leiterwagen zu acquiriren, welcher die Verantwortlichkeit auf sich nehmen sollte, uns nach Langensalza zu bringen.

Früh bei guter Zeit, als eben über den Thüringer Bergen die Sonne aufging, fuhren wir denn nun auch auf einem mit zwei tüchtigen Braunen bespannten, mit Laub geschmückten Wagen, auf dem wir es uns, so gut es ging, bequem gemacht hatten, in den thaufrischen Morgen hinaus.

In den stillen Straßen der frühern alma mater regte sich Nichts, nur der holpernde Ton unsres Wagens störte die tiefe Stille; keine Gestalt zeigte sich an den verhangenen Fenstern, ruhig schlief noch Alles dem Sonntag entgegen. Auch wir waren still. Dachten wir vielleicht an die gestorbene alma mater, die nun Keiner mehr kannte, oder an die alten Studenten, die, jung und froh, wie wir, einst die Straßen durchwandelt und nach den Fenstern, grüßend nach den schönen Mädchen hinter den Scheiben, hinaufgeschaut hatten, stolze wackere Gesellen voll Jugendmuth und Lebenslust, von denen jetzt kaum einer noch am Leben?

Ueber den alten Dom mit den herrlichen Thürmen schossen die ersten Sonnenstrahlen herüber, spielten goldig um die funkelnden Thurmkreuze, und der Frührothschein huschte leise die hohen Treppen auf und nieder; der frische Morgenwind, der vom „Walde“ herüberwehte, fuhr hastig durch die Thurmluken und Schalllöcher und flüsterte mit den schlafenden Glockenreihen, die wie im Traume leise vor sich hinsummten.

Am Dom vorüber fuhren wir durch die gewaltigen Werke und zuletzt durch das große Thor der Festung hinaus in die weite, blaue, eben erwachende Welt, hinein in den schönen Sonntagmorgen, durch das fruchtbare, weite Land, durch friedliche Dörfer, die noch im Schlummer lagen, wogende Felder, duftende Wiesen, [702] hin an dunklen, rauschenden Wäldern, vorbei an kleinen Friedhöfen, deren Kreuze hell und klar im Morgenscheine schimmerten.

Nach und nach erwachte die ruhende Natur, erwachten die Menschen in ihren freundlichen Hütten und Häusern. Dann fingen ringsum in allen Dörfern all’ die Glocken und Glöckchen an zu klingen und zu singen, und die feierlichen, vollen Klänge riefen zur Kirche. Alte, ehrenfeste Bauern mit ihren Weibern im Sonntagsstaat, junge Mädchen, duftige Blumensträußer und große Gesangbücher in den Händen, stiegen festen Schritts oder trippelten zaghaft, und verschämt, zur schmucken Dorfkirche, aus der bald die Orgel mächtig zu uns herübertönte.

Und mitten durch all’ den Frieden, durch all’ den Klang und Sang fuhren wir nach einem Schlachtfelds, zu Elend und Noth, das sich die Menschen selbst geschlagen hatten, zu zerstampften Feldern und zertretenen Saaten, dorthin, wo auch Glocken klangen, aber die Todtenglocken.

Allmählich ward die Landstraße belebter und lebendiger, je näher wir dem Städtchen Gräfentonna und dem von da nicht mehr weit entfernten Langensalza kamen; leicht Verwundete wurden transportirt, heimkehrende Hannoveraner zogen an uns vorüber, zahlreiche Colonnen erbeuteter Pferde wurden nach Erfurt gebracht, Wagen mit Unterstützungen und Erfrischungen und eine Menge Menschen, gleich uns nach der Unglücksstätte pilgernd, bedeckten die aufwärts steigende Landstraße.

Es liegt natürlich nicht in meiner Absicht, die Tage nach der Schlacht von Langensalza, noch weniger die Schlacht selbst, eingehend zu beschreiben, zumal dies in diesem Blatte schon von kundiger Hand trefflich geschehen ist. Hier möge nur Einiges folgen, was uns auf unseren Wanderungen begegnet ist.

Wir waren in einer steten Wanderung zwischen der Stadt, dem Bade und dem Dorfe Merxleben, sahen uns Alles an, gingen überall hin, wo irgend etwas Interessantes zu sehen war. Wir betrachteten die erbeuteten Pferde, Tornister, Kanonen und Flinten, die Massen der durchziehenden Soldaten, die Plätze, wo der Kampf am heftigsten getobt hatte, die barmherzigen Schwestern in ihrer düsteren Nonnentracht, in ihrer edlen Thätigkeit, die Männer mit der weißen Binde und dem rothen Johanniterkreuz, schritten hinter manchem ungeschmückten, dunklen Sarge her, der unter gedämpftem, schauerlichem Trommelwirbel zur letzten Ruhe getragen wurde, sammelten zerstreute Kugeln, beschenkten die Verwundeten und besuchten die Schmerzenshäuser und Lazarethe.

So kamen wir bei unseren Wanderungen in dem Dorfe Merxleben, wo die meisten Schwerverwundeten lagen, auch in eine Kammer, in welcher ein Preußischer Officier verwundet in einem Bett lag. Kein Mensch war bei ihm, es war ganz still in der dumpfen Kammer; auch wir blieben bewegt an der Thür stehen. Der Arme lag im letzten Kampfe, seine Sinne waren schon umnachtet und kannten das Irdische nicht mehr; aber sein Herz, seine letzten Gedanken waren noch in Kampf und Streit, bei seiner Compagnie, bei seinen Soldaten. „Wir sind aus der Linie, Jungens,“ rief er, und als hätte er den Säbel noch in der Hand, focht er matt in der Luft herum, „macht mir keine Schande, Cameraden, drauf, drauf, immer vorwärts, – immer vorwärts!“

Dann ward er ruhig und sagte kein Wort mehr. Durch das kleine Fenster fiel ein heller Mittagssonnenstrahl in die schwüle, einsame Kammer auf das Bett und das Gesicht des Sterbenden, der da eben, fern von den Seinen, in öder Stube heimging aus Kampf und Streit und Sturm zum Frieden. Leise machten wir die Thür zu und gingen herab, einem der Aerzte das Geschehene zu sagen. Einer von ihnen ging hinauf und kam bald mit der Nachricht herab, daß es zu Ende sei. Uns war es weh und trübe zu Muthe und wir mußten noch oft an den einsamen Todten droben in der leeren Stube denken, um den sich Niemand kümmerte. Und doch war es nur Einer, nur Einer von vielen Hunderten!

Den meisten Eindruck machte auf uns das große Lazareth in der Dorfkirche zu Merxleben, „das Schmerzenshaus von Merxleben“, an dessen Seite das große Massengrab liegt, wo so Viele, Freund und Feind, in Frieden schlafen. Wer noch kein Lazareth gesehen und vielleicht einen Roman, worin derlei schaurige Geschichten vorkommen, gelesen hat, könnte sich wohl denken, darin müßte ein geräuschvolles Leben, Stöhnen und Seufzen von Verwundeten, Röcheln und Schmerzensschreie von Sterbenden herrschen. Dort war es nicht so, geisterhafte, unheimliche Stille lag über dem Raume rings Alles stumm und ruhig, nirgends ein Ton, nirgends ein Laut. Nur die Aerzte gingen geräuschlos zwischen den Kranken hin und her und die barmherzigen Schwestern thaten und leise ihr edles, hülfreiches Werk. Wahrlich, eine seltsame Gemeinde war in der kleinen Dorfkirche versammelt statt derer, die sonst zu Füßen des würdigen Pfarrers den Worten des Trostes und der Verheißung lauschten! Und vor dem friedlichen Altar und der einfachen Kanzel predigte heute ein gewaltiger Priester, still und doch laut, beredt und doch ohne Wort, eine Allen verständliche, eine blutige, schaurige Predigt.

Da trat, während wir mit einem Verwundeten leise sprachen, ein alter Bauersmann an uns heran, wie es schien, aus der Nähe, aus dem Gothaischen, eine stattliche, starkknochige Gestalt im besten Sonntagsrock. Er hatte auch Einen dabei gehabt, seinen Einzigen! In der vordersten Reihe der Gothaner hatte er gestanden, hatte brav mitgekämpft. Aber Niemand wußte, wohin er gekommen war. Da hatte er sich in seiner Vatersorge aufgemacht im Sonntagsstaate aus seinem kleinen, stillen Walddorfe, um seinen Sohn, sein einziges Kind, zu suchen, hatte sich die Erlaubniß ausgebeten, in die Lazarethe gehen zu dürfen, und so ging er nun, unbewegt um das Elend um ihn herum, das er kaum zu sehen schien, still hindurch durch die Reihen, der Verwundeten, mit dem Auge eines Vaters spähend, ob er seinen Liebling nicht fände.

So sahen wir ihn, den starken Mann, wie er immer suchte und ihn doch nicht finden konnte. In seiner Hand trug er ein Päckchen Photographien seines Sohnes und jedem Arzte, Jedem, von dem er dachte, daß er sein Kind gesehen haben könne, gab er solch ein Bild leise in die Hand und sagte: „Herr, ’s ist mein Sohn, er war auch mit dabei und ich kann ihn nicht finden. Herr, wenn Ihr ihn seht, ich will’s Euch nie vergessen!“

Ob er ihn wohl gefunden hat? Ich weiß es nicht, doch will ich’s ihm von Herzen wünschend. Noch am Nachmittage sah ich ihn wieder in einem Lazarethe in der Stadt. Das Päckchen Photographien war ganz klein geworden, sein Gang gebückter, sein Auge trüber. Er hatte ihn noch nicht gefunden. Und am Abend, glaube ich, war sein Päckchen – und seine Hoffnung zu Ende. Wollte er ihn finden, so mußte er ihn wohl da suchen, wo die stillen Schläfer liegen und vom heißen Kampfe ausruhen; mußte wieder heimziehen in sein stilles Walddorf, ein armer, kinderloser Mann, einsam und allein! –

Die traurigen Bilder häuften sich so, daß es für unsere jungen Herzen fast zu viel ward. Zwar die abgehärteteren Gemüther der Doctoren und Mediciner waren noch unbewegt, freuten sich über Schußwunden und Verbände, ja, sie nannten das, was uns so tief ergriff, höchst interessant und instructiv. Wir aber, die wir im Dienste friedlicherer Musen standen, waren des endlosen Jammers müde und strebten sehnlichst, ein gastliches Haus zu finden.

Auf dem Wege dahin begegnete uns eine Schwadron schmucker grüner Husaren. Während wir stehen blieben und den stattlichen Zug bewunderten, horch, da stimmten plötzlich diese Kriegsleute das alte Studentenlied an: „Gaudeamus igitur, juvenes dum sumus“. Wir aber stimmten sofort mit ein, und während die rüstigen Gesellen dahin ritten, klang’s fast wehmüthig, ferner und ferner herüber, bis endlich der Klang ganz verhallte:

Vita nostra brevis est,
Brevi finietur.
Venit mors velociter,
Rapit nos atrociter,
Nemini parcetur.

Wo ritten fix hin, die lustigen Reiter? Wo sind sie jetzt? Studiren sie vielleicht schon wieder friedlich auf einer Universität oder deckt auch Manchen von ihnen der „humus“, welcher Alle decken wird, nach der fröhlichen Jugend, nach dem lästigen Alter? –

Vor der Stadt trennten wir uns, nachdem schon vorher Einige ihren eigenen Weg gegangen, in zwei Heerhaufen, beide auf gut Glück nach Obdach und Stärkung suchend. Ich und zwei meiner Freunde wandten uns nach dem vor der Stadt liegenden Schützenhause, wo der König Georg vor und nach der Schlacht logirt hatte.

Doch beinahe sollten unsere Hoffnungen getäuscht werden, denn auf unser Ansuchen setzte uns ein dienstbarer Geist umständlich auseinander, daß es gar keine Möglichkeit wäre, Etwas zum Essen zu bekommen, noch weniger einen Platz, wo wir für einige Zeit unser Haupt hinlegen könnten. Schon wollten wir [703] sehr betrübt wieder abziehen, als im rechten Augenblicke, wie ein deus ex machina, der freundliche Wirth erschien, den beredten Kellner eiligst entließ und uns Alles, was unser Herz begehrte, so gut es angehe, verhieß. Denn obwohl sein ganzes Haus von oben bis unten voll von Verwundeten stecke, wolle er uns doch etwas Brod und Butter und ein kleines Zimmer verschaffen, das augenblicklich leer sei, weil die dort einquartiert gewesenen Verwundeten heute früh entlassen worden seien.

Höchlichst erfreut über diese tröstliche Verheißung folgten wir dem freundlichen Manne eine Treppe hinauf auf einem Gang, wo er uns in ein kleines, völlig leeres Zimmerchen wies, das durch ein einziges kleines Fenster hoch oben spärlich erhellt wurde.

Doch müde und hungrig waren wir, daß es eine Art hatte, und nachdem wir ein mächtiges Butterbrod verzehrt hatten, machten wir es uns bequem, hingen Rock und Weste an den Nagel und streckten uns gemächlich auf die reinlichen Strohbündel nieder, welche uns der freundliche Wirth bereit gemacht hatte.

Draußen war es schwül und dunstig; am Himmel hatten sich dunkle Wolken zusammengezogen und die ersten, großen Tropfen schlugen klatschend an das kleine Fenster. In dem Zimmerchen war es still, heimlich still. Nur vom Gange herüber tönten bisweilen hastige Schritte, und der Regen und der Wind sangen und klopften zusammen ihre alte, monotone Melodie.

Jugend und Müdigkeit wollten ihr Recht, Einer nach dem Andern schlief ein, es ward ruhig in dem Gemach und nur die ruhigen Athemzüge störten die tiefe Stille.

So mochten wir über eine Stunde ruhig geschlafen haben, als ich plötzlich erwachte, weil es mir war, als wäre Jemand in’s Zimmer getreten und stände vor uns und sähe uns an. Schlaftrunken richtete ich mich etwas in die Höhe und rieb mir die Augen. Denn ich glaubte, ich schlafe noch und was ich sähe, wäre nur ein Traum.

Vor uns in der stillen Kammer standen zwei junge, hübsche Mädchen, stille, freundliche Gesichter mit klaren, guten Augen. Und die blauen Augen lagen mit so einem lieben Ausdruck voll Mitleid und Erbarmen auf uns, daß ich mich kaum getraute, in ihren Glanz zu schauen. Und hinter den beiden Mädchen, halb noch in der Thür, standen zwei ältliche Herren, die ich auch ohne die feierliche, weiße Binde um ihren Hals sogleich für Pastoren erkannt haben würde. Auch ihre Augen ruhten voll Freundlichkeit und Theilnahme bald auf uns, bald auf den beiden Mädchen vor ihnen.

Mir ward immer seltsamer. War es denn nur ein Traum? Was hatte das zu bedeuten? Was wollten die alten Herren, die jungen Mädchen? Waren sie vielleicht Engel, die uns zu besuchen kamen? Doch nein! Trugen denn die Engel weite, bauschige Kleider und moderne Hütchen? Oder trugen sie gar schwarze Hüte und weiße, feierliche Binden?

Leise stieß ich meine schlafenden Cameraden an. Auch diese richteten sich auf, suchten sich zu ermuntern und schauten ganz curios und verwundert auf die seltsame Gruppe.

Da endlich brach eines der jungen Mädchen das Schweigen. „Ach, lieber Vater,“ sagte sie, und ihre Stimme klang weich und mild und der Ton zitterte ein wenig, wie von Bewegung, „ach, Vater, sieh nur die armen Verwundeten! Bitte, bitte, wir wollen ihnen Etwas geben, den armen Leuten!“ –

Hatten wir vorher verwundert dreingeschaut, so wußten wir jetzt erst recht nicht, was wir thun sollten. Den armen Mädchen ihre Illusion nehmen? Uns als flotten Bruder Studio entpuppen? Nimmermehr! Denn Alles wäre lächerlich geworden, und das wollten wir nicht, um der Mädchen willen, denen es so ernst zu Muthe war. Das Beste also war, zu schweigen.

Der alte Herr, an den die Bitte gerichtet war, sah sein Kind und dann uns an, die wir freilich etwas kriegerisch und verwildert in dem halbdunklen Zimmer ausgesehen haben mögen. Dann zog er einen nichtigen Geldbeutel aus der Tasche und reichte seiner Tochter einige Geldstücke.

Diese trat an uns heran, neigte sich zu uns herab, und mit einem Blick, so voll Güte und Mitleid, daß es uns ganz seltsam um’s Herz ward und wir uns beinahe selbst für Verwundete hielten, drückte sie Jedem von uns eine Silbermünze in die Hand.

Uns ward immer ängstlicher – jede Minute drohte der Augenblick zu kommen, wo wir uns zu erkennen geben mußten. Doch es ging vorüber. Der alte Herr sagte: „Kommt, Kinder, die armen Leute bedürfen der Ruhe!“ Dann ging er mit seinem Begleiter. Die jungen Mädchen folgten ihm; aber an der Thür wendeten sie sich noch einmal und warfen noch einen engelsguten, lieben Blick auf uns zurück, – auf die armen Verwundeten.

Aber kaum hörten wir ihre Schritte nicht mehr, als wir aufsprangen, in ein homerisches Gelächter ausbrachen, unsere erhaltene Gabe – ein blankes Zweigroschenstück – anblickten und vor Freude in dem Kämmerchen herumtanzten. Himmel, hätten die guten Leute jetzt die armen Verwundeten gesehen, was würden sie für Augen gemacht haben!

Während wir noch so tobten, kam der Wirth herein und konnte uns vor Lachen kaum erzählen, daß die Leute, Pfarrer aus der Umgegend mit ihren Töchtern, zu den Verwundeten gewollt hatten. Er hätte gerade viel zu thun gehabt und sie deshalb herauf gewiesen, mit dem Bemerken, daß oben überall Verwundete lägen. Nun seien sie gerade in unsere Kammer gerathen. Als sie wieder herausgekommen wären, habe er auf dem Gange gestanden und gleich das Mißverständniß geahnt. Denn die mitleidigen Leute hätten, nach unserer Kammer zeigend, bewegt gefragt, ob wir schwer verwundet seien, worauf er kaum ohne Lachen habe erwidern können, daß wir nur ganz leicht verwundet wären.

Mit unserem Schlafen war es natürlich vorbei. Wir zogen uns an und eilten unseren Wohlthätern nach. Doch, wie sehr wir auch suchten, wie gern wie sie wiedergefunden hätten, um das Mißverständniß zu lösen – alles Suchen war umsonst, und in ihren Augen sind wir noch heute leicht Verwundete. Sollten jedoch die braven Pfarrherren und ihre hübschen Töchter dieses Blatt zu sehen bekommen – denn die Gartenlaube findet ja ihren Weg allüberallhin im deutschen Vaterland – und es übel aufnehmen, daß wir sie nicht aufgeklärt und ich auch noch die Geschichte erzählt habe, so will ich ihnen die Hand hinhalten und will sagen: „Nichts für ungut, Ehrwürden und meine Dame! Es war freilich nicht recht, daß wir Ihnen nicht gleich damals sagten, daß wir nicht verwundet, sondern kerngesunde Jenenser Studenten waren, und daß wir uns auf diese Weise ein paar so liebe, schöne Blicke und auch noch baares Geld erschlichen haben. Aber wir bereuen es sehr! Und für den schönen Blick voll Güte und Liebe, den Sie an uns verschwendet haben und der uns gar nicht gehörte, sagen wir besten Dank. Ihre klingende Gabe aber haben wir bei Leibe nicht für uns behalten, und die ersten Verwundeten, denen wir begegneten, sind wahrlich nicht schlecht dabei weggekommen!“

So endete der Tag. Und als wir am Abend durch das stille, weite Land fuhren, über dem es langsam dunkelte, zog licht und klar der Mond am Himmel herauf und goß sein mildes Licht über die Erde und ihr Leid. Als wir aber an das düstere Festungsthor zu Erfurt kamen und Einlaß begehrten, da rief Einer von uns dem Wache habenden Soldaten auf die Frage, wer wir seien, zu? „Verwundete von Langensalza.“ Der Posten trat ehrfurchtsvoll zurück und salutirte. „Passirt,“ sagte er gravitätisch, und lachend rollten wir ein in die dunkelnde Stadt, die Verwundeten von Langensalza.




Blätter und Blüthen.

Sie sollen ihn nicht haben! Nicht gewissen liebenswürdigen, aber zuweilen etwas unruhigen, und jetzt anderweitig viel beschäftigten Nachbarn gilt heute die zündende Strophe des bekannten Rheinliedes von Becker: „Sie sollen ihn nicht haben!“ nein, einem Feinde im Lande, den keine Militärmacht zu besiegen braucht, den aber das ganze Volk, Männer, Frauen und Kinder anzugreifen bereit sein muß: nämlich dem grausamen Project der sogenannten Rheincorrectur.

Man will ihn uns nehmen, einengen und eindämmen, unsern königlichen freien Rhein, den herrlichsten aller Ströme, dessen Name in unser Ohr klingt, wie Glockengeläuts vom Thurm der Kirche unserer Heimath, der unzertrennlich ist von den schönsten Erinnerungen an die Märchen, die uns die Mutter erzählte, den Hort des Nibelungenschatzes, den Lieblingsaufenthalt aller Nixen, den Concertsaal der ewig jungen und ewig bezaubernden Hexe Loreley; – den Rhein, das Paradies aller Liebenden, den Stolz jener Jugend, die bei einer „Frau Wirthin“ einzukehren und allda nach gutem „Bier und Wein“ und „schönem Töchterlein“ zu fragen pflegt, – den Rhein, das Entzücken des Alters, das lebendigste Stück echter deutscher Poesie! In Ketten und Banden will man ihn schlagen, unsern stolzen Strom, mit seinen grünen Wellen und wechselvollen Ufern, alle Dichter und Maler, die je den Rhein und seinen Zauber in Liedern und [704] Farben besungen, will man Lügen strafen vor einer künftigen Generation, man will ihn seines bisherigen hohen Postens ohne Weiteres entheben und – zur Disposition stellen, mit der Erlaubniß als armseliger Canal die Uniform der Schleppdampfschifffahrts- und Correctur-Gesellschaft zu tragen!

Fort mit der Romantik von Nonnenwerth, wo

„Die Liebliche sich zeigte –“

à bas die zahllosen kleinen Inseln, die überall auf den Wellen schwimmen wie Wasserrosen, zerstört der Mäusethurm Hatto’s, zerrissen die malerischen Ufer in abscheuliche Sumpfstellen! – Kein Plätzchen mehr gelassen für das Hoflager der Elfen, für das nächtliche Treiben all’ jener reizenden Gestalten der Sage, die sich hier bekanntlich seit alten Zeiten zu ergehen pflegen, – überall Steindämme, wo kein Fuß wandeln kann als höchstens einer mit Hufeisen beschlagen, und keine Freude mehr gelassen für die Menschen! Wohin mit den Gesunden und Kranken, Frohen und Traurigen? Wohin mit den jungen glücklichen Hochzeitsreisenden, den sommerlichen Zugvögeln, der Schaar der fahrenden Schüler und lustigen Maler, die Alle ein Stück jener herzerfrischenden Rheinpoesie mitnahmen in das Alltagsleben, als eine unverwelkliche Erinnerungsblüthe? Statt der Villen werden Hospitäler für Fieberkranke entstehen und statt des Weines wird man jenes „Gewächs“ schlürfen lernen:

„sieht aus wie Wein –“

von dem schon der selige Claudius behauptete:

„Man kann dabei nicht singen,
Dabei nicht fröhlich sein –“

Und der Wandsbecker Bote war an seiner deutschen Dichtertafel nicht einmal verwöhnt durch einen feinen Rheinwein, und hat ohne Zweifel nur in seinen Träumen, und selbst da noch schüchtern, Johannisberger oder Steinberger gekostet. – Der schöne See zwischen Mainz und Bingen, vor dessen blankem Spiegel Frau Sonne besonders gern Toilette machen soll, und von dessen bewegten Wellen in der Nacht jener Thau aufsteigt für die Rebenhügel, der sie labt, wenn der Regen sie nicht tränkte, er soll verschwinden, – der köstliche Johannisberger, der Geisenheimer, Steinberger, Rauenthaler, sie sollen zur Sage werden, verkümmern und versauern! – Und warum das Alles? – „Weil,“ so antwortet die Augsburger Allgemeine Zeitung, „die Herren Schleppschifffahrtsactionäre nicht die Schiffe nach dem Strom bauen, sondern den Strom nach den Schiffen construirt haben wollen!“ – „All’ diese Schmach für elenden Gewinn!“ ruft die Kölner Zeitung aus. „Im Interesse der kaufmännischen Speculation einiger weniger reicher Leute soll eine ganze Gegend, die seither der Stolz und das Entzücken Deutschlands war, wohin alljährlich Tausende aus fernen Ländern pilgerten, ja, soll die Gesundheit von allen Bewohnern des Rheingau’s schnöde geopfert werden!“

Aber nein, und tausend Mal nein! „Sie sollen ihn nicht haben!“ Das sei hier unser gemeinsames Motto. Wir Alle müssen einig sein dieser Zeitfrage gegenüber! – Wer nur eine glückselige Stunde an jenen gesegneten Ufern verlebte, wer nur einen Tropfen goldenen Rheinweines trank, wer noch Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, und ein warmes Herz für die Zierde und den Stolz Deutschlands, der erhebe sich und helfe bitten und streiten für unsern Rhein;

„Ob sie wie gier’ge Raben
Sich heiser nach ihm schrei’n! –“

Es ist keine deutsche Sentimentalität, wenn uns der Gedanke unerträglich erscheint, unsern königlichen Rhein die Arbeiten eines Knechtes verrichten und seine Schönheit zerstört zu sehen, die feinsten Empfindungen des deutschen Herzens werden verletzt bei solcher Vorstellung. Man nimmt uns mit dieser Schönheit den Hort der deutschen Poesie! – Und nicht das theuere Vaterland ist es, das solch’ ein Opfer von uns fordert – ihm allein würden wir es ohne Klage bringen – nein, im Interesse Einzelner soll das reizvollste Landschaftsgemälde zerstört werden.

Aber wir haben ja allgemeine Wehrpflicht! Nun, so wehren wir uns doch gründlich, mit Hand und Mund gegen den Feind: Rheincorrectur! – Alle, Alle, Groß und Klein, Jung und Alt versuche seine Kräfte! Und einen mächtigen Helfershelfer haben wir auf unserer Seite: Bismarck hilft mit!

Sagte er doch: „Die Interessen der Uferbewohner müssen vor Allen berücksichtigt werden, ehe etwas für die Schifffahrt geschieht. Für mich persönlich hat aber auch die ästhetische Seite dieser Sache eine große Bedeutung.“

Tritt mit diesem Worte der Mann von Eisen nicht entschieden auf die Seite der Poeten und Aller, die aus vollem Herzen rufen: „Sie sollen ihn nicht haben!“? Und so dürfen wir hoffen – mit vollster Zuversicht – daß er für unsere Bitte auch einem Königspaar gegenüber sprechen werde, dessen Machtwort das Felsenschloß der Loreley vor der Zerstörung schützte – und daß es bald heiße:

„Sie werden ihn nicht haben!“


Pariser Kinder. Eine stereotype Figur von Paris, welche man an bestimmten Wochentagen in den Straßen sehen kann, sind die kleinen Wäscherinnen. Ein armes Kind von zwölf bis vierzehn Jahren trägt von Schweiß triefend, einen großen Korb mit Wäsche auf den Schultern, läuft damit oft von einem Ende der Stadt zum andern und steigt wohl fünf bis sechs Treppen hoch. Nachdem die reine Wäsche abgeliefert und nachgesehen, ob alles richtig ist, wird der Korb wieder mit schmutziger Wäsche vollgepackt. Man sieht das Mädchen alle Augenblicke anhalten und Athem schöpfen.

Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Kaum ist die Arbeit zusammengeholt worden, so beginnt das Seifen, Schlagen und Bürsten. Winter und Sommer die Arme im Wasser, aus dem Warmen in’s Kalte und umgekehrt. Und dabei hören diese in so zartem Alter befindlichen Mädchen die häufig obscönen Gespräche der alten Wäscherinnen. Physisch und moralisch dringt das Uebel auf diese armen Kleinen herein. Sie nehmen die feuchte Wäsche auf ihre Schultern und tragen sie zum Trocknen. Nun beginnt das Bügeln, das Eisen ist glühend. Von diesem ausgebreiteten Leinen steigt ein ungesunder Dampf empor, den die kleine Büglerin einathmen muß. Diese Arbeit und das schwere Lasttragen fordern viele Opfer, viele sterben, ehe sie Frauen werden. Diejenigen, deren Natur kräftig genug ist, werden vor der Zeit alt und gebrechlich. Fast alle verlieren ihre Zähne; allmählich gewöhnen sie sich an alkoholhaltige Getränke, um sich zu erwärmen, und um dem einen Uebel zu entgehen, fallen sie oft in ein anderes, noch größeres. Ein französisches Sprüchwort sagt: „Die Kinder sind der Reichthum des Arbeiters.“ In der That werden sie häufig genug ausgebeutet.

Eine ganz besondere Betrachtung erfordern die gemietheten Kinder. Man begegnet zuweilen in den alten Vierteln von Paris, unter einem Thorweg zusammengekauert oder an der Ecke eines öden Platzes, einer Frau leidenden Aussehens, auf ihren Armen ein Kind und noch von fünf oder sechs andern umgeben, die sich alle in einem Abstand von einem Jahre zu folgen scheinen. Die Frau bettelt eigentlich nicht, sie spricht Niemanden um eine Gabe an; aber ihr Blick, den sie auf den Vorübergehenden erhebt, ist so von Schmerzen und verborgenen Leiden durchfurcht, ihre Stimme ist so zitternd, daß man nicht anders kann als in die Tasche greifen und der armen Mutter ein Geldstück zuwerfen. Ihr Zustand dringt bis auf den Grund des Herzens.

Indeß der Beobachter, vielleicht der Skeptiker, will solchem Elend auf den Grund gehen, er versteckt sich und sieht zu, was weiter aus der armen Mutter wird, und erfährt leider nichts Gutes. Diese arme Mutter mit dem jammerverkündenden Blick hat gar keine Kinder; die improvisirte Familie, mit der sie sich umgiebt, besteht aus kleinen Wesen, welche sie von Eltern gemiethet hat, die noch zehn Mal ärmer sind als sie. In das Haus, welches ich bewohne, kam von Zeit zu Zeit eine arme Frau. Sie war von ihrem Manne verlassen worden und hatte fünf Kinder. Eine Tochter von fünfzehn Jahren war Dienstmädchen, ein Knabe von zwölf Jahren arbeitete in der Malerei, und ihr blieben noch Drei von acht, fünf und drei Jahren.

Eines Tages fragte ich sie, in welche Schule sie ihre Kinder schicke.

„Schule!“ sagte sie erstaunt, „o mein Herr, ich bin zu arm, um meine Kinder in die Schule zu schicken.“

„Aber, liebe Frau,“ antwortete ich, „es giebt einige Schulen mit unentgeltlichem Unterricht.“

„Ich weiß wohl, aber ich bin auch dafür noch zu arm. Meine Kinder müssen verdienen.“

„Wie, Ihre Kleinen müssen verdienen? Was können sie in ihrem Alter einbringen?“

„O, sie verdienen fünfzehn Sous täglich –“

„Aber,“ unterbrach ich, „was können sie denn in ihrem Alter schon arbeiten?“

„Ah, mein Herr, in unserem Hause wohnt eine Frau, welche in den Straßen singt und mir meine Kinder für fünf Sous täglich abmiethet. Sie miethet noch zwei andere in dem Viertel, und das ist ihre Familie, wie sie sagt. Fünf Sous per Stück ist ihr Preis, für Krüppel zahlt sie zehn Sous. Unglücklicherweise sind die meinigen gesund.“

„Unglückliche Frau,“ rief ich aus, „Sie lästern Gott! Und diese Tagediebin kann einen Franc fünfzig Centimes Kosten täglich zahlen?“

„Gewiß, Herr, es giebt Tage, wo sie acht Francs verdient. Und dabei giebt sie den Kindern nichts zu essen, ich muß ihnen des Morgens ein Stück Brod mitgeben. Wie glücklich war da eine meiner Nachbarinnen: diese hatte einen kleinen Knaben, welcher mit zwei Ziegenfüßen geboren war. Sie vermiethete ihn für zwanzig Francs monatlich an Leute, die mit ihm umherzogen und ihn als Naturwunder zeigten.“

Später erfuhr ich, was aus den drei Kindern dieser Frau geworden. Das jüngste hatte das Glück zu sterben, die beiden anderen wurden bei einem Diebstahl ertappt und in ein Correctionshaus gethan.

W.




Inhalt: An alle Lehrer und Erzieher. – Süden und Norden. Eine baierische Dorfgeschichte von 1866. Von Herman Schmid. (Schluß.) – Die Martinsgans. Mit Abbildung. – Mirabeau in Berlin. Von Ingo Ettmüller. – Ein deutscher Gruß von Australien her. Mit Abbildung. – Noch einmal Langensalza, Erinnerungen von Kurt Greß. – Blätter und Blüthen: Sie sollen ihn nicht haben! – Pariser Kinder.


Zu Weihnachten für den Lesetisch der Familie.

Von Herman Schmid, dem Verfasser der in dieser Nummer schließenden, mit so großem Beifall aufgenommenen Erzählung „Süden und Norden“ sind die

Gesammelten Schriften.
Volks-Familienausgab.

bis zum 9. Bande erschienen und werden allen Familienvätern, die ihrem Hause eine durchaus edle und fesselnde Lectüre bieten wollen, für den Weihnachtstisch hiermit angelegentlich empfohlen. Dieselben erscheinen in 18 –20 Bänden, à 7½ Ngr. Einzelne Bände werden nur zu dem vierfachen Subscriptionspreise abgegeben.

Leipzig, Ende October 1868. Die Verlagshandlung von Ernst Keil.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: herrlich
  2. Vorlage: Meschebach
  3. Vorlage: einer