Die Gartenlaube (1870)/Heft 5

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1870
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 5. 1870.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)


4. Bei Hösli’s.

Es war heiß geworden im Laufe des Mittags. Man konnte ohne Bedenken Alfred zu dem Besuche bei den Nachbarn mitnehmen.

Adelheid war elegant gekleidet in einen blaßblauen Sommerstoff mit Sternchen, von glänzendem Stroh gestickt. Ein Hütchen derselben Farbe, inwendig mit einem Diadem von Strohsternchen geschmückt, bedeckte das weithin leuchtende Haar, dessen rother Schimmer die gelben Strohverzierungen matt und weißlich erscheinen ließ. Sie sah aus wie Aurora, die sich aus einer blauen Wolke erhebt und die Sterne ihres Glanzes beraubt. Sie freute sich des neuen Anzuges, sie freute sich ihrer Schönheit, diese Republikaner sollten sie anstaunen in ihrer vornehmen Pracht. Alfred sah sie bewunderungsvoll an, als er so neben ihr herhinkte, und alle Leute, die in die „Enge“ herauswanderten, um den herrlichen Sonntag bei Kaffee und Küchli am Strande zu feiern, blieben stehen und schauten der strahlenden Erscheinung nach, bis sie in das zunächst gelegene große eiserne Portal der Hösli’schen Besitzung verschwand.

Sie schritt durch eine weite grüne Anlage im englischen Styl zu dem Hause, wo ein Diener in schwarzem Frack und weißer Halsbinde bereit stand. Das Gesicht des Dieners contrastirte eigenthümlich zu der hellen Cravatte und Weste, denn es war schwarzbraun. Der Bediente war ein Neger. Adelheid fragte auf Englisch, ob Frau Hösli zu sprechen, und gab ihm ihre Karte. Er führte sie stumm durch das Vestibül nach der Seeseite des Hauses, in einen Empfangssalon, dessen Glasthür die Aussicht auf Garten und See freigab, und Adelheid konnte Frau Hösli beobachten, wie sie sich halb sitzend, halb liegend in einer zwischen schattigen Eichen angebrachten Hängematte wiegte und eine Cigarette rauchte. Herr Hösli saß auf einem niedrigen eisernen Gartenstuhl und blätterte in einer der großen Zeitungen, wie sie nur in auswärtigen Staaten gedruckt werden. Zwischen ihm und seiner Frau stand ein chinesisches Kaffeeservice.

Jetzt überbrachte der Neger die Karte und Frau Hösli las die inhaltsschweren Worte: „La baronne de Salten-Hermersdorff, née Comtesse de Eulenhorst.“ Herr Hösli verschwand mit seiner Zeitung. Frau Hösli erhob sich mit der gleichgültigsten Miene aus der Hängematte und ging auf das Haus zu. Adelheid hatte während ihres langsamen Einherschreitens volle Zeit, die eigenthümliche stumpfe Pracht des Salons, in dem sie sich befand, erneuter Prüfung zu unterwerfen. Es war ein halbrundes Zimmer mit Tapeten von dunkelbrauner Seide, durchwoben von kleinen goldenen Muscheln. Die tief niederhangenden Gardinen, sowie die runden Wanddivans waren von demselben Stoff. Wäre diese kostbare Tapete weiß oder roth oder blau, meinte Adelheid, welch einen fürstlichen Eindruck müßte die Einrichtung machen, während sie in dieser unscheinbaren Farbe eigentlich nach nichts aussah. Thüren und Lamperien waren braun polirt und mit Goldleisten besetzt, der Boden und Plafond bestanden aus der schönsten Mosaik von dunklem Holz. In der Mitte und in den Ecken des Plafonds war kostbares Schnitzwerk mit Arabesken von Gold angebracht. Ein Kronleuchter von matter Bronze mit Mohrenköpfen hing von der Decke nieder, und rechts und links von einem prachtvollen schwarzen Marmorkamin hielten zwei Mohren von Onyx und Alabaster vergoldete Kandelaber. Ueber dem Kamin war ein mächtiger Spiegel in die Wand eingelassen, der den See und die Berge gleichsam in das Zimmer hinein verlegte, da die breite Glasthür mit der Aussicht auf dieselben ihm gerade gegenüber lag. An dieser Mittelwand des Zimmers um den Spiegel herum hingen in Medaillonsrahmen von geschnitztem Holz und Bronze meisterhaft gemalte Oelbilder, sämmtlich Portraits berühmter Staatsmänner Amerika’s. Auch schweizerische Denker und Dichter fehlten nicht, und Alfred betrachtete mit Innigkeit, so oft er das Zimmer betrat, die Bilder Pestalozzi’s, dieses großen modernen Evangelisten der Liebe – Geßner’s, der mit der Feder zu malen und mit dem Pinsel zu dichten verstand, und Lavater’s, vor dessen Seherblick sich die geheime Harmonie zwischen Erscheinung und Wesen des Menschen offenbart hatte!

Viel, unendlich viel dachte der Knabe beim Anschauen dieser stummen Zeugen der Größe eines bescheidenen und in seiner Einfachheit so oft verkannten Volkes, während seine Mutter sich den Kopf zerbrach, was für ein Wappen sich die Hösli’s anmaßten. Ueber der Glasthür war nämlich ein kostbar gemaltes Fenster. Es zeigte in brennenden Farben ein Allianz-Wappen, Adelheid wußte nicht, daß es die vereinten Wappen Zürich’s und Brasiliens waren. Frau Hösli, die Tochter eines Kaufmanns aus Rio de Janeiro, hatte, obgleich sie sich ihrem Manne zu Liebe völlig in die schweizerische Art eingelebt, doch eine stolze und zähe Anhänglichkeit für ihr Vaterland bewahrt. Das Allianz-Wappen war eine Aufmerksamkeit ihres Gatten für sie gewesen.

Außer zwei eingelegten Tischchen von Ebenholz vor den Divans, hatte das Zimmer keinen Schmuck weiter, als eine große antike Vase [66] von schwarzem Marmor auf einem entsprechenden Piedestal, die den Mittelpunkt der Einrichtung bildete und einen Riesenstrauß der schönsten Blumen barg. Alfred näherte sich der Vase und sog neugierig den Duft der herrlichen Rosen ein.

„Stecke die Nase nicht so tief in das Bouquet,“ wehrte Adelheid und war im Begriff, ihm eine Vorlesung über die Schädlichkeit des Blumengeruchs zu halten, wurde jedoch durch den Eintritt der Frau Hösli unterbrochen.

Die Damen begrüßten sich gegenseitig, Frau Hösli durch ein leichtes Kopfnicken, Frau von Salten durch eine nach hinten gezogene Hofreverenz.

Frau Hösli sah keineswegs aus, wie man sich eine Millionärin denkt, was sie doch erwiesenermaßen war. Sie trug ein einfaches Kleid von roher Seide mit Fransen von gleicher Farbe. Es hing in weiten Falten an ihr nieder. Der Begriff Taille schien nicht für sie zu existiren, denn die lockere Jacke war nur um die Hüften mit einem Gürtel gehalten. Alles an ihr war bequem und verrieth einen gänzlichen Mangel an Eitelkeit und Großthuerei. Schmuck trug sie keinen. Ein schmaler weißer Kragen war mit einer geschnitzten Elfenbeinnadel zugesteckt und die Manschetten durch dazu passende Elfenbeinknöpfe geschlossen. Ihre Haare waren schlicht gescheitelt und hinten in einen Knoten gewunden. Ihre Gestalt von mittlerer Größe war etwas beleibt, doch nicht ohne eine gewisse nachlässige Grazie. Die Bewegungen ihres schlanken Kopfes und ihrer tadellosen schönen Hände zeigten Energie und eine jugendliche Elasticität, die es glaublich machte, daß die untersetzte Frau als eine gewandte Reiterin bekannt war und schwimmen konnte wie eine Amphibie. Es ging auch eine erquickliche Kühle von ihrem ganzen Wesen aus, als käme sie soeben aus frischem Wasser. Ihre Hautfarbe war rein und durchsichtig, ihre Augen hell und bläulichgrün, aber sie hatten keinen falschen Blick, wie gewöhnlich Augen von dieser Farbe, sie waren groß, ruhig, klar wie stille Seen, in deren Spiegel grüne Ufer und blauer Himmel ineinanderfließen. Es war etwas in ihr, was beständig an das reine, reinigende Element des Wassers gemahnte, als wäre nie ein Stäubchen dieser Erde an ihr haften geblieben, das nicht durch Fluthen von ihr abgespült worden. Dabei hatte sie aber nichts Schwankendes, Verschwimmendes mit dem Element gemein, das ihr so heimisch war; wie biegsam auch ihre weichen Glieder sein mochten, in sich selbst war sie haltvoll, fest, unverrückbar. Das lehrte ein einziger Blick auf sie und das fühlte Adelheid mit einer Art von Neid als etwas, das der geringeren Frau ein Uebergewicht über sie gab und sie demüthigte. An dieser Frau war alles so flecken- und makellos, Leib und Seele! Sie war so kalt, so unberührt von Allem, was an Adelheid’s Leben und Jugendblüthe zerrte und fraß – sie war reich, gesund und vorwurfsfrei, das war alles unverkennbar, die Glückliche! Und Adelheid, was war sie? Sie richtete sich mit Anstrengung in sich selbst auf: sie war vornehm!

„Wollen Sie Platz nehmen?“ Frau Hösli deutete auf einen der Divans. „Wie geht es Ihnen, Alfred?“ fragte sie den Knaben, der schüchtern ihre dargebotene Hand ergriff. „Setzen Sie sich zu uns.“

„Ist Aennchen nicht zu Hause?“ flüsterte Alfred verlegen.

„O ja, aber –“ Frau Hösli blickte auf Adelheid, „sie taugt wohl nicht zu Ihrer Spielgefährtin, lieber Alfred.“

„Gnädige Frau!“ sagte Adelheid mit Ueberwindung, sie konnte sie doch unmöglich Frau Hösli nennen! „Ich bin gekommen, um ein bedauerliches Mißverständniß aufzuklären von dem ich kaum weiß, wie es entstanden!“ Sie erklärte nun in sehr beredten Worten, daß Alfred’s Aussehen an diesem Morgen sie erschreckt und wie sie in diesem Schrecken Aennchen gebeten habe, ein andermal zu kommen, daß sie aber untröstlich wäre, wenn Alfred diesen charmanten Umgang einbüßen sollte. Sie schloß endlich mit der Bitte, Frau Hösli möge Alfred gestatten, seine liebe kleine Freundin aufzusuchen.

Frau Hösli hatte diese Entschuldigung mit großer Ruhe aufgenommen. „Es ist mir lieb,“ sagte sie einfach, „daß nicht irgend eine Unart Aennchens die Ursache war, um derentwillen Sie das Kind heimschickten. Und ich bitte, machen Sie es nur wieder so, wenn Aennchen Ihnen lästig wird. Ich gestehe gern, daß, wer immer das Glück hatte, so gesunde Kinder zu besitzen wie ich, sich kaum denken kann, welcher Schonung oft ein kränkliches Kind bedarf! Ich finde zwar, je mehr ein Kind seine Kräfte gebraucht, desto stärker wird es – doch das mag bei Alfred etwas Anders sein, und Sie werden das besser beurtheilen können als ich.“

„O glauben Sie mir,“ betheuerte Adelheid, „die Erhaltung dieses Kindes erfordert ein Studium, dem ich mein ganzes Leben widme.“

„Sie befehlen also, daß ich Aenny rufe?“ brach Frau Hösli ab, denn sie fand es entsetzlich, daß in Gegenwart Alfred’s so der Gefahr erwähnt wurde, in der sein Leben schwebte. Sie drückte dreimal am Knopf einer elektrischen Klingel. Der Neger erschien unter der braunen Portiere der Eingangsthür. „Frank,“ sprach sie auf Englisch „Mademoiselle Düchène soll Aenny bringen.“

Frank entfernte sich stumm. Er suchte Aenny im Garten auf, wo sie mit einer französischen und einer deutschen Erzieherin Reif spielte. Er richtete seinen Auftrag gewissenhaft aus, aber Aenny wollte nicht von Fräulein Düchène gebracht sein, sondern auf Frank’s Schultern reiten. Alles Reden half nichts, Frank, der liebe, der herzige Frank, mußte sie tragen. Sie war an ihm in die Höhe geklettert und arbeitete mit Händen und Füßen, um Frank in Bewegung zu setzen, bis er endlich in einen wilden Galopp verfiel. Denn es gab für den Schwarzen keinen andern Willen, als den Aenny’s. „Our child would so“, war seine Entschuldigung für jegliche Tollheit, die Aenny mit seiner Hülfe anstellte. Frank ließ das Leben für seine Herrschaft, aber „unserem Kinde“ einen Wunsch abzuschlagen, das ging über seine Kräfte, das durfte man nicht von ihm verlangen. So trabte er denn mit seinen einwärts gekehrten flachen Füßen durch den Garten, Aenny jauchzte und schrie und hielt sich in Frank’s krausen Locken fest, denn das ungestüme Pferd stieß fürchterlich. Die Gouvernanten eilten in Verzweiflung hinterdrein, und so kam der abenteuerliche Zug zum größten Entsetzen der Frau von Salten vor der Glasthür in Sicht. Der Schwarze hielt an, als er sah, daß er vom Zimmer aus bemerkt wurde, und lud die sich sträubende Aenny ab, seine Miene wurde plötzlich amtsmäßig ernst und seine Haltung so stramm, als hätte er einen Ladestock im Rücken. Dann schritt er mit dem seiner Race eigenen löwenartigen Anstand voraus und öffnete Aenny die Thür, um sie eintreten zu lassen.

„Guten Tag,“ sagte Aenny mit einem etwas schnippischen Knix zu Adelheid und ließ sich nur mit Widerstreben von ihr herbeiziehen. „Wozu küssen Sie mich, Sie können mich ja doch nicht leiden,“ sagte das schreckliche Kind und wischte sich den herablassenden Kuß, der ihm aufgezwungen, ungenirt wieder ab.

„Aenny!“ sagte Frau Hösli streng, „wenn Du so ungezogen bist, dann ist es nur in der Ordnung, daß Frau von Salten Dich nicht leiden kann.“

Da trat Alfred schüchtern wie immer auf Frau Hösli zu und sagte: „Bitte, verzeihen Sie Aennchen, es hat ja ganz Recht, wenn es aufrichtig ist. Sie werden es doch nicht strafen wollen, weil es nicht unwahr sein will?“

Auf diese einfachen Worte des Knaben ließ sich für den Augenblick freilich nichts erwidern, und Aennchen schnitt jede Erörterung einfach ab, indem sie ihre Aermchen um Alfred schlang und rief: „Du guter Alfred, Du braver Bub’, das ist schön von Dir, daß Du zu mir hältst. Du bist gar nicht so dumm, ich sagt’s ja immer. Nun komm nur, ich muß Dir was zeigen, meine Brüder bauen eine Festung hinten am Schänzli und heute Abend stürmen wir sie und werfen Raketen hinein und zuletzt wird sie mit Pulver in die Luft gesprengt, o das wird ein Tag!“

„Aber das ist ja lebensgefährlich!“ meinte Alfred erschrocken.

„Aha, läßt’s Dich schon wieder mit der Courage im Stich?“ lachte Aennchen, „na sei nur ruhig, es geht ja noch nicht los.“

„Aenny, schweig’ jetzt und führe Deinen Freund in den Garten,“ befahl Frau Hösli, und zu den Gouvernanten sprach sie mit unverkennbarer Betonung: „Ich hoffe, die Damen werden Aenny’s Betragen gegen den jungen Herrn streng überwachen.“

„Wir werden thun, was wir können!“ betheuerten diese und machten einen Versuch, Aennchen vorläufig bei der Hand zu nehmen.

Diese aber entwischte ihnen und war kaum draußen, als sie auch schon wieder umkehrte und auf Englisch hereinschrie: „Aber Mama, nicht wahr, Frank darf mitspielen, es ist ja heute Sonntag?“

„Wenn Frau von Salten nichts dagegen hat?“ sagte Frau Hösli.

„O durchaus nichts,“ betheuerte Adelheid, der Alles, was sie gesehen und gehört, den Angstschweiß auf die weiß getünchte Stirn trieb. Sie hatte ein Gefühl, als müsse sie ihr Kleid zusammennehmen, [67] es könnte ihr hier vom Leibe getreten oder zerrissen werden, und doch war sie nun mit Frau Hösli allein, der sie eine gewisse Haltung nicht absprechen konnte.

Aenny lief jubelnd in den Garten zurück, rief auf Englisch Frank herbei, wehrte sich auf Französisch gegen Fräulein Düchène, die es unternehmen wollte, ihr im Fluge den Kragen anzustecken, der ewig krumm saß, und stritt auf Deutsch mit Fräulein Körner, die nie das Spiel vorzuschlagen wußte, welches Aenny’s augenblicklicher Stimmung angemessen war. So trieb sich die Kleine gleichsam zwischen den Sprachen und Menschen zweier Welttheile herum, ohne eine Ahnung zu haben, welch’ eine Ueberlegenheit anderen Kindern gegenüber ihr das gab. Es verstand sich so von selber bei ihr. Sie dachte nicht, wie viel weiter ihr geistiger Horizont war, als der anderer Kinder, aber sie fühlte sich frei und beschwingt unter demselben, und ihre unbändige Lebenskraft fand eine mächtige Entwickelung in der ihr selbst unbewußten kosmopolitischen Anschauung, zu welcher sie erzogen wurde.

„Es wundert mich, daß Sie den Muth haben, Ihr Töchterchen so viel diesem Halbwilden zu überlassen,“ meinte Frau von Salten und sah mit Schrecken, wie der herbeigekommene Neger draußen ihren Sohn auf den Arm nahm. Aenny hatte beliebt, auf der Terrasse vor dem Hause das Reifenspiel fortzusetzen, und da der arme schwerfällige Knabe sich nicht so rasch hin und her bewegen konnte, als das Spiel erforderte, so hob Frank ihn auf seine Schulter und sprang so mit ihm den Reifen nach, daß Alfred sie bequem stechen und wieder werfen konnte. Das war ein unerhörtes Vergnügen für den Knaben. Er vergaß das Beschämende, was für ihn in seinem Alter darin lag, sich tragen lassen zu müssen, er war ja an seine Hülflosigkeit gewöhnt und die Neuheit eines solchen Spiels, die Annehmlichkeit der mühelos raschen Bewegung versetzte ihn in eine ganz ungewohnte Aufregung und Freude.

„O Herr Frank, wie gut Sie sind!“ rief er entzückt. „Werde ich Ihnen denn nicht zu schwer?“

Der athletische Mann blickte Alfred mit seinen guten großen Hundeaugen mitleidig an und sagte in seinem ergötzlichen Englisch-Deutsch: „Armes weißes Kind, – ist gerade, wie wenn kleiner Vogel fragt’, ob ist zu schwer für Baum.“

Aenny lachte über das bei Frank seltene Wagniß einer so langen Rede, auch Fräulein Düchène stimmte ein. Aber ein Blick ruhte ernst und gerührt auf seinem schwarzen Gesicht, während er die unbeholfenen Worte sprach, er kam aus den blauen seelenvollen Augen des Fräulein Körner.

Niemand hatte den Blick bemerkt, als drin im Zimmer die still beobachtende Frau Hösli, und sie lächelte heimlich vor sich hin.

Adelheid aber konnte die Vertraulichkeit zwischen dem Mohren und ihrem Sohne nicht länger mit ansehen. Sie erhob sich, um Alfred hereinzurufen. Frank setzte ihn erschrocken zur Erde, als er den unwilligen Ton hörte, mit dem die schöne Frau ihn anrief. Ein allgemeines „Ach“ erscholl, als sie erklärte, daß Alfred von dem wilden Spiel etwas ausruhen müsse. Schweigend wie immer gehorchte Alfred und setzte sich in eine Ecke des Zimmers, während Aennchen draußen weiterspielte. Aber der sicheren Beobachtung Frau Hösli’s entging es nicht, daß es in dem Knaben arbeitete und kochte, daß er einen ausbrechenden Unmuth niederkämpfte. Auch in ihr hatte sich eine tiefe Entrüstung über das engherzige Benehmen Adelheid’s geregt, und sie konnte nicht umhin, die unklare Stelle in dem Wesen der jungen Frau unnachsichtig aufzudecken. Sie sah sie mit ihren wunderbaren Nixen-Augen durchdringend an und fragte: „Es war Ihnen wohl unangenehm, daß ich den Neger mitspielen ließ?“

„Nun, es ist doch immer etwas Unheimliches, sollte ich meinen, um einen Menschen, der dem Thiere noch so nahe ist.“

Frau Hösli schaute groß auf. „Wären nur manche Menschen dem Thiere noch so nah, wie unser Frank, es wäre mehr Treue und Wahrhaftigkeit in der Welt! Dieser Schwarze hat die Stärke eines Löwen, die Anhänglichkeit eines Hundes und gerade so viel Verstand, als nöthig ist, um ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu sein.“

„Sie finden also, daß diese Neger wirklich brauchbare Bedienten werden können?“ frug Adelheid ungläubig.

„Ich wünsche mir keinen besseren Diener und keinen besseren Freund als unseren Frank. Er ist mein Milchbruder, denn als ich geboren ward, starb meine Mutter und es blieb auf dem entlegenen Landhaus, das meine Eltern im Sommer bewohnten, nichts übrig, als mir eine Negerin, Frank’s Mutter, zur Amme zu geben. Mein Vater wollte sie nicht von ihrem Knaben trennen und so wuchsen wir mit einander auf. Frank ist ein lebendiges Beispiel, was aus einem Neger durch Erziehung zu machen ist.“

Adelheid schüttelte den Kopf: „Das wundert mich wirklich von Jemandem zu hören, der diese Halbmenschen doch wie Sie aus eigener Anschauung kennen muß.“

„Ob ich sie kenne, diese arme mißhandelte Race!“ sagte Frau Hösli warm. „Mein Vater hielt auf seinen Pflanzungen selbst Sclaven, aber er hielt sie wie seine Kinder und sie liebten ihn wie einen Vater. Mit Stolz darf ich es sagen, er war der Wohlthäter von Hunderten armer gequälter Geschöpfe. Arbeiten mußten sie, wer muß es nicht? Aber sie durften unter seinem Schutze Familien bilden und besaßen alle die Menschenrechte, zu deren Genuß ihr niedriger Zustand sie fähig machte. Er war ein Menschenfreund, wie es wenige giebt, und wären alle Sclavenhalter seiner Gesinnung, die Sclaverei wäre eine Einrichtung der Humanität, eine Wohlthat geworden! Aber leider sind sie es nicht und so bleibt nichts übrig, als die mißbrauchte Gewalt zu vernichten, den Unmündigen eine verfrühte Mündigkeit zu geben, um sie vor der Grausamkeit ihrer Peiniger zu retten.“

„Ich habe gehört, die Neger seien durchaus unbildsam und alle Mühe, die man sich mit ihnen gebe, sei weggeworfen,“ fiel Adelheid ein.

„Möglich, daß die schwarze Race das Höchste nicht erreichen kann. Aber, mein Gott, was würde denn aus der Welt, wenn Alle nach dem Höchsten streben müßten, wer würde sich noch zu der niederen Arbeit des Lebens hergeben, wenn Alle das Höchste erreichen könnten? Wenn es uns also auch nicht gelingt, diese unglücklichen Geschöpfe zu uns emporzuziehen, wenn wir sie nur so weit bringen, wie unser gemeines Volk jetzt ist – so werden wir wenigstens allmählich einen freien tüchtigen Bauern- und Handwerkerstand aus ihnen schaffen. Ist dies nicht schon der Mühe werth? Und wenn selbst wir und unsere spätesten Nachkommen es nicht mehr erleben – denn eine viele Jahrhunderte lange Versäumniß in der Entwickelung eines Volkes holt sich auch erst in Jahrhunderten nach – mich soll doch keine Minute reuen, die ich dem Mitgefühl und der Hoffnung für die Sache unterdrückter Mitmenschen geweiht.“

„Ach, Frau Hösli, Sie sprechen schön,“ rief jetzt plötzlich Alfred, der seine Aufregung nicht mehr zurückhalten konnte. Er athmete tief und seine Augen hafteten strahlend auf Frau Hösli. „Siehst Du, Mutter, siehst Du, so denke auch ich – alle Menschen lieb haben und allen das Beste zutrauen, wie schön ist das! Ach, Frau Hösli, Sie und Aennchen dürfen wohl lieb haben, wen Sie wollen, und Niemand wehrt es Ihnen?“ Die Gefragte sah den Knaben erstaunt an; Adelheid erröthete.

„Darfst Du denn das nicht auch?“ fragte sie mit einem halb verlegenen, halb verweisenden Blick.

„Nein, Mutter, das darf ich nicht! Ach, ich darf ja so vieles nicht, was Aennchen darf, aber das ist doch das Schlimmste, denn das ist etwas, wovon ich nicht lassen kann, und ich habe immer ein böses Gewissen, weil ich hierin nie gehorsam bin und eine ganze Menge von Leuten, die ich nicht lieb haben soll, heimlich doch lieb habe!“

„Alfred!“ rief die Mutter verwirrt und ängstlich, er könne noch mehr sagen, aber Alfred schmiegte sich an Frau Hösli, als suche er bei ihr Schutz, und fuhr fort:

„Und siehst Du, Mutter, Frau Hösli steht doch so hoch über den Negern, weit höher als wir über“ – er besann sich – „über allen denen, die Ihr nicht mögt, aber sie liebt die Neger doch, wie ihre Brüder, und der Mohr da draußen darf mit Aennchen spielen; als aber unser Christian, der doch ein Weißer war, mit mir spielen wollte, sagtet Ihr auf Französisch, ein Bedienter sei kein Spielcamerad für mich. Der arme Christian verstand ein wenig Französisch und es that ihm so weh, das zu hören, daß er aus dem Dienst ging.“

„Lieber Alfred,“ sagte Frau Hösli und legte dem Knaben ihre schöne weiße Hand auf die Schulter. „Ihre Mutter wird hierzu wohl Gründe gehabt haben, die Sie noch nicht beurtheilen können. Ein Kind hält manchmal Menschen für liebenswerth, die es nicht sind, und möchte sich an Jemanden anschließen, von dem es nur Schlechtes lernen könnte. Davor müssen die Eltern es behüten und deshalb muß es gehorchen, ohne zu fragen, ob die Eltern Recht oder Unrecht haben!“

[68] In diesem Augenblick erhob Aennchen draußen ein furchtbares Jubelgeschrei und Herr Hösli eilte mit einer Depesche in der Hand, von Aennchen und Frank gefolgt, durch den Garten. Die Art, wie Frank die Thür aufriß, um seinen Herrn eintreten zu lassen, verkündete den Anwesenden schon, daß dieser etwas Gutes bringe.

Herr Hösli war ein eleganter stattlicher Mann von etwa fünfzig Jahren. Er hatte einen dunkeln Backenbart und schwarze lebhafte Augen. Sein ganzes Wesen hatte etwas Ueberlegenes ohne eine Spur von Ueberhebung. Ein Grübchen im Kinn gab ihm etwas Humoristisches, Schalkhaftes, das den meisten Schweizern eigen ist. Das harte Idiom seines Vaterlandes, das kein Schweizer jemals ablegt, ließ ihn im ersten Augenblick spießbürgerlich erscheinen, aber nach wenigen Worten schon war der Mann von Welt unverkennbar.

„Verzeihen Sie, meine gnädige Frau,“ rief er und küßte Adelheid die Hand, „daß ich so hereinstürme, aber ich kann meiner lieben Frau diese Freude nicht einen Augenblick vorenthalten. Ellen, unser Heiri kommt morgen! Da hast Du das Telegramm!“

Frau Hösli saß mit gefalteten Händen da, sie konnte vor Freude kein Wort herausbringen als „Gott sei Lob und Dank!“ Sie warf einen Blick in das Telegramm, ihr Antlitz röthete sich, es war als wollten die grünen Seen ihrer Augen sich über die Wangen ergießen, so reich quollen die Freudenthränen hervor und das Blatt zitterte in ihrer Hand. Aber nur einen Augenblick ließ sie sich von der Bewegung übermannen, dann besann sie sich ihres Besuches und daß derselbe ihre Freude weder verstehen noch theilen könne. Sie steckte das Telegramm sorgfältig in die Tasche, das nichts enthielt als in englischer Sprache die wenigen Worte: „Vater, Mutter, ich komme! Ich grüße Euch, die Geschwister und Großeltern! Morgen Abend bin ich bei Euch! Henry.“ „Verzeihen Sie die Familienscene,“ sagte sie gefaßter zu Frau von Salten. „Die Freude war zu groß! Seit vier Jahren habe ich meinen Aeltesten nicht gesehen und wir erwarteten ihn erst in einigen Wochen, daher die Ueberraschung.“

„O, da muß ich ja sehr um Entschuldung bitten, daß ich eine solche Freude gestört,“ erwiderte Adelheid aufstehend.

„Sie werden sie erst stören, wenn Sie uns Ihrer Gegenwart berauben,“ sagte Herr Hösli artig.

Adelheid mußte zugeben, daß der Mann Manieren hatte, die denen echter Cavaliere zum Verwechseln glichen, aber sie war zu sehr im Innern entrüstet über die Verlegenheit, die Alfred ihr bereitet, um noch etwas Anderes zu beachten. Aenny hatte mittlerweile Alfred erzählt, ihr Bruder sei schon neunzehn Jahre alt und als sie nach Europa übergesiedelt, sei er noch zwei Jahre in Amerika geblieben und habe sich dann noch ebenso lange in England aufgehalten, um das Maschinenfach zu studiren. Aenny wußte das Alles ganz genau und sie war stolz darauf, Alfred die interessante Mittheilung machen zu können, daß ihr Bruder einen neuen Dampfkessel für die Fabrik mitbringe, der viel besser sei als der alte und einen völligen Umbau der Fabrik erfordere. Alfred, der in seinem Leben noch nie von solchen Dingen gehört hatte, hegte die größte Bewunderung für Aennchens umfassende Kenntnisse und hätte ihr gern noch zugehört, aber ein gebieterischer Ruf seiner Mutter machte auch diesem Vergnügen ein Ende.

„Mutter,“ bat Alfred, „ich möchte Herrn Frank noch Adieu sagen, weil er so gut gegen mich war, darf ich?“

„Dazu ist jetzt keine Zeit,“ erwiderte Adelheid streng. „Ich bitte, komm.“

Alfred fügte sich mehr aus dem Gefühle der Schicklichkeit als aus Angst vor der erzürnten Frau.

„Leben Sie wohl!“ sagte er zu Frau Hösli und küßte ihr mit einem Ausdrucke liebevoller Ehrfurcht die Hand. Wieder traf ihn ein Blick des Unwillens von seiner Mutter. Aber zugleich verneigte sie sich tief vor Frau Hösli, duldete, daß Herr Hösli nochmals ihre Finger an seine Lippen führte, und wünschte Beiden ein recht ungetrübtes Wiedersehen mit ihrem Herrn Sohne. Als sie das Zimmer verlassen wollte, wurde sie noch einmal aufgehalten, denn die frohe Kunde von der Rückkehr des Erstgeborenen hatte auch die Großeltern aufgestöbert und aus ihrer Wohnung im oberen Stockwerke heruntergelockt. Die Eltern Hösli’s waren Schweizer vom echten alten Schlage geblieben. Herr Hösli senior, Oberbürgermeister von Zürich, war ein Greis von nahezu achtzig Jahren, aber so frisch und rüstig wie ein angehender Sechziger. Seine dichten weißen Haare standen widerspenstig und kraus in die Höhe, sein scharfer adlerartiger Blick bekundete geistige Regsamkeit und Energie. Er glich seinem Sohne, nur war die Nase etwas mehr gebogen und er trug keinen Bart. Aber auch er hatte das charakteristische Grübchen im Kinn, das durch die herabhängenden Mundwinkel noch tiefer erschien und selbst dem hochbetagten Herrn noch einen schelmischen Zug gab, der ihm sehr gut stand. Er rauchte aus einem kleinen Porcellanpfeifchen einen herzlich schlechten Tabak, und selbst diesen mäßigen Genuß gönnte er sich nur Sonntags – die ganze Woche hindurch wäre es zu theuer gewesen. Er trug einen groben altmodischen Rock und eine Tuchweste, von der er den Leuten gern erzählte, daß sie aus dem Frack zugerichtet sei, in dem er vor fünfunddreißig Jahren sein Amt als Oberbürgermeister von Zürich angetreten habe. Aus der Rocktasche hing ein rothes baumwollenes Schnupftuch; Herr Hösli hatte sich noch nie den Luxus eines Foulards erlaubt, obgleich er der größte Seidenfabrikant Zürichs war, ehe er das Geschäft seinem Sohne übergeben.

Frau Hösli war das würdige Seitenstück ihres Gatten. Klein und mager, mit einem weißen, glatt anliegenden Häubchen und einer schwarzseidenen Schürze war sie das Bild einer einfachen Bürgersfrau, und bei aller Freundlichkeit und Mühe, die sie sich gab, gelang es ihr doch nicht, sich Adelheid verständlich zu machen, denn ihre Sprache war so ausschließliches „Züribieter“ Deutsch, daß es Adelheid vorkam, als spräche sie hebräisch. Es war schade, daß Adelheid sie nicht verstand, denn die Miene der alten Frau weissagte eine Menge guter wohlgemeinter Dinge, die in der undeutlichen rauhen Form wirkungslos an der verstimmten Adelheid abprallten und ihres Zwecks verfehlten, und nachdem auch der alte Herr Hösli seinerseits mit nicht besserem Erfolg versucht hatte, die Frau Baronin seines Respectes zu versichern, wobei er jedoch – leider! – vergaß, die Pfeife wegzulegen, gelangte Adelheid endlich in’s Freie.

Raschen Schrittes, als würde sie gejagt, eilte sie ihrem Hause zu, so daß Alfred kaum folgen konnte und hinterdrein hinkte.

„Eine schöne Frau,“ sagten Hösli Vater und Sohn zu einander, als sie den Rücken gewandt; „schade, daß sie so hochmüthig ist, man kann keine Nachbarschaft mit ihr halten.“

„Was sollen wir auch mit diesen vornehmen Müßiggängern?“ meinte Frau Hösli die jüngere; „wir haben ja kein gemeinsames Interesse. Diese deutschen Frauen verlieren sich in lauter Kleinlichem und haben für nichts Allgemeines Sinn. Man kann bei ihnen nichts lernen. Und nun gar diese Saltens! Was thun sie, wozu sind sie auf der Welt? Treiben sie irgend etwas Nützliches, eine Wissenschaft, ein Gewerbe, oder bekleiden sie ein Amt? Nichts gar nichts! Was sollen wir also mit diesen Leuten? Unthätige Menschen haben immer Langeweile und wollen von Anderen unterhalten sein; sollen wir unsere Zeit damit verderben, ihnen die ihrige zu vertreiben? Mich jammert nur der arme Alfred; um seinetwillen kann ich es nicht über mich gewinnen, den Verkehr mit ihnen abzubrechen. Der Kleine hätte ja gar keine Lebensfreude, wenn er nicht hie und da bei uns aufthaute, und es ist ein so liebes begabtes Kind.“

Sie ergriff den Arm ihres Mannes. „Aber nun genug von den Fremden! Wir wollen darauf denken, was für einen Empfang wir unserm Heiri bereiten, wenn er morgen das Elternhaus betritt.“

(Fortsetzung folgt.)




Ein Denkmal für das „treue deutsche Gewissen“.

Der alte Arndt soll auch auf seinem Kreidefels, auf seiner Heimathinsel Rügen ein Denkmal erhalten! Zur Ausführung dieses Wunsches ist ein Ausschuß von patriotischen Männern zusammengetreten, welche dieses Unternehmen dankbarer Vaterlandsliebe schon vor Arndt’s hundertjährigem Geburtstag der Nation an’s Herz gelegt haben und nun ihre Aufforderung wiederholen.

Wer und was der alte Arndt gewesen, das weiß heute in Deutschland Gottlob schon das Kind in der Schule. Es ist uns

[69]

Der projectirte Arndt-Thurm auf dem Berge Rugard, Insel Rügen.

[70] nur eine wohlthuende Wiederholung, wenn wir noch einmal uns des Mannes Seelenbild vor Augen halten. Hat doch Arndt, wie alle großen Männer, das Schicksal gehabt, daß er vielfach verkannt, oft mißverstanden und geschmäht worden ist, daß man ihm Schwanken in seiner Parteistellung und Wankelmüthigkeit in seiner politischen Anschauung und Thätigkeit vorgeworfen hat. Ob Arndt Diplomat, ob er Politiker gewesen, wollen wir dahingestellt sein lassen. Das aber werden selbst seine Feinde und Gegner nicht in Abrede stellen, daß er als Dichter und Mensch groß dasteht.

Arndt’s Zeitlieder haben das nicht zu unterschätzende Verdienst, daß sie uns am besten und klarsten die Stimmung einer großen Zeit in ihrer vollen Wahrheit ohne Uebertreibung und Phrase wiedergeben, einer Zeit, wie Deutschland sie seitdem nicht wieder erlebt hat, noch wieder erleben dürfte. So lange das Andenken und die Erinnerung an den Sieg, an den Ruhm und die Freude des Jahres 1813 dauern wird, so lange wird man auch der Sieges- und der Freudenlieder gedenken, die damals gesungen worden sind, so lange wird man sich auch des alten Sängers von Rügen erinnern.

Doch Arndt war nicht blos Dichter, sondern er war vor Allem ein deutscher Mann im vollen Sinne des Wortes. Schlicht und einfach in seiner Erscheinung, ohne allen Prunk und leeren Schein, treu und wahr in seiner Rede, der Schmeichelei und allem heuchlerischer Wesen feind, liebreich gegen Jedermann, doch stets die Manneswürde wahrend und unbeugsam in dem, was er für Recht erkannte. In schwerer hoffnungsloser Zeit hat er den gebrochenen Muth aufgerichtet, im Rathe der Fürsten und ihrer nächsten Diener mit rastlosem Eifer die Erhebung des Volkes in den Freiheitskriegen gefördert, die Feigen und Muthlosen angespornt, die Jugend entflammt und das funkelnde Schwert des Geistes geschwungen, bis das Ziel des Kampfes erreicht war. – Die Einigkeit, die immer wachsende Herrlichkeit seines Vaterlandes – das war der Traum seiner Jugend, die Arbeit seiner Mannesjahre und ist die Hoffnung seines Alters geblieben.

Nachdem so das, was Arndt Menschenalter hindurch unermüdlich erstrebt hat, hoffentlich jetzt seiner Erfüllung entgegengeht, durfte wohl sein hundertjähriger Geburtstag daran mahnen, daß wir ihm, wie ehern er auch bereits als Wächter am Rhein emporragt, doch noch ein Denkmal und zwar auf der Stätte seiner Geburt schuldig sind. Dieses Heimathdenkmal soll uns weder das Bild des Menschen Arndt noch einmal bringen, noch eine architektonische Geschmacklosigkeit von Tempelhalle und Riesenharfe zeigen, wie verschiedene illustrirte Wochenschriften es als geplant mitgetheilt haben, sondern es soll an den festen deutschen Mann erinnern, und darum ist für dasselbe die Form eines Thurmes gewählt, der auf Rügens höchstem Berge, dem Rugard, weit über Land und Meer emporragt und hinausschauen läßt. Unsere Illustration wird wenigstens eine Ahnung von der Herrlichkeit des Rundbildes erwecken, das auf des Arndtthurms Zinne einst vor dem Wanderer sich aufrollt.

Den Grundstein zu diesem Denkmal haben am Tage des hundertsten Geburtsfestes Arndt’s, am sechsundzwanzigsten December v. J., die Männer des Denkmalausschusses mit vielen anderen Verehrern des gefeierten Todten auf dem Felsenwalle des Rugard festlich gelegt. Sorget nun, Ihr Deutschen allerwärts, auch jenseit der Meere, durch Eure Liebesgaben dafür, daß dieser Bau sich recht bald erheben kann! Die Beiträge sende man an das Comité des Arndt-Denkmals zu Händen des Herrn Bürgermeisters Dr. Richter in Bergen auf Rügen oder an die Redaction unseres Blattes zur Weiterbeförderung.




Schulkindkrankheiten oder Schulkrankheiten?
Ohne phosphorhaltiges Gehirn kein Verstand, kein Gemüth, kein Wille, also keine geistige Thätigkeit.
Strafpredigt für Eltern, Lehrer und Schulvorsteher.
II.


Aus dem elterlichen Hause, wo die Verziehung des Kindes in der Regel während der ersten sechs Lebensjahre so recht con amore vor sich geht, wird das Kind der Schule übergeben, und diese soll nun nicht blos den Geist des Kindes bilden, sondern in moralischer Hinsicht auch an demselben Das wieder gut machen, was zu Hause von den Eltern verdorben wurde. Das kann aber die Schule, wie sie zur Zeit gestaltet ist, durchaus nicht, da die armen Lehrer gezwungen sind, eine ganz widernatürlich große Anzahl Kinder von der verschiedensten körperlichen und geistigen Beschaffenheit und Gesittung gleichzeitig nach der Schablone zu bearbeiten. Freilich könnte dies anders und besser sein, wenn nur alle Die, welche Einfluß auf die Schule haben, eine richtigere Ansicht von der Wichtigkeit der Schule und der Schullehrer für die Befreiung des Menschengeschlechts von Unverstand, Aberglauben, Herrsch- und Sclavensinn, lächerlicher Eitelkeit und niedrigem Egoismus hätten, wenn ferner die Gemeinden für Schuleinrichtung und gute Lehrer größere Opfer brächten, als dies zur Zeit der Fall ist, und wenn das Wohl der Schulkinder unter die Obhut ärztlicher Schulinspectoren gestellt würde.

Die Schüler müssen vor allen Dingen nach ihrer verschiedenen körperlichen Beschaffenheit auch einer verschiedenen Behandlung bei Entwicklung ihrer geistigen Thätigkeiten und zur Bewahrung ihrer Gesundheit unterwiesen werden. Darum sind sie ebensowohl bei ihrer Aufnahme in die Schule wie während der Schuljahre unter ärztliche Controle zu stellen. Ganz besonders verlangt aber das Gehirn bei jedem Schulkinde, ehe die Bearbeitung dieses Organs in Angriff genommen wird, eine genaue Erforschung. Man bedenke, daß das Gehirn nur dann seine Thätigkeit (bestehend im Denken, Fühlen, Wollen) zu entwickeln vermag, wenn es seinen normalen Bau und die richtige chemische Zusammensetzung (bei welcher phosphorhaltiges Fett ganz unentbehrlich ist) besitzt, wenn es ferner durch (die sensuellen) Nerven mit den Sinnesorganen und (durch sensitive Nerven) mit den Empfindungsapparaten unseres Körpers in ununterbrochener Verbindung steht, und wenn es seine erlernte Thätigkeit durch Bewegungsnerven auf Bewegungsapparate (Muskeln, besonders der Sprechorgane) übertragen kann. Es darf natürlich das Gehirn auch in seinem Wachsthum und seiner Ernährung nicht gestört werden. – In Bezug auf das Gehirn des schulpflichtigen Kindes, über dessen richtige Pflege und Behandlung später gesprochen werden soll, beachte man Folgendes:

Bei Kindern unter sieben Jahren ist das Gehirn, selbst wenn die Kinder kräftig und ganz gesund sind, doch noch so weich und wässerig, daß es stärkere Eindrücke (psychischer, sensueller und sensitiver Art) noch nicht ohne Nachtheil ertragen kann. Erst nach dem siebenten Lebensjahre sollte deshalb der ernste Schulunterricht, und auch da noch sehr vorsichtig, beginnen. Uebrigens muß sich der Director und Lehrer (so lange noch kein ärztlicher Schulvisitator existirt) mehr, als dies zur Zeit geschieht, um den Gesundheitszustand (zumal des Gehirns) des Kindes beim Eintritt in die Schule kümmern. Sehr viele zu zeitig in die Schule geschickte Kinder, die anfangs körperlich gesund und geistig sehr befähigt waren, werden durch die Schule nach und nach gesundheitlich elend und machen in geistiger Beziehung keine Fortschritte mehr, bisweilen sogar Rückschritte. – Bei manchen Kindern ist as Gehirn zu klein geblieben (Mikrocephalie, meist in Folge vorzeitiger vollständiger Verknöcherung des Schädels) oder es ist durch frühere Krankheiten (Hirnhautentzündung, Wasserkopf) entartet. Solche Kinder bleiben zeitlebens blödsinnig und gehören nicht in eine Schule, sondern in eine Versorgungsanstalt. – Bei manchen Kindern ist das Gehirn, in Folge noch unbekannter [71] Veränderungen in der Hirnmasse, in seiner geistigen und nicht selten auch in seiner Bewegungs-Thätigkeit weniger frei, schwerfällig und unkräftig; das sind Schwachsinnige oder Schwachbefähigte, und diese verlangen durchaus für sich eine besondere, von sachverständigen Lehrern geleitete Erziehung in einer eigenen Anstalt, nicht aber in der Volksschule, wo sie nur den anderen Kindern in ihrem geistigen Fortschreiten hinderlich sind. Auch besondere Nachhülfestunden in der Schule nützen solchen Kindern nichts. – Eine sehr große Anzahl von meist schwachgenährten Schulkindern, besonders von Mädchen, mit blasser Hautfarbe und bleichen Lippen, die ihres schweren Lernens wegen vom Lehrer sehr oft für faul gehalten werden, sind nur wegen mangelhafter Ernährung ihres Gehirns (in Folge von Blutarmuth oder Ueberanstrengung, nicht selten durch geschlechtliche Unart) trägsinnig. Bei ihnen stellt sich beim Unterricht sehr leicht Hirnermüdung ein. Sie sollten stets apart unterrichtet werden, denn sie können, ohne Nachtheil für ihr blutarmes Gehirn nicht mit den hirnkräftigen Kindern gleichen Schritt im Lernen halten und werden, nicht selten in Folge der falschen Behandlung (Bestrafung) von Seiten des Lehrers, nerven- und gemüthsleidend. Solche trägsinnige Kinder, auf welche der Lehrer sein ganz besonderes Augenmerk zu richten hat, bringen sehr häufig aus der Schule Hirn- und Nervenleiden (Kopfschmerzen, Epilepsie) mit in das spätere Leben. – Sonach bedürfen also Kinder, wenn sie blödsinnig sind, einer Pfleg- und Versorgungsanstalt; – wenn sie schwachsinnig sind, einer von sachverständigen Erziehern geleiteten Erziehungsanstalt[1]; – wenn sie in Folge von Blutarmuth (des Gehirns) trägsinnig sind, einer besondern Schulclasse und eines passenden Unterrichts.




Wie der Turnplatz die Bildungsstätte ist, auf welcher die willkürlich zu gebrauchende Musculatur gekräftigt und zum Gebrauche immer tauglicher und geschickter gemacht wird – so ist die Schule die Bildungsstätte für die Entwickelung, Kräftigung und allmähliche Vervollkommnung der sogenannten geistigen oder Hirnthätigkeit. – Der Schullehrer ist Turnlehrer für’s Gehirn. – Beide Lehrer haben im Allgemeinen nach ziemlich gleichen Gesetzen zu wirken und zu bedenken, daß die Muskeln ebenso wie das Gehirn ihr Thätigsein erst durch Uebung (Gewöhnung, öftere Wiederholung ihrer Arbeit) erlernen und daß dies beiden Organen durch passende Unterweisung erleichtert werden kann. – Die Hauptaufgabe des Hirnturnens (Schulunterrichts) ist aber: die mit Hülfe der Sinne veranlaßten Hirneindrücke auf richtige Weise zur Bildung von Vorstellungen, diese durch Vergleichung mit einander zur Bildung von Begriffen und diese sodann zur Bildung von Urtheilen und Schlüssen, also zum Denken zu verwenden, welches schließlich der Bildung des Gemüths und Willens vorstehen muß. – Nur mittelst des Anschauungsunterrichts lassen sich nun die zum richtigen Denken durchaus nöthigen Hirnbilder dem Schulkinde eindrücken, und gleichzeitig ist durch solchen Unterricht, neben Förderung der Sprachbildung, eine systematische Uebung und Schärfung der Sinne, sowie eine für’s praktische Leben äußerst dienliche Beobachtungsfähigkeit zu erzielen. Leider wird der in den unteren Classen mit so gutem Erfolge eingeführte Anschauungsunterricht in fast allen Schulen sehr bald durch die überhäuften unglückseligen Gedächtnißübungen verdrängt, und deshalb lernen die meisten Erwachsenen auch nicht logisch denken.

Wie ein tüchtiger Turnlehrer vor allen Dingen die Musculatur und die mit dieser im innigen Zusammenhange stehenden und beim Bewegen betheiligten Organe (Knochen, Gelenke, Nerven und Adern) in ihrem Baue und Leben kennen muß, wenn er ihre Thätigkeit richtig entwickeln will; – wie er ferner genau wissen muß, was zum Vortheile und was zum Nachtheile der Musculatur und überhaupt der wichtigeren Körperorgane des Turnenden dient: – ebenso darf der Schullehrer nicht ohne genaue Kenntniß des Gehirns mit seinen Hülfsapparaten (den Sinnes-, Empfindungs-, Bewegungs- und Sprachorganen) sein, wenn er die geistige Thätigkeit gehörig entwickeln will, und ebenso muß er auch Kenntniß von Allem haben, was dem Gehirne und seinen Hülfsorganen, sowie überhaupt der Gesundheit des Schulkindes vortheilhaft und was nachtheilig ist. – Schullehrer und Turnlehrer müssen zuvörderst durchaus die Gesetze kennen, bei denen das Arbeiten des Gehirns und der Musculatur gehörig zu Stande kommen und zu immer größerer Vollkommenheit gesteigert werden kann. Sie dürfen nicht blos die zur Zeit beste Lehrmethode und die passendsten Unterrichtsmittel auszuwählen und anzuwenden verstehen, sondern sie müssen durchaus auch die physikalisch-chemischen Processe kennen, welche innerhalb der arbeitenden Organe vor sich gehen und bei richtiger Unterstützung zur Kräftigung, bei falscher Behandlung zur Schwächung und sogar zur Lähmung der Organe und ihrer Thätigkeit führen können. Beide Lehrer müssen ganz besonders der Thatsache eingedenk sein, daß die Kraftäußerungen ebenso des Gehirns wie der Muskeln von den in der Hirn- und Muskelsubstanz auftretenden chemischen Verhältnissen abhängig sind und hauptsächlich von dem Stoffumsatze, welcher mit Hülfe des Sauerstoffs durch Verbrennungen (Oxydationen) der Hirn- und Muskelmasse zu Stande kommt. Sie müssen bedenken, daß die (dem Ruß im Ofen vergleichbaren) Producte dieser Verbrennungen (nämlich: Kohlensäure, Inosit, Kreatin, Leucin, Milch-, Essig-, Ameisen- und Harnsäure) sich während des Arbeitens des Gehirns und der Muskeln in immer größerer Menge in dem Gewebe dieser Organe bilden und anhäufen und endlich Ermüdung derselben, ja, bei fortgesetzter Ueberanstrengung sogar vollständige (vorübergehende oder bleibende) Unfähigkeit jener Organe zum Arbeiten veranlassen können. Nur wenn diese „ermüdenden Stoffe“ während des Ausruhens jener Organe von ihrer Arbeit mit Hülfe des Blutstromes weggeschafft werden und nun für das Abgenutzte sich neue Gewebsmasse (aus der dem Blute entstammenden Ernährungsflüssigkeit) anbildet, erst dann verliert sich die Ermüdung wieder und die Organe werden zu neuer Arbeit befähigt. Demnach muß dem arbeitenden Gehirne und Muskel stets, und zwar nach der Dauer und dem Grade ihrer Anstrengung bei ihrer Arbeit, mehr oder weniger Zeit zum Ausruhen gegönnt werden, wenn sie nicht Nachtheil in ihrer Beschaffenheit und Arbeitsfähigkeit erleiden sollen.

Wie beim Turnen, so muß auch bei der Geistesbildung auf die Beschaffenheit der arbeitenden Organe Rücksicht genommen und ein schwaches Organ nicht wie ein kräftiges angestrengt werden. Ganz besonders ist aber ebenso bei der Hirn- wie Muskelbearbeitung darauf zu achten, daß ja recht vorsichtig und Schritt vor Schritt von leichteren zu schwereren Uebungen übergegangen werde. Nirgends aber schadet Ueberschreiten des Kraftmaßes mehr als beim Gehirnturnen. – Wie ein guter Turnlehrer nicht blos einzelne Muskelgruppen dieses oder jenes Gliedes üben, sonach nicht blos wenige bestimmte Bewegungen einstudiren darf, sondern dahin streben muß, daß alle nur möglichen Bewegungen leicht, kräftig und geschickt ausgeführt werden können, – eben so wenig darf der Schullehrer nur einzelne Thätigkeitsbezirke des Gehirns zum Arbeiten anhalten, sondern er muß alle dem Gehirn möglichen Thätigkeiten, also Verstand, Gemüth und Willen gehörig zu entwickeln und zu vervollkommnen suchen.

Sowie das Turnen eine zweckentsprechende Einrichtung des Turnplatzes und der Geräthschaften verlangt, so ist für die Geistesbildung und das körperliche Wohl des Schulkindes ein zweckmäßiges Schullocal nebst dem passenden und nothwendigen Unterrichtsmaterial (besonders Anschauungsobjecte) ganz unentbehrlich. Turn- wie Schullehrer müssen die etwaigen Fehler und Nachtheile ihrer Localitäten und deren Geräthe aufzufinden und diesen entgegenzutreten wissen. Der Schullehrer hat seine Aufmerksamkeit ganz besonders auf Luft, Temperatur, Licht, Heizung und Oefen, Tische und Bänke in der Schulstube zu richten.

Ueber die richtige Pflege des Kindes in den Schuljahren und in der Schule nächstens.

Bock. 




[72]

Hinter der Klosterpforte.

Zu den grauenvollen Enthüllungen aus dem Klosterleben, die in den letzten Wochen und Monaten die Gemüther mit Recht so sehr in Aufregung versetzt und, wäre dies überhaupt noch nöthig gewesen, von Neuem unwiderleglich dargethan haben, wie zwingend es geboten ist, die endliche Beseitigung eines Instituts zu fordern, welches nicht nur mit dem Geiste der Zeit, sondern auch mit dem bürgerlichen Gesetze, mit Staat und Gesellschaft in directem Widerspruche steht und, jeder öffentlichen Controle entzogen, physisch und geistig den unheilvollsten Einfluß ausübt – zu diesen sehr wider den Willen der betheiligten Anstalten und Persönlichkeiten dem Publicum gewordenen Enthüllungen kommen jetzt die eigenen Bekenntnisse einer Nonne selbst. Sie lassen uns einen Blick hinter die Coulissen der Clausur thun, wie dies dem Laien nur selten vergönnt ist, indem sie uns in ein französisches Frauenkloster führen und ohne jedweden Anspruch auf literarische Kunst und schriftstellerische „Mache“, aber mit einer aus jeder Zeile sprechenden Wahrheit das innere Getriebe eines solchen Convents bloß legen und wiederum bezeugen, wie der Clerus, oder sagen wir lieber die Jesuiten, vor keinem Mittel zurückbeben, ihre Macht über die Geister der Menschen zu erweitern und die irdischen Besitzthümer derselben ihrem „unersättlichen Magen“ einzuverleiben. Im Augenblicke, wo die Jünger Loyola’s durch ihr gefügiges Werkzeug, den altersschwachen Papst, die Stirn haben, der gesammten modernen Bildung den Vernichtungskrieg zu erklären, gewinnen die Aufzeichnungen unserer Nonne, obschon harmloserer Art als jene obengedachten unfreiwilligen Enthüllungen, als warnendes Beispiel und Weckruf noch erhöhtes Interesse.

Schwester X. – ihren wahren Klosternamen verschweigt die Verfasserin in ihrem Buche – war die Tochter eines pensionirten französischen Officiers in St. Marceau, einer ansehnlichen Marktstadt der Provinz Orleans. Schon zeitig, noch nicht neunzehn Jahre alt, verlobte sie sich mit einem jungen elsässischen Lieutenant, welcher durch seine ungewöhnliche Tüchtigkeit auf eine glänzende Carrière Aussicht hatte. Der Bräutigam war Protestant, aber sowohl die Eltern des Mädchens, als der Beichtvater und Freund der Familie, ein würdiger Priester aus der toleranten alten Schule, sahen darin kein Hinderniß für die Verbindung der beiden jungen Leute. In einigen Monaten, sobald die Mutter für die nothwendigste Ausstattung gesorgt hatte, sollte die Hochzeit des Paares stattfinden. Da wurde der Lieutenant plötzlich nach Algier versetzt und zu gleicher Zeit starb der gute alte Pfarrer.

Diese beiden Umstände sollten verhängnißvoll werden. Der neue Pfarrer war sehr anders geartet als der heimgegangene; ein junger Mann, gehörte er nicht zu der freisinnigen, aufgeklärten Richtung seines Vorgängers, sondern zeigte sich als Jesuitenzögling – „zur größeren Ehre Gottes“ dem finstersten Zelotismus ergeben. Natürlich wurde Abbé Desherbiers – so hieß der glaubenseifrige Priester – der Beichtvater des jungen Mädchens, und es währte nicht lange, da hatte er dessen Seele völlig in seiner Gewalt. Er wußte in der Armen jedes Gefühl von kindlicher Liebe zu ersticken, machte ihr Herz ihrem Verlobten abwendig und redete ihr ein, ihre Eltern hätten das wahre Interesse der Tochter ihren eigenen Capricen aufgeopfert. Bald genug hatte er es dahin gebracht, daß sein Beichtkind, mit sich und der Welt zerfallen, an nichts mehr Theil nahm oder Freude empfand und in tiefen Trübsinn verfiel.

Einmal in solche Verfassung gebracht, hat ein schwärmerisches junges Gemüth nicht mehr weit bis zu dem Wunsche, in ein Kloster zu gehen. Der kurze Schritt war bald gethan. Das Mädchen hatte noch keinen Begriff, wie eigentlich ein Kloster beschaffen war, und der würdige Diener Gottes sorgte dafür, daß die nachmalige Schwester X. ein solches Frauenstift besuchen konnte, ohne daß die Eltern darum wußten.

Im Kloster wurde sie schon erwartet; die Nonnen spielten ihre Rollen mit vollendeter Meisterschaft. Nichts als Glückseligkeit begegnete ihrem Auge; ihr Ohr vernahm nichts als englische Segensworte; jedwedes Antlitz strahlte von Holdseligkeit und Befriedigung. In Folge dieses Besuchs und der immer kühner strömenden Beredsamkeit des Abbés wurde die Phantasie der Unglücklichen vollends verwirrt, und sie entschloß sich, alle Glieder zu zerbrechen, welche sie noch an die Welt ketteten. Trotzdem fürchtete sie die Heftigkeit ihres Vaters und ihrer Mutter kühlen, doch festen Widerstand. Zunächst hielten Beide ihren Vorsatz nicht für ernstlich gemeint, als sie aber darauf bestand und davon sprach, ihrem Bräutigam den Verlobungsring zurücksenden zu wollen, verbot ihr Vater dem Pfarrer ohne weiteres das Haus.

Dieser hatte indeß andere Mittel und Wege, die Verbindung mit dem junger Mädchen zu unterhalten. Durch eine Dame seiner Bekanntschaft, eine Art von Abenteurerin, die erst mit ihm zugleich in St. Marceau aufgetaucht war und deren Vergangenheit hier Niemand kannte, ward eine lebhafte Correspondenz zwischen dem Abbé und seinem Beichtkinde in’s Werk gerichtet. Der Pfarrer überzeugte die junge Dame, daß sie „unter einem entsetzlichen Drucke lebe“, „das Opfer der Tyrannei“ sei, rieth ihr jedoch, vor der Hand allen Streit mit ihren Eltern zu vermeiden und ruhig zu warten, bis der Tag ihrer Mündigkeit herankäme.

Am 11. September 185* erschien dieser Tag. Halb wahnsinnig vor Aufregung und durch die ihr vom Pfarrer gesandten perfiden Rathschläge, konnte Fräulein Soubeyran – das war der weltliche Name des jungen Mädchens – kaum erwarten, bis sich eine Gelegenheit darbot, das Joch abzuwerfen. Weil es unmöglich schien, die Erlaubniß ihrer Eltern zu dem beabsichtigten Schritte zu erlangen, drängte sie der Abbé, das väterliche Haus heimlich zu verlassen, und suchte ihr die schwere That durch die Vorstellung zu erleichtern, daß sie ja nachträglich die Verzeihung der Ihrigen erbitten könne. Er habe erfahren, schrieb er weiter, daß am zweiten November ihr Vater eine Geschäftsreise antreten werde und die Anordnung getroffen, daß eine seiner Vertrauten, eine Madame R., bei Einbruch der Nacht, eine halbe Stunde von der Stadt mit einem Wagen auf sie warten solle.

„Wie mir dieser fürchterliche Tag verstrich, bin ich zu erzählen außer Stande,“ berichtet Schwester X. in ihrem Buche. „Von den widersprechendsten Gedanken und Gefühlen bewegt, schrak ich vor einem Schritte zurück, welchen ich vielleicht nachher bitter zu bereuen haben würde, und wünschte beinahe, daß ein von meinem eigenen Willen unabhängiges Ereigniß eintreten möchte, um mich an der Ausführung meines Vorhabens zu hindern. Auf alles Andere kann ich mich nur noch dunkel und verworren besinnen. Ich weiß blos noch, daß ich ein paar Zeilen an meine Mutter zusammenkritzelte, daß ich durch die Gartenthür mich entfernte und den kleinen Fußpfad hinablief, welcher nach der Loire führt. Hier fand ich die Person schon meiner harrend, welche es unternahm, die Mitschuldige meines unkindlichen Schrittes zu werden. Ohne daß Eines von uns Beiden ein Wort sprach, folgte ich ihr nach dem Wagen. Sobald wir indeß darin saßen, umarmte mich Madame R. unter vielen Betheuerungen ihrer Liebe und Bewunderung; ich war eine neue heilige Elisabeth und was weiß ich jetzt noch für eine sonstige Heilige. Gott würde mich segnen, daß ich ihn jeder irdischen Neigung vorgezogen und vor Allem mich geweigert habe, einen Protestanten zu heirathen etc. etc. Sie floß über von hochklingenden Phrasen; ich hatte weder Lust noch Kraft, etwas zu erwidern. Die Natur forderte ihr Recht: ich brach in Thränen aus.“

Madame R. führte die Entlaufene nach dem Kloster, in welchem diese schon einen Besuch gemacht hatte. Die Mutter Oberin, Madame Blandine, und zwei andere Nonnen empfingen sie. Sie umarmten sie warm und geleiteten sie zuerst nach der Capelle und hierauf nach der für sie in Bereitschaft gesetzten Wohnung. Abbé Desherbiers, der das heftige Temperament ihres Vaters kannte, hatte ihr ausdrücklich verboten, irgend etwas mitzunehmen, um der Eventualität zu entgehen, der Entwendung fremden Eigenthums beschuldigt zu werden. So hatte sie denn nichts bei sich, als was sie auf dem Leibe trug. Alles dies war vorgesehen worden. Auf dem Bette lagen alle die verschiedenen kleineren und größerer Dinge, deren sie bedurfte.

Sobald am anderen Morgen die Frühmesse vorüber war, bis zu deren Beendigung, außer in Fällen absoluter Nothwendigkeit, von den Klosterinsassen kein Wort gesprochen werden darf, umringten sie sämmtliche Nonnen und überhäuften sie mit Liebkosungen und übertriebenen Lobsprüchen. Eine derselben, eine stattliche und höchst liebenswürdige junge Arlesianerin, mit dem Klosternamen Claudia, nahm sie völlig unter ihre Obhut. Sie hatte den Befehl erhalten, ihr die Pensionsanstalt, die Gärten und die Schule für arme [73] Kinder – was Alles die Klostermauern umschlossen zu zeigen, um ihr von vornherein den günstigsten Eindruck von dem Etablissement beizubringen.

Nach dem Mittagsmahle kam die Zeit der Erholung. Dabei ging es ganz lustig, ja laut und lärmend zu. Die Nonnen ergötzten sich wie Schulmädchen. Ein paar ältliche Schwestern sonnten sich, in Gesellschaft der Oberin, in einem gegen den Wind geschützten warmen Winkel; die Anderen sprangen und schrieen ohne jeglichen Zwang und Rückhalt umher.

Der Erholung folgte abermals tiefstes Schweigen. Die künftige Nonne wurde nun von Madame Blandine dem Beichtvater des Klosters, Pater Gabriel, vorgestellt, der ein strenges Verhör mit ihr vornahm. Sie erzählte ihm ihre Geschichte: wie sie einen Protestanten habe heirathen sollen; berichtete von den Verfolgungen, die sie, ihrer Einbildung nach, habe ausstehen müssen, von dem wunderbaren Wege, auf welchem sie von Gott erleuchtet worden sei, und wie sie keinen andern Wunsch mehr hege, als sich ihm gänzlich widmen zu dürfen.

Vater Gabriel scheint ein vernünftiger und keineswegs bigotter Mann gewesen zu sein. Unverhohlen erklärte er der Oberin, zu deren größtem Mißvergnügen, daß er von dem „Berufe“ des jungen Mädchens keineswegs so fest überzeugt sei wie sie, vielmehr rathe, Fräulein Soubeyran unverweilt zu ihren Eltern heimzusenden Kaum aber war der Pater gegangen, so beeilte sich Madame Blandine, dem jungen Mädchen zu sagen, der Pater wäre zwar ein guter frommer Mann, aber bereits etwas altersschwach, und man dürfe auf sein Geschwätz keinen Werth legen. Sie hätte an seiner Statt gern einen jüngeren und tüchtigeren Beichtvater, allein man könne den Alten nicht wohl beseitigen, da er ein ansehnliches Vermögen besitze und nicht nur die neue Kirche, sondern das halbe Kloster überhaupt aus seinen eigenen Mitteln gebaut habe. Wenn sie mit ihm in Conflict käme, so würde er am Ende sein Vermögen seinen Neffen hinterlassen und so die berechtigten Erwartungen des Klosters täuschen. Deshalb müsse man die Launen des kindischen Greises eben ertragen etc.

Hierauf umarmte Madame Blandine das junge Mädchen von Neuem und legte ihr an’s Herz, zu beten und sich vor Gott zu demüthigen, auch jeden Act des klösterlichen Lebens auf das Gewissenhafteste zu vollbringen. Dann nahm sie aus ihrem Bureau das Brouillon eines Briefes, eine Art von Circular, das jedenfalls alle neuen Postulantinnen an ihre Eltern zu schicken hatten. Das Schreiben war ein wahres Muster conventioneller Kälte. „Wie gefühllos ich auch war,“ sagte Schwester X., „der Brief empörte mich im höchsten Grade; ich bat daher um die Erlaubniß – und empfing sie auch – gewisse Ausdrücke etwas modificiren zu dürfen.“

Ob dieser Brief wirklich abgesandt wurde oder ruhig in den Händen der Superiorin verblieb, das hat Schwester X. nie in Erfahrung bringen können. Eine Woche, vierzehn Tage, ein Monat vergingen, und – keine Antwort kam. Sie begann ängstlich zu werden, und schon dämmerte eine Ahnung in ihr auf, daß der ersten Begeisterung bald genug Reue und Sorgen folgen würden. Nach den Ordensregeln durfte sie nicht fragen, ob eine Erwiderung auf ihr Schreiben eingetroffen sei. Die Oberin sagte ihr aber dann und wann: „Das hat nichts auf sich, meine liebe Tochter. Nimm diese erste Probe ruhig auf Dich. Bete, bete ohne Unterlaß. Wenn Deine Eltern Dich verlassen, so hast Du ja immer den gütigen Gott zu Deinem Vater, die heilige Jungfrau zu Deiner Mutter, und den lieben Herrn Jesus zu Deinem Bräutigam. Das Schweigen Deiner Angehörigen ist gewissermaßen eine Zustimmung zu dem Schritte, den Du gethan hast.“

Dann erkundigte sich die Oberin auf das Umständlichste nach den Vermögensverhältnissen der Eltern. Hinsichtlich dieses wichtigen Punktes wußte das junge Mädchen indeß nur sehr dürftigen Aufschluß zu ertheilen. Ob die Eltern außer Haus und Garten noch anderweitiges Vermögen besaßen, konnte es nicht angeben; wie es glaubte, hätten sie Verluste gehabt, und die kleine Rente, welche sie jetzt noch bezögen, rührte, ihres Wissens, hauptsächlich von der Mutter her.

Madame Blandine hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu.

„So weit wäre es gut,“ erwiderte sie. „Jetzt aber rede offen mit mir. Du mußt den Charakter Deiner Eltern kennen: hältst Du sie für fähig, Dich zu enterben?“

„Das weiß ich nicht,“ lautete die Antwort. „Mein Vater ist sehr hitzig, doch schwach. Meine Mutter ist auf die Klöster nicht gut zu sprechen und hat immer Diejenigen streng getadelt, welche jenen ihr Vermögen vermachen. Uebrigens ist sie weit entschiedener als mein Vater und von einer einmal gefaßten Meinung so leicht nicht abzubringen.“

„Du mußt noch einmal schreiben, meine Tochter. Wie viel ist Euer Haus nebst Garten wohl werth?“

„Ich habe einmal gehört, daß das Grundstück auf zwanzigtausend Franken geschätzt wird.“

„Zwanzigtausend Franken! Wie viel Gutes könnte mit solch’ einer Summe gethan werden. – Wie schade, daß Deine Eltern kein Verständniß besitzen für Dein Glück und die Heiligkeit Deines Berufes! Warum opfern sie dies Geld nicht dem Ruhme Gottes, warum wollen sie Dich lieber für eine weltliche Ehe aussteuern? Aber wir dürfen uns nicht einbilden, daß sie Dir auch nur einen Heller geben werden, wenigstens jetzt nicht. Ist das Deine Ansicht nicht auch, mein armes gutes Kind?“

„Sie sehen ja, meine Mutter, sie haben mich nicht einmal einer Antwort gewürdigt.“

„Du wirst mit der Zeit schon eine Antwort erhalten, meine Tochter. Bete zu Jesus und seiner heiligen und allmächtigen Mutter so inbrünstig, daß sie Dir Deine Bitte gewähren. Also Muth, mein Kind! Gott hat Dir einen schönen Beruf zuertheilt, welcher Dir nicht wieder genommen werden wird.“

Eines Tages sandte die Oberin während der Erholungszeit nach Schwester X. Sie hatte, so sagte sie, soeben einen Brief empfangen von einem Pfarrer aus der Nachbarschaft von St. Marceau, der jedoch seinen Namen nicht wissen lassen wollte. Das junge Mädchen wollte den Brief nehmen, welchen die Oberin in der Hand hatte. Anfangs lächelte diese, dann aber umkleidete sie sich mit aller ihrer Autorität.

„Wie weltlich Du noch bist, mein armes Kind! Was für eine Hast! Welche Neugierde! Geh’ wieder zu Deiner Erholung. Heut’ Abend sollst Du erfahren, was der Brief enthält.“

„Sagen Sie mir wenigstens, ma mère, wie es in St. Marceau geht. Ist mein Vater gesund oder krank? Und was macht meine Mutter?“

„Ruhig, meine Tochter, ruhig. Alles geht besser, als Du denkst. Frage mich jetzt nicht weiter. Gehe auf der Stelle wieder in den Garten. Ich wünsche, Deine weltlichen Gelüste, insonderheit Deine Neugierde etwas zu züchtigen.“

Gekränkt von dieser Rüge, der ersten, die ihr noch zu Theil geworden war, zog sich Schwester X. zurück. Bis dahin war Alles eitel Zucker und Honig gewesen. Nach dem Abendbrode erwartete sie von Minute zu Minute, daß die Oberin nach ihr schicken werde, doch vergeblich. Erst nach der nächtlichen Andacht ward sie zu ihr beschieden. Madame Blandine empfing sie freundlich und gab ihr den Brief zu lesen. Die Handschrift desselben war dem jungen Mädchen völlig unbekannt, schien ihm indeß eher von einer Frau als von einem Manne herzurühren. Am Kopfe des Blattes stand das bekannte Jesuitenzeichen: A. M. D. G., d. h. Ad Majorem Dei Gloriam (zur größern Ehre Gottes) und die Oberin war als „sehr theuere Schwester in Jesu Christo“ angeredet. Die Geschichte, begann das Schreiben, habe nicht das Aufsehen gemacht, welches man erwartet; denn Herr und Frau Soubeyran hätten sich früher oder später eines solchen Schrittes von ihrer Tochter versehen. Wohl seien sie für den Augenblick etwas bestürzt und außer sich gewesen, und der Vater habe erklärt, er werde auch keinen Sou zu einer etwaigen Klosterausstattung hergeben. Jetzt aber scheine sich ihre Aufregung bereits ziemlich wieder beschwichtigt zu haben, denn sie seien eben auf einer längeren Vergnügungsreise durch die Gascogne unterwegs, und in ein paar Wochen hätten sie sicherlich ihren Aerger gänzlich überwunden.

„Gott im Himmel!“ rief das arme Mädchen tonlos aus, nachdem es den Brief gelesen hatte, „meine Eltern denken nicht mehr an mich. Sie ergötzen sich auf einer Lustreise, ohne mir ein Wort des Abschiedes zu sagen, ohne auch nur ihr Bedauern darüber auszudrücken, daß ich sie verlassen habe!“

„Ach, mein armes Kind,“ versetzte die Oberin mild, „so geht es mit allen irdischen Neigungen, mit allen den Neigungen, die nicht Gott zur Grundlage und zum einzigen Gegenstande haben. Indeß bin auch ich einigermaßen überrascht darüber, daß Deine Eltern sich so schnell ergeben; ich messe dies Deinen inbrünstigen Gebeten und der Neuvaine (der neuntägigen Andacht) zu, welche wir soeben beendigt haben.“

[74] Außer Stande nur eine Sylbe zu erwidern, von den peinlichsten Gedanken und Erwägungen gequält, entfernte sich Schwester X. Zum ersten Male begann sie die Dinge einigermaßen in ihrem wahren Lichte zu sehen, und nicht nur an dem Abbé Desherbiers, sondern auch an der Oberin selbst zu zweifeln.

In der Angst ihres Herzens nahm sie ihre Zuflucht zu dem alten würdigen Geistlichen des Klosters.

„Mein Vater,“ sagte sie, nachdem sie ihm gebeichtet hatte, „erlauben Sie mir, daß ich noch ein paar Worte mit Ihnen sprechen darf. Ich brauche Ihren Rath, denn ich weiß in der That nicht, was ich thun soll. Voller Angst und Unentschlossenheit, fühle ich mich durch und durch unglücklich!“

„Ach!“ erwiderte der Greis. „Schon jetzt?“

Sie vermochte nur durch ein halb ersticktes Schluchzen zu antworten.

„Du weinst, meine liebe Tochter,“ sagte der Pfarrer liebevoll. „Was ist Dir geschehen? Erschließe mir Dein Herz; fürchte Dich nicht, Du kannst ganz offen mit mir reden und darfst meinerseits der nämlichen Aufrichtigkeit versichert sein.“

„Mein Vater,“ sprach sie mit bebender Stimme und immer von neuen Thränen unterbrochen, „meine Eltern haben mir auch nicht ein einziges Mal geschrieben, sie haben eine große Reise angetreten, ohne an mich zu denken, ohne ein Wort, ja selbst ohne ein Wort des Vorwurfs!“

„Darf Dich das überraschen, mein Kind? Hast Du Dein eigenes gedankenloses, unkindliches Benehmen ihnen gegenüber vergessen?“

Schwester X. schluchzte bitterlich.

„Aber, mein guter Vater,“ stammelte sie alsdann, „ich habe sie ja mehrere Male um ihre Verzeihung angefleht.“

„Ich weiß es. Unter dem Dictat Deiner Oberin hast Du einige jener nichtssagenden Briefe geschrieben, die mehr beleidigen, als absolutes Stillschweigen. Hältst Du das für genügend, um die Wunde heilen zu können, welche Du den Herzen liebender Eltern, Denen geschlagen hast, welchen Du, als einziges Kind, in ihrem Alter ein Trost und eine Stütze hättest sein sollen?“

„Sie haben Recht, aber da ich Ihnen mein ganzes Herz und Gewissen öffnen soll, so will ich bekennen, daß auch ich mich sehr gekränkt fühle. Meine Eltern hätten doch Schritte thun sollen, mich zur Rückkehr zu bewegen. Ihr kühles Verhalten zerreißt mir die Brust! Und dann ... dann kann ich auch nicht umhin, auf wunderliche Gedanken, auf einen eigenthümlichen ... Verdacht zu kommen. Ich fange an, mißtrauisch zu werden; ich fürchte, daß entweder meine Briefe von der hochwürdigen Mutter ... gar nicht abgeschickt oder die eingelaufenen Antworten mir vorenthalten worden sind.“

Vater Gabriel schwieg und blieb eine Weile in tiefen Gedanken verloren.

„Komm morgen nach der Messe zu mir. Es ist eine ernste Sache, die reiflich erwogen sein will. Inzwischen ängstige Dich nicht, vertraue auf Gott und vor allen Dingen lasse Dir kein Wort darüber entschlüpfen – gegen Niemanden; merke es wohl: gegen Niemanden. Vergiß nicht, daß es Dein Beichtvater ist, der Dir diesen Rath ertheilt.“

(Schluß folgt.)




Aus den politischen Salons des neuen Italiens.
Von Emil Pirazzi.
1. Die Frau des Märtyrers.

Zu meinen interessantesten Begegnungen in Italien gehören zwei Frauengestalten, die, so grundverschieden sie an sich auch waren, doch das mit einander gemein hatten, daß beide Ausländerinnen waren, beide zu den leitenden Persönlichkeiten der Halbinsel in intimen Beziehungen standen – die eine in öffentlichen, die andere in geheimen – und daß jede derselben mir in einem der beiden Hauptbrennpunkte und zugleich Gegenpole der italienischen Bewegung entgegentrat: die Eine in Turin – die Andere in Rom. Beides im Jahre 1862, wo Turin noch die Hauptstadt und der Heerd war, auf dem die nationale Flamme Italiens genährt wurde. Jahre sind seitdem vergangen und ich darf über jene Begegnisse hoffentlich heute ganz offen reden, ohne fürchten zu müssen, der Indiscretion geziehen zu werden. Zugleich will ich hier noch bemerken, daß meine nachstehenden Mittheilungen durchweg auf strengster Wahrheit und gewissenhaftester Beobachtung beruhen und ich kein Wort hinzugedichtet habe.

Durch ein Empfehlungsschreiben eines der größten politischen Journale Deutschlands war ich bei dessen Mailänder Correspondenten eingeführt und von diesem wieder mit einem Grafen Belgiojoso bekannt gemacht worden, der, ein venetianischer Emigrant, mit ganzer Hingabe sich dem öffentlichen Dienste seines neu aufgebauten Vaterlandes Italien gewidmet hatte und damals auf der Municipalität von Mailand beschäftigt war. Von ihm erhielt ich eine Empfehlung an seine Tante, die Marchesa Anna Pallavicino-Trivulzio in Turin, die ihren stolzen und klangvollen Namen mit Auszeichnung trug, denn unter den politischen Frauengestalten, an denen das neue Italien wahrlich nicht arm, war sie eine der hervorragendsten.

Das weit verzweigte italienische Adelsgeschlecht der Pallavicini ist eines der ältesten der Christenheit und hat mit den Geschlechtern der Este, Massa und Malaspina den gleichen Stammvater Adalberto, der hinwiederum von den alten Markgrafen und Herzögen von Toscana abstammt. In Italien selbst erscheint das Geschlecht heute in dem fürstlichen Hause der Rospigliosi-Pallavicini zu Rom, blüht vor Allem aber in Oberitalien, in der Lombardei und Genua. Wie der Name Pallavicini den Politikern, so ist er auch den Touristen in Italien wohlbekannt von jener Villa Pallavicini in Pegli bei Genua her, die zu den berühmtesten Parkanlagen Italiens zählt und Eigenthum des Marchese Pallavicino ist, der seinen Palast in der Via Carlo Felice in Genua hat. Der Gatte der Dame jedoch, von der wir hier reden, der Marchese Giorgio Pallavicino, wohnt abwechselnd in Turin und auf seiner Besitzung in der Lombardei, führt zum Unterschied von der genuesischen Linie des Hauses den Beinamen Trivulzio und besitzt weder einen eigenen Palast noch einen fürstlichen Park, dafür aber eine Frau, die zu den geachtetsten Patriotinnen Italiens zählt, auf dessen neueste Gestaltung sie den bedeutendsten und wohlthätigsten Einfluß geübt, obschon es nicht einmal ihr eigentliches Vaterland ist.

Der Marchese, welcher zur Zeit meines Aufenthaltes in Turin nicht daselbst anwesend war und den ich daher persönlich kennen zu lernen keine Gelegenheit hatte, der mir aber später, da ich fortwährend mit seiner Gattin in Briefwechsel stand, durch den sich die Politik wie ein rother Faden hindurchschlang, von seinen neueren, durchweg die wohlwollendsten Gesinnungen und den reinsten Patriotismus bekundenden politischen Schriften wiederholt übersandte, der Marchese Giorgio Pallavicino hat die Politik ebenfalls von Jugend auf mit Hingebung getrieben. Er gehörte mit Silvio Pellico und Anderen zu jenen edeln Verbündeten, in denen sich schon sehr früh der Gedanke der nationalen Wiedergeburt des schönen Vaterlandes regte und die dafür von Oesterreich dem Tode oder den Kerkern des Spielberges überliefert wurden, was fast dasselbe hieß, wenn nicht Schrecklicheres! Dieser nationale Gedanke, welcher sich als nächstes Ziel die Abwälzung der Fremdherrschaft gesetzt, unter der Italien schmachtete, verkörperte sich am frühesten in jenem über die ganze Halbinsel ausgebreiteten Geheimbund der Carbonari, aus dem sich erst zu Anfang der dreißiger Jahre unter Mazzini das „Junge Italien“ abzweigte. Ohne eigentliche Carbonari im strengen Sinne der Schule zu sein, wurden doch die Pellico, Maroncelli und Andere, als des Carbonarismus verdächtig vor Gericht gestellt, zum Tode verurtheilt und zu vieljährigem Kerker „begnadigt“! Zu diesem Kreis oberitalienischer Patrioten, deren Tendenz zunächst gegen die österreichische Herrschaft in Italien gerichtet war, gehörte auch Marchese Giorgio Pallavicino von Mailand. Nach Fehlgang und Niederwerfung der nationalen Erhebung in Piemont von 1820 und 1821 hochverrätherischer Bestrebungen angeklagt und mit zahlreichen Gesinnungsgenossen in Mailand von den österreichischen Behörden verhaftet, hatte Pallavicino, damals noch ein Jüngling von kaum zwanzig Jahren, dort zunächst eine schwere zweijährige Untersuchungshaft zu bestehen, und [75] wurde dann im Januar 1824 mit fünfzehn Gefährten (von diesen freilich neun in contumaciam) zum Tode verurtheilt, dieses Urtheil jedoch ebenfalls für mehrere der Angeklagten in theils lebenslänglichen, theils vieljährigen Kerker „im Wege der Gnade“ umgewandelt – für Pallavicino und Castiglia in zwanzigjährigen – diese sämmtlichen Strafen auf dem Spielberge zu bestehen, bei dessen Nennung schon die Verurtheilten Entsetzen durchrieselte. „Ehrbare Männer in vollster Lebenskraft so zum Grabe verdammt!“ ruft Pallavicino in seinen „Erinnerungen“ aus jener Zeit aus. Zwanzig Jahre alt – und nun zwanzig Jahre Kerker vor sich!

In Eisen geschlossen wurden die Verurtheilten nach der Veste Spielberg bei Brünn in Mähren abgeführt, die sich ihnen im Februar 1824 öffnete (Pellico saß dort bereits seit zwei Jahren); – der Spielberg: „keine Herberge für die Lebendigen, sondern ein Grab – aber ein Grab ohne die Ruhe des Todes!“ wie Pallavicino mit ergreifender Tragik diesen Aufenthalt kennzeichnet. Als ich im September 1856 den Spielberg besuchte – auf dem auch der bekannte Abenteurer und Pandurenoberst Trenck sein wildes Leben beschloß, und der heute nur noch Strafanstalt für gemeine Verbrecher ist – da dachte ich nicht, daß ich noch einmal im Hause eines jener Männer, die er zu politischen Märtyrern gemacht, eingeführt werden sollte!

Pallavicino war nach zehnjährigem einsamen Kerkerleben körperlich und geistig gebrochen. Sein ganzes Nervensystem war allgemach in einen Zustand gänzlicher Zerrüttung gekommen. Der Mangel an Büchern und geistiger Beschäftigung, die tiefe Sehusucht nach seinem unglücklichen Vaterlande und seiner fernen Mutter warfen ihn in einen solchen Grad von Tiefsinn, daß er nahezu daran war, wahnsinnig zu werden, und der Oberarzt der Provinz, nachdem er ihn einer genauen Untersuchung unterzogen, darüber nach Wien berichtete und die Gestattung irgendwelcher geistigen Beschäftigung, sowie Versetzung in ein milderes Klima für ihn nachsuchte, woraufhin ihm die Lectüre von Tasso und Klopstock gestattet, wegen einer Translocation vorerst aber Nichts verfügt wurde. In der deutschen Sprache suchte sich unser Gefangener während seiner Kerkerzeit mehr und mehr zu vervollkommnen, und daß er auch unsere großen Dichter gelesen, beweisen mannigfache Citate aus Goethe und namentlich Schiller, mit denen er, zuweilen im Originaltext, seine politischen Schriften durchflocht. Erst nach Verlauf eines weiteren Jahres wurde Pallavicino eine Versetzung nach der kleinen Festung Gradisca am Isonzo angekündigt. Das betreffende Gesuch war in Wien zu den Acten genommen und dort vergessen worden, bis sich Kaiser Franz der Erste eines Tages desselben erinnerte und die Frage aufwarf, ob denn Pallavicino, wie er befohlen habe, transferirt worden sei? Diese Frage ward zum Anlaß, daß ein höherer Polizeibeamter mit Extrapost nach Brünn reiste, um die ungesäumte Versetzung des Gefangenen nach Gradisca anzuordnen. Als derselbe eines Abends, da er schon schlief, mit der Aufforderung sich zu erheben geweckt wurde, wähnte der Unglückliche anfänglich, er sei – begnadigt! Inzwischen ließ man ihn jetzt wenigstens seine Sträflingskleider mit einem angemesseneren Anzuge vertauschen, und beim ersten Tagesgrauen hatte er den Spielberg, dessen Mauern ein so großes Stück seines Lebens verschlungen hatten, im Rücken, und fuhr in einer Postchaise gen Süden der Heimath entgegen. Aber im Uebrigen trat in der Lage unseres Gefangenen keine Verbesserung ein; eher das Gegentheil! Denn wie finden wir ihn (es war zu Anfang des Jahres 1831) bald darauf zu Gradisca wieder? Mit einem slavischen Räuber, Wolle spulend, in Ketten und groben Sträflingskleidern, in einer engen, doppelt vergitterten Zelle eingeschlossen, zu der Luft und Licht kaum Zugang hatten! Zu berichten, was Pallavicino hier zu leiden hatte (einmal mußte er sogar einen völligen Raubanfall seines Zellengenossen bestehen!), würde ein eigenes Capitel beanspruchen. Die empörendste Behandlung wurde ihm zu Theil; man ließ dem ohnehin schon so sehr geschwächten Mann die elendeste Kost reichen, um ihm ein Geständniß abzupressen, auf welchem Wege er in den Besitz des Geldes und weniger Bücher gekommen war, welche sich bei ihm fanden. Der Ekel vor jeder Speise und deren gänzliche Unverdaulichkeit machten ihn ernstlich krank. Ueber gewisse Unterschleife der Gefängnißverwaltung, welche ihm durch den Geistlichen der Anstalt, einen Capuziner, mitgetheilt worden, richtete er eine schriftliche Eingabe an den Kaiser, als Antwort auf welche – wenn sie überhaupt je an ihre Adresse gelangte – ein kaiserlicher Commissär in Gradisca mit dem Auftrag erschien, „Nummer 56“ in die Gefängnisse von Lubiana in Galizien zu übertragen, indeß der Gefängnißdirector selbst bald darauf eine Beförderung erhielt!

Vor der Abreise nach Lubiana mußte sich Pallavicino noch in Gegenwart des Verwalters und des Commissärs völlig entkleiden und der empörendsten körperlichen Untersuchung unterziehen lassen, wie man dies wohl mit Räubern und Mördern vor deren Ueberführung von einer Strafanstalt nach einer andern thut, um sich zu überzeugen, daß sie weder Geld noch Waffen bei sich verborgen haben, nicht aber mit Staatsgefangenen in einem civilisirten Lande! ...

Hier brechen die Kerkererinnerungen des edlen Gefangenen vom „Spielberg und Gradisca“ ab, denen ich bis dahin im Wesentlichen gefolgt bin, und ich gebe nun das Weitere nach persönlich gemachten Erhebungen und Wahrnehmungen im Hause des Marchese zu Turin und nach mündlichen und schriftlichen Berichten seiner Gemahlin.

Ueber seine Gefangenschaft in Lubiana steht mir kein weiteres thatsächliches Material zu Gebote. Später wurde seine Deportation nach Amerika in Frage gezogen; seine gänzlich zerrüttete Gesundheit machte sie indeß unausführbar. Zu deren Wiederherstellung wurde er einstweilen in Prag internirt (um’s Jahr 1834), zwar auf freiem Fuß, doch gegen Ehrenwort, die Stadt nicht zu verlassen. Mit Erlaubniß des Polizeidirectors gebrauchte er dann eine Cur in Karlsbad, und hier lernte er seine nachmalige Gattin kennen, die einer der geachtetsten Familien Prags angehörte, wo ihr Vater als wohlhabender Privatmann lebte. In Karlsbad wurde der jungen Dame, die sich mit ihren Eltern zur selben Zeit dort befand, der Marchese durch ihren gemeinschaftlichen Arzt vorgestellt, und bereits nach wenigen Monaten wurde sie seine Frau, und nach so namenlosen Leiden nahm den vielgeprüften Dulder jetzt endlich wieder die Liebe rettend in ihre Arme! Inzwischen war von seiner zwanzigjährigen Strafzeit zwar erst die größere Hälfte abgelaufen; er scheint indeß in jenen Tagen seine völlige Freiheit wiedererlangt zu haben, und mit seiner jungen Gemahlin auf seine lombardischen Besitzungen zurückgekehrt zu sein, hat vielleicht auch schon gleich damals in Turin seinen Wohnsitz genommen – in Turin, das ja bald zu dem Sammelplatze der hervorragendsten Patrioten Italiens werden sollte, unter denen auch der Märtyrer Pallavicino nicht fehlen durfte.

Und hiermit bin ich denn an dem eigentlichen Ausgangspunkte meiner Mittheilungen angelangt. Aber das seither Erzählte, dessen letzter Theil durch die persönlichen Mittheilungen der Marchesa selbst beglaubigt ist, während ich allerdings für die breitere Behandlung der Leidenszeit Pallavicino’s wohl auch ein selbstständiges Interesse annehmen durfte, mußte ich um so mehr vorausschicken, als der Mythus sich der würdigen Gestalt der Marchesa Anna Pallavicino schon bei deren Lebzeiten bemächtigt und ihre Verbindung mit dem Marchese auf die hochromantischsten Motive zurückgeführt hat. So erzählte man mir in Turin überall, die Marchesa sei die Tochter des Kerkermeisters ihres nachmaligen Gatten auf dem Spielberge gewesen, habe ihn dort in seinen Leiden gepflegt und sich somit ein Anrecht auf seine bleibende Dankbarkeit erworben, habe ihn wohl gar aus dem Kerker befreit und sei ihm dann in sein Vaterland gefolgt, wo er sie zu seiner Gemahlin erhoben, und was dergleichen Märchen mehr sind, die als solche eigentlich schon die durchaus vornehme und aristokratische Erscheinung der Dame kennzeichnen mußte.

Als ich mich mit dem Empfehlungsschreiben des Grafen Belgiojoso im Februar 1862 der Marchesa Pallavicino in ihrer Wohnung zu Turin vorstellte, fand ich bei ihr sofort die entgegenkommendste und wohlwollendste Aufnahme. Die Politik – italienische wie deutsche – gab gleich den willkommensten Gesprächsstoff ab und gab es fast durchweg auch bei meinen ferneren Besuchen in ihrem Hause und bei unserem späteren Briefwechsel. Als hervorragendes Glied der italienischen Nationalpartei hegte sie auch die wärmsten Sympathien für die gerade damals mächtig aufschießenden Regungen nationalen Geistes in Deutschland, deren gegenseitige innere Verwandtschaft, sowie die Nothwendigkeit einer Verständigung, eines Zusammengehens beider nur zu lange in unseligem Zwiste geschiedener Völker ich ihr lebendig vor die Seele zu rufen mich um so mehr angeregt fühlte, als in meinen eigenen Adern germanisches und italienisches Blut sich friedlich gemischt hatte, ich Italien wie mein zweites Vaterland von Kindheit auf glühend lieben gelernt hatte und überdies zum Zweck [76] des Versuchs einer Annäherung in dem gedachten Sinne specielle Vollmachten der Führer jener nationalen Partei in Deutschland bei mir führte, der auch ich als dienendes Glied mich angeschlossen hatte. Und wir verständigten uns um so rascher und leichter, als die Unterhaltung stets in unserer gemeinschaftlichen Muttersprache, der deutschen, geführt werden konnte und der gleiche Zug der ursprünglichen Abstammung sie zu Deutschland wie mich zu Italien hinzog. Doch war ich nicht der erste Deutsche, der ihr in solchem Geiste nahe trat; nicht lange vor mir war schon Dr. Hermann Reuhlin, Verfasser verdienstvoller historischer Werke, unter Anderm auch einer neueren Geschichte der italienischen Staaten, dieselben Wege gewandelt, hatte sich in das Haus Pallavicino einführen lassen und lebhaften politischen Gedankenaustausch mit der Herrin desselben gepflogen.

Die äußere Erscheinung der trefflichen Dame ist eine vornehme im besten Sinne des Wortes, fein, liebenswürdig, wohlwollend durch und durch, ihre Conversation weich und stets a mezza voce – wie von beständiger innerer nervöser Angegriffenheit zeugend, welche ihr gegenüber den ewigen großen Aufregungen und Emotionen ihres Lebens und ihrer Stellung gleichsam eine gewisse Zurückhaltung aufnöthigt, damit dieser zarte Körper den unaufhörlich auf ihn heranstürmenden Dingen und Ereignissen nicht vor der Zeit erliege: so steht die edle Frau nach acht Jahren noch hell in meiner Erinnerung. Sie mochte um jene Zeit etwa den Fünfzigen nahe sein, aber ihr Haar war noch dunkel und unberührt von den Jahren. Ihre Ehe mit dem Marchese scheint kinderlos geblieben; wenigstens habe ich von Kindern nie etwas bemerkt oder reden hören. Dieser Zweig des Geschlechtes der Pallavicini stürbe somit in dem Marchese Giorgio dahin.

Das Hautrelief ihrer äußeren Stellung erhielt die Marchesa Anna durch ihre intimen politischen Beziehungen einerseits zu Victor Emanuel, andrerseits zu Giuseppe Garibaldi. Zwischen beide wie eine schöne Fügung des Schicksals hingestellt, dem König, in dessen rauher Heldennatur sie die Configuration Italiens erblickte, aufrichtig ergeben, an den großen Tribunen durch den tiefsten Zug ihres Herzens gefesselt, hat sie, wie oft! zwischen Beiden vermittelt, Botschaft hin- und hergetragen, erwachenden Groll geschlichtet, Verständigung angebahnt. So ward sie in bescheidenster, fast verborgener Weise nicht nur der politische Genius loci von Turin und eine Art weiser Egeria für den König, sondern war auch oft in schwerer und entscheidender Stunde der gute Genius Italiens! Wäre sie es mit mehr Ostentation gewesen und läge es offen vor aller Welt da, was sie hinter den Coulissen bewegt und gewirkt, – der Geschichtsschreiber des neuen Italiens hätte ihren Namen auf manchem Blatte zu zeichnen!

In Deutschland kennt man das eigentlich noch gar nicht, was man einen „politischen Salon“ nennt, und in Folge dessen auch den davon unzertrennlichen Begriff der politischen Frau nicht im großen Styl des Wortes, wie in England, Frankreich, Italien. Das „Warum“ dieser Erscheinung auseinanderzulegen wäre ein hübsches Thema für eine besondere culturhistorisch-politische Studie. In Italien trat diese Species schon sehr früh auf, und kam mit Katharina von Medicis nach Frankreich. Vielleicht ist es auch, im Großen und Ganzen betrachtet, nicht zu beklagen, daß wir bislang diese Gattung entbehren mußten; denn der – „Jupon in der Weltgeschichte“ („die Crinoline in der Weltgeschichte“ wäre pikanter, aber minder correct gesagt!) erscheint nicht immer als Fahne des Fortschritts und der Aufklärung. Wie segensreich aber eine edle Frau auch auf diesem Gebiete zu wirken vermag, – dafür ist Anna Marchesa Pallavicino-Trivulzio doch ein leuchtendes Beispiel!

Ihr Haus in Turin war in jener wichtigen Uebergangsepoche, wo Italien aus den kleinstaatlichen Kinderschuhen in die Toga des Einheits- und Großstaates hinüberschlüpfte, vielleicht der erste politische Salon der Halbinsel, und kaum ein Politiker von irgend welcher Bedeutung stieg in dem stattlichen Trombetta-Hôtel (der damaligen Hauptverkehrsstätte der politischen Faiseurs) am Schloßplatz zu Turin ab, ohne auch an die Pforten des Hauses der Via Carlo Alberto zu klopfen.

Damals war das heute entthronte Turin noch der Focus der nationalen Bewegung in Italien. Von hier gingen ja alle die leitenden Fäden aus, welche über den ganzen Stiefel des Hesperidenlandes die Maschen strickten und das Netz woben, in welchem schließlich alle großen und kleinen Tyrannen des Landes zappeln und in die Luft gehoben werden sollten. Von Turin waren sie ja auch alle ausgegangen, die großen Patrioten, welche das neue Italien erst vorbereitet und dann gemacht hatten, die Carlo Alberto, Cesare Balbo, Vincenzo Gioberti, die Massimo d’Azeglio, Victor Emanuel und Camillo Cavour; – Alle waren sie von Turin gekommen, nur den Einen ausgenommen, den Löwen Italiens, den Garibaldi, der das „Italia farà da se“ am consequentesten durchführen sollte, und gerade seine Heimath wurde an den Fremden dahingegeben!

Die Wohnung der Marchesa Pallavicino liegt weit ab von den geräuschvollen Schlagadern des öffentlichen Verkehrs, wie er zunächst um die Piazza di Castello mit ihren Arcaden pulsirt, nach jenen stilleren Straßenquadraten zu, die sich im Südwesten der Stadt um die öffentlichen Gärten gruppiren und auf die neue Prachtstraße del Re auslaufen, an welcher der Bahnhof und die Waldenserkirche liegen, die erste in Italien in Folge königlichen Decrets vom Februar 1848 erbaute Stätte akatholischer Gottesverehrung.

Als ich eines Abends dort zu Tisch gebeten war, traf ich noch vor der Marchesa selbst in diesem Hause ein; sie sei noch beim König, beschied mich ihre Nichte. Das war sie oft, und die Staatsangelegenheiten wurden dann eingehend und in vertraulichster Weise zwischen Beiden ohne Zeugen besprochen. Die heutige Audienz hatte sich in die Länge gezogen; es mußte wohl wieder Etwas in der Luft liegen, obwohl das gerade damals am Ruder des Staates befindliche Ministerium Ricasoli der Marchesa nicht durchaus sympathisch zu sein schien. Wir waren nur ganz Wenige: außer uns Dreien noch G***, Adjutant des Generals Türr, ein vollendet schöner und flotter Cavalier, der noch in selbiger Nacht in geheimer Mission abzureisen hatte, und eine Persönlichkeit der haute finance. Der Herr des Hauses war in der Lombardie (wie hier stets gesagt wurde) abwesend. Die Unterhaltung über Tisch war die zwangloseste und keineswegs ausschließlich der Politik angehörig. Nach der Tafel verfügte man sich in den Salon, und nun wurden Besuche empfangen: Mitglieder des Parlaments, Mitglieder der Regierung; sie machten ihre Aufwartung, kamen und gingen, bis wir Vier endlich wieder allein waren. Indeß die junge Nichte der Dame des Hauses sich mit dem Adjutanten Türr’s im Nebenzimmer an’s Piano setzte und die Töne ihres muntern vierhändigen Allerleis durch die geöffnete Thür herüberklangen, kam es zwischen der Marchesa und mir zum gemüthlichsten inhaltvollsten Plauderstündchen.

Der Held desselben war natürlich Garibaldi, jener volksthümliche Heros Italiens, dem im Hause Pallavicino der Altar eines besonderen Familiencultus errichtet war. Da gab es denn zu berichten – aber auch zu fragen! Und ich war nicht faul in Letzterem. Die Marchesa brachte ein Ebenholzkästchen herbei, sie kniete am Tisch zur Erde nieder und wühlte und kramte in den Briefen und Andenken ihres vergötterten Giuseppe – denn nur solche enthielt die Schatulle –; ein rührendes Bild! Sie ward nicht müde, von seiner Herzensgüte, seinem kindlichen Gemüth, seiner reinen Seele zu erzählen, und mit fast schwärmerischem Anfluge sprach sie jedes Mal den theuren Namen aus, indem sie ihm, vor dem so Viele erzitterten, oft den zärtlichen Diminutiv des Italieners anhängte: Garibaldino! So gesprochen, ist er gar nicht mehr furchtbar!

(Schluß folgt.)




Im Schifferhaus zu Lübeck.

Eins der alterthümlichsten Häuser in Lübeck ist das Schifferhaus, gewöhnlicher die „Schiffergesellschaft“ genannt. Es liegt am Kuhberge, der Jacobkirche vis à vis, ist mit einem herrlichen Treppengiebel versehen und führt auf dem Beiwerk die Inschrift: „Allen zu gefallen, ist unmöglich!“ Ein wahres Wort. Im vorigen Jahre machten freilich ein hiesiger Professor, ein Maler und ein Schiffer sich die Kurzweil und änderten, oder richtiger, verballhornisirten dieselbe folgendermaßen:

[77]

Das Schifferhaus in Lübeck.
Originalzeichnung von Vinc. Lerche in Düsseldorf.

[78]

„Allen zu gefallen, ist unmöglich!
Bei den Schiffern ist’s behäglich,
Wein und Bier giebt es dort täglich.“

Warum aber die geistreichen Verfasser dieser Ergänzungen sich zur vierten Zeile den Endreim „kläglich“ entgehen ließen, vermögen wir nicht zu bestimmen und erwähnen es auch nur so nebenher, denn die alte ursprüngliche Inschrift ist an den beiden Steinsäulen längst wieder hergestellt.

Das Alter dieses Hauses ist vielleicht auf dreihundert Jahre zu schätzen; wenigstens spricht hierfür sein Inneres, das noch heute unverändert ist. Noch heute erkennt man die Anordnung der Plätze für die Aelterleute (die Schiffer in Lübeck huldigen der Zunft); Tische und Bänke der Compagniebrüder sind mit dem Wappen der commercirenden Collegien geschmückt, und die hoch hinauf reichenden Rückwände können ebenso gut für Zeichen in sich abgeschlossener Gemüthlichkeit als für Zeichen starren Kastengeistes gelten. Die altergeschwärzten Balken sind gleichfalls in derbster Weise verziert, von der Decke aber hängen die seltsamsten Schiffsmodelle früherer Zeit, ein Eskimoboot, die abenteuerliche Gestalt eines Seeungeheuers, Schiffslaternen, Innungsfahnen, Schutzheilige und andere Curiositäten, unter denen das „schwarze“ Brett für „Widerhaarige“ nicht vergessen werden darf.

In diesen Räumen verkehrten früher vorzugsweise an den langen Winterabenden die lübischen Schiffer – jetzt kann jeder Gast dort einkehren – und erzählten sich beim Glase Wein oder „steifen“ Grog Erlebnisse aus dem Seemannsleben, bald heiter, bald düster, je nachdem der Gott des Meeres sie gefügt. Daneben wurden auch Erinnerungen aus älterer und jüngerer Zeit laut. Man sprach von den Kämpfen mit den „Linkendelern“ (Vitalianern), namentlich mit den Häuptlingen der Piraten, mit Claus Störtelbecker, mit Wichmann, Michelt und Gödeke Michalsen; von den Gefechten mit den Niederländern, von Jürgen Wullenweber und dem lübischen Admiral Marx Meier, wie auch von den schwedischen Seekriegen, die Lübeck im sechszehnten Jahrhundert geführt. (Eine Abbildung des Admiralschiffs, der „große Adler“ genannt, das 37,500 lübische Mark kostete, hundertundneun Ellen lang und sechsundzwanzig Ellen breit war und tausend Last führte, ist im Schifferhause noch vorhanden.) Am liebsten jedoch und am nachhaltigsten unterhielten sich die Söhne des Meeres von den beiden lübischen Schiffern Brandt und Schümann.

Und warum? Hören Sie! Ersterer ging im October 1813 mit seinem Schiffe „Elfriede“ aus dem Hafen von Sheerneß unter Segel, um nach Swinemünde zu fahren. Das Schiff war bemannt, außer dem Capitän, mit zwei Schiffsjungen, fünf Matrosen und einem Steuermann (Bruder des Capitäns), für den Nothfall führte die „Elfriede“ zwei Kanonen, fünf sogenannte „Donnerbüchsen“, eine Pistole und einen Degen.

Am ersten November erblickte der Capitän in der Nähe der Doggersbank eine englische Brigantine, die beinahe alle Segel eingebüßt und die Nothflagge aufgezogen hatte. – Der Capitän Brandt ließ, um dem bedrängten Schiffe Beistand zu leisten, alle Segel seines Schiffes in den Wind richten, und, sobald beide Schiffe sich nahe genug gekommen waren, rief die Mannschaft des jenseitigen Schiffes in englischer Sprache: „Rettet uns! Das Schiff will sinken!“

Der deutsche Capitän säumte keinen Augenblick. Er ließ, als er bemerkt, daß auf dem fremden Schiffe kein Boot war, von dem seinigen schleunigst eins in’s Wasser setzen, bestieg dasselbe mit vier Matrosen und fuhr hinüber nach der Brigantine, wo er sich an Bord begab und die Mannschaft in Todesangst und Verzweiflung fand.

Als Brandt sich die Schiffspapiere hatte vorlegen lassen und das Schiff für ein englisches anerkennen mußte, hieß er die Mannschaft – aus sieben Erwachsenen und einem zwölfjährigen Jungen bestehend – in sein Boot steigen und führte alle nach seinem Schiffe. Kaum befanden sich die Geretteten am Bord der „Elfriede“, so schrie Einer von ihnen, daß auf der Brigantine noch ein bedeutender Mundvorrath sich befände, welcher der vermehrten Mannschaft wohl zu statten kommen könne. „So holt die Lebensmittel herüber!“ gebot Brandt. Allein die Geretteten schienen so entkräftet, daß sich seine Leute erboten, sie zu holen. Es fuhren demnach die vier Matrosen und der Koch der „Elfriede“ wieder hinüber nach dem fremden Schiffe. Kaum waren diese aber abgefahren, so baten die Geretteten um etwas Essen, welchem Wunsche der deutsche Schiffer auch entsprach.

Während die Hungrigen sich sättigten, stand der Capitän Brandt mit seinem Bruder und den beiden Schiffsjungen auf dem Hintertheil der „Elfriede“ und blickten ahnungslos hinüber nach der immer mehr versinkenden Brigantine. Da, plötzlich und unerwartet stürzen die sieben Aufgenommenen von dem Vordertheil des Schiffes hervor, dringen schreiend und mit Pistolen bewaffnet auf den Capitän ein, umringen ihn und rufen: „Wir sind keine Engländer, sondern französische Kaper! Euer Schiff ist unser und wenn Ihr Euch widersetzt, seid Ihr des Todes!“ Und noch ehe Brandt sich widersetzen konnte, ist er und sein Bruder von den Piraten in die Kajüte hinabgestoßen.

Was nun anfangen? Gewalt gegen Gewalt setzen? Das war mehr als mißlich und dennoch blieb ihnen keine andere Wahl, als den ungleichen Kampf zu wagen. Zwei gegen Sieben, und überdies waren diese bewaffnet. Aber glücklicherweise befanden sich in der Kajüte fünf Donnerbüchsen, eine Pistole und ein Degen, welche Gegenstände die Seeräuber wahrscheinlich nicht bemerkt hatten. Beide Brüder reichten sich die Hände und sagten gleichzeitig: „wir kämpfen!“ – Während nun der Capitän die Donnerbüchsen lud und der Steuermann neben der Kajütenthüre horchte, jubelten, sangen und tanzten die Piraten auf dem Verdecke und als das Boot mit dem geretteten Proviant daher kam, rief ein Kerl den deutschen Seeleuten zu: „Zurück! dies Schiff ist unser Eigenthum! fahrt seewärts, sonst schießen wir Euch nieder!“ – Die fünf wehrlosen Matrosen wagten es nicht näher zu kommen, obwohl zwei von ihnen darauf bestanden das Schiff zu entern.

Eben überlegten die Gebrüder Brandt, wie der Angriff auf die Piraten am wirksamsten auszuführen sei, als diese den Steuermann auf’s Verdeck riefen, um ihm das Steuer zu übergeben. Jedoch hatte der Capitän so viel Zeit seinem Bruder zuzuflüstern: „Suche die Räuber auf einen Fleck zu bringen!“

Dieser Worte gedenkend, rief dieser alsbald den Piraten zu: „Refft die Segel zur Rechten, damit wir nördlich kommen!“ Alle begaben sich eiligst rechts, während der jüngere Brandt rasch an die Kajütenthür trat, wo ihm der Bruder eine geladene Büchse in die auf den Rücken gelegten Hände schob. Im nächsten Augenblick krachten Beider Donnerbüchsen und streckten vier Piraten zu Boden, von denen sich aber drei sogleich wieder aufrichteten, und Alle erhoben ein Wuthgeschrei, grausig anzuhören.

Beide Brandt erreichten jedoch glücklich die Kajüte, nahmen wiederum eine Donnerbüchse zur Hand und brannten abermals los. Zwei Piraten fielen, einer erhob sich wieder. Blitzschnell eilten beide Brüder abermals in die Kajüte. Der Capitän entreißt dem zitternden Jungen die letzte geladene Büchse und schlägt auf den Anführer der Seeräuber an. Von dem Schusse getroffen, stürzt dieser zwar nieder, erhebt sich aber wieder und dringt auf den Capitän ein. Dieser fühlt im nächsten Augenblick einen Dolchstoß in der rechten Seite und verliert die Besinnung, kommt jedoch schnell wieder zu sich, als ein Schuß fällt und sein Bruder knirschend ruft: „Meine linke Hand ist fort!“ Die Büchse, welche er schleunigst geladen, war gesprungen und hatte ihm den Daumen zerschmettert.

Dieser Aufschrei des Bruders entflammte auf’s Neue den Muth des Capitäns. Er ringt mit seinem Gegner, entreißt ihm glücklich das Dolchmesser und versetzt dem schon Schwerverwundeten einige so heftige Stöße, daß derselbe sterbend zusammensinkt. Jetzt war aber auch der deutsche Schiffer so entkräftet, daß er gleichfalls zusammenbrach in dem Augenblick, wo sein Bruder, den Degen in der gesunden Hand schwingend, wieder auf’s Verdeck stürzt und mit einem Hiebe den Kopf eines Piraten spaltet, daß dieser todt zu seinen Füßen sinkt. Dieser Erfolg entmuthigte die zwei noch übrigen Feinde dergestalt, daß sie sich auf die Kniee warfen und um Pardon baten.

Der Sieg war errungen und der ungleiche Kampf hatte zwar die „Elfriede“ wieder in Besitz des Capitäns gebracht, aber sein und seines Bruders Lage war durchaus nicht beneidenswerth. Beide Männer waren verwundet, zwei unerfahrene Schiffsjungen ihre einzigen Gehülfen und dazu die Nacht vor der Thür. Doch das Sprüchwort: „Wenn die Noth am höchsten, ist die Hülfe am nächsten,“ bewährte sich auch hier. Die fünf Matrosen, welche sich nicht allzuweit entfernt hatten, kamen gegen Mitternacht an Bord. Der Capitän lag ohnmächtig auf dem Bette, während der Steuermann, [79] im Verein mit den Matrosen, die Verwundeten untersuchte. Zwei waren todt und wurden in’s Meer versenkt; ein Dritter, obgleich verwundet, war keck genug, sich zur Wehr zu setzen, er wurde lebendig über Bord geworfen; ein Vierter verschied gegen Mitternacht, auch sein Leichnam wurde der See übergeben; der Fünfte starb an seinen Wunden erst nach zwei Tagen.

Die Gebrüder Brandt erreichten mit ihrem Schiffe glücklich Gothenburg, wo sie ärztliche Hülfe erhielten und ihre Wunden geheilt wurden. – Auch die beiden gefangenen Piraten wurden daselbst abgeliefert. – Zum Lohne für diese bewiesene Tapferkeit erhielten die Gebrüder Brandt von dem Könige von Preußen das „eiserne Kreuz“, und noch vor einigen Jahren sah man in dem Schifferhause zu Lübeck unter den Gästen auch den Capitän Brandt, geschmückt mit dieser Decoration, still-ernst dahinblickend. – –

Der lübische Schiffer J. J. Schümann erlebte ein ähnliches Seemannsstückchen. Im Mai des Jahres 1817 segelte er mit seinem Schiffe „Industrie“ von Riga nach Corril in Spanien. Auf der Höhe vom Cap Finisterre wurde er von einem ebenfalls unter englischer Flagge fahrenden, aber mit Algierischen Seeräubern bemannten Briggschiffe angehalten und zu demselben an Bord gefordert. Der Uebermacht nachgebend, entsprach der deutsche Capitän mit zweien seiner Leute diesem Befehle. Man verlangte seine Papiere und vor Allem einen türkischen Paß, und da er solchen nicht hatte, erklärte man Schiff und Ladung für eine gute Prise und ihn und seine Leute ohne Umstände für Sclaven.

Die Unmöglichkeit einsehend, Gewalt mit Gewalt vertreiben zu können, machten die Deutschen gute Miene zum bösen Spiele und schienen sich in ihr Schicksal zu fügen. Jedoch bemerkte Schümann den Piraten, daß es für Schiff und Ladung wohl gerathen sein möchte, wenn er selbst auf demselben die Reise nach Algier fortsetze, da sein Steuermann stark dem Trunke ergeben sei. Der Anführer der Seeräuber pflichtete dem bei und ließ Schümann mit seinen beiden Leuten, begleitet von elf Räubern, wieder an Bord der „Industrie“ bringen. Hier angekommen, plünderten die Corsaren sogleich die deutschen Seeleute gänzlich aus und fanden es alsdann für gut, den Capitän und fünf seiner Matrosen auf dem Schiffe zu lassen, die übrige Mannschaft aber, einen Steuermann, zwei Matrosen und zwei Burschen, nach dem Raubschiffe abzuführen.

Von nun an war Schümann nur darauf bedacht, die mißtrauischen Piraten etwas unbesorgter zu machen, weshalb er sich, was sonst gar nicht seine Weise war, gegen seine Leute despotisch benahm, sie bei der geringsten Veranlassung schalt und schlug oder sie so arg stieß, daß sie sogleich hinfallen mußten, ohne darüber zu mucksen. Dies Verfahren bewirkte gar bald, daß die Türken weniger aufmerksam wurden, indem sie die deutsche Besatzung für sehr schwach und muthlos hielten, von der nichts zu besorgen sei.

Am fünften Juli kam die „Industrie“ in die Nähe von Lissabon, und an demselben Tage entschloß sich der deutsche Capitän, zu siegen oder zu sterben. Zwischen ihm und seinen Leuten wurden demzufolge folgende Verabredungen getroffen: Schümann wollte die Türken zu einem guten Häringssalat einladen, und Steffen – ein beherzter und entschlossener Mann – den er als Kajütenjungen angestellt, sollte bei der Bereitung behülflich sein. Als das Frühstück angerichtet war, wurden die Piraten dazu eingeladen. Schümann aß mit den vier Officieren auf dem Verdeck, Steffen mit den sieben Gemeinen im Roof. Was man gehofft, erfolgte: es stellte sich bei den Räubern nach genossenem Mahle ein starker Durst ein. Der Capitän ging mit dem Prisenmeister in die Kajüte hinab, um ihm ein Glas Rum zu geben; zu ihnen gesellte sich Steffen, mit der Reinigung einiger Geräthe sich beschäftigend. Schümann lud den Türken ein, sich auf eine neben der Kajütenthür und dem Tische stehende Kiste niederzulassen, wo er, wie verabredet, von Steffen niedergehauen werden sollte. Aber der Räuber setzte sich so, daß er beim Trinken Alles übersehen konnte. Dieser Plan war also vereitelt!

Nach kurzer Weile legte der Capitän eine Seekarte auf den Tisch und zeigte mit dem Finger, wo Lissabon und Algier liege. Den letztern Ort betonte er absichtlich sehr stark, indem er hastig ausrief: „Hier liegt Algier!“ Der bis dahin gleichgültig zuhörende Prisenmeister wandte sich neugierig nach der Karte und bückte sich, um den Ort zu sehen, über den Tisch. Dieser Moment war entscheidend. Schümann gab Steffen das verabredete Zeichen, dieser ergriff einen Zimmermanns-Dehsel und versetzte mit dessen Schärfe dem Türken einen solchen Hieb in den entblößten Nacken, daß der Corsar, ohne irgend einen Laut von sich gegeben zu haben, todt niederstürzte. Der Schaft des Instruments zerbrach. Rasch eigneten sich nun die beiden Deutschen des Gefallenen Waffen, zwei Pistolen und einen Degen, an und schritten auf’s Verdeck. Als sie dies erreicht, legte der Capitän auf den vor der Kajütenthür stehenden türkischen Posten an und erschoß ihn. Steffen aber nahm den neben dem Steuer stehenden Türken in’s Auge und traf auch diesen glücklich. Schnell ergriffen sie der Gefallenen Waffen und riefen die deutsche Besatzung zu sich. Wollte man Sieger bleiben, so mußte man rasch handeln, und das geschah denn auch: fünf Corsaren wurden mit ihren eigenen Waffen niedergestreckt.

Jetzt stand Schümann hinten auf dem Schiffe und hatte seine fünf Leute noch unversehrt neben sich; der hintere Roof diente ihnen gleichsam als Schanze gegen das Schießen der Piraten von vorn her, denen aber zum Wiederladen keine Zeit gelassen werden durfte, vielmehr mußte man ihnen keck zu Leibe gehen. Dies geschah denn auch unverzüglich, wobei jedoch einer der deutschen Matrosen mit einem Piraten zusammengerieth, der ihm an Körperkraft weit überlegen war, weshalb der Capitän mit blanker Waffe hinzusprang und dem Türken einen Hieb versetzte, daß sein Blut sechs Fuß hoch in das backliegende große Segel hinaufspritzte. In demselben Augenblick sprang ein Pirat über Bord. Da man jetzt nirgends einen Feind mehr erblickte, rief Schümann zwei seiner Leute zu sich, um eine andere Rudertalje einzuziehen, da die vorige wahrscheinlich durchgehauen war, so daß das Steuer hin und her schlug.

Eben am Backbord mit dieser Arbeit beschäftigt, ward man plötzlich noch eines Corsaren gewahr, welcher sich bisher im Roof versteckt hatte, jetzt aber mit einer „Blunderbüchse“ hervor trat, die mit sechs Kettenkugeln geladen war und die er auf die drei Deutschen anlegte. Noch rechtzeitig stieß Schümann seine Umgebung auseinander, rasch nach der Steuerbordseite springend. Bei der Kajütenthür aber begegnete ihm der Corsar, der auf ihn anlegte und ihn am Kopfe verwundete, so daß der Capitän gezwungen war, sich bis in die Mitte des Schiffes zurückzuziehen. Der Pirat jedoch verfolgte ihn, in jeder Hand eine gespannte Pistole haltend. Jetzt schlug er auf seinen Gegner an – aber beide Pistolen versagten. Mit einem Sprunge stand Schümann neben ihm, einige Säbelhiebe ihm versetzend und zwar so, daß er niederstürzte und bei jedem Hiebe, den er bekam, in italienischer Sprache ausrief: „Das ist gut!“ Er hatte auch gar nicht Unrecht, denn mit seiner Person war der letzte der Seeräuber aus dem Wege.

Die Leichname wurden nun theils ganz, theils stückweise „mit Sack und Pack“ über Bord geworfen. Dabei entdeckten die Matrosen einen Piraten zur Seite des Schiffes, wahrscheinlich denjenigen, welcher über Bord gesprungen war und der nun ein Tau ergriffen und, um leichter schwimmen zu können, seine Jacke ausgezogen hatte. Er bat um Pardon, aber bei der Erbitterung der Mannschaft wurde hierauf nicht gehört: das Tau ward gekappt und er den Wellen preisgegeben, in denen er wohl seinen Tod gefunden.

Der blutige Kampf hatte eine volle Stunde gewährt.

Nachdem das Schiff wieder vor den Wind gebracht und das Blut der erschlagenen Seeräuber weggewaschen worden war, dankten Alle knieend Gott für den verliehenen Sieg. An demselben Tage noch bekam die „Industrie“ von Lissabon aus einen Lootsen an Bord und landete daselbst am folgenden Tage.

Glücklicherweise wurde auch die deutsche Mannschaft, welche auf dem Piratenschiffe in die Sclaverei geführt werden sollte, durch die thätige Verwendung des schwedischen General-Consuls, Herrn Anckerloo, wieder in Freiheit gesetzt, und zwar ohne die als Lösegeld verlangten fünfzehntausend Piaster bezahlt zu haben.

H. A.




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Blätter und Blüthen.

Besser als sein Ruf. Menschen glauben das Unmöglichste lieber als das Wahrscheinliche; einige jener Schreckens- und Schauergeschichten, wie sie „weit draußen“ auf dem Meere passiren, lassen sich im Gefühle behaglicher Sicherheit recht angenehm genießen, und so ist denn der Haifisch ein Opfer geworden der allmächtigen Tradition. Jedermann ist von seiner Entsetzlichkeit von vornherein schon überzeugt: wo er ist, da giebt’s ein Unglück, Gischt, Blut und wenigstens abgebissene Glieder; jeder Seeroman würde mangelhaft sein ohne ihn und er erscheint – ein deus ex machina immer an der richtigen Stelle, um das Interesse wieder zu fesseln.

Um Genaues über ihn zu erfahren, wende man sich an jene Männer, welchen die See zur Heimath geworden ist, an die Fischer, und unter diesen wieder an die eigentlichen Kosmopoliten, die Walfischfänger. Alle Gewässer werden von diesen durchsucht, nichts entgeht ihren Blicken in der ungeheuren Weite; vom Verdeck aus, vom Maste herab, im leichten Boote, oft auch im Wasser selbst haben sie eine gewiß vielseitige, wenn auch nicht immer beneidenswerthe Gelegenheit, die See und ihre Bewohner kennen zu lernen. Wo ein todter oder verwundeter Wal sich befindet, da versammeln sich in den warmen Meeren immer eine große Anzahl Haifische mit unbegreiflicher Schnelligkeit. Nun ist es in dem wechselvollen Leben der Walfänger gar nicht so selten, daß Boote zertrümmert und die Mannschaften in das Wasser geschleudert werden, eine für die anwesenden Haie gewiß verführerische Gelegenheit, und dennoch ist mir kein Fall bekannt, daß jemals ein Mensch gebissen worden wäre, obgleich ich Hunderte von Walfängern befragt habe. Officiere sowohl als Mannschaften, und ergraute Veteranen von allen Meeren.

Folgende Notizen aus meinem Tagebuche werden die vorwiegende Ungefährlichkeit der Haie ebenfalls nur bestätigen.

Im Süd-Atlantischen Ocean wurde unser Boot von einem Potwal gänzlich zerstört und wir sechs Insassen waren genöthigt, uns mittels Rudern und Planken vielleicht zwei Stunden lang schwimmend zu erhalten, mitten zwischen den unvermeidlichen Haifischen. Rastlos wie die See selbst und schrecklich gewandt, bald auf-, bald niedertauchend zogen sie ihre Kreise, aber obgleich unter uns einige Farbige waren – die bisher als Leckerbissen für sie galten – wurden wir doch nicht belästigt.

Ein anderes Mal speckten wir einen Wal ab, während eine Menge Haie uns wacker dabei halfen; wie üblich, stieg ein Mann, wieder ein Neger, auf den Cadaver hinab, um die Kinnlade abzulösen, glitt aber, obgleich er durchs eine Leine gesichert war, von der schlüpfrigen Masse ab und plumpte in das Wasser. Sofort schossen, wahrscheinlich ein Stück Fleisch oder Speck vermuthend, mehrere der gefräßigen Burschen auf ihn zu, wandten sich aber, ihren Irrthum erkennend, wenige Fuß von dem zappelnden Menschen wieder hinweg.

Im Stillen Ocean, unter dem Aequator, von langweiliger Windstille befallen, sprangen wir, um uns zu erfrischen, einfach über Bord und schwammen nach Herzenslust um das bewegungslose Schiff. Es war ein wonniges Gefühl, so mitten im Weltmeere zu baden und wir hatten uns schon mehrere Tage dieser Lust überlassen, als wir Haifische bemerkten. Sofort machten wir uns bereit, einen oder einige derselben zu fangen, nicht vermöge der Geduldprobe mit Köder und Haken, sondern, wie es Walfängern geziemt, mit Harpune und Lanze. Ein glänzender Blechtopf, an dünner Leine befestigt, wurde mit hinaus in das Wasser geworfen und schnell wieder zum Schiffe herangezogen. Dieses Lockmittel bewährte sich wie immer ausgezeichnet: in blinder Gier schossen die Haie dem blinkenden Dinge nach, und bald war einer harpunirt, getödtet und an Deck genommen. Er hatte ungefähr doppelte Mannsgröße, sein elastischer Rachen hätte aber wohl kaum einen zehnjährigen Knaben aufnehmen können. Der Magen enthielt Knochen und Kartoffeln, Abfälle unserer Küche, die er mit seinen Cameraden getheilt hatte; sie bewiesen, daß er uns schon mehrere Tage gefolgt war. Offenbar waren diese Haie bei so kärglicher Nahrung sehr hungrig, und obgleich wir, ihre Nähe nicht ahnend, ihnen verschiedene Male vor der Nase herumgeschwommen waren, hatten sie uns doch nicht angefallen.

An der Küste von Chili sah ich Rotten wilder Knaben der einkommenden Fluth brusttief entgegenwaten und den an den Rand herandrängenden Haifischen erfolgreiche Gefechte liefern. Meistens erlegten sie mit ihren sehr primitiven Lanzen und Harpunen nur die kleineren Hunds- und Katzenhaie; doch sah ich auch einen sieben Fuß langen Grundhai an’s Land bringen, welcher natürlich viel größer war als irgend einer seiner Peiniger. Sie versicherten mir, daß diese Jagd ihr Lieblingsvergnügen sei und sie oft noch größere Exemplare erlegten.

Würde es der Raum erlauben, so könnte ich noch Vieles, von dem ich Augenzeuge war, anführen; doch würde daraus immer nur hervorgehen, daß der Hai besser ist als sein Ruf. Um Juan Fernandez im Stillen Ocean – die berühmte Insel, auf welcher Alexander Selkirk, der Held unserer Robinsonaden, lebte – wimmelte es von Haifischen; die chilenische Familie, welche dort wohnte, hielt sie für ungefährlich. Die Sandwich-Insulaner, wahre Amphihien-Naturen, schwimmen und tauchen im Meere, wo es ihnen beliebt; die Bewohner der Azoren, der Cap Verde Inseln und brasilianische Fischer, mit denen ich in Berührung kam, konnten mir keinen Unglücksfall angeben, der sich bei genauer Untersuchung nicht als unbegründet auswies.

Die westindischen Haie sind berüchtigt. Wir haben daselbst Schiffbruch erlitten und auf einem trostlosen Korallenriff Robinson gespielt, mit unzähligen Haien aller Art als einzigen Besuchern; sie haben uns nicht gefressen. An der Küste von Massachusetts haben wir Vergnügungsfahrten unternommen, um uns mit allerlei Seegethier zu bereichern, Schwertfische zu harpuniren und Haie zu angeln; wir haben sie von allen Größen gefangen, und die Fischer von dem berühmten Cap Cod, ein rauhes und kühnes Geschlecht, sahen uns gern, weil wir sie von dem die Fische verscheuchenden und die Netze zerreißenden „Ungeziefer“ befreiten. Schlimmeres wußten auch sie nicht zu sagen.

Seeleute sind von äußerst conservativer Gesinnung und haben ihre eigene Sagenwelt, an der nur schwer sich rütteln läßt; sie stimmen überein in ihrem Haß und ihrer Grausamkeit gegen Haifische und wissen grausige Geschichten zu erzählen. Fragt man aber einen Gläubigen, so hat er es zwar nicht selbst gesehen, aber – und dies ist das alte, alte Lied – er hat Einen gekannt, der hat wieder Einen gekannt, welcher es gesehen hat oder vielleicht gar nur bald einmal gesehen hätte. Solch treuherziger Glaube kann das Wissen schwerlich fördern.

M. E. P.


Aus Californien schreibt man der Gartenlaube über die dortselbst fortwährende Zunahme der Chinesen und ihres Einflusses auf Handel und Gewerbe. „Gerade dadurch,“ heißt es in dem Briefe, „daß man die Chinesen früher überall verstieß und von jeder Gelegenheit zum Geldverdienen förmlich wegdrängte, gerade dadurch hat man ein nur festeres Zusammenhalten der Söhne des himmlischen Reichs unter sich hervorgerufen; sie stehen jetzt den Weißen wie eine in sich geschlossene Körperschaft gegenüber, wohnen in ihren eigenen Straßen und suchen den eben erst eingewanderten und der englischen Sprache noch unkundigen Stammesgenossen auf jede Weise zu fördern, während der Deutsche erbärmlich genug seinem Landsmann in der Regel nicht nur nicht hilft, sondern ihn, solange er „grün“ ist, auf jede Weise noch auszubeuten sucht. Die chinesischen Arbeiter leben unter sich im besten Einvernehmen; selten kommt es zu Streitigkeiten, dann aber sind sie gleich mit Schußwaffen bei der Hand. Bei der Arbeit erscheinen sie pünktlich auf die Minute, verlangen aber dann ebenso pünktlich entlassen zu werden. Giebt man ihnen schlechte Worte, so werden sie verdutzt und machen Alles verkehrt; läßt man sie ihren eigenen Weg gehen, so arbeiten sie gleichmäßig von Morgens bis Abends fort und man kann mit ihnen zufrieden sein. Sie sprechen bei der Arbeit sehr viel und sehr schnell, und sind mehrere auf einem Platze beisammen, so mag man wohl glauben, eine Schaar Gänse zu hören. Kommen sie Abends von der Arbeit heim, so beschäftigen sie sich gerne mit Schreiben; denn dies, wie das Lesen, versteht fast jeder Chinese.

Ihre mäßige Lebensart ist bekannt; sie verlangen nicht die kostspielige Verpflegung wie der Weiße, geben sich mit geringerem Lohne zufrieden und werden darum in neuester Zeit mit Vorliebe bei den Eisenbahnbauten verwendet, wie man ihnen denn auch zum größten Theil die längs der östlichen, von Omaha auslaufenden Bahn gebauten und zur Instandehaltung dieser Bahn dienenden Sectionshäuser eingeräumt hat. Ist es zunächst der Irländer, der bisher das Monopol der Eisenbahnbauten in Amerika ausschließlich für sich in Anspruch nehmen zu dürfen glaubte und nun durch die Concurrenz der Chinesen in seinem Erwerb sich ernstlich bedroht sieht, so sind es auch sonst die solideren Gewerbe, in welche die Söhne des Reichs sich „einschleichen“ suchen, wie ihre Feinde sagen. Sie entwickeln in der Erlernung von Handwerken und Geschäften eine fabelhafte Geschicklichkeit und zeigen im Festhalten des gewonnenen Vortheils den Weißen gegenüber alle die Verschmitztheit und die Ausdauer, die ihnen eigen sind. Sie fabriciren sämmtliche Cigarren, die in Californien geraucht werden; sie haben die Wäscherei, durch die sich früher die Frauen so vieler Weißen ernährten, völlig in ihre Hände gebracht und fertigen ganz allein noch die hier gebräuchlichen leichten Schuhe, da sie zu so niedrigen Preisen arbeiten, daß die Weißen auf jede Concurrenz verzichtet haben. Wie rasch die Chinesen auffassen, mag folgendes Geschichtchen beweisen: Ein Photograph hatte einen Chinesen als Ausläufer, und dieser ließ es sich sehr angelegen sein, seinem Herrn bei der Arbeit höchst harmlos zuzusehen; während dieser aber nichts Schlimmes dachte, fing der Chinese nach drei Monaten selbst zu photographiren an, eröffnete ein eigenes Geschäft und schlug seinen frühem Herrn völlig aus dem Felde. Auf dieselbe Weise lernte ein Anderer die Uhrmacherei. In solcher Weise suchen die Chinesen fortwährend nach festerem Halt. Dabei kommen fort und fort aus China ganze Schiffsladungen an, deren Inhalt die Vereinigten Staaten überschwemmt, und so ist gar nicht abzusehen, welchen Einfluß diese kolossale, endlose Einwanderung der mongolischen Race in dem Norden Amerikas noch ausüben wird.“


Kleiner Briefkasten.

O. Glenzer in Petersburg. Gewünschtes geht Ihnen von Staßfurth zu, sobald Sie genaue Adresse angeben.

F. T. Förster. Herzlichen Gruß und Dank von Fr. Gerstäcker.

G. in B. Schon in nächster Nummer werden Sie den vermißten „Literaturbrief“ finden.

J. in P. Die Anfrage ist deshalb nicht unbedingt richtig zu beantworten, weil Talent, Alter und Geschmack der „jungen Clavierspielerin“ nicht genauer bezeichnet sind. Im Allgemeinen können wir „Unsere Lieblinge von C. Reinecke“ und „Wegweiser für den Clavierschüler J. Knorr“ empfehlen.

K. in Frkf. Ihre Vermuthung ist eine ganz richtige: die durch das Berliner Blatt persiflirte Skizze über Fritz Reuter war nicht in der Gartenlaube, sondern in einer anderen illustrirten Leipziger Zeitschrift abgedruckt.

M. in Msbg. Bitten über die gesandte Novelle zu verfügen.


Inhalt: Aus eigener Kraft. Von M. v Hillern. (Fortsetzung.) – Ein Denkmal für das „treue deutsche Gewissen“. Mit Abbildung. – Schulkindkrankheiten oder Schulkrankheiten?. II. Von Bock. – Hinter der Klosterpforte. – Aus den politischen Salons des neuen Italiens. Von Emil Pirazzi. 1. Die Frau des Märtyrers. – Im Schifferhaus zu Lübeck. Mit Abbildung. – Blätter und Blüthen: Besser als sein Ruf. – Aus Californien. – Kleiner Briefkasten.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. S. Stötzner, Schulen für schwachbefähigte Kinder. Leipzig, Winter’sche Verlagsbuchhandlung, 1864.