Die Gartenlaube (1871)/Heft 27

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 27.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Geheimniß des alten Kärner.
Von Emilo Mario Vacano.
1. Eine Sterbestunde.

Daniel Kärner war todt. Das war eine stadtbekannte Sache. Eine halbe Stunde nach seinem Tode wußte es ganz Görnitz, daß der alte Herr Kärner im Landhause draußen gestorben sei. Der alte Mann war seit Jahren fast nie mehr in Berührung gekommen mit der Stadt und ihren Bewohnern. Er lebte in seinem schloßartigen Hause, kurzweg das „Landhaus“ genannt (außerhalb der Lindenalleen, die sich um Görnitz herumzogen), wie ein Einsiedler. Er war nicht menschenscheu, aber er suchte Menschen nie auf. Seit vielen, vielen Jahren hatte er keinen Bekannten in Görnitz drinnen besucht, war er in keiner Gesellschaft gesehen worden. Wenn Jemand hinauskam, am Landhause vorüber, und trat in den dunklen, dichtbuschigen, halbwilden Garten, welcher dasselbe umgab, da war der alte Kärner ein freundlicher Hausherr und führte den Wanderer selber in dem Garten umher, wies ihm die Aussichten, und machte ihn auf manchen üppig wuchernden fremdländischen Baum aufmerksam. Der Garten war ganz im englischen Geschmacke angelegt, nur gar zu wild und ungebändigt wuchernd, als sollte er eine Dornhecke um das Landhaus ziehen. Und dennoch war Daniel Kärner kein Menschenfeind. Er war wohlthätig gegen Arme, und nie hatte Jemand von ihm ein rauhen Wort gehört, oder an ihm eine finstere, böse Miene gesehen.

Er lebte auf dem Landhause allein mit seiner Tochter Marie, einem hübschen, dunkeläugigen Mädchen von neunzehn Jahren. Seine Frau lag seit achtzehn Jahren begraben in Görnitz; sie war eine fremdschauende stille Person gewesen, die der alte Kärner aus Kärnthen mitgebracht hatte.

Das Landhaus lag einsam unter dichten Linden. Ueber dem schmalen Thale drüben lag ein Schloß Lobenstein, dessen Fenster im Sonnenuntergang mit den Fenstern des bürgerlichen Schlosses „Landhaus“ Kreuzblitze zu werfen pflegten.

Wie das Zügenglöcklein vom Görnitzer Hauptthurme erscholl, da fragte jede Hausfrau, die beim Abendbrode saß, jede Krämerin, die eben die Thürläden schließen wollte, und jede Magd am Röhrbrunnen, wem das gelten könne? … Es geschah dies an einem schönen Sommerabende. Und ehe noch die Dunkelheit die Nachtschattenblüthen zum durchdringenden Dufte öffnete, wußte das Städtchen, daß der alte einsam lebende reiche Daniel Kärner gestorben sei.

Und am andern Morgen wußten auch die Thürstufen, auf denen alte Gevatterinnen auszuruhen pflegen, ehe sie zur Frühmesse gelangen, die Küchenbänke, auf denen die Milchfrauen ihre Waaren absetzen, und die Kinderstuben der Bürgersfrauen, wo die intimste Kaffeefreundin ihren ersten Besuch abzustatten pflegt, daß der alte Kärner „schwer“ gestorben sei, „sehr schwer“, daß ihn der Teufel nicht sterben lassen wollte, weil noch ein Geheimniß das brechende Herz bedrückte. Und daß sich der Sterbende gegen den Tod gewehrt habe, eine ganze Stunde hindurch, um sichtlich ein Geheimniß loszuwerden; daß aber die gelähmte Zunge jeden Laut, und die zuckende, gelähmte Hand jeden Federzug versagt habe. Und daß der alte Mann gestorben sei, die Augen ängstlich rollend, die Lippen vergebens zu Worten zwingend, mit beschwertem Herzen gestorben, ein Geheimniß mit sich nehmend in sein stummes Grab. Ein Geheimniß, das nie gelöst werden sollte, und welches vielleicht seine arme Seele ruhelos herumtreiben würde in den verlassenen Zimmern seines Hauses.

So erzählten die Basen, die Milchweiber und die Freundinnen ihren Verwandten, ihren Kundschaften, ihren Gatten. Und die Männer besprachen es im Gasthause.

Und es war kein müßiges Gerede, es war etwas Wahres an der Sache. Der alte Kärner lag im Todeskampfe in seinem Bette. Zu seinen Häupten knieete seine Tochter Maria schluchzend und lächelnd. In ihre Hände schluchzend, und dann wieder tröstlich auflächelnd zu ihrem Vater. Zu seinen Füßen stand der Bürgermeister von Görnitz, Franz Volkner, einst ein Schulcamerad des Sterbenden, den dieser zum Vormund seines einzigen Kindes gemacht hatte. Es wollte eben Abend werden, und ein letzter blutrother Sonnenstreif fiel quer über die Stube, wie ein Flammenschwert, das sich vor dem Paradiese ausbreiten wollte. Und der strebende Greis richtete sich jäh auf. Er hatte noch vor fünf Minuten deutlich gesprochen und gebetet, aber jetzt schien er plötzlich zu fühlen, daß seine Zunge schwer geworden sei. Er stammelte Etwas, es klang wie: „Mein Gott im Himmel, ich kann nicht mehr sagen, das Ding – das Ding –!“ Er schien nach einem Worte zu suchen, das seinem wirr werdenden Gehirne schon für ewig entfallen war. „Das weiße – das, was dort ist …“ Und nun schien er wieder nach einem Orte zu suchen, dessen Bezeichnung der fassende Tod ihm schon aus der Seele gerissen hatte. „Marie!“ stöhnte er noch auf, „thu’ das, sonst hab’ ich nicht – nicht Ruh’ – so schlecht – die Welt – Geheimniß nicht mehr …“

Das waren die letzten verständlichen Worte des gurgelnden, mit dem Tode ringenden Greises.


[442] Marie Kärner hielt ihren Vater schreiend umfaßt. Sie wußte, „daß es nicht möglich sei“, wie sie später erzählte. Der alte Bürgermeister zitterte heftig und machte mit seiner Runzelhand ein Kreuzzeichen über sich selber.

Die Magd Anna jammerte im Zimmer herum. Der alte Canarienvogel im Bauer flatterte matt mit den Flügeln, als sähe er ein fremdes Gesicht am Gitter seines Käfigs vorübergehen.

Und der alte einsame Mann war todt. Er war schwer gestorben, mit einem Geheimnisse auf den ersterbenden, gelähmten Lippen, mit einem Geheimnisse, das nun Niemand mehr lösen konnte, und das vielleicht seinen Geist ruhelos umhertrieb an der verlassenen Stätte, die er bewohnt hatte, oder an dem Orte, wo ein ungerächter Mord verübt worden war.




2. Was die Welt wußte.

Man konnte ja dem seligen alten Kärner Alles zutrauen. Ein Makel, von welchem die ganze Gegend wußte, lag ja auf seinem Leben, seit seinem vierundzwanzigsten Jahre schon.

Er war der Sohn des reichen Kaufmanns und Großhändlers Johann Jakob Kärner gewesen, dessen Geschäft schon von den Großeltern her in dem Städtchen, im Lande, an jedem ausländischen Verladungsplatze selbst, berühmt und geachtet war. Johann Jakob Kärner hatte seinem Geschäfte die wundervollste Ausschmückung gegeben mit Spiegelfenstern und Genfer Tapeten. Daneben hatte er sein Schlößchen „Landhaus“ außerhalb der Stadt reizend möbliren lassen – ebenso prachtvoll wie der alte heruntergekommene verschwenderische Graf Lobenstein sein Schloß ausschmücken ließ von Monsieur Léonard de Vienne.

Der Sohn der Firma, Daniel Kärner, ein schöner Junge mit idealer Tscherkessen-Physiognomie, war zwar sehr brav in der Handlung, aber dabei auch zu frohherzig und frisch in seinem Wesen für einen ehrsamen Kaufmann. Er war fleißig im Comptoir, aber er hatte stets die neueste Cravattenschleife und das neueste Mode-Jaquet. Und er wurde sogar im Nachbarschlosse Lobenstein gern gesehen; Comtesse Adalie Lobenstein hatte fast auffallende Zuvorkommenheit für ihn. Er durfte bei den Partien, welche er, sie und ihr Cousin Graf Stasingen zu Pferde machten, stets an ihrer rechten Seite reiten. Man konnte nicht recht daran glauben, aber man mußte endlich auf den Gedanken kommen, daß eine Liaison zwischen dem reichen Kaufmannssohne und der armem Comtesse möglich sei! Eine Liaison, die zu einem schrecklichen Auftritt führen mußte, auf welchen sich schon die ganze Stadt freute – und dieser Auftritt kam.

Aber er kam seltsamerweise nicht aus der Liaison, sondern anderswoher. Der junge Daniel war ein steter Besucher des Schlosses, und selbst wenn tausend fashionable Gäste da waren, wurde er von Comtesse Adalie ausgezeichnet. Mit dem Cousin des Schlosses, dem wegen Schulden quittirten Officier Grafen Stasingen, war er fast unzertrennlich. Die Beiden ritten auf Jagden miteinander, sie fuhren in das Städtchen, um da zu übernachten, kurz, der junge Daniel Kärner war in der Adelsfamilie „gesotten und gebraten“, wie man im Städtchen zu sagen pflegte. Dieser aristokratische Umgang, die Cameradschaft mit einem jungen Grafen, die Liebe für eine schöne Comtesse, dies Alles hatte den Sohn des reichen Kaufherrn vielleicht in größere Ausgaben gestürzt; kurz, er erbrach eines Nachts die Casse seines Vaters, und verwundete dabei den alten Cassendiener, der ihn ertappte, auf den Tod.

Die Sache war fast unglaublich, undenkbar. Denn Daniel Kärner war der Liebling seines Vaters gewesen, welcher gewiß keine Summe gescheut haben würde, um seinen Sohn aus einer gewöhnlichen Verlegenheit zu retten. Die Sache war, wie gesagt, unglaublich, unerklärlich. Das Unglück bestand darin, daß Daniel mit dem offenen Geständniß zögerte, bis die Sache schon gerichtlich anhängig war. – Er war ertappt worden, wie er die Casse seines Vaters erbrach, und er hatte dabei den alten Cassendiener verwundet. Die Sache wurde zwar so gut als möglich vertuscht, aber „die Spatzen pfiffen sie auf dem Dache“, wie wiederum ein Lieblingsausdruck des Städtchens lautete.

Daniel Kärner war verloren für die Stadt. Er mußte in’s Ausland gehn. Dort blieb er lange, lange Jahre in einer Fabrik, welche mit dem Geschäft seines Vaters in gar keinem Zusammenhange stand. Er mußte dort sein Leben ganz neu beginnen, als Heimathloser, als Ausgestoßener. Nach diesen langen, langen Jahren starb sein Vater, und der Verstoßene wurde nun der Erbe des großen Vermögens und des großen Geschäftes. Aber das alte Geschäft, welches unter dem Vater geblüht hatte bis zum letzten Augenblicke, war unter dem Sohne und Erben unmöglich geworden; seine Abwesenheit durch so viele Jahre hatte wohl vermocht, den Makel von dem Bürger, aber nicht den Makel vom Geschäftsmanne zu entfernen. Wer hätte mit einem ehemaligen Diebe Geschäfte machen wollen?

Daniel Kärner gab also das Geschäft auf. Er verkaufte es an einen alten Geschäftsfreund seines Vaters, und zog sich nach der Abwesenheit von dreißig Jahren in das Landhaus zurück, ein alter, gebeugter, stiller, menschenscheuer Mann, ein Wittwer, der in der Fremde eine Fremde geheirathet hatte, die zehn Jahre nach der Geburt einer Tochter starb. Die Verstorbene sollte, wie es hieß, eine barmherzige Schwester aus Krain gewesen sein, die den Kärner in einer Krankheit im Hospitale von Laibach gepflegt hatte.

So lebte denn der einfache alte Mann mit seiner Tochter Marie sein Leben weiter, freundlos und still. Das „Landhaus“ war nur tausend Schritte vom „Schlosse“ entfernt, aber kein Verkehr herrschte zwischen den beiden Gebäuden, obwohl in dem Schlosse alte Bekannte des alten Mannes lebten – der Graf Stasingen, welcher durch den Tod eines Fürstenonkels sehr reich geworden war, hatte die verwaiste Cousine Adalie geheirathet, Aber ein unerträglicher Stolz herrschte in dieser Familie, welche jetzt aus dem Grafen, der Gräfin und einem Sohne Leon bestand.

Nur zweimal in zwanzig Jahren, erzählte man sich, habe der alte Kärner das Schloß betreten. Zu später Abendstunde, zu Fuß, sei er über einen Feldweg hingekommen, und noch vor gänzlichem Nachtdunkel sei er auf demselben Wege wieder zurückgekehrt. Niemand wußte, was er dort gewollt habe. Aber die Bedienten schworen darauf, es sei der alte Kärner gewesen, und er sei vom Grafen in der Bibliothek empfangen worden. Zweimal in zwanzig Jahren!




3. Ein todtes Haus.

Es war am Tage nach dem Leichenbegängnisse. Wenn eine Leiche ein Haus verlassen hat, so ist das Haus selber wie gestorben. Die Wände machen den Eindruck der Leichenstarrheit, es ist, als hätten sie vor einigen Stunden noch eine belebende Seele in sich gehabt, die nun entflohen sei. Die Möbel stehen nicht mehr ganz an demselben Flecke, denn ein Zimmer mußte geräumt werden für die Aufbahrung. Jedes Möbelstück ist gleichsam wie mit einem Trauerflore der Erinnerung bedeckt, welcher einen wehmüthigen Eindruck macht auf Jeden: in diesem Sorgenstuhle hier pflegte ja der Verstorbene zu sitzen, diese Uhr war er aufzuziehen gewöhnt, dieses schwarze Andachtsbuch haben seine Hände zuletzt durchblättert, die wohlgeordneten Bücher im Schranke, die nun verkauft werden sollen, scheinen unverständliche Hieroglyphenbände geworden zu sein für jeden fremden Blick. Das Trinkglas auf der Commode sieht aus, als ob es nie mehr gefüllt werden könne, und die Krücke in der Ecke, die sonst Zimmer auf, Zimmer ab klapperte, ist jetzt verstummt, wie vom Schlage gelähmt – für ewig. Die Seele des Verstorbenen scheint jetzt plötzlich in allen leblosen Dingen des Hauses gelebt zu haben und jetzt aus ihnen entflohen zu sein, wie sie es aus dem Körper ist, der sich jetzt draußen im Grabe durch die Fugen des Sarges mit der Erde zu vermischen beginnt. Jedes Atom des Hauses, jedes Geräth ist todt geworden mit dem Tode der gestern begrabenen Person; mag diese nun der alte Hausherr, ein blühendes Mädchen, oder ein kränkelndes kleines Kind gewesen sein. Und mögen noch so viele lebendige Personen zurückgeblieben sein im Hause … die Räume erscheinen leer, verlassen, grabesstill.

Und mag keine Thräne der Trauer, keine Miene des Leides sichtbar werden bei den Hinterbliebenen: ein unendlicher Schatten, der nicht von der Sonne herrührt, sondern vom Tode, liegt über Allem und Jedem, über dem erblindeten Spiegel, in dem gedämpften Tone der Stimme, in dem letzten scharfen, unaustreibbaren Geruche des Weihrauchs.

Das Haus ist todt. Und so war das „Landhaus“ am Tage nach dem Begräbnisse des alten Daniel Kärner.

Marie Kärner saß am Fenster des Wohnzimmers im Erdgeschosse, und vor ihr stand ihr Vormund, der Bürgermeister [443] Volkner. Das Zimmer war in alterthümlichem Style möblirt; vom Holzgetäfel hoben sich schwerfällig schwere dunkle Geräthe von Nußholz ab. An den Wänden hingen vier Bilder von Großeltern, zwei Frauenbilder in kurzleibigen weißen, dünnen Kleidchen, ihre braunen Locken aus einem röthlichen, braunwolkigen Himmel herausschüttelnd, und zwei Männerportraits in Stutzperrücken, gesiegelte Briefe in Händen. In einer Ecke des Zimmers stand der Schreibtisch des Verstorbenen, dessen Schubfächer sämmtlich geöffnet waren. Die kleinere Hälfte seines Inhalts, Acten und Briefschaften, lag wohlsortirt auf dem Tische ausgebreitet, während ein guter Theil desselben in einem wirren Haufen, zerknittert oder zerrissen, auf dem Fußboden lag. Die zerstreuten Papiere waren auch das einzige Unordentliche in der altväterischen stricten Ordnung des Zimmers. Der alte Vormund hatte soeben mit Marie Kärner die Durchsicht der Papiere des Verstorbenen beendigt, und das Unnützgewordene zum Flammentode verurtheilt.

Die beiden großen, altväterischen Fenster, welche in den Garten führten, standen weit offen, und schlanke Acazienzweige vom hellsten Grün wehten manchmal fächelnd herein. Weiße Schmetterlinge gaukelten manchmal plötzlich aus dem Blumengrunde auf, als habe der leichte Sommerwind eine Blüthe vom Stiele gelöst. Der Fahrweg zum Hausthor des Landhauses führte knapp am Fenster hin zum freien Terrassenplatze, und die vielen Furchen, die der Sandweg zeigte, rührten noch von den Wagen des Leichenbegängnisses her.

Marie Kärner trug ein schwarzes, einfaches Trauerkleidchen, das vom Halse an in einen schwarzen Spitzenkragen abfiel, und das dunkle Gewand hob ihr lilienweißes Gesicht, welches nur um die thränenmüden Augenlider einen Rosenschimmer hatte, und ihr goldfarbenes, schlichtgescheiteltes Haar noch lichter und blässer hervor.

Das junge, liebliche Mädchengesicht hatte einen entschlossenen Ausdruck behalten, trotz der Mattigkeit der Trauer. Das einsame Leben ihrer Jugend, die Abgeschlossenheit ihres Lebens und die intime Berührung mit dem ernsten, eigenthümlichen Wesen ihres verstorbenen Vaters hatte eine scharfe Linie zwischen ihre feinen Brauen gezeichnet, welche ihrer sonst so weichen Schönheit einen seltsamen, unwiderstehlich interessirenden Ausdruck verlieh.

Der alte Vormund, in seinem braunen Stadtrock, mit dem dünnen, sorgsam über das fast kahle Haupt gelegten Silberhaare, hatte seine Hand auf der Lehne ihres Stuhles liegen, und die Acazienlichter spielten über seinen stattlichen Körper, wie er sagte: „Sie sind also fest entschlossen, Marie, das Landhaus zu verkaufen, sammt Allem, was es enthält, und diesen Ort zu verlassen?“

„Ich bin’s,“ sagte das Mädchen, und der bestimmte Zug zwischen ihren Augenbrauen trat stärker hervor. „Nicht wahr, Vormund, und Sie geben mir Recht? Ich habe mein ganzes Leben hindurch an der Seite meines Vaters verbracht, mit ihm allein. Ich tauge also nicht für die Gesellschaft und die Welt. Aber ich vermöchte auch nicht allein zu wohnen. Es wäre erstens nicht anständig, und zweitens würde ich zu traurig und verzagt werden.“

„Sie wollen auch nicht in die Welt treten? Zu uns? Ich weiß, Sie sind zur Einsamkeit gezwungen worden, Marie – durch die Liebe zu Ihrem Vater; er mied die Menschen. Ich und er, wir sind Schulfreunde gewesen; aber seit seiner Rückkunft aus dem Fremdlande hatten unsere beiden Häuser kaum zehnmal Verkehr mit einander. Erst als er den Tod nahen fühlte, ließ er mich wieder rufen und übergab mir die Sorge für seine Tochter – für Sie, Marie. Ich begreife es, daß Sie nicht bleiben wollen in dem verlassenen Hause, wo Alles Sie erinnern muß an Ihren Vater, den einzigen Freund Ihres einsamen Lebens…“

Marie Kärner weinte nicht, als der alte Mann diese Worte sprach; sie neigte nur das Haupt und ein tieferer Schatten lag zwischen ihren schönen Brauen.

Der alte Mann fuhr fort: „Ich habe also dieses Haus zum Verkauf ausgeschrieben. Die Möbel und Einrichtungen habe ich aber abgesondert zur Versteigerung ausgeschrieben, zum Vortheil des Unternehmens. Denn Jeder, welcher das Haus an sich bringt, wird die Möbel unbrauchbar finden, da ein so hübsches Schlößchen auch comfortabel eingerichtet sein muß, während die Landleute der Umgegend die solide, altväterliche Einrichtung gern an sich bringen werden. Das Alles ist also angebahnt, und es steht Ihnen nun frei, Marie, in die Welt zu treten noch inmitten Ihrer schönsten Jugendzeit, deren erste Hälfte Sie Ihrer Kindespflicht geopfert haben. Kommen Sie also zu uns. Ich und meine alte Frau wollen Ihnen gern eine Heimath bieten – wir thäten es auch, wenn Sie keine reiche Erbin wären. Und wir wollen gern Ihre Eltern spielen, um wieder jung zu werden; wir wollen die kleine große Welt des Städtchens wieder besuchen, die Concerte im Herbst, das Theater im Winter und die Gärten im Sommer. Wir haben das miteinander besprochen, ich und meine kleine alte Frau; denn wir möchten gern, daß Sie Ihren Verlust vergäßen, dann, daß Sie endlich das Leben genießen möchten, und zuletzt, daß wir selber ein wenig glauben könnten, wir hätten noch ein Kind.“

Marie hielt die Hand des Greises plötzlich fester als früher in der ihrigen, und ehe er sich’s versah, drückte sie einen Kuß auf dieselbe. Sie sagte kein Wort dabei und auch nicht nachher. Er wehrte ihr und sagte verlegene, väterliche Worte. Darauf sagte sie: „Nein, nein, ich will Ihnen nur sagen und zeigen, mein theurer, väterlicher Freund, daß ich Ihre Güte im tiefsten Herzen empfinde! Aber ich liebe das Leben mit der Welt nicht. Und – ich kann hier nicht bleiben.“ Das ernste schöne Mädchengesicht schaute jäh, wie verschmachtend auf. „Ja, ich kann hier nicht bleiben. Ich würde zu traurig werden hier. Sie wollen fragen, was ich denn eigentlich beginnen will, wenn die Einsamkeit und die große Gesellschaft mich gleichermaßen abstoßen. Aber ich habe das Ziel – mein Ziel gefunden, Herr Volkner, schon am Krankenlager meines seligen Papa’s: ich will nützen. Sie wissen, mein Vater hat mir all seine reichen Kenntnisse mitgetheilt: ich kann Französisch, Englisch, Italienisch, ich spiele das Piano und habe Wissen in den Elementarkenntnissen des Frauenhorizonts, der Erdkunde, der Geschichte, der Himmelskunde. Ich will Lehrerin werden, und zwar in einem jener klosterähnlichen Institute der Schweiz, wo die Lehrerin das nonnenhafte Leben mit der immer beruhigenden und beseligenden Pflicht des Nützens verbindet. Ich will während des Hausverkaufs und der Versteigerung in Ihnen, mein väterlicher Freund, und in Ihrer Gemahlin meine Eltern, in Ihrem Hause meine Heimath sehen. Und dann, dann trete ich den Weg an, den ich mir erwählt habe, mit Gottes Hülfe.“

Der alte Mann lachte. „Aber Marie, Sie werden ja heirathen!“ rief er lustig.

Marie wurde plötzlich sehr roth und erhob sich. „Nie!“ sagte sie. Ihre Stimme war dabei ruhig wie ihr Gesicht. Aber auf diesem Gesichte lag der alte Schatten der einsamen Jugend dräuender als je.

„Oho! Niemals? Wie können Sie das verschwören? Kein junger Mensch hat Sie ja noch allzu nahe gesehen, und Sie kennen auch keinen, höchstens den jungen Grafen Leon, wenn er hier vorbei muß. Haben Sie den schon gesprochen?“

„Ja!“

„Richtig, Sie müssen ja als Nachbarskinder miteinander gespielt haben!“

„Nein! Wir hatten nie Verkehr mit dem Grafenschlosse. Als Kind schon erhielt ich den Befehl, nie in das gräfliche Gebiet hinüberzulaufen. Und so habe ich niemals gespielt.“

„Nie gespielt mit dem einzigen Nachbarkinde, das Ihnen vergönnt war? Aber das ist ja ärger, als ob Sie nie ein Märchen gehört hätten, Sie armes Kind! Wann sprachen Sie aber dann mit dem jungen Grafen? Ich hörte, er wurde ebenso hochmüthig-einsam erzogen, wie seine hochmüthige Mutter ist – seit dem Tode des alten Grafen Stasingen …“

„Ich sprach ihn einmal vor zwei Jahren, als sein Pferd vor unserm Thore das Bein verstaucht hatte und unser Knecht es verband. Graf Leon trat damals in unsern Garten ein. Und das zweite Mal sprach ich ihn vor einem halben Jahre. In der Nähe von Lobenstein verfolgten mich Zigeuner, und er trieb sie von dem Parkthore aus zurück.“

Marie Kärner erzählte das kurz, ruhig, wie es ihre Art war.

„So, das sind die einzigen beiden Male, daß Sie mit einem liebenswürdigen jungen Menschen in nähere Berührung traten? Das würde weiter nichts machen; es war eben für Sie eine Erziehung, wie man sie in berühmten Pensionat-Klöstern erhält. Aber diese beiden Male haben Ihnen einen solchen Widerwillen gegen das Heirathen eingejagt?“

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich nicht heirathen [444] will, daß ich meinen Beruf nicht erkenne darin, daß ich mich vor der Welt scheue, denn mein Vater hat mir wahr geschildert … und daß ich meinen Weg klar vor mir sehe.“

„Bah, bah! Morgen kommen Sie zu uns, und dann sehen Sie fleißig zum Fenster hinaus. Meine Frau wird Ihnen so viele Stadtneuigkeiten erzählen, daß Sie neugierig werden sollen, die Leute alle selber kennen zu lernen. Sie werden sich an Besuche gewöhnen, und Sie … Sieh da, da bekommen Sie auch einen Besuch! Sehen Sie, ein Wagen biegt in den Park ein … ein Herrschaftswagen – wahrhaftig, es ist die blaue Livrée der Stasingen! Und wer sitzt in dem Wagen? Wahrhaftig, die Gräfin selber!“

Marie Kärner antwortete nichts auf die Rede des Greises; er hatte sich zwischen die Acazienblätter hinausgeneigt, um den Wagen ankommen zu sehen. Jetzt schaute er zurück, um die Verwunderung des jungen Mädchens zu theilen. Aber er blieb erstaunt und verstummt. Er sah, daß Marie Kärner athemlos an der Fensterwand lehnte, das sonst so lilienblasse Gesicht von dunkler Röthe überzogen.

„Ah, was! Was ist Ihnen, Marie?“ rief der bestürzte alte Mann.

Da erwachte das Mädchen gleichsam. Sie lächelte. Und während des Lächelns wurde ihr Gesicht langsam wieder blaß … fast weiß. „Nichts!“ sagte sie. „Ich bin nur so erstaunt. Die Frau Gräfin ist es! Richtig, und sie ist allein.“ Sie eilte an die Thür, öffnete sie eilig und rief hinaus: „Hanne! Hanne! Die Frau Gräfin kommt! Oeffne das Besuchzimmer oben! Und Sie, Herr Volkner, Sie helfen ihr wohl aus dem Wagen und führen sie hinauf? …“

Der alte Bürgermeister Volkner empfing die Frau Gräfin am Wagenschlage, wo er den einen blaulivrirten Bedienten bei Seite schob.

Die Gräfin begrüßte ihn freundlich und streckte dann freundlich die beiden kleinen untadelhaft behandschuhten Hände Marie entgegen, welche auf der obersten Thorstufe erschien, um ihren Gast zu empfangen.

Gräfin Adalie Stasingen war eine ältliche Dame, welche noch Spuren einer jener unvergleichlichen Adelsschönheiten zeigte, welche für das bürgerliche Auge zu scharf pointirt und nur für Kenner wahrhaft ideal sind. Ihr Gesicht hatte noch den ganzen edlen Schnitt und das einnehmende Lächeln ihrer Jugend bewahrt, aber keine Nuance von Farbe. Es war von jener Wachsblässe, welche die lichteste Schattirung der Bronzefarbe ist. Ihre schwarzen Haarwellen waren weich um das Gesicht gelegt. Sie trug einen lichten grauen Seidenanzug und einen Hut, der eigentlich nur ein Schleier war.

„Ich komme, um Ihnen mein Beileid zu bezeigen und Sie in Ihrer Einsamkeit zu fragen, liebstes Fräulein, ob ich Ihnen irgendwo von Nutzen sein kann.“ Die Gräfin sagte diese Worte mit einem Herzenstone und küßte die Waise.

Marie Kärner ertheilte die gewöhnliche Antwort und lud die Gräfin ein, sich in den Besuchssalon hinauf zu bemühen.

„Hinauf? Besuchssalon? Aber ich habe Sie eben vom Wagenfenster aus hier unten im Wohnzimmer gesehen! Sans gêne, ich bitte, führen Sie mich zu sich und nicht in einen Salon.“ Und die Gräfin war schon durch die offenstehende Thür in die Wohnstube getreten. Marie Kärner machte noch Einwendungen über die Unordnung und so weiter, aber wie der gute alte Bürgermeister nach ihnen eintrat, saß die Gräfin schon auf dem alten breiten Sopha.

Herr Volkner war ganz erstaunt. Gräfin Adalie Stasingen war bekannt als die stolzeste Frau des ganzen Landes, so wie ihre Familie für die exclusivste Familie des deutschen Adels überhaupt bekannt war. Und jetzt kam die Gräfin selber, um sich über das Befinden seiner Mündel zu erkundigen, und sie war so freundlich, so herzlich und so ganz zu Hause wie – „wie eine Tante!“ dachte Herr Volkner.

„Wir wollen nicht von traurigen Sachen sprechen, mein armes liebes Fräulein,“ sagte die alte Gräfin und zog Marie neben sich auf den Sitz nieder, „sondern von heiteren, von Ihrer Zukunft. Sie wollen fort von hier, habe ich gehört. Wohin? Haben Sie Verwandte? Wollen Sie zu mir, bis Sie sich einen Wohnort gewählt haben? Sehen Sie, liebes Fräulein, ich habe mich über Sie gekümmert seit – seit dem Unglücksfalle. Unsere beiden Häuser haben nie Verkehr miteinander gehabt – die Verhältnisse, das Naturell, verschiedene Anschauungsweisen und tausend schreckliche Kleinigkeiten brachten das mit sich. Aber es hat in meiner Jugend eine Zeit gegeben, wo unsere beiden Familien Annäherungspunkte hatten. Und so kurz diese Zeiten und so schwach diese Anknüpfungspunkte auch waren – ich bin noch nicht alt genug, um keine Erinnerungen mehr bewahrt zu haben, und bin noch nicht trockenherzig genug, um mich nicht für Sie zu interessiren, mein liebes schönes Fräulein. Sie dürfen nicht einsam bleiben. Wo wollen Sie hin?“

„Ich werde in dem Hause meines Vormundes hier, des guten Herrn Bürgermeisters, eine Heimath finden, bis ich alle meine Angelegenheiten geordnet sehe und den Beruf antreten kann, den ich mir erwählt habe: den Beruf einer Lehrerin.“

Die Gräfin schaute erstaunt auf mit ihrem schönen Aristokratengesicht. „O!“ rief sie mit ihrer tönenden Altstimme. Dann schaute sie auf Herrn Volkner hinüber. „Lehrerin! Eingeschlossen sein zwischen sechs weißen Schulzimmern, einem langweiligen Garten, wo kein Gras niedergetreten werden darf, und zur Erholung sich halb todt ärgern müssen mit fünfzig eingebildeten, altklugen, boshaften, uniform ausstaffirten Mädchen! Das Alles wollen Sie, nach Ihrer traurigen Jugend, mit Ihrer Schönheit … o, widersprechen Sie nicht – eine alte Frau sagt Ihnen keine Schmeichelei … mit Ihrem Vermögen – denn Sie können nicht arm sein … das wäre ja eine Sünde …“

„Eine Sünde, jawohl!“ eiferte Herr Volkner erhitzt.

(Schluß folgt.)




Großvater und Enkel.

„Davor gelegen in Schnee und Eis,
Geschanzt und geschlagen in Blut und Schweiß,
Die besten Cam’raden zu Tode getroffen –
Und endlich gesiegt! Paris ist offen!
Ich bin der Sieger – und darf nicht hinein!
Da schlage das Donnerwetter drein!“

– Sei gut, mein Junge! Zwar – ich bin alt,
Und dennoch hat wild sich die Faust mir geballt,
Und Ihr seid noch Kerle von Feuerblut
Und Ihr habt Recht, – aber, Junge, sei gut!
Bedenk’: ich zog in Paris mit ein –
Was brachten denn wir heim über den Rhein?

Was errang nach so viel Fluch und Schand’
Denn unser Triumph dem Vaterland?
Du glaubst es mir, weil ich’s Dir sage:
Sie belohnten uns mit dem – Bundestage!
Den Franzosen gaben sie unsern Rhein!
Da, Junge, schlage der Donner drein!

Spottleicht verschmerzt sich der Verdruß
Ob dem alten Raubnest am Seinefluß:
Ihr bringt uns Straßburg und Metz und zugleich
Unsers Lebens Sehnsucht – Kaiser und Reich!
Ein einig Deutschland und obendarein
Ganz frei, ganz deutsch unsern alten Rhein!

Nur das Eine betrübt mich: das alte Lied
Von der Ehre geborenem Unterschied!
Ha, für solche Opfer nach solchen Zielen
Noch des Standeshochmuths empörendes Spielen? –
Muß vor aller Welt durch das Kreuz nicht gemein
Soldaten- und Bürgerehre sein?

[445]

Großvater und Enkel.
Nach dem eigenen Oelgemälde für die Gartenlaube auf Holz gezeichnet von M. Heeren in Düsseldorf.


Dein eisern Kreuz ist kein Gnadenstück,
Dem Stande verliehn und gefälligem Glück
Wer das erfocht und trägt mit Recht,
Der ist für den höchsten Stand nicht zu schlecht.
Jetzt müßt Ihr, treue Wacht am Rhein,
Der Männerehre Hüter sein!

Mein eisern Kreuz, verdient mit Blut,
Für Das, was es kostete, viel zu gut, –
Erst jetzt ist es mir was werth geworden:
Der Alte und Junge mit gleichem Orden! –
Komm’ mit durch’s Dorf und in’s Wirthshaus hinein:
Es lebe der Kaiser, es lebe der Rhein!

 Fr. Hofmann.




[446]

Die Flucht eines „Maikäfers“.


Manche, namentlich sächsische Leser der Gartenlaube, werden sich wohl noch eines Mannes entsinnen, welcher wegen seiner Betheiligung an den Ereignissen des Jahres 1849 in Sachsen zu schwerer Büßung verurtheilt wurde und auf unbegreifliche Weise aus seinem Gefängnisse in Meißen entkam. Es ist dies der vormalige Bürgerschullehrer Thürmer, dem unter erstaunlichen Gefahren seine Flucht gelang, und der sich später im Staate Indiana in Nordamerika durch Musikunterricht eine ansehnliche Farm erworben hat, auf welcher er nun mit den Seinen ein sorgenfreies und glückliches Familienleben genießt. Auf die Bitten seiner näheren Freunde und Bekannten theilt er hiermit die Schilderung seiner Flucht mit. Vorausschicken müssen wir nur noch, daß das Meißner Gefängniß, in welchem Thürmer damals saß, das sogenannte städtische Stockhaus am Stadtgraben nach der Elbseite hin war. Das Gebäude hatte einen Theil der alten Befestigung gebildet und war mit einem viereckigen Thurm versehen. Die politischen Gefangenen wurden in diesem städtischen Gefängniß untergebracht, bis nach der Flucht Thürmer’s größere Vorsicht nöthig erschien und die noch übrigen „Maikäfer“, so nannte man damals die sächsischen Maigefangenen, ein strengeres Gewahrsam in der Frohnfeste des Gerichtsamts auf dem Schlosse neben der Albrechtsburg angewiesen erhielten.

„Nachdem ich,“ so schreibt uns Thürmer, „mein Urtheil vernommen hatte, welches auf Tod lautete, aber durch Königs Gnade auf lebenslängliches Zuchthaus herabgesetzt war, begann ich ernstlich auf meine Befreiung zu denken, für die ich mancherlei Pläne hatte. Gleich der erste gelang nicht, weil das Zeichen von außen nicht zur passenden Zeit gegeben wurde. Dieser Fehlschlag brachte mich auf den Gedanken, meine Befreiung aus dem Gefängnisse weder von Personen noch von der Zeit abhängig zu machen, dafür aber jeden Augenblick fertig zur Flucht zu sein, wenn sich die Umstände günstig gestalteten. Das Erste, was ich zu meinem Entkommen nothwendig hatte, war eine Leine, die ich durch meine Frau erhielt und mehrere Wochen mit mir herumtrug. Das Nächste war eine finstere, regnerische und stürmische Nacht, wodurch die hintere Schildwache abgehalten würde, den Thurm regelmäßig zu umschreiten. Diese Nacht war am 7. December 1850 gefunden, die Schritte der Schildwache ließen sich nur in großen Zwischenräumen vernehmen. Jetzt oder nie! Gegen sieben Uhr Abends erhielt ich mein Nachtessen, und dann blieben die inneren Thore offen bis zur Bettzeit, da die Wachen an beiden Ausgängen für die Sicherung der Gefangenen hinreichend waren. Schlag sieben Uhr knüpfte ich mein Kopfkissen in die Weste, setzte eine Mütze darauf und legte diesen Wickel statt meiner in’s Bett; dann hing ich einen Rock über den Stuhl und stellte ein brennendes Lämpchen neben das Bett. Nachdem dies geschehen, verließ ich das Gewölbe, welches mich neunzehn Monate beherbergt hatte, und ging auf den Oberboden des Bürgergefängnisses. Hier kletterte ich in das Sparrwerk und knüpfte meine Leine an den dicksten Balken an; dieselbe im Gehen abwickelnd, kroch ich aus einem Loche im Giebel auf das Dach eines andern Gefängnisses; doch hier wurde ich aufgehalten, da ich nicht vermochte, auf einem Ziegeldache in die Höhe zu klimmen. Ich versuchte auf den Knieen zu rutschen, ich suchte mich mit den Fingern in den Ritzen einzuklemmen, und nahm meine Leine in den Mund; aber Alles war vergebens. Da fiel mir ein, daß meine Stiefel die Ursache des Mißerfolges seien; ich schnitt daher mit einem Messer, welches ein Verwandter in meinem Gefängnisse vergessen hatte, die Spitzen beider Stiefel und Strümpfe durch, so daß ich mich mit den Zehen anhalten konnte, und nun ging die Reise das Dach hinauf zwar langsam, aber doch sicher, vorwärts.

Endlich erreichte ich die Feueresse, die ich, wie einen Freund, mit beiden Armen umklammerte. In dieser Höhe richteten sich meine Gedanken das erste Mal auf die Schildwache, die mir nun ganz ungefährlich vorkam, und die ich auch nicht hörte. Nachdem ich ein Weilchen gehorcht, ließ ich meine Leine auf der andern Seite des Daches niedergleiten, mußte sie aber zwei oder drei Mal zerschneiden, da sie sich verwickelte. An dem Rettungsseile festhaltend, glitt ich bis an den Rand des Daches nieder, und da eine gute Partie Dachziegel hinter mir dreinkamen, so hörte ich, wie Gefangene neben mir ihre Bemerkungen über die Heftigkeit des Sturmes austauschten. Nachdem die Steine sich beruhigt hatten, warf ich, am Rande des Daches sitzend, einen Blick in die Unterwelt, und da Alles in tiefes Schweigen und Finsterniß gehüllt war, so brachte mich ein Augenblick auf den sichern Boden.

Abermals folgten mir, aus alter Anhänglichkeit, mehrere Ziegel des Gefängnisses nach, ich hielt es aber nicht für geraten, zu warten und zu hören, was der oder jener Gefangene dazu sagte, vielmehr steuerte ich eiligst nach einer mir bekannten Lücke in der Stadtmauer und dann nach dem Mühlgraben zu, welchen letzteren ich durch Tasten mit den Händen entdeckte. Ausholen und in das Wasser springen war das Werk eines Augenblicks. Doch glücklicherweise schlug ich mit der Brust auf der jenseitigen Mauer an und hatte dadurch Gelegenheit, mich schnell emporzuziehen. ‚Auf dem Graben‘ weiter gehend, kam ich an die Brücke, wo mir wenig Gehende begegneten. Nachdem ich die Wache passirt, fiel ich am anderen Ende der Brücke zusammen und hatte nur so viel Kraft, mich an der Mauer anzuhalten. Der Athem versagte mir, und ich war nicht im Stande, nur einen Fuß zu rühren. Als jedoch nach einigen Minuten der ruhige Athemgang wieder gekommen war, machte ich auf’s Neue zehn bis fünfzehn Schritte, womit ich die Biegung der Brücke nach Cölln zu erreichte. Hier versagten mir die Beine ihren Dienst; mich an der Mauer anzuhalten, war unmöglich, da die Kniee gänzlich kraftlos waren. Ich sank zusammen und versuchte, mich mit den Händen fortzuarbeiten, indem ich mich an den Straßensteinen anhielt und die Beine nachschleppte. Doch das war eine fast vergebliche Arbeit, und jede Minute dünkte mir eine Ewigkeit zu sein. Endlich kam mir die Natur wieder zu Hülfe; hatte ich erst vergebens versucht, die Kniee mit den Händen gerade zu bringen, so spannten sich jetzt die Muskeln von selbst wieder, und ich fing an, auf allen Vieren über die Straße zu kriechen, um in den Weinbergen vor anderweiten Unfällen geschützt zu sein. Doch war ich kaum an der Mauer des Rathsweinberges angekommen, als ich die alte Kraft in mir fühlte. Mit Einem Satze war ich über die Mauer und in dem Weinberge.

Obwohl ich daran dachte, wie Gottes Hand mich so sichtbar geleitet und beschützt, so hatte ich doch nicht Zeit, mein Gefühl in Worte zu fassen, da ich ungesäumt meinem Grundsatze folgen mußte: ‚Hilf dir selbst, so wird Gott dir helfen!‘ Eilig durchschritt ich die Rebstöcke und ging über die Niedermauerstraße in das gegenüberliegende Feld nach dem ehemaligen Postgute zu, in welchem mein Freund, der Orgelbauer Pfützner, wohnte. Da an dem Hause eine Schildwache stand, so konnte ich nicht geradezu laufen und anklopfen, sondern ließ in einiger Entfernung einen gellenden Pfiff durch die Finger erklingen. Auf dieses Zeichen öffnete Frau Pfützner eine Thür und geleitete mich ungesehen in ihre Räume. Kein Wort verrieth, was in uns vorging, und nur ein warmer Händedruck diente als Ausdruck der Gefühle. Ein anscheinend fest angeschraubter Arbeitstisch ihres Mannes (der eben in Niederau eine Orgel baute) wurde abgerückt, und es zeigte sich dahinter in der Wand eine Höhlung, in welcher sich eine Bettdecke und in friedlicher Nähe eine Flasche Wein, Butterbrod und andere nöthige Utensilien befanden. Ich schlüpfte in das Loch hinein und konnte, ohne mich zu wenden, ziemlich bequem auf einer Seite liegen, doch um zu sitzen, mußte ich dem Kopf einziehen und das Pedal an mich herannehmen. Kaum war ich darin, so wurde die Oeffnung wieder zugeschoben und ich allein gelassen. Zu meinen Füßen wandelte die Schildwache, welche mir eine wahre Sicherheitswache war, da kein Mensch in dem beschildwachten Gebäude einen flüchtigen Hochverräther vermuthete, und das Haus, obwohl Pfützner anrüchig war, mit Haussuchungen verschont blieb.

Nach der Ruhe von einigen Stunden fing es an, lebendig zu werden. Ich hörte in Meißen Trommeln und Hörner, dann denselben Lärm in Vorbrücke, Cölln, Zscheila, Ober- und Niederau. Das Getöse hatte auch meinen Freund Pfützner nach Hause getrieben; er trat in meine Versteckstube und verkündete laut, daß der Lehrer Thürmer auf unbegreifliche Weise aus dem Gefängnisse entwischt sei, daß man ihn aber bald wieder haben werde, da das ganze Militär bis Dresden hinauf und bis an die preußische Grenze alarmirt wäre. Darauf ging er nach der Stadt und erzählte beim Wiederkommen, daß alle Wirthschaften, obwohl [447] Mitternacht vorüber, noch offen seien und ein Theil der Bevölkerung jubele, der andere fluche. Während ich bis zum 19. December in meinem Mauerloche saß, gingen in Meißen und Umgegend die üblichen Haussuchungen vor; sogar eine Esse wurde befahren, um mich darin zu fangen. Doch das rechte Loch konnte das Gericht nicht finden, und der Stadtrichter K. mußte noch vor seinem Ende die Demüthigung fühlen, daß ich seinem Bereiche entronnen sei. Hier kann ich nicht unerwähnt lassen, wie nach dem Eingange meines Urtheiles sogar ein Herr vom Stadtgericht auf offenem Markte in die Hände klatschte, um seine Freude darüber zu bezeigen. Die niedrige Gewinnsucht hatte Manchen zu falscher Anklage verleitet; doch die Zeit wischt alle Unbilden weg, und auch ich gedenke nun in Ruhe der bewegten Tage.

Während ich elf Tage im Mauerloche saß, wurden die bisher vom Stadtgericht geführten Untersuchungen dem Gerichtsamt übergeben, in Folge dessen meine Frau und ihr Dienstmädchen polizeilich gemaßregelt wurden. Die erstere entging der Verhaftung durch eine Ohnmacht, die andere wurde eines Abends in’s Gefängniß abgeholt und ihr die Freiheit versprochen, wenn sie Etwas gestände. Da sie aber fortgesetzt erklärte, daß sie Nichts wüßte, ließ man sie nach zweitägigem Einsperren wieder frei. Krank, abgehärmt, erfroren und heulend ist die arme Karoline bei meiner Frau wieder eingetreten. Nachdem der Lärm wegen meiner Flucht sich gelegt und süddeutsche Berichte die Nachricht gebracht hatten, daß ich an einem gewissen Tage auf dem Wege nach der Schweiz oder Frankreich gesehen worden sei, fing ich wieder an zu handeln. Ein Paar alte glänzende Lederhosen, eine sehr defecte grüne Pikesche, ein kattunenes Halstüchlein und ditto Weste, eine große streifige Zipfelmütze mit schöner großer Bummel und ein Paar wollene Fausthandschuhe bildeten meine Ausstaffirung. Da ich als Victualienhändler in Dresden einzuziehen gedachte, so kämmte ich die Haare verworren in’s Gesicht, wusch mir dasselbe mit Leim und Asche, nahm einen großen mit einem weißen Tuche zugebundenen Korb auf den Rücken und einen Knotenstock in die Hand und ging am Nachmittage des 19. December von Cölln fort. Die Tochter Pützner’s, als Bauermädchen angezogen, begleitete mich, weil ich meinen Füßen nicht trauete und damit ich, im Falle mir etwas zustieße, gleich Hülfe an der Hand hätte. Mit dem Abend wanderten wir in Dresden ein. Fortwährend war ich bemüht, meiner Rolle als armer Händler treu zu bleiben, und die Unterhaltung wurde in dem breitesten Mügelner und Leisniger Dialekte überlaut von mir geführt, indem der schwere Korb anscheinend meine Gestalt niederdrückte. Dabei wich ich Niemandem aus, Kothpfützen aber waren mein liebster Weg, da ich mir durch das Spritzen auch die Polizei vom Halse hielt. In der Altstadt angekommen fragte ich einen jungen Mann: ‚Wue wuahnt dar Ducter, dar de kleenen Kinger brengt?‘ Ein homerisches Gelächter des Gefragten zeigte mir, daß die Noth mich etwas schauspielern gelehrt hatte. Er hieß mich mitgehen und brachte mich an das Haus meines Freundes X., wo meine Begleiterin mich verließ.

Im Vorhause empfingen mich zwei Dienstmädchen, welche schnippig erklärten, daß ich wiederkommen müsse, weil der Herr Doctor erst nach zwölf Uhr nach Hause komme. Da ich aber doch nicht ging, so wurde die Frau Doctorin herbeigerufen, der ich im breitesten Gewäsche meine Krankheit auseinandersetzte. Nachdem ich dadurch die Mädchen verscheucht hatte, richtete sich meine gebückte Gestalt auf und aus meinem Munde erklang ein hochdeutsches ‚Guten Abend, Frau Doctorin!‘ Diese geleitete mich in die Stube, schickte die Mädchen zu Bett, und wir begannen über meine Vermummung zu lachen. Hier hörte ich, daß bereits am Siebenten Abends meine Flucht bekannt und auch in Dresden die Besatzung zusammengetrommelt und -gepfiffen worden sei, um mich zu haschen. Nachdem inzwischen der Doctor nach Hause gekommen, legte er verschiedene chirurgische Instrumente auf den Tisch und erklärte mir auf mein befremdetes Befragen, daß er mich operiren müsse, da der Steckbrief sage, daß ich eine Warze an der Nase habe. Auf meine Entgegnung, daß diese einige Tage vor meiner Flucht von selbst abgefallen sei, meinte er, nun könnte ich auf meiner Flucht vollkommen sicher sein, da jeder Gensd’arm mir nach der Warze oder deren Wunde sehen würde. Als ich mich entpuppt und gewaschen hatte, verwandelte ich mich in den Weinhändler Glühmer aus Börtewitz bei Mügeln und fuhr noch dieselbe Nacht in Geschäften nach Freiberg, wo ich mit Sonnenaufgang im Gasthofe zum wilden Mann anlangte. Hier wollte die Wirthin erst nichts von meinen Anerbietungen wissen; als ich aber mit meinem Kutscher ein gutes Frühstück verzehrt hatte, ward sie freundlicher, bestelle einen halben Eimer Wein und theilte mir mit, wo der und jener meiner alten Weinkunden wohnte. Unter diesen befand sich auch der Bergofficiant X., und ich beeilte mich, diesen aufzusuchen. Aus dem Weinhandel wurde hier natürlich Nichts, da wir näherliegende Dinge zu besprechen hatten.

Meine Füße waren jetzt so geschwollen und bluteten an so vielen Stellen, daß ich ziemlich zwei Tage bei meinem Freunde still liegen mußte, um endlich, mit Babusen beschuhet, Nachts zwölf Uhr mit der Post nach Chemnitz zu fahren. Im Postwagen wurde ich mit dem Bürgermeister aus Schneeberg bekannt, der eben von den Sitzungen der Landtagskammer zur Feier des Weihnachtsfestes nach Hause fuhr. Hatte der Mann, als er in der Kammer wegen meiner Flucht die Minister interpellirte und die niedern Beamten der Nachlässigkeit beschuldigte, auf mich den Eindruck eines Bullenbeißers gemacht, so war er in der Nähe gar nicht so gefährlich; denn nachdem wir uns während der Fahrt freundlich unterhalten, lud er mich ein, die Feiertage bei ihm zuzubringen, und stellte mir gute Geschäfte in Aussicht, da sein Weinkeller der Füllung bedürfe. Ich nahm sein Anerbieten dankend an und bedingte mir nur, erst in’s Voigtland reisen zu dürfen, um dort Geld einzucassiren. Wenn der gute Mann noch lebt, so werden ihm diese Zeilen wohl verrathen, warum ich nicht gekommen bin.

Von Chemnitz fuhr ich am nächsten Morgen über Borna nach Altenburg. Ein ehemaliger Postsecretair aus Meißen, ein rother Altenburger und eine preußische Dame bildeten mit mir die Reisegesellschaft nach Borna. Um die Aufmerksamkeit von mir abzulenken, schlug ich das Tagesgespräch, die Politik, an. Der Altenburger kramte seine rothen Ansichten aus, so daß sich die preußische Dame an meine Seite mit den Worten flüchtete: ‚Mir ist’s unheimlich bei dem rothen Menschen.‘ Daraus merkte ich, daß ich mir mit Erfolg ein recht conservatives Air gegeben habe; ich trug dies nun auch immer zur Schau. Der Postsecretair bereitete mir freilich bedeutende Verlegenheiten, und das Blut schoß mir vielmals in’s Gesicht; nur glaubte ich, man bemerkte es nicht, da ich mein Gesicht mit einer guten Portion Carmin gefärbt und eine Brille mit großen Gläsern auf der Nase hatte. Der Secretair erzählte nämlich von den Ereignissen der Maitage in Meißen, blickte mich dabei stets an und versuchte, mein Wort zur Bestätigung seiner Angaben zu erlangen. Ich erklärte ihm kalt, daß ich von den Maitagen wenig oder nichts wisse, da ich zu jener Zeit gerade auf einer Geschäftsreise im hohen Gebirge gewesen, auch Meißen nicht kenne und nur einige Male durchgereist sei. Nachdem er aber die Sache so gut kenne, solle er nur ruhig forterzählen, zumal da er, wie ich vermuthete, auch einigen Antheil an den Ereignissen genommen hätte. Hiermit traf ich den Nagel auf den Kopf, denn der Secretär ward roth bis über die Ohren und ließ mich in Ruhe, obwohl er von Zeit zu Zeit verdächtige Blicke auf mich warf, die andeuteten: ‚Ich kenne Dich, weiß aber nicht, wo ich Deine Bekanntschaft gemacht habe.‘

Beim Anhalten in Borna steckte ich den jovialen Weinreisenden heraus, fragte den Secretär nach der besten Weinkneipe und lud ihn, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, zu einer Flasche Wein ein mit dem Bemerken: Da er für unsere Unterhaltung gesorgt, so solle er mich nun für einen guten Trunk sorgen lassen. Er nahm es endlich dankend an, und ich folgte dem Manne in dem Locale bis auf das geheimste Plätzchen. Schließlich kam der Postwagen; mein Gelbvogel fuhr nach Leipzig und ich nach Altenburg, wo ich im Hause des Dr. Rittler abstieg, das auch den Dr. Munde aus Freiberg längere Zeit verpflegt hatte.

Wie mir in Dresden fünfzig Thaler zugeflossen waren, so wurde auch hier meine Börse mit derselben Summe aufgefrischt. Ich machte zugleich hier die Bekanntschaft mehrerer revolutionärer Größen und nahm für die Weiterreise einige Veränderungen in meinem Anzuge vor. Ueber Nacht wurde ich in den wohlehrbaren Tuchmacher und Bürger Voigt aus Crimmitzschau umgewandelt; die Hände wurden in der Küpe blau gefärbt und dem Gesichte, außer frischem Carmin, hie und da ein bläulicher Schein verliehen. War auch der ursprüngliche Träger des Passes zehn Jahr älter und ich mehr als mittelgroß, so glich mein leidendes Gesicht und der größere Menschenschlag im Norden, dem ich nun zureiste, Alles, [448] wie ich glaubte, wieder aus. Ein Fuhrwerk brachte mich nach Halle, und der Kutscher erklärte mir, daß er schon manchen Flüchtling gefahren, aber noch keinen so ruhig gefunden hätte. Diese Aeußerung bestärkte mich in der Ansicht, daß man die Gefahr nicht suchen, aber auch nicht furchtsam vermeiden, sondern keck dareinschauen müsse.

Von Halle brachte mich die Eisenbahn in der Nacht nach Magdeburg. Im Hôtel waren die Officiere eben von der Abendtafel aufgestanden, als ich erschien und um Souper und Nachtquartier ansprach. Letzteres erhielt ich nur nach einiger Ueberredung, da erst der Kellner und dann der herbeigerufene Wirth durchaus meinen Paß über Nacht auf der Polizei niederlegen wollten. Endlich überwand sie doch der Grund, daß ich am nächsten Morgen vier Uhr mit dem Zuge nach Braunschweig reisen müsse. Nachdem ich Alles vorausbezahlt, brachte mich der Hausknecht früh nach dem Bahnhofe, und Mittags langte ich wohlbehalten in Braunschweig an.

Das war ein heißer Platz. Gensd’armen umringten von allen Seiten die Wagen und fragten nach den Pässen. Ich lehnte mich über die Brüstung meines Fahrzeugs und rief den hinter mir Sitzenden mit Stentorstimme zu: ‚Ihre Pässe, meine Herren!‘ Dabei reichte ich die empfangenen den Gensd’armen dar, mich aber, der ich mit Hin- und Hergeben beschäftigt war, fragte nicht Ein Haltefest nach meinen Papieren. Diesem Kreuzfeuer entronnen, rief ich den ersten besten Polizeier an, erkundigte mich, wann der Zug nach Hannover abgehe, that sehr eilig, da ich in den beiden Haltestunden Geschäfte in der Stadt abmachen und dann von Hannover zurück zur Braunschweiger Messe kommen wolle. Der gute Mann requirirte mir einen Wagen, versprach mir ein Billet zu besorgen, nahm meine Reisetasche, und ich instruirte den Kutscher, mich zu rechter Zeit aus dem Hôtel wieder abzuholen. Hier mußte ich mir ein Paar Filzschuhe kaufen, da ich es vor Schmerz nicht mehr aushalten konnte. Als ich wieder in den Bahnhof einfuhr, öffnete mir der freundliche Mann mit meiner Reisetasche den Wagenschlag, händigte mir gegen eine in seinen Augen große Vergütung Billet und Tasche ein, zog noch tiefer die Kappe, schob alle Anderen bei Seite und mich in den Wagen hinein. Ich wünschte im Herzen, daß alle sächsischen Polizeier sich an ihm ein Beispiel nehmen möchten. In Hannover kam ich zum Abend an und fuhr mit dem Morgenzuge nach Köln ab, wo ich in den ‚Drei Königen‘ übernachtete. Den nächsten Tag überschritt ich bei Verviers die belgische Grenze und athmete leichter. Abends langte ich in Antwerpen an, wo Thauwetter war, und erreichte, mit meinen befilzschuhten Füßen durch die Nässe watend, ein Hôtel am Walpurgisplatze.

Nach einigen Tagen ließ ich mir auf der Polizei einen richtigen Paß geben und fühlte mich nun nach Umständen vollkommen sicher. Dennoch sollte ich noch nicht ganz Ruhe haben. Durch irgend einen Spion hatte das Amt in Meißen erfahren, daß ich unter dem Namen Voigt in Antwerpen lebe, und flugs langte ein Schreiben auf der Polizei an, das die Auslieferung des wegen Hochverraths verurtheilten Lehrers Thürmer, der unter falschem Namen lebe, verlangte. War nun auch der Pseudoname abgelegt, und wurde Niemand wegen Hochverraths ausgeliefert, so machte mir das unsinnige Verlangen doch einige Umstände. Denn als ich eines Abends im Januar 1851 in’s Hôtel zurückkam, fand ich das Haus im Halbcirkel mit einer Compagnie Rothhosen umstellt, die sich meiner Person bemächtigen sollten. Der Brigadier erklärte mich zu seinem Gefangenen und drohte mit den Pompiers, im Fall ich Widerstand versuchen sollte. Verlegen folgte ich ihm; im Gefängniß des Stadthauses eröffnete er mir die Bewandniß der Sache, verlangte meinen Paß, den er in Ordnung fand, und konnte nur nicht über das Wort ‚Hochverrath‘ wegkommen, in dem er die Bedeutung von Diebstahl oder Mord suchte, was freilich meine Auslieferung bedingen würde. Beruhigt schlief ich, als meine Freunde bei mir mit Wein, Essen, Cigarren und Kaffee eintraten und fast die ganze Nacht bei mir zubrachten. Andere gingen am nächsten Morgen zu einem Advocaten, um Beschwerde über Verletzung der belgischen Verfassung zu führen.

Am nächsten Nachmittage wurde ich zum Bürgermeister gerufen und erzählte demselben (halb deutsch, drei Achtel englisch und ein Achtel französisch), daß ich zwar in Deutschland unter verändertem Namen gereist, hier aber, ohne etwas zu verheimlichen, um einen Paß auf Zeit eingekommen sei, und Hochverrath in Sachsen gelte hier nicht als Verbrechen. Mit Hülfe des Wörterbuches verständigte er sich über die Bedeutung des fatalen Wortes und erklärte mir dann, daß ich frei sei und hier bleiben könne, so lange ich mich politisch nicht anrüchig mache. Im Herbst 1851 ging ich unbehelligt auf dem ‚Ashburton‘ nach den Vereinigten Staaten, um mir eine neue Existenz zu gründen. Wie mir das so glücklich gelungen ist, haben die Leser bereits im Eingang erfahren. Demungeachtet hänge ich noch mit ganzem Herzen an meinem deutschen Vaterlande und habe die Siege und die Einigung desselben mit Jubel und tiefer Rührung begrüßt.“




Die weltverbindende Chiffre.


Der Engländer ist ein raffinirter Bequemlichkeitskünstler. In allen Aeußerungen und Beziehungen des Lebens geht sein Hauptstreben nach Case und Comfort – zwei schwer übersetzbaren Begriffen, denn unser „Leichtigkeit“, „Behagen“, „Bequemlichkeit“ drücken sie nicht vollkommen aus. Deshalb macht er sich auch seine mündliche und schriftliche Rede gern so leicht und bequem wie möglich, indem er längere Worte abkürzt oder auch durch ganz andere kürzere ersetzt und für eine Menge von Bezeichnungen sich bloßer Buchstaben oder Chiffren bedient, welche rasch das allgemeine Bürgerrecht erlangen. So stutzt er sich seine Vornamen mundrechter zu; Mary verwandelt er in Poll, Robert in Bob, Edward in Ned etc. Der Omnibus ist aller Welt einfach der Bus; ein kurzes M. P. hinter dem Namen bekundet den Träger desselben als Erwählten der Nation, als Mitglied des Parlamentes – Member of Parliament –; die O. und P. kennt Jedermann als die zwischen England und Ostindien gehenden Postdampfer, die Schiffe der Peninsular and Oriental Company, und Niemand ist, dem sich bei der Chiffre T. S. nicht das Bild eines Zeit und Raum aufhebenden Weltverkehres entrollte.

Dieses T. S. schläft niemals, ja schließt nicht einmal das Auge zu noch so kurzem Schlummer. T. S. ist ewig neugierig und ewig bestrebt, seine Neuigkeiten mitzutheilen. Die ärgste Klatschbase in der klatschsüchtigsten kleinen Stadt vermag während ihres ganzen Lebens auch nicht ein Tausendstel der Gerüchte auszustreuen, die T. S. im Laufe einer Stunde in die Welt hinaussendet. Und wie bunt und mannigfaltig ist der Charakter dieser Nachrichten! Die Kunde von den Pariser Mordbrennereien, die Geburt eines neuen Enkels der Königin Victoria, die letzte Rede Bright’s in Birmingham – alle diese Mittheilungen und noch hundert andere laufen in derselben Minute in T. S. ein und machen sich den Vorrang streitig. T. S. hat den Finger am Pulse der Goldbörse von New-York und erzählt von jedem seiner einzelnen Schläge; T. S. vibrirt mit dem Steigen und Fallen des Indigomarktes, dessen Waaren die fernen Felder Ostindiens senden, – mit Einem Worte, T. S. streckt seine Zweige nach allen Richtungen hinaus. Es läuft dahin tief unter dem Pflaster der City, bleibt uns zur Seite auf der Landstraße, säumt die schlüpfrige Wand des Eisenbahntunnels, schwingt sich von Rauchfang zu Rauchfang über den Dächern unserer Häuser und liegt auf dem Grunde des Oceans mitten unter Schiffstrümmern und Korallenriffen, unter verlorenen Schätzen und bleichenden Menschengebeinen. Daß T. S. dem Privatmann auch zu Diensten sein muß, versteht sich von selbst. Durch T. S. Vermittelung erbittet sich der Herzog auf seinem Schlosse hoch im Norden von Schottland das sofortige Erscheinen des berühmten Londoner Arztes, wenn Mylady plötzlich erkrankt ist, und T. S. wieder ist es, das die Trauerkunde vom Ableben Seiner Gnaden des Marquis im fernen Cornwallis in die Hauptstadt trägt.

In allen diesen und tausend anderen Fällen wird T. S. in Requisition gesetzt, denn – der Leser hat es schon errathen – T. S. ist die landübliche Abkürzung von Telegraph Street, der großen Centralstation des englischen Staatstelegraphenwesens.

Telegraph Street ist kaum eine Straße zu nennen, nur eine Sackgasse, die in einen sehr engen Hof mündet. Unmittelbar an [449] dessen Eingange erhebt sich der umfängliche Gebäudecomplex, welchen wir als das eigentliche T. S. bezeichnen müssen. Im Erdgeschosse desselben befindet sich neben einer behaglichen Pförtnerloge, um deren Besitz man den in Scharlach gekleideten dicken Portier beneiden könnte, zunächst Apotheke mit Doctorzimmer, welche bei dem ungeheuern Personale des Instituts fast täglich ihre Dienste zu leisten haben, und daran der Saal, in dem über die Geschäfte mit den verschiedenen Gesellschaften, welche auf regelmäßige Depeschen abonnirt sind, Buch und Rechnung geführt wird. Als die bedeutendsten dieser „Neuigkeitengesellschaften“ – News Companies – haben wir zu erwähnen die Central Preß, die Preß Association und den Lombard, deren Boten von fünf Uhr Abends bis drei Uhr des nächsten Morgens unablässig hin- und hereilen, um Telegramme zu bringen und in Empfang zu nehmen. Außer diesen großen Compagnien unterhalten mehrere der vornehmsten Provinzialblätter einen mit T. S. direct communicirenden Sonderdraht, der nach sieben Uhr Abends ihren Londoner Correspondenten, welchen ein eigenes Zimmer im Etablissement vorbehalten ist, zur Verfügung steht. Daß das Erdgeschoß auch einen großen Speisesaal für die verschiedenen Beamten enthält, charakterisirt ebenfalls Art und Umfang der Anstalt. Von den für die City bestimmten Depeschen geht übrigens nur ein Theil unmittelbar von T. S. aus, da dort noch eine ziemliche Anzahl anderer Telegraphenstationen im Betriebe ist.

Eine mit Leder umkleidete Röhre befördert die zu expedirenden Telegramme in das Ausgabelocal, wo eine Reihe von jungen Damen das Geschäft des Couvertirens und der Aushändigung an die verschiedenen Boten besorgt. T. S. hat eine große Menge stehender Kunden und für jeden derselben seinen besondern Vorrath von Couverts mit gedruckten Namen und Adresse; an regelmäßigen Boten, Knaben oder doch jungen Menschen, die gut gedrillt und einer gewissen militärischen Disciplin unterworfen sind, besitzt es hundertsiebenundsechszig. Sie empfangen keine feste Besoldung, sondern werden so zu sagen nach dem Stück bezahlt, für die einzelne Depesche je nach der Entfernung der Adressaten mit einem halben oder ganzen Penny. Auf diese Weise beeilen sich die jungen Boten, soviel sie können, um im Stande zu sein, täglich eine recht große Anzahl von Telegrammen auszutragen.

Im ersten Stockwerk des Gebäudes empfängt uns ein riesiger Saal, die sogenannte Metropolitan Gallery. Sie wimmelt von jungen Damen, an denen uns zunächst die wahrhaft unendliche Mannigfaltigkeit der Chignons auffällt, mit denen sie ihre Köpfe verziert, oder besser, verunziert haben, während ihre Kleider, wenn auch nicht in Stoff und Farbe, so doch in Schnitt und Ausputz von so uniformer Gleichartigkeit sind, als wären sie von einem Regimentsschneider für eine Amazonenlegion fabricirt worden. Diese jungen Frauen und Mädchen sitzen an langen Zeilen von Tischen, welche den Raum von einem Ende zum andern ausfüllen, und sind von früh bis Abend damit beschäftigt, die einlaufenden und zu befördernden Depeschen nach der Stadtgegend, auf welche die Adresse lautet, zu sortiren. Zu solchem Endzwecke dienen große Pläne, auf denen die dem Publicum jetzt allgemein geläufigen Postdistricte mit den von der Oberpostdirection eingeführten Bezeichnungen angegeben sind, und immer eine gewisse Anzahl von Damen hat die Depeschen aus einem dieser Districte zu sortiren und zum Austragen bereit zu machen. Eine Oberaufseherin führt die Controle über jede solche Section. Alle eingehenden Telegramme wandern nach diesem gigantischen Sortirlocale; die nicht für die Stadt bestimmten werden mittels eines Aufzugs nach einem oberen Saale, der Provincial Gallery, emporgehoben; diejenigen, welche die City zu empfangen hat, laufen durch eine pneumatische Röhre nach der ihrem Bestimmungsorte nächstgelegenen Station. Dergleichen pneumatische Canäle, die den ganzen Tag unaufhörlich Depeschen befördern, haben sich außerordentlich bewährt und arbeiten gegenwärtig nicht allein zwischen unserm T. S. und den Hauptstationen der City, sondern werden auch von dem Anglo-Amerikanischen, dem Indo-Europäischen und dem Falmouth- und Gibraltarbureau zum Verkehr mit der Centralstation benutzt. Hierbei darf nicht unerwähnt bleiben, daß die nach dem Continent bestimmten Depeschen lediglich durch die Hände von männlichen Beamten des Etablissemens gehen, einem gemischten Corps von Ausländern und fremder Sprachen mächtigen Engländern.

Während ich mit der beaufsichtigenden Beamtin die ungeheure Metropolitan-Galerie hinabschritt, durfte ich nach Gutdünken weilen, wo ich eben Lust hatte, und Fragen stellen, wie sie mir gerade in den Kopf kamen. So blieb ich einen Augenblick bei einer jungen Dame stehen, vor der auf einer Papptafel mit großen Buchstaben das Wort „Holborn“ zu lesen war, der mithin die Depeschenbeförderung aus diesem verkehrsvollen Stadtviertel oblag.

Es war vierundfünfzig und eine halbe Minute nach drei Uhr, und sie schrieb soeben die letzten Zeilen eines dreiundfünfzig Minuten nach drei Uhr am Holborner Viaduct aufgegebenen Telegramms ab, welches in spätestens zwei Minuten zur Behändigung an den betreffenden Boten fertig sein wird. Eine andere junge Dame, an die ich mich wandte, war sehr kurz in ihren Antworten, was ich erklärlich und sehr verzeihlich fand, als ich erfuhr, daß ihr vom Südwestbezirke, mit welchem sie zu thun hat, siebenundzwanzig gleichlautende Depeschen übermittelt worden waren, die sie abzuschreiben und an ihre verschiedenen Adressen zu befördern hatte. Eine solche Monotonie muß ja auch dem eifrigsten aller eifrigen Arbeiter peinlich werden. In demselben Südwestdistricte liegen die meisten Amtslocale, das Kriegsministerium, das auswärtige Amt, das Schatzamt, die Admiralität, die Parlamentshäuser und der Palast der Königin, Buckingham Palace. Für alle diese Localitäten, die selbstverständlich eine große Anzahl von Depeschen entsenden und empfangen, sind, da die Telegramme häufig aus Chiffren bestehen, besondere Alphabete und eigene „Nadeln“ im Gebrauche, wie natürlich auch in Folge dieser vielen officiellen Gebäude und Anstalten gerade der Südwestbezirk sein besonderes Quantum an Arbeit verursacht und ein mehr als doppeltes Contingent von Arbeiterinnen erfordert. In Windsor, Osborne und Balmoral, den verschiedenen Landresidenzen der Königin, stehen Telegraphenapparate unter der Leitung eines stets mit dem Hofe reisenden Beamten; ebenso sind die Landsitze der Minister und mancher Edelleute mit dergleichen Vorrichtungen ausgestattet.

Das ganze Jahr hindurch hat die Metropolitan-Galerie ihr reiches Maß von Arbeit zu bewältigen, welches sich indeß noch beträchtlich vermehrt gelegentlich der großen Londoner Volksfeste, wie bei dem Derbytage und der von den beiden Universitäten Cambridge und Oxford alljährlich veranstalteten Bootwettfahrt. Auch ein ungewöhnlich dicker Nebel bringt den Damen viel Extrabeschäftigung, und ohne die für dergleichen Anlässe getroffenen Vorkehrungen würden die Drähte der andringenden Fluth von Depeschen, welche die Unmöglichkeit ausdrücken, genommene Verabredungen einzuhalten, auch nicht annähernd gerecht werden können. Alle für die Röhrenstationen bestimmten Depeschen kommen in verschiedene mit den Namen der jedesmaligen Oberaufseherinnen bezeichnete Oeffnungen. Von dem Umfange der in T. S. abgethanen Geschäfte aber giebt die Thatsache eine Vorstellung, daß es bis jetzt schon dreihundertvierunddreißig Telegrammen-Ablieferungsstationen in London giebt und daß die Zahl derselben noch immer im Wachsen begriffen ist.

Der wesentliche Unterschied zwischen der Metropolitan- und der Provinzialgalerie besteht darin, daß in der letzteren die oben erwähnten Papptafeln anstatt der Namen von Londoner Straßen und Bezirken die Namen von Provinzialstädten tragen. Im Uebrigen sind Anstrich und Geschäftsbetrieb so ziemlich die gleichen wie in jener; insbesondere gewahrte ich ganz die nämliche Fülle an möglichen und unmöglichen Chignons und dieselbe Ruhe und Emsigkeit. Unser specielles Interesse jedoch verdienen in der Provinzialgalerie mehrere der daselbst thätigen telegraphischen Apparate. So führte man mich zu dem „Liverpool-Departement“, um mir eines von den berühmten Hughes’schen Instrumenten zu zeigen, mittelst dessen das Telegramm sofort in completen deutlichen Buchstaben und Worten niedergeschrieben wird, und forderte mich auf, mit dem in Liverpool an einem Exemplare des nämlichen Instrumentes operirenden Beamten zu correspondiren. Ich that so, und in weniger als anderthalb Minuten sah ich seine Antwort auf meine Anfrage sich schlangengleich in schönem Druck aus der Maschinerie hervorwinden. Dies Liverpool ist beiläufig ein wahrer Vielfraß von Depeschen. Nicht nur, daß es allein von T. S. aus elf und von der Fondsbörse fünf, zusammen also sechszehn besondere Apparate in Requisition setzt, es kommt damit noch nicht aus und wird schon in der nächsten Zukunft noch eine Reihe anderer Instrumente zu seinem alleinigen Gebrauche im Gange haben. Im Appetit am nächsten steht ihm Manchester; eine für dasselbe arbeitende junge Dame versicherte mich, daß sie [450] zwischen elf Uhr Morgens und drei Uhr Nachmittags heute schon dreihundert und einige vierzig Depeschen abgesandt habe. Und die gegenwärtige Zeit gilt für eine der stillsten Perioden im Jahr. Während der regsten Geschäftsmonate beträgt die Zahl der täglich abgehenden Telegramme nahezu zwanzigtausend! Hierin aber sind die vielen von der Presse in Umlauf gesetzten Depeschen nicht einmal mitbegriffen! An dem Tage, an welchem ich T. S. meinen Besuch abstattete, waren bis gegen fünf Uhr Nachmittags bereits dreizehntausend expedirt worden. Und wie viele konnten noch bis zum Einbruche der Nacht Erledigung finden! Jedenfalls wurde die Durchschnittszahl mehr als erreicht.

Eine der wichtigsten Maschinerien in T. S. bildet das Probezimmer, testing box, der Ort, wo alle die von T. S. auslaufenden Drähte geprüft werden. Dies geschieht regelmäßig jeden Morgen um sechs Uhr, wo sich der angestellte Oberingenieur mit allen Endstationen in Rapport zu setzen pflegt, um zu sehen, ob die Linien in jeder Beziehung in gutem Zustande sind. Desgleichen begiebt er sich in das Testing Box, wenn ihn irgend einer der Beamten auf einen Fehler des in sein Ressort gehörenden Drahtes aufmerksam macht. Jeder Draht hat seine besondere Nummer und Bezeichnung, und mit Zuhülfenahme des Galvanometers erkennt der Ingenieur auf der Stelle, ob die Beschädigung, der Riß oder Bruch sich an seinem Ende des Drahtes befindet. Ist dies nicht der Fall, so untersucht er den Draht in den verschiedenen Sectionen, in welche derselbe eingetheilt ist, bis er auf die schadhafte Stelle trifft, die dann der specielle Sectionsingenieur auszubessern hat. Unter dem Fußboden der Provinzial-Galerie liegen allein ziemlich sechzig englische Meilen Draht, einzig und allein zur Verbindung der verschiedenen Localbatterien etc.

Als ein zweites interessantes Instrument muß ich den Chronophor, die Normaluhr für ganz England, anführen. Sechszehn der bedeutendsten Städte des Landes stehen mit dieser Vorrichtung in directer Communication, während der Apparat seinerseits unmittelbar mit der Sternwarte zu Greenwich communicirt. Zwei Minuten vor zehn Uhr wird jeden Morgen aller andere telegraphische Verkehr suspendirt, damit keine Collision mit dem sogenannten „Zeitstrome“ eintritt, der präcis mit dem Glockenschlage die Kunde davon nach den sechszehn einzelnen Stationen blitzt, mit denen er verbunden ist. Alle großen Londoner Uhrmacher, wie Dent, Benson und andere, empfangen ihre Zeit von diesem Chronophor. Mittels elektrischer Batterien, welche mit demselben correspondiren, werden außerdem in Newcastle und Shields um ein Uhr Nachmittags Uhrkanonen abgefeuert. Die Genauigkeit des Instruments aber thut der Umstand dar, daß es den zwanzigsten Theil einer Secunde zu messen im Stande ist.

Das T. S. bedienende Personal macht augenblicklich ein Heer von siebenhundertsechsundvierzig Beamten aus. Davon sind zweihundertachtundsiebenzig männlichen und vierhundertachtundsechzig weiblichen Geschlechts. Von den letzteren tritt ein Theil seinen Dienst acht Uhr Morgens an, um bis Nachmittags vier Uhr zu fungiren; eine andere Abtheilung arbeitet von zwölf Uhr Mittags bis acht Uhr Abends. Keine Telegraphistin ist indessen vor acht Uhr Morgens oder nach acht Uhr Abends in Thätigkeit, alle Nachtarbeit bleibt vielmehr ausschließlich einem besondern männlichen Personal vorbehalten, welches von acht Uhr Abends bis neun Uhr Morgens zu functioniren hat. Ehe T. S. Staatsanstalt wurde, hielt man die weiblichen und männlichen Beamten in strengster Absonderung von einander, und Heirathen zwischen beiden zogen den Verlust der Stelle für einen und den andern Theil nach sich. Eine väterliche Regierung sieht jedoch dergleichen Dinge mit wohlwollenderem Auge an, und fern davon, ihre Beamten zur Ehelosigkeit zu verdammen, befördert sie im Gegentheil die eheliche Verbindung derselben. Um fünf Uhr Nachmittags ist allgemeine Theestunde in T. S., sämmtliche Beamten der Anstalt, welche um diese Zeit Dienst haben, erhalten die nationalenglische Erfrischung unentgeltlich geliefert. Ich habe diesen Regierungstee gekostet und vortrefflich, zugleich aber als eine nationalökonomisch sehr zweckmäßige Maßregel gefunden. Denn die Tasse wird neben jeden Arbeiter und neben jede Arbeiterin hingestellt, und diese schlürfen daraus in den geschäftsfreien Intervallen, während, wenn sie die Vespercollation irgend anderswo einnehmen würden, dadurch ein weit größerer Zeitverlust entstände, als die Kosten des gespendeten Thees betragen.

Ohne mancherlei Irrthümer und Versehen läßt sich natürlich ein menschliches Institut von einer solchen Ausdehnung und Complication, wie unser T. S., nicht wohl denken, der Totaleindruck aber, den ich aus demselben mitnahm, war der einer seltenen und von Tag zu Tage steigenden Vollkommenheit. Es steht ebenbürtig da neben seinem älteren Bruder, dem britischen Postorganismus, der nach unserem deutschen Postwesen, welches gegenwärtig den ersten Rang einnimmt, als der ausgezeichnetste der Welt anerkannt ist.
S.




Ein Held der Feder.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Jane zuckte zusammen unter diesem Hohne, sie fühlte, daß ihr Henry von dieser Seite nicht zugänglich war, und fühlte zugleich, daß er sie jetzt das hochmüthige „Ich will nicht!“ büßen ließ, das sie ihm einst hier entgegengeschleudert. Nicht umsonst hatte Atkins sie vor diesem Manne gewarnt, der keine Beleidigung je vergaß oder verzieh, selbst wenn er sie zu übersehen schien. Er rächte sich jetzt dafür, und Jane wußte, daß sie auf kein Erbarmen rechnen durfte, aber diese Gewißheit gab ihr auf einmal die Fassung zurück. Sie erhob sich fest und kalt und ein verächtlicher Ausdruck legte sich um ihre Lippen. Die Nutzlosigkeit dieses letzten Versuchs war ja vorherzusehen gewesen, sie hatte andere und ihrer Meinung nach unfehlbare Waffen in Bereitschaft.

„Bevor wir diesen Punkt weiter erörtern, darf ich Sie wohl bitten, einen Vorschlag anzuhören, den ich Ihnen zu machen habe.“

Henry war gleichfalls aufgestanden, er verneigte sich zustimmend.

„Sie wissen, daß ich nach dem Tode meines Bruders die Alleinerbin alles dessen bin, was mein Vater hinterließ. Sein Testament spricht mich mündig, mir steht also die freie gesetzliche Verfügung über das gesammte Vermögen zu.“

„Allerdings!“ Henry sah sie befremdet an, er wußte nicht, wo das hinauswollte.

„Nun denn, ich bin bereit, Ihnen dies ganze Vermögen abzutreten – um den Preis meiner Freiheit.“

Henry trat einen Schritt zurück, er war auf einmal bleich geworden und sein Blick heftete sich mit einem unheimlich räthselhaften Ausdruck fest auf ihr Antlitz.

Jane schritt rasch zum Schreibtisch und zog aus einer dort liegenden Mappe ein Papier hervor.

„Ich habe das Nöthige bereits aufgesetzt, Sie werden daraus ersehen, daß ich nichts zurückbehalte, als was sich augenblicklich in meinen Händen befindet. Eine Summe, hinreichend, mir hier in Deutschland eine Existenz zu sichern, und kaum nennenswerth im Vergleich zu dem, was Ihnen zu Theil wird. Die gesetzliche Vollziehung kann jeden Augenblick stattfinden, sobald Sie es wünschen, die Sache bleibt natürlich Geheimniß für jeden Fremderen. Ich biete Ihnen alles an, was ich besitze, nur lassen Sie mich frei!“

Sie reichte ihm das Blatt, Henry nahm es schweigend aus ihren Händen und las es schweigend durch, die Blässe seines Gesichtes wurde noch tiefer und das Papier knitterte seltsam in seinen Fingern, endlich legte er es langsam wieder auf den Tisch und schlug die Arme übereinander.

„Vor allen Dingen möchte ich Sie ersuchen, Miß Forest, den Ton zu ändern, in dem Sie mit mir zu sprechen belieben. Man begegnet einem Manne, der die ganze Zukunft in seinen Händen hält, nicht mit solcher – Verachtung.“

Jane erröthete flüchtig, ihre Stimme hatte unwillkürlich verrathen, was sie bei diesem „Vorschlag“ empfand, indessen faßte sie sich schnell.

[451] „Ich sehe nicht ein,“ entgegnete sie, „weshalb wir beide einander noch belügen wollen. Sie warben um mein Vermögen und halten jetzt die Hand fest, an der es hängt. Ich befreie Sie von einer lästigen Zugabe und mich von einem verhaßten Bande mit diesem Entschluß. Sie sind Kaufmann genug, um seine Vortheile zu würdigen, und ich habe lange genug in Amerika gelebt, um den dortigen Interessen und Verhältnissen Rechnung zu tragen.“

Jane ahnte es nicht, welch ein furchtbares Spiel sie in diesem Augenblick spielte, und sie ließ sich auch nicht warnen durch den leisen zischenden Laut, der wieder von Henry’s Lippen kam, wie an jenem Abende, wo er ihr Gespräch mit Walther belauschte; seine Ruhe täuschte sie vollständig.

„Das bezweifle ich, Miß Jane, dazu ist Ihr Vorschlag denn doch zu – deutsch! Man wirft bei uns zu Lande nicht eine Million hin, um einer Heirath zu entgehen! Im Uebrigen glaube ich kaum, daß Sie sich wirklich klar gemacht haben, was es für Sie, die im Schoße des Reichthums Erzogene, eigentlich heißt, arm zu sein.“

Jane hob stolz das Haupt. „Mein Vater war auch einst arm, und er bedachte sich nicht, Lebensstellung und Zukunft dem zu opfern, was ihm Freiheit hieß, ich gebe seinen Reichthum hin für die meine!“

„Wirklich?“ Henry’s Blick haftete durchbohrend auf ihr und seine Stimme klang in vernichtendem Hohne. „Und überdies meinen Sie, läßt es sich zur Noth auch von einem Professorengehalt leben! Darf ich fragen, ob Mr. Fernow Antheil an diesem romantischen Entschlusse hat? Im anderen Falle rathe ich Ihnen, seiner Idealität nicht allzuviel zuzumuthen; die Heldin in seinem Roman war eine Erbin, und auch seine Gefühle könnten sich abkühlen, wenn sie plötzlich arm vor ihn hintritt.“

Jane’s Augen flammten, sie vergaß alle Vorsicht, vergaß, wie furchtbar sie schon einmal eine Beleidigung dieses Mannes hatte büßen müssen, sein Spott raubte ihr alle Besinnung.

„Legen Sie Ihren eigenen Maßstab nicht an solche Naturen, Mr. Alison! Walther Fernow ist nicht Ihres Gleichen!“

Das war zu viel! Die tiefe tödtliche Verachtung in ihren Worten riß die Maske ab, mit der er bisher sich selbst und ihr Gleichgültigkeit geheuchelt. Henry biß die Zähne zusammen, noch beherrschte er den Sturm, aber es war nur für einige Secunden.

„Nicht meines Gleichen! Sie sind sehr aufrichtig, Jane, in Ihren Augen hat Mr. Fernow wohl überhaupt nicht seines Gleichen in der Welt, und ihm hätten Sie natürlich nie gewagt mit dem Anerbieten zu nahen, sich für Geld die Braut abkaufen zu lassen. Sparen Sie Ihre Entrüstung, ich sehe ja, wie Ihr ganzes Wesen sich empört, schon bei dem bloßen Gedanken. Ihm nicht, aber mir,“ hier war es zu Ende mit der Selbstbeherrschung, die alte unbändige Leidenschaft brach wieder furchtbar hervor aus der Tiefe, „mir wagen Sie dies zu bieten! Mir muthen Sie einen solchen schmachvollen Handel zu! Sie wagen es, Mr. Alison zu behandeln, als wäre er ein Wucherer, dem Wort und Ehre für Dollars feil sind – Jane, beim Himmel, die Beleidigung sollen Sie mir büßen!“

Jane wich zurück, sie sah ihn befremdet und völlig verständnislos an, auf eine solche Aufnahme ihres Anerbietens war sie nicht gefaßt gewesen.

Henry riß das Papier vom Tische und zerknitterte es wüthend in der Hand. „Mit diesem elenden Blatt wollten Sie sich frei kaufen und mir dann mit dem Gelde noch Ihre Verachtung nachwerfen! Sie haben in mir immer und ewig nur den Geldmenschen gesehen – mag sein, daß es Berechnung war, die mich zu Ihnen führte, Sie lehrten mich bald genug mit einem anderen Factor rechnen, als mit dem Dollar. Ich habe Sie geliebt, Jane, geliebt bis zum Wahnsinn, und nur um so heißer geliebt, je kälter Sie sich von mir zurückzogen, bis zu dem Augenblick, wo dieser blauäugige Deutsche in meinen Weg trat und ich Euch beide hassen lernte. Sie wissen nichts von meiner Unterredung mit ihm, als was ich Ihnen selbst davon gesagt, ahnen nicht, was zwischen uns vorfiel in jener Nacht, wo Ihr Bruder starb. Nun denn, ich wollte zum Mörder an ihm werden, weil er mir das Duell verweigerte. So weit hatte die – Berechnung den Geldmenschen gebracht, daß er alles vergaß, daß er Leben, Ehre und Zukunft auf’s Spiel setzte um des einen Gutes willen, das man ihm streitig machte. Begreifen Sie nun, Jane, was Sie mir gewesen sind und weshalb ich Sie festhalte? Ich weiß, daß ich kein Glück mehr zu hoffen habe, daß mein Haus mir zur Hölle wird, aber ich weiß auch, daß keine Macht der Erde Euch von einander reißt, wenn nicht mein Arm es thut. Er wird es thun und gälte es Ihr ganzen Erbe und gälte es das meine bis auf den letzten Dollar, ich würfe beides hin, aber er soll Dich nicht besitzen!“

Er zerriß das Papier und warf die Fetzen verächtlich von sich, dann trat er mit einer stürmischen Bewegung zum Fenster und starrte abgewandt hinaus.

Jane stand regungslos, erschreckt, betäubt von diesem jähen Ausbruch einer Empfindung, die sie in Henry nie geahnt. Zum ersten Mal zeigte er ihr dies Antlitz, sie fühlte tief im Innersten, es sei das wahre, und fühlte zugleich mit heißer Beschämung, was sie ihm gethan, aber mitten durch Schreck und Scham brach jetzt leise und licht ein Hoffnungsstrahl, sie wußte, daß das Weib allmächtig ist, wo es geliebt wird.

Henry fühlte seine Schulter leise berührt; als er sich umwandte, stand Jane dicht vor ihm, aber der Trotz und die Verachtung waren aus ihrer Haltung verschwunden, sie hatte das Haupt gesenkt, wie schuldbewußt, und der Blick haftete am Boden.

„Ich that Ihnen Unrecht!“ sagte sie leise, und es klang fast wie Abbitte aus ihrem Ton, „ich dachte nicht, daß Sie lieben könnten.“

Henry wich zurück, es überkam ihn eine Ahnung von dem, was ihm jetzt bevorstand, und die Stirn furchte sich noch tiefer, die Züge wurden noch härter, sein ganzes Wesen war finstere, eisige Abwehr.

„Genug der Bekenntnisse!“ sagte er rauh. „Ich bitte Sie jetzt nochmals, Miß Forest, den Tag unserer Verbindung zu bestimmen. Ich erwarte Ihre Antwort, erwarte sie sofort.“

Jane stand noch immer mit zu Boden geschlagenen Augen vor ihm, jetzt legte sie plötzlich beide Hände auf seinen Arm.

„Henry!“

Er zuckte zusammen und wendete sich ab.

„Sie haben mir eine grausame Wahl gestellt und furchtbar war die Drohung, mit der Sie mich zu schweigender Unthätigkeit zwangen. Sein Leben und meine Zukunft liegt jetzt in Ihrer Hand allein, Henry – geben Sie ihm dies unselige Wort zurück, und mir die Freiheit!“

Mit einer ungestümen Bewegung stieß er ihre Hand zurück. „Was soll der Ton, Jane? Denken Sie mich damit zu zwingen? Haben Sie aus meinen Worten nichts Anderes gehört, als daß ich jetzt eine Großmuthsscene spielen und Sie in seine Arme führen würde? Kein Wort weiter, nicht ein einziges mehr – oder ich vergesse mich!“

Das Verbot klang wild und drohend genug, aber es blieb wirkungslos; Jane war sich jetzt ihrer Macht bewußt, sie ließ sich nicht mehr schrecken.

„Ich biete Ihnen nicht mehr mein Vermögen, und Alles, was ich sonst zu geben habe, gehört einem Andern. Ich konnte nichts von Ihnen erzwingen und nichts erkaufen, nun denn, so bitte ich jetzt: Henry, zu Ihrem und meinem Heile – geben Sie mich frei!“

Sie war vor ihm niedergesunken, ihre Stimme bebte in angstvollem Flehen, in weicher rührender Bitte, wie er sie noch nie aus diesem Munde gehört, die großen dunkeln Augen blickten ihn jetzt voll und unverwandt an, sie standen voll heißer Thränen, das ganze Wesen war so seltsam verwandelt, so ganz anders als die Jane Forest, die er bisher gekannt, Henry fühlte erst in diesem Augenblicke, was er in ihr verlor.

„Zu meinen Füßen! Ich könnte stolz sein auf den Triumph, wüßte ich nicht zu gut, wem ich ihn verdanke! Miß Forest wäre eher gestorben, hätte eher ein ganzes Leben voll Qual und Elend auf sich genommen, ehe auch nur ein Wort der Bitte von ihren Lippen gekommen wäre. Aber es gilt ja sein Glück, seine Zukunft, da kann man die ärgste Demüthigung auf sich nehmen, und wenn der Stolz auch aus tausend Wunden blutet, da kann man flehen, knieen sogar, was man für sich selber nie vermocht! Nicht, Jane?“

Diesmal blieb Jane empfindungslos gegen den Hohn, sie fühlte nur die grenzenlose Bitterkeit, der er entstammte, fühlte durch all’ sein finsteres Sträuben hindurch ihren Sieg sich emporringen.

„Ja!“ sagte sie leise, noch immer unverwandt zu ihm aufblickend.

[452] Er beugte sich zu ihr nieder und zog sie empor, seine Arme legten sich um die schlanke Gestalt, als wolle er sie festhalten für ewig, und mit eiserner unwiderstehlicher Gewalt preßte er sie an sich. In Henry’s Antlitz stürmte wieder die ganze wilde Leidenschaft jener Herbstnacht, und seine Brust hob und senkte sich im furchtbarsten Kampfe, aber es war etwas Edleres als Haß und Wuth, was jetzt in der Seele dieses Mannes wühlte, es war ein stummer, qualvoller Schmerz, der sein ganzes Wesen durchbebte und es bis in die innersten Tiefen hinein erschütterte.

Jane sah diesen Kampf und hatte nicht den Muth, weiter zu bitten, obgleich sie fühlte, daß ein Wort von ihr setzt Alles entschied, sie schwieg und ihr Haupt sank widerstandslos auf seine Schulter, aber ein paar schwere Thränen rollten langsam aus ihren Augen herab auf seine Hand.

Da fühlte sie plötzlich Henry’s Lippen heiß und zuckend auf ihrer Stirn, es war ein anderer Kuß als jener erste, den sie von ihm empfing, er brannte wie ein Feuermal auf der Stirn. „Lebe wohl!“ klang es glühend, halb erstickt, dann ward sie frei gelassen, zurückgestoßen, und als sie aufblickte, hatte er das Zimmer bereits verlassen – sie war allein.




Der Frühling am Rhein! Das ist ein Gedanke, aus dem es so Manchen anweht mit heißer unwiderstehlicher Sehnsucht. Er kommt zwar überall, ob in den Stürmen und dem Wogen des Meeres, ob in dem frischeren Waldeshauch und dem brausenden Hochwasser des Gebirges, oder in der Blüthenpracht und dem Lerchenjubel der Ebene, aber er lächelt doch nirgends so, wie hier an der Wiege der deutschen Romantik, wo sie ihn umfließt mit all’ ihrem poetischen Hauch. Der Frühling schritt durch die Rheinlande und legte leise die erste segnende Hand auf Felder und Rebenhügel zu künftigem Gedeihen, er schwebte sonnig über Wald und Felsenkluft und blickte hell und licht von den altersgrauen Burgen – der deutsche Frühling, wie er eben nur in diesem Jahre begrüßt und gefühlt ward, wo er einem ganzen Volke das Sieges- und Auferstehungsfest, wo er der Welt den Frieden brachte.

Die weitere Umgebung von B. war heute trotz des herrlichen Wetters wie ausgestorben, und der Herr und die Dame, welche den Weg zum Ruinenberge hinaufstiegen, schienen die einzigen Spaziergänger ringsum zu sein. War es Zufall oder Absicht, Jane hatte heute zum ersten Male die tiefe Trauer abgelegt, ihre Kleidung war noch dunkel und schmucklos, aber sie zeigte doch nicht mehr so ausschließlich das finstere trostlose Schwarz und es schien fast, als sei damit auch der starre, finstere Ausdruck geschwunden, der ihr Antlitz während des ganzen Winters umschattete; es lag dort auch etwas wie Frühlingshauch, wie leises sehnendes Hoffen, das sich nur erst schüchtern hervorwagte unter der kaum gesprengten Eisdecke, das noch nicht den Muth hatte, dem Glücke und der Zukunft voll in’s Auge zu schauen. Es war ein seltsamer, ganz neuer Zug in dem stolzen, energischen Antlitz der jungen Dame, aber er gab ihm etwas, was bisher trotz aller Schönheit darin gefehlt hatte – die Anmuth.

Mr. Atkins, der an ihrer Seite schritt, sah um so grämlicher aus; es schien fast, als empfinde er all die Lenzespracht ringsum als eine persönliche Beleidigung, so grimmig schaute er darauf hin, es ärgerte ihn schlechterdings Alles, was da war, und noch weit mehr Alles, was nicht da war. Er konnte nicht begreifen, weshalb das Grün schon so frühzeitig hervorbrach, es mußte sicher den Nachtfrösten unterliegen; er fand es lächerlich, daß die Sonne schon mit einer wahren Junihitze herabschien, das bedeutete ohne Frage baldigen Regen, und der Rhein war ihm heute vollends ganz und gar zuwider. Denn dieser hatte sich herausgenommen, vorhin die Stiefel des Mr. Atkins zu durchnässen, und großes Verlangen gezeigt, dessen ganze Person in seine feuchte Tiefe hinabzuziehen, was natürlich den höchsten Zorn des Amerikaners erregte. Freilich, es ging ja alles verkehrt in diesem Deutschland, nichts wollte sich mehr dem alten Herkommen und der alten Ordnung fügen, die Natur that es darin nur den Menschen nach. Da war dieser Frühling so ganz vorzeitig und unangemeldet, so gleichsam über Nacht in’s Land gekommen, als habe er es gar so eilig, das neue Reich mit seinem Sonnenschein und Blüthenduft zu grüßen. Da wußte sich das „gelehrte Nest“ dort drüben vor Jubel und Triumph nicht zu lassen, und empfing heute seine Universitäts-Professoren als gefeierte Kriegshelden; da griff dieser Rhein sogar mordlustig nach jeder fremden Nationalität, die sich in seine Nähe wagte; Mr. Atkins war sehr geneigt, in dem Unfall, der ihn vorhin beim Ausgleiten betroffen, eine politische Bosheit zu wittern, hatte er sich doch überhaupt gewöhnt, den Strom als eine Art von persönlichem Feind zu betrachten, den er mit seinem besonderen Haß beehrte; jedenfalls kam er zu dem Resultat, daß es auf diesem Boden nicht länger auszuhalten sei, und daß man je eher, je lieber nach Amerika zurückkehren müsse.

(Schluß folgt.)




Aus der Geschichte eines alten Pfarrhauses.
Von Pfarrer Ferdinand Lucius.


Fünf Minuten von der Heerstraße entfernt, die von Basel und Straßburg, den Rhein entlang, nach Lauterburg und Mainz hinunterführt, liegt die etwa tausend Einwohner zählende Pfarrgemeinde, in welche ich, vor zehn Jahren bereits, berufen wurde, nachdem ich dreizehn Jahre lang droben bei Buchsweiler, am Fuße der Vogesen, im alten Hanauerlande, als protestantischer Geistlicher im Amte gestanden. An landschaftlichen Schönheiten hat die Umgebung, eine durchweg flache Riedgegend, wenig oder nichts aufzuweisen, aber deshalb ist sie doch nicht gerade einförmig. Auf zwei Seiten wird der Gesichtskreis durch Waldungen begrenzt, über welche die Vogesen theilweise zum Vorschein kommen, und dort drüben über dem Rhein erheben sich großartig und malerisch die blauen Berge des Schwarzwaldes. Langgestreckt dehnt sich das Dorf mit seinen vielen, die Häuser umgebenden Baumgärten vor dem Blicke aus; hoch über die gelb- und rothbraunen Ziegeldächer ragt stattlich der achteckige, mit Schiefer gedeckte Kirchthurm empor, den der Dichter des Schauspiels „Friederike“ gar sinnig mit einem umgestürzten Blumenkelche vergleicht; und so gewährt das Ganze denn doch ein freundliches und gemüthliches Bild, auf welchem der Beschauer gerne das Auge für eine Weile ruhen läßt.

So wenig Reize aber das stille, abgelegene Dorf auch bieten, so unbedeutend es an sich selbst von vornherein auch scheinen mag, es geht von ihm darum doch eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, und jedes neue Jahr hat der Besucher eine bald größere, bald geringere Anzahl aufzuweisen. Da kommen denn in buntem Durcheinander Studenten von Heidelberg und Polytechniker von Karlsruhe, Schriftsteller und Künstler, Richter und Landräthe, Pastoren und Officiere (letztere ganz besonders zahlreich vertreten während der jüngsten Kriegsereignisse), Deutsche und Franzosen, ja Russen selbst, und hie und da sogar noch ein Engländer. Und Alle richten ihre Schritte stracks nach dem Pfarrhof hin und treten, schüchtern meist und sich entschuldigend, bei mir ein. Was sie suchen und wünschen und wollen, das haben sie nicht nöthig mir vorerst zu sagen; auch komme ich gewöhnlich ihrer Bitte zuvor und stelle mich ihnen bereitwillig zur Verfügung.

Und was wollen und suchen denn nun eigentlich, so wird wohl der geneigte Leser fragen, diese Fremden, die nach dem abgelegenen Dorfe und zu dem unbekannten Pastor pilgern? – Sie wollen nichts Anderes, als die Stätten besuchen, wo vor jetzt gerade hundert Jahren der große deutsche Dichter geweilt; sie wollen die Orte sehen, wo Goethe so selige Augenblicke erlebt in jugendlichem Liebesrausch, und wo Friederike so namenloses Leid still und ergeben viele Jahre hindurch im gebrochenen Herzen getragen. Das Pfarrhaus, das ich bewohne, ist eben kein anderes, als das Pfarrhaus zu Sessenheim. So nämlich wird der Name in allen älteren und neueren amtlichen Acten geschrieben, obgleich Goethe, und nach ihm alle Schriftsteller, beharrlich Sesenheim schreiben. Ganz alte, im Pfarrarchiv aufbewahrte Documente haben Seßenheimb und Süßenheim. Im Volksmund heißt das Dorf Saes’m.

Aber das alte, das berühmte, das erinnerungsreiche,

[453]

Die Pfarre in Sessenheim.
Nach den Originalskizzen von A. Lambs auf Holz gezeichnet von R. Püttner.

[454] das eigentliche Sessenheimer Pfarrhaus steht schon längst nicht mehr; vor fünfunddreißig Jahren bereits mußte dasselbe nothgedrungen abgebrochen und durch ein neues ersetzt werden. Das erfahren gewöhnlich hier erst, und nie ohne laut ihr Leidwesen kund zu thun, die werthen Gäste, die bei mir einbrechen, um in der Nähe sich die Stätten anzuschauen, die in der Ferne ihnen so lieb geworden. Mir aber – das will ich dem lieben Leser nur ehrlich gestehen – mir, dem dermaligen Insassen des jetzigen so wohnlichen Hauses, thut diese Veränderung nicht im mindesten leid, auch habe ich es bis jetzt noch niemals über’s Herz bringen können, aufrichtig in diese wehmüthige Klage (die ich jedoch ganz und gar verstehe und auch gebührend achte) einzustimmen. Hat doch mein Vorgänger im Amte, vor hundert Jahren schon, fort und fort Beschwerde geführt über sein altes, baufälliges, hölzernes Häuschen, und ein Mal um das andere Pläne und Risse, bekanntlich auch durch Goethe selbst, zu einem Neubau anfertigen lassen. Dank jedoch der freundlichen Mitwirkung meines kunstfertigen Amtsbruders, Pfarrer August Lambs von Bischweiler, und meines Schwagers, des Kreiswegbaumeisters August Bauer von Hagenau, bin ich in den Stand gesetzt, dem verehrten Leser das alte sowohl, wie das neue Haus im Bilde vor Augen zu stellen, und diese, wie ich hoffe, nicht unwillkommene Zugabe wird es Jedermann ermöglichen, Vergleiche anzustellen zwischen Sonst und Jetzt, und sich einen richtigen Begriff zu machen von den Localitäten, wie sie gewesen und heute sind. Das Eckzimmer rechts im obern Stockwerk des Hauses, dessen Holzwerk damals allenthalben zu Tage trat, war das Goethezimmer, das untere links die Wohnstube.

Nun aber, nachdem wir das Häuschen von 1770 betrachtet und dessen Umgebung in Augenschein genommen, wollen wir eintreten und nähere Bekanntschaft machen mit der dasselbe bewohnenden Pfarrfamilie.

Der Herr des Hauses, der Pfarrer des ausgedehnten, um jene Zeit sechs Gemeinden umfassenden und mehr denn tausendfünfhundert Protestanten zählenden Kirchspiels, war der damals in seinem dreiundfünfzigsten Lebensjahre stehende, am 11. April 1717 in Straßburg geborene Johann Jacob Brion. Gerade zehn Jahre vorher, um Martini 1760, war er von der etwas über zwei Stunden von hier entfernten Pfarrei Niederrödern nach Sessenheim befördert worden. Klein von Statur, freundlich in seinem Aeußern, etwas orthodox in seinen theologischen Ansichten (man denke an sein Gespräch mit Goethe über die Schnaken, „die im Paradiese nur angenehm gesummt und nicht gestochen“), durch Gelehrsamkeit ebensowenig ausgezeichnet wie durch besondere Geistesgabe, lag er, ohne Geräusch und Aufsehen zu machen, seinem Berufe ob, und hielt wohl ebenso pflichtgemäß die Gottesdienste ab, als er sauber und regelmäßig die von ihm verrichteten Casualhandlungen in die noch vorhandenen Kirchenbücher einschrieb. Was er als Prediger gewesen und als Seelsorger und Pfarrer gewirkt, darüber hat sich in der Gemeinde selbst keine mündliche Kunde erhalten und fortgepflanzt. Dieser Umstand aber kann uns nicht berechtigen, ein ungünstiges Urtheil über ihn zu fällen; denn die Pfarrer, welche am lautesten und am längsten von sich reden machen, sind auch heute noch, wie männiglich bekannt, nicht gerade die, welche am nachhaltigsten einen wohlthätigen und segensreichen Einfluß auf ihre Gemeindeglieder ausüben. Leutselig, gutmüthig und wohlthätig muß er jedenfalls in hohem Grade gewesen sein. Die Großmutter eines hiesigen Bürgers erzählte oft: „Mehr denn einmal hat er seinen Rock hergegeben, und wenn seine Weibsleut’ nicht gewesen wären, so hätte er auch noch das Hemd ausgezogen und verschenkt.“ „Sorget nicht für den andern Morgen“ – dies war der Wahlspruch, den er Frau und Töchtern entgegenzuhalten pflegte, wenn sie seiner allzugroßen Freigebigkeit hemmend in den Weg zu treten suchten.

Daß Vater Brion auch gerne Besuche bei sich sah und Gäste ihm allezeit höchst willkommen waren, dürfen wir nach mannigfachen Angaben wohl behaupten; und er konnte seine ihm, wie es scheint, zum Herzensbedürfniß gewordene Gastfreundschaft um so leichter üben, als seine Stellung in finanzieller Hinsicht eine günstige gewesen sein muß; denn er war nicht blos Nutznießer des beträchtlichen, aus etwa hundertsechszig Morgen (zweiunddreißig Hectares) bestehenden Pfarrguts, sondern er hatte auch noch den Feld- und Blut-Zehnten zu beziehen. Die sehr geräumige Pfarrscheune, welche noch an derselben Stelle und in demselben Zustande wie vor hundert Jahren sich befindet, und in welcher Goethe bekanntlich den mißlungenen Versuch machte, die pfarrherrliche Kutsche „mit Blumen und Zierrathen zu staffiren“, hieß nach der Aussage älterer hiesiger Personen, auch weit später noch, die „Zehnerscheuer“. Auch fanden sich Bekannte und Unbekannte im gastlich geöffneten Sessenheimer Pfarrhaus jederzeit gern und zahlreich ein; zu den Verwandten und Freunden aus dem Badischen und dem Elsaß gesellten sich mehr denn einmal Studenten von Straßburg und Officiere von Fort Louis, einer 1689 von Vauban auf einer anderthalb Stunden von hier entfernten Rheininsel erbauten, 1793 von den Oesterreichern unter Lauer zerstörten kleinen Festung – heute aber ein unbedeutendes armseliges Dörfchen. Dieses so sehr gesellige und vielbewegte Pfarrhausleben hat hie und da schon mannigfachen Anstoß erregt und zu allerlei nicht immer wohlwollenden Bemerkungen Anlaß gegeben. Wir dürfen dasselbe aber nicht nach unsern heutigen Schicklichkeitsansichten allein beurtheilen, sondern müssen billig vielmehr die andersartigen Verhältnisse und gesellschaftlichen Zustände der damaligen Zeiten in Anschlag bringen.

Als würdige Pfarrfrau und treffliche Hausmutter kommt uns wohlwollend Magdalena Salomea Schoell entgegen, welche, am 12. März 1724 geboren, in jener Zeit sechsundvierzig Jahre zählte. Sie war wahrscheinlich eine Badenserin, wenn nicht der Geburt, so doch der Abstammung nach. Viele Mitglieder ihrer Familie bewohnten die Markgrafschaft Baden-Durlach, gehörten dem höhern Beamtenstande an und blieben in fortwährendem Verkehr mit den Sessenheimer Pfarrersleuten, welchen sie oft Besuche machten und theilnehmend bei frohen und traurigen Gelegenheiten zur Seite standen. Frau Brion war groß und hager von Gestalt, „doch nicht mehr, als solchen Jahren geziemt“, aber ihre Gesichtszüge zeugten auch im vorgerückten Lebensalter noch von früherer Schönheit, „sie hatte vom Rücken her noch ein ganz jugendliches angenehmes Ansehen.“ Ihr Benehmen war fein, tactvoll und einladend und trug an sich den Stempel einer guten und sorgfältigen Erziehung. „Man konnte sie nicht ansehen, ohne sie zugleich zu ehren und zu scheuen,“ so sagt Einer, der sie wohl gekannt und dem wir vollen Glauben schenken dürfen. Sie ist anderthalb Jahre vor ihrem Gatten im Jahre 1786 von Gott aus diesem Leben abgerufen worden und findet sich der Sterbefall von Pfarrer Brion selbst im Kirchenbuche eingetragen.

Beide Ehegatten ruhen auf dem die Kirche umgebenden, aber schon längst nicht mehr benutzten Gottesacker; ihre Grabsteine sind noch vorhanden und liegen dicht an der Rückseite der Kirche. Auf dem einen Steine liest man:

Hier schläft in seinem Erlöser
Der
Hochwürdige und Hochgelehrte Herr
Johann Jacob Brion
Treueifriger Lehrer hiesigen Kirchspiels
Seines Alters 70 Jahre 6 Monate.

Sey still und weine,
Christ und Menschenfreund!
Hier ruhen die Gebeine
Eines Mannes, der vereint
Tugend pries und Tugend übte,
Gott in seinem Leben liebte.

Mit Ausnahme der wohlerhaltenen Namen Magdalena Salomea Schoellin ist die Inschrift des zweiten Steines völlig verwischt und unleserlich geworden.

Von den Kindern des Hauses haben wir nur wenig zu berichten, und auch dies Wenige wäre für uns von keiner Bedeutung und würde das Interesse des Lesers nur in geringem Grade in Anspruch nehmen, wenn nicht sympathisch, so Vieler Herzen der Einen Tochter entgegenschlügen, die das Sessenheimer Pfarrhaus und Alles, was mit demselben zusammenhängt, so weithin berühmt gemacht.

Die älteste Tochter des Pfarrer Brion’schen Ehepaares hatte das elterliche Haus seit mehreren Jahren verlassen, als Goethe seinen ersten Besuch in Sessenheim machte und wird ihrer auch in dessen Memoiren nicht gedacht. Sie hieß Catharina Magdalena und starb als Gattin des Pfarrers Christian Bernhard Gockel in Emmerdingen.

Die zweite Tochter war Maria Salomea, die spätere Gattin des Pfarrers Gottfried Marx zu Diersburg im Badischen, in „Wahrheit und Dichtung“ mit Anspielung auf

[455] Goldsmith’s Vicar of Wakefield Olivia genannt. Sie scheint eine urwüchsige, praktische, auf die realen Aufgaben des Lebens gerichtete Natur gewesen zu sein, die, allem sentimentalen Wesen abhold, für ein poetisches Sichgehenlassen und müßiges Schwärmen keinen Sinn hatte, sondern darin ihre Freude fand, ihrer Mutter in der Sorge um die ausgedehnte Haushaltung hülfreich zur Seite zu stehen und im häuslichen Kreise und täglichen Leben sich bestens nützlich zu machen.

Dem Alter nach kommt nun Friederika Elisabetha, Goethe’s Friederike, deren Geburtsjahr bekanntlich ebenso wenig genau mehr festgestellt werden kann, als das ihrer Schwester, nachdem das Kirchenprotokoll der Pfarrei Niederrödern, wo sämmtliche Kinder des Pfarrers Brion geboren wurden, im Revolutions- und Schreckensjahre 1793 in den Flammen aufging. Da aber Friederikens und ihrer Schwester Confirmationstag in dem Sessenheimer Kirchenbuche aufgezeichnet ist, und hier zu Lande die Kinder gewöhnlich in ihrem vierzehnten Jahre confirmirt werden, so können wir das Geburtsjahr derselben doch annähernd wenigstens bestimmen. Und darnach wäre Friederike etwa 1752 geboren, während man gewöhnlich 1754 setzt.

Der vierten Tochter Jacobea Sophia, etwa vier Jahre jünger als Friederike, wird von Goethe mit keiner Silbe Erwähnung gethan. Festgestellt ist, daß sie nach dem Tode der Eltern längere Zeit mit Friederike zusammen in Rothau lebte; später siedelte sie nach Niederbronn über, wo sie denn auch bis zu ihrem am 27. December 1838 erfolgten Tode verblieb und allgemein unter dem Namen „Täntele“ bekannt, geschätzt und geachtet war. Sie soll denen gegenüber, welche Näheres über die früheren Verhältnisse ihrer Familie von ihr zu erfahren wünschten, sehr wortkarg und zurückhaltend gewesen sein und wich – von Goethe jederzeit mit großer Achtung sprechend – den an sie gerichteten Fragen gewöhnlich dadurch aus, daß sie sagte, sie sei damals zu jung gewesen, um mehr davon zu wissen. Bekannte selbst konnten ihr nur in seltenen Augenblicken und bruchstückweise vertrauliche Mittheilungen aus ihrer Jugendzeit entlocken; und noch seltener geschah es, daß sie die aus jenen Tagen stammenden sorgfältig verwahrten Briefschaften und Papiere hervorholte, um den sehnsüchtig und mit gespannter Neugierde Harrenden einen flüchtigen Einblick in dieselben zu gestatten. Kurz vor ihrem Tode hat sie, wie man mich versichert, aus allzu großer Besorgniß, eine gewisse Anzahl Goethe’scher Briefe dem Feuer übergeben. Einige seiner in Friederikens Liederbuch von ihm eingetragenen Gedichte jedoch sind gerettet und durch Professor August Stoeber in Mühlhausen, unsern elsässischen auch in weiteren Kreisen wohlbekannten Dichter und ebenso treuen als kundigen Pfleger vaterländischer Culturgeschichte, herausgegeben worden, zuerst im Musenalmanach von Chamisso und Schwab (1838), dann 1842 in seinem Schriftchen „Der Dichter Lenz und Friederike von Sessenheim“. Die Originalien dieser Gedichte jedoch standen Stoeber nicht mehr zu Gebote. Sophie Brion hatte dieselben einem Unwürdigen anvertraut, welcher sie treu- und ehrlos für sich behielt. Was aus denselben geworden ist, weiß ich nicht anzugeben. Die Abschrift aber, welche Friederikens Schwester Aug. Stoeber mittheilte, war nach ihrer ausdrücklichen Versicherung eine durchweg wortgetreue.

Was Goethe’s Autograph seiner für die Sessenheimer Freunde übersetzten ossianischen Gesänge von Selma betrifft, welches sich in Aug. Stoeber’s Besitz befindet, so ist ihm dasselbe nicht von Sophie Brion zugekommen, wie mein ehrenwerther Landsmann dies selber mir mitzutheilen die Güte hatte. Christian Brion hatte das kostbare Manuscript dem auf’s Freundschaftlichste mit ihm verbundenen Pfarrer Küß zum Alten St. Peter in Straßburg geschenkt; von diesem ging es an dessen Verwandten, unsern reichbegabten alsatischen Sänger Ehrenfried Stoeber über, welcher es seinem Sohne hinterlassen hat. Aug. Stoeber hat es bekanntlich in seinem Lenzbüchlein abdrucken lassen (es weicht an einigen Stellen von der im „Werther“ aufgenommenen Uebertragung ab) und gleichzeitig ein Facsimile davon mitgetheilt.

Nun noch schnell ein Wort über den Moses der Brion’schen Familie. Derselbe ist „1763 den 18. Martii zur Welt geboren und sogleich zur rothen Fluth der heiligen Taufe gebracht und benamset worden Christian.“ Daß er etwas vorlaut und verzogen gewesen und ihm mancherlei Freiheiten im elterlichen Hause gestattet waren, wird uns nicht sonderlich befremden, wenn wir bedenken, daß er das jüngste Kind, der einzige Sohn war, und daß seine bedeutend älteren Schwestern bestens mitgeholfen haben mögen ihn zu verwöhnen, um ihm die liebe Knabenzeit ja nicht zu verkümmern. Er ist darum doch ein wackerer und braver Pfarrer geworden.

Von Goethe selbst, der am 2. April 1770 nach der damals weitberühmten Universitätsstadt Straßburg gekommen war, um seine in Leipzig begonnenen juristischen Studien zu vollenden, und der so tief und so nachhaltig eingreifen sollte in die Geschicke der Sessenheimer Pfarrfamilie, entwirft sein Biograph G. H. Lewes ein so treues und anschauliches Bild, daß ich nicht umhin kann, dasselbe hier wiederzugeben.

„Er hatte das zwanzigste Jahr überschritten, und nie vielleicht war ein schönerer Jüngling durch Straßburgs Mauern eingezogen. Lange bevor er berühmt war, fand man ihn einem Apoll ähnlich; wenn er in ein Speisehaus trat, legten die Leute Gabel und Messer nieder und staunten ihn an. Bilder und Büsten geben nur eine schwache Andeutung von dem, was in seiner Erscheinung am meisten ergriff; nur den Schnitt der Züge geben sie, nicht deren Spiel, und selbst in den bloßen Formen sind sie nicht genau. Seine Züge waren groß und frei geschnitten, ähnlich wie die schönen leichten Linien der griechischen Kunst. Die Stirn hochgewölbt und mächtig; unter[WS 1] ihr hervor schienen große, glänzende braune Augen von wunderbarer Schönheit, mit Pupille von fast beispiellosem Umfang; die ein wenig gebogene Nase groß und fein geschnitten; der volle Mund mit der kurzen aufgeworfenen Oberlippe höchst ausdrucksvoll; Kinn und Kinnbacken von kühnem Bau, und der Nacken, der diesen Kopf trug, schön und kräftig. … Von Gestalt war er über Mittelgröße; aber, obgleich eigentlich nicht groß, sah er doch so aus, und wird gewöhnlich auch so beschrieben, so imposant war seine Erscheinung. Stark und kräftig gebaut, war seine Organisation doch zart und reizbar. … Ausgezeichnet in allen körperlichen Uebungen, war er gegen alle atmosphärischen Einflüsse so empfindlich, daß er sich selbst ein Barometer nannte.“ –

Diese äußeren Vorzüge aber und diese körperliche Schönheit waren es nicht allein, was ihn auszeichnete vor Vielen. Sein ungewöhnlich begabter jugendlicher Geist strotzte schon damals von einer so üppigen Fülle von Kraft und Leben, in seinem Innern wogte unaufhörlich eine solche Masse von großartigen Gedanken, kühnen Entwürfen und bahnbrechenden Bestrebungen auf und nieder, daß wir nur dann einen annähernden Begriff von seinem geistigen Zustande uns machen können, wenn wir die staunenerregende, vielseitige und ruhmreiche schriftstellerische Thätigkeit in’s Auge fassen, welche er in der Folgezeit entwickelt und an den Tag gelegt. Auch in jener Zeit schon trug er den Vorsatz mit sich herum, den ihm liebgewordenen Götz von Berlichingen, „diesen gewaltigen Mann in wilder anarchischer Zeit“, dramatisch darzustellen; und auch die Sage von dem Zauberer Faust „klang und summte gar vieltönig in ihm wieder“. In seinem unersättlichen Wissensdrang griff er begierig allenthalben zu, wo er geistige Nahrung und wissenschaftliche Befriedigung zu finden hoffte, und studirte zu derselben Zeit und mit demselben Eifer Medicin und Literatur, Chemie und gothische Baukunst, Homer und Ossian, Lessing und Shakespeare. Sein eigentliches Fachstudium trieb er jedoch nur mit mäßigem Fleiße, und blos insoweit, als er es nothgedrungen thun mußte, um den Anforderungen des gestrengen Herrn Vaters, annähernd wenigstens, Genüge zu leisten. Unter seinen Freunden und Bekannten übte ganz besonders der um nur wenige Jahre ältere, aber bereits zu einer gewissen Reife gelangte Johann Gottfried Herder einen bedeutenden und „anregenden“ Einfluß auf ihn aus, „und riß ihn fort auf dem herrlichen breiten Wege, den er selbst zu durchwandern geneigt war“.

Herder war als Reiseprediger des Prinzen Friedrich Wilhelm von Holstein-Eutin nach Straßburg gekommen, und benützte nun diesen Aufenthalt, der mehrere Monate dauerte, um sich durch Professor Dr. Lobstein von einem langwierigen und lästigen Augenübel, einer Thränenfistel, heilen zu lassen. Er war es auch, der Goethe und einige andere Freunde mit dem englischen Roman „Der Landpriester von Wakefield“ „ durch selbsteigene Vorlesung der deutschen Uebersetzung“ bekannt machte. Dieses Umstandes gedenke ich hier nur darum, weil aus demselben die erste Veranlassung zu Goethe’s Besuch in Sessenheim hervorgegangen ist.

(Fortsetzung folgt.)

[456]

Verkommen und vergessen.
Literarische Erinnerung von F. Brunold.


Es war im Sommer des Jahres 1860. Ein dreiundfünfzigjähriger Mann kam aus dem Hause der Französischen Straße Nr. 52 zu Berlin und ging, zur meist menschenleeren Behrenstraße einbiegend, hinter dem Opernhause fort, über die Schloßbrücke entlang, wo er einen Blick zur genialen Schöpfung Drake’s auswarf – dem Museum zu. Seine Kleidung, wenn auch der Sauberkeit nicht ganz entbehrend, war abgetragen, während der Hut namentlich eine lange Dienstzeit verrieth. Sein Blick hatte etwas Scheues, wie denn auch sein Gang, trotz der sichtbaren Anstrengung sich gerad und fest zu halten, nicht frei von leichtem Schwanken und von Schwäche war. Man sah es: der Mann, Menschen und Umgebung scheinbar nicht beachtend, wollte selber nicht gesehen sein; man fühlte: er fürchtete mehr, Bekannten zu begegnen und sie zu treffen, als daß sein Blick, sein Auge Menschenhaß oder wohl gar die Sucht Böses zu verbergen verrathen hätte. – Das Auge, wenn auch ernst, war mild und sanft. Es war nur eben etwas Anderes in seinem ganzen Wesen, das ihn die Menschen meiden und fliehen hieß, ohne daß man dies Etwas auf den ersten Blick erkannt hätte, wenn es nicht die bleiche, abgehärmte Wange, der trotz aller Anstrengung nicht zu verbergende matte Gang verrathen hätte. Kummer und Sorge, Noth und Entbehrung, Täuschung und Hoffnungslosigkeit hatten die Wange gebleicht, das Herz matter schlagen lassen und ihn selbst zu einem Menschenmeider gemacht. Er hoffte auf keine Hülfe mehr – er hatte mit sich und mit der Welt abgeschlossen. Er war ein Gelehrter, ein Dichter, wie dies schon sein, an Sophokles erinnernder Kopf, wie dies der leuchtende Blick bekundete, mit welchem er die Marmorgestalten der Schloßbrücke streifte, sein Schritt, mit dem er dem Museum zustrebte; wenn er auch nur in der Stadt und Polizeiliste als Particulier T. A. Burghardt verzeichnet stand.

Und als er nun die Rotunde durchschritt, als er eintrat in die der Kunst geweiheten Hallen, die schönen Gestalten einer versunkenen, vergangenen Welt ihm entgegen leuchteten – da belebte sich sein Auge, es bekam einen eigenen Glanz, sein Herz bebte, wie neu verjüngt; er fühlte sich in einer andern Welt! Wieder und immer wieder durchschreitet er die Hallen. Und während er sonst, in den Tagen vorher, nur während der Mittagsstunde hier zu verweilen pflegte, ist es ihm heut, am dreiundzwanzigsten August, als könne er nicht scheiden, als nehme die ihn umleuchtende Pracht und Herrlichkeit ihn immer wieder auf’s Neue gefangen.

Alle Müdigkeit, alle Schwäche ist dahin; er fühlt nichts von irdischer Beschwerde. Langsam durchmißt er die Gänge. – Die Stunden fliehen dahin, das Museum soll geschlossen werden. Der Galeriediener zögert, es ihm anzuzeigen. War der Schauende doch in letzterer Zeit Tag für Tag gekommen, ein Mann, der, man sah es, keinem Kinde etwas zu Leide zu thun vermochte, ein Verehrer, ein Kenner der Gebilde, dessen Liebe, dessen Enthusiasmus Theilnahme und Liebe für ihn selbst geweckt hatte.

Wie aus einem Traum erwachend, starrte der vor der Polyhymnia Stehende den Diener an. Ein flüchtiges Roth der Verlegenheit färbte seine Wange. Hatte er nur geträumt? Hatte nicht Hebe, die Göttin der Jugend, ihm die Schale gereicht, Cypria holdselig gelächelt, Cynthia den Jagdspeer gehoben, während Dionysos jauchzend sein Trinkhorn schwang?

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, warf noch einen langen Blick auf die Göttergestalten, wie als nehme er einen ewigen Abschied von ihnen – und schritt zum Saal hinaus. Draußen aber, auf der obersten Stufe der Treppe stehend, blickte er hinab auf das Menschengewühl, auf das rege Treiben des Lustgartens. Es war ein gar eigener Blick, mit dem er das Ganze betrachtete. „Du schöne Welt!“ hauchte der Mund, und eine Thräne lief, wohl ihm unbewußt, langsam von der Wange herab. Sinnend stieg er nieder und schritt den Linden zu. Er schien jede Scheu, daß er irgendwie mit Jemand in Berührung kommen könne, abgestreift zu haben. Ehe er jedoch das Brandenburger Thor erreichte, trat er zuvor noch in einen Bäckerladen und kaufte sich für wenige Pfennige ein Semmelbrödchen. Auf einer einsamen Bank im Thiergarten verzehrte er es. Es war sein Mittagbrod, sein Frühstück zugleich, das Einzige, das er seit vierundzwanzig Stunden in den Mund genommen, wie es auch in den Tagen vorher geschehen war.

Der Volkswitz sagt: „Man geht nach Hôtel Thiergarten,“ während der kalte, lieblose Verstand entgegnet: „Warum arbeitet er nicht? warum kommt er nicht und heischt von uns eine milde Gabe?“ Niemand aber bedenkt und will es wissen, daß dem Dichter, dem Schriftsteller, dem Gelehrten, dem Dramatiker, wenn er die gewöhnlichen Heerstraßen des Literatenthums nicht breit treten hilft, wenn er eigene Bahnen zu gehen beabsichtigt, die meisten Thüren, wo nicht alle, verschlossen sind. Er ist ein Sonderling, heißt es, ein Starrkopf, und seine Eigenheiten, oft aus Mangel an Nahrung und Kleidung hervorgerufen, werden für Sonderbarkeiten, für Mangel an Lebensart erklärt.

Als es dunkelte, trat er in sein armseliges, unscheinbares Zimmer ein. Ein Brief war nicht gekommen. Nichts war für ihn gebracht worden. Die letzte Hoffnung war damit zu Grabe getragen! Milde, ermattet, wie noch nie vordem, ließ er sich auf sein Lager nieder. Der Körper war gebrochen, aber der Geist arbeitete in nimmer rastender Ruhelosigkeit in ihm. Er mußte an Hölderlin denken, dem er ja so geistesverwandt in seinen Gedichten, Lebensanschauungen und Träumen war. Stand auch ihm zur Seite der Wahnsinn bereits, oder war es nur Ueberreizung, die seinen Körper schüttelte? –

Sein vergangenes Leben ging in einzelnen Bildern ihm vorüber. Die Erinnerung hatte sie wach gerufen!

Was giebt dem Dichter seine hohe Heiligkeit?
Er trägt den Dank in seiner Brust, ihm ist’s genug
Zum Glück, daß er der Hörer bunten Kreis beglückt
Und, arm er selbst, wie nie der König spendete
Die Freude, die des Lebens Räthsel schön verklärt.

So hatte er einst gesungen. Wo aber sind die Hörer, die seinen Gedichten, seinen Schöpfungen lauschen oder jemals gelauscht haben? Wo sind die Freunde, die einst ihm nahe standen und ihm eine so schöne Zukunft prophezeiten? Die Studiengenossen – und Sie? –

Es ist Alles anders gekommen, als er gedacht hat!

Dort liegen seine epischen Gedichte, ungedruckt, im Fach. Das Papier ist vergilbt! Dort liegt sein Trauerspiel „Johanna Gray“, als Manuscript gedruckt, worauf er so viele, viele Hoffnungen gesetzt. O wäre dies sein Stück zur Aufführung gekommen! Hätte es gefallen, die Menge entzückt, die Kritiker befriedigt, wie so anders, so ganz anders hätte sich sein Leben gestaltet! So aber hatte keine Bühne es zur Darstellung gebracht. Vor sechs Jahren hatte er das Werk als Manuscript auf eigene Kosten drucken lassen; er hatte vielen Directionen ein Exemplar gesendet, berühmten Historikern des Dramas sein Werk persönlich überreicht – Alles vergebens! Man hatte die Schönheiten der Dichtung anerkannt – aber nichts für dieselbe gethan. Verstaubt, vergessen lag es auf dem Boden des Antiquars. Es hatte nicht einmal die Druckkosten eingebracht, die er dafür ausgegeben!

Aber der innere Drang, trotz aller Täuschung, hatte ihn nicht ruhen lassen. Ein neues Stück „Die Glocke“ war begonnen worden. Und als es vollendet war und er Niemand hatte, dem er dies sein Geistesproduct mittheilen konnte, da hat er es, wie Jean Paul der Rollwenzel seine Werke vorlas – seiner Wirthin, der Frau Savade, mitgetheilt, die es überaus zum Weinen gefunden. Das Manuscript fehlte ihm jetzt. Er wußte sich nicht zu entsinnen, wo es geblieben. – Wer besitzt es jetzt? Oder wie, ist es gänzlich verloren, oder vernichtet worden? Doch dort liegt sein schönstes, sein bestes Werk, seine „Iphigenia in Aulis“, das er mit seinem Herzblut geschrieben und mit dem er in stolzen, kühnen Träumen sich Goethe ebenbürtig erachtete! Vor wenigen Tagen erst hatte er es vollendet. Wie bangte, wie zagte er um dies sein Schmerzenskind; wie hatte er noch gehofft für dasselbe zu wirken! Briefe waren geschrieben worden. Es sollte nicht sein! Keine Antwort war auf dieselben erfolgt. Die Gedanken verwirrten sich in ihm, ein todtenähnlicher Schlaf legte sich auf ihn!

Als die Wirthin am andern Morgen in sein Zimmer trat, fand sie ihn krank, überaus krank.

[457] Er wurde nach dem katholischen Krankenhause geschafft, wo er am 5. September des Jahres verstorben ist. Die barmherzige Schwester, die ihn in seiner Krankheit gepflegt, ist bereits hinüber. Die Oberin des Hauses, des Sanct Hedwigs-Krankenhauses, M. A. Eschweiler, schreibt auf Anfrage: „Die Curkosten sind vom Secretair des Prinz-Regenten bezahlt. Der Verstorbene hat uns gegenüber nie etwas von irgend welchen Angehörigen geäußert, wie denn auch, unserem Wissen nach, sich Niemand derselben nach dem Verstorbenen erkundigt hat. Seine alte Kleidung hat die Armen-Direction empfangen. Sein Grab ist auf dem städtischen Kirchhofe!“

In den Zeitungen hieß es nach seinem Tode: er ist verhungert. Und damit war er vergessen – und abgethan! Welche Literaturgeschichte, welches Lexikon erwähnt seiner?

Nach dem Tode Burghardt’s ist zur Frau Savade ein Gerichtsdiener in Begleitung eines fremden Herrn gekommen – sie haben gewissermaßen Inventur von der Hinterlassenschaft gemacht. Wer war der Herr? Wie kam der Prinz-Regent, der jetzige Kaiser und König darauf, sich für den Armen zu interessiren, ja sogar, wie verlautet, die Schulden des Verstorbenen berichtigen zu lassen? In den vor Kurzem bei Reclam junior in Leipzig erschienenen, unbeachtet gebliebenen epischen Gedichten Burghardt’s findet sich: „Ein Festspiel, gedichtet bei Gelegenheit des Einzuges der Prinzeß Victoria in Berlin, im Januar 1858.“ Hatte dies die Veranlassung zu dem Erwähnten gegeben; hatte dies, wie verlautet, den Kronprinzen bewogen, sich, wenn auch zu spät, für den Dichter zu interessiren? Oder hatte es nur der Zufall, der ja oft so sonderbar spielt, veranlaßt?

Die „Johanna Gray“ ist im Buchhandel nie erschienen, auch bei Antiquaren nicht mehr aufzutreiben. Die „Iphigenia in Aulis“ hat Professor Rötscher in seinen „Dramaturgischen Blättern“ veröffentlich, 1865, aber ohne Erfolg, denn die Blätter wurden unter dem neuen Titel: „Dramaturgische Probleme“ noch einmal auf den Büchermarkt gebracht; erst mit gleich ungünstigem Erfolg. Wo der sonstige literarische Nachlaß Burghardt’s geblieben, ist nicht bekannt.

Möchten diese Erinnerungen zu seinem Auffinden beitragen und den Burghardt’schen Werken ein Herausgeber werden, wie er jüngst den Grabbe’schen geworden.

Gleich nach dem Tode Burghardt’s wurde ein Gedicht aus Potsdam eingesendet. Ein Freund des Verstorbenen ließ es, groß und schön geschrieben, unter Glas und Rahmen auf das Grab legen, wo es lange Zeit von Besuchern des Armenkirchhofes gesehen und gelesen wurde. Im Liede hieß es:

Kühn rang der Arme nach des Ruhmes Kranz –
Und tiefe Noth nur war des Kampfes Preis.
Nicht seinem Staub, nein, seinem Dichtergeist
Gebt reuevoll das heil’ge Lorbeerreis.

Gänzlich verfallen, der Erde gleich liegt das Grab. Das erwähnte Gedicht ist längst verschwunden, wogegen jetzt in den Pfingsttagen ein Lorbeerkranz auf dem Grabe ruhte. –

Georg Theodor August Burghardt wurde am 23. November 1807 zu Lehndorf im Braunschweigschen geboren, wo sein Vater ein wohlhabender Gutspächter war. Er erhielt eine vorzügliche Erziehung. Sein Umgang mit Altersgenossen war ein gewählter, wie denn z. B. Generalstabsarzt Dr. Grimm einen Theil seiner Jugend im Burghardt’schen Hause zubrachte. Seine eigenthümliche geistige Richtung ließ ihn frühzeitig eigene Bahnen betreten, die ihn oft in die Nähe höchster Ziele führten, aber auch in mannigfache Mißgeschicke verwickelten. Sein ansehnliches Vermögen verwendete er auf das Studium der Griechen und Engländer, namentlich Shakespeare’s. Die Frucht dieser Studien waren Bilder, Gleichnisse und metaphorische Ausdrücke aus Shakespeare’s Dramen, fünf Hefte, während in seinem Nachlasse sich in Form von Tageblättern „Studien über das Mystische im Goethe’schen Faust“ fanden. Wer hat das Manuscript?

Ein Jahr lebte Burghardt am Rhein auf dem Schlosse eines Hochgestellten in glänzenden Verhältnissen, worauf er 1857 nach Berlin übersiedelte. Er war längere Zeit Vorleser beim Gesandten Westmoreland.

Dann ist er verarmt, mehr und mehr – wodurch und wie, wird niemals ganz zu Tage kommen – bis der Hunger ihn tödtete. Das ist Thatsache, die niemals in Abrede gestellt wurde. Als sein schon erwähntes Festspiel nicht zur Darstellung angenommen wurde und er zwei Billets erhielt, um sich den Einzug ansehen zu können, ging er hin und verkaufte sie für zehn Groschen – um sich ein Essen dafür zu beschaffen. Genügt dies nicht?

Mit letzter Kraft dichtete er auf seinem Todtenbett die nachfolgenden Worte an Schiller, die hier Platz finden mögen, da sie bisher noch ungedruckt waren:

Einen Kranz, als Ehrenzeichen
Göttlicher Unsterblichkeit
Deines Namens, hat die Muse
Freudig dankbar dir geweiht.

Denn du hast, wie wenig andre
Sänger mich zu Dank verpflichtet;
Und der Majestät der Dichtung
Einen ew’gen Thron errichtet.

Alles Edle, alles Schöne,
Was der Götter Brust bewegt,
Jede Tugend, deren Pulsschlag
Sich im Menschenherzen regt –

Du hast sie erweckt, belebet,
Ihr Geheimniß uns entfaltet,
Mit dem Zauber schöner Dichtkunst
Sie in Menschenform gestaltet.

Neidisch floh von meiner Seite
Ueberall das falsche Glück
Und ließ, würdig dich zu lohnen,
Nichts in meiner Hand zurück.

Doch wie Zeus der Erde Güter
Theilte, hast du selbst gesehn,
Du, für den er seinen Himmel
Alle Zeit ließ offen stehn.

Warst du da mit deinem Loose
Doch zufrieden und beglückt,
Wenn dein Aug’ der hohen Götter
Vater auf dem Thron erblickt.

Wenn der Flügelschlag von deinem
Liede ihm um’s Haupt gerauscht,
Und die Menschen auf der Erde
Mit Entzücken dir gelauscht.

Doch was keine Macht der Erde,
Was kein König geben kann –
Hohen Ruhm, für ew’ge Zeiten,
Knüpf’ ich deinem Namen an.

Wenn je ein Verstorbener es verdient, daß seiner Werke gedacht werde, so ist es der Verfasser der „Iphigenia in Aulis“, der „Johanna Gray“.

Möchten die vorstehenden Zeilen zur Abtragung dieser Ehrenschuld beitragen.

Friede seiner Asche!




Blätter und Blüthen.

Die Kunst und die deutschen Industriellen. Durch den furchtbaren Schlag, mit dem die Deutschen die Franzosen von der eingebildeten Höhe ihrer politischen Stellung herabgeschmettert haben, ist auch ihre Industrie, die in Wirklichkeit auf der höchsten Stufe stand, sehr hart betroffen worden. Was der Krieg selbst nicht that, das vollführte die wahnsinnige Maßregel der Ausweisung aller Deutschen, worunter sich die besten Arbeiter jeder Art befanden.

Man knüpfte hieran in Deutschland überschwengliche Hoffnungen für die Industrie und glaubte mit den Arbeitern die Sache selbst in der Hand zu haben. Die Leute wurden gesucht, angestellt und sollten nun alle jene eleganten, reizenden Sachen liefern, die wir gewohnt sind, von Paris zu erhalten. Was jedoch zum Vorschein kam, war nach wie vor deutsch, urdeutsch, und die Herren Fabrikanten standen verblüfft und wußten den Grund dazu nicht zu finden, weil der Grund – in ihnen selbst lag!!

Ich habe diesen Mißerfolg einer Concurrenz, mit der französischen Industrie genau vorausgesagt, und sage hier nochmals, daß er so lange dauern wird, wie die Ursache davon besteht, und die Ursache sind nicht die Arbeiter, sondern die Fabrikanten selbst und ihre echt deutsche Gewohnheit, die Modelle und Entwürfe zu ihren Fabricaten von Pfuschern zu den möglichsten Spottpreisen herstellen zu lassen. So lange diese unselige Gewohnheit an unseren Fabrikanten haftet, wird unsere Industrie auch noch jene Masse plumper, geschmackloser Sachen liefern, welche das Auge mehr ärgern, als erfreuen. So lange die Fabrikanten an der Hauptsache, am Modell, sparen, werden wir weit hinter den Franzosen zurückbleiben.

Mag ein Pariser Fabrikant eine Tapete, eine Lampe, eine Zuckerzange oder sonst etwas fabriciren wollen, so geht er zu dem ersten Künstler, den es für dieses Fach giebt, läßt sich von ihm die Sache entwerfen und [458] zahlt, ohne zu handeln, jeden Preis, der verlangt wird. Man bewundert dann die Pariser Tapete wegen ihrer Farbenschönheit, ihrer reizenden Blumen und Figuren, man denkt aber nicht daran, daß man die Arbeit der ersten Künstler vor sich hat, die für ein Stück von einer Elle Breite und zwei Ellen Höhe vielleicht drei- bis vierhundert Thaler erhielten, was aber bei der Masse, die durch die Schönheit des Fabricats abgesetzt wird, gar nicht in Betracht kommt.

Ein solches Verschmelzen der Kunst mit der Industrie ist es aber nur allein, was den Franzosen die hohe Stellung darin verschaffte, wobei allerdings ihr natürliches Talent für schöne Form, Farbenreiz und Erfindung die Hauptfactoren waren und bleiben werden.

Wie unsere deutschen Industriellen bei der Bestellung von Entwürfen verfuhren und noch verfahren, will ich aus Selbsterlebtem erzählen.

Als ich in München wohnte, kam ich Abends sehr oft mit einem Tapetenfabrikanten zusammen, der immer über den schlechten Geschäftsgang klagte. Ich sah mir einst seine Sachen an und wunderte mich nicht mehr, daß Niemand etwas kaufte, sondern daß überhaupt Jemand von diesem Schund ein Stück gekauft hatte. Es war so plumpes, geschmackloses Zeug, von einer Farbenwirkung, die mich fast seekrank machte, daß ich mir eher mein Zimmer vom schlechtesten Küchenmaurer würde spritzen oder wörgeln, als mit solcher Tapete auskleben lassen. – Der Fabrikant forderte mich auf, ihm einige Skizzen für Tapeten zu entwerfen, worauf ich mit Vergnügen einging, denn ich besaß damals noch besondere Neigung, meine Phantasie für dergleichen Sachen in Bewegung zu setzen. Ich entwarf eine Tapete für ein Schlafzimmer, die eine Laube bildete, über welcher der Mond stand, auf den der Reflex der Nachtlampe fallen sollte. Drei Durchsichten zeigten eine Stadt, ein Gebirg und einen See. Das Ganze bestand aus sechs Stücken, wovon zwei zum Ausfüllen bestimmt waren. Dann entwarf ich noch Ideen zu Zimmern mit Medaillons, Schilf und Winden mit Libellen und Käfern und dergleichen. Ich brachte dem Mann die kleinen Aquarellskizzen in’s Wirthshaus, wo sie großen Beifall fanden, und die Ausführung wurde beschlossen. Der Fabrikant fragte, was ich für eine große ausgeführte Zeichnung verlange. Um einen Maßstab dafür zu finden, wünschte ich zu wissen, was die Herstellung einer Tapete, das heißt so und so viel tausend Stück eines Musters koste. Der Fabrikant erklärte uns, daß dies sehr verschieden sei, stellte aber als Beispiel auf, daß ihm circa dreitausend Stück einer mäßig hübschen Tapete etwa fünfzehnhundert Gulden Herstellungskosten und circa zweitausend Gulden Verkaufspreis tragen könne. Nach dieser Norm verlangte ich für das Original etwa vierzig bis fünfzig Gulden.

Der gute Tapetenfabrikant fiel vor Schreck beinahe unter den Tisch und fragte mich, ob dies die erste Maß Bier sei, die ich heute Abend trinke, oder ob ich vielleicht schon sechs bis sieben im Magen habe, denn ohne einen kleinen Rausch würde ich doch eine solche wahnsinnige Forderung nicht aussprechen.

Wir lachten Alle, und ein Freund von mir fragte, was der Tapezier in der Regel für ein Original zahle.

„Na, so a drei bis fünf Gulden lasse ich mir’s wohl kosten, aber a Null d’ran? – Nää! dös giebt’s nit!“

Und mit großer Entrüstung ging der biedere deutsche Fabrikant davon, fragte nie mehr einen Künstler nach Originalen, sondern ließ sich dieselben von Stubenmalern und Anstreichern für drei bis fünf Gulden zusammenpfuschen und machte nach wie vor Maculatur, die er gewiß noch macht, wenn er nicht zu Grunde gegangen ist.

Am schlimmsten ging es mir unter den Kaufleuten in Hamburg. Hier war offenbar ein großes Feld für industrielle Kunstthätigkeit und man war sehr geneigt, meine Bemühungen zu acceptiren. Die erste Bestellung erhielt ich von einer Rouleauxfabrik, der ich ausgeführte Aquarellen in der Größe der Gartenlaube für die Maler liefern sollte. Ich skizzirte mit Eifer Ansichten und Scenen von Helgoland und der Unterelbe mit Umgebung von See- und Wasserpflanzen, Vögeln, Krebsen und Fischen u. dergl. Nach jedem Original sollten für den überseeischen Bedarf circa tausend Stück gemalt werden, und als ich für die gut ausgeführte Zeichnung fünfundzwanzig Thaler verlangte, wollte mein Fabrikant aus der Haut fahren und zehn Mark (vier Thaler) geben. Ich berechnete dem Manne, daß bei tausend Rouleaux von meinem Originale zu fünfundzwanzig Thalern auf das Stück sieben und ein halber Pfennig käme. Der Fabrikant sagte, das ginge mich nichts an, und fuhr ab, um allen Bekannten zu erzählen, ich habe den „Knall“ bekommen. Die zwei Aquarellen, welche ich zur Probe machte, verkaufte ich später als Albumblätter.

Kurz darauf kam ein Cigarrenfabrikant, der runde Cigarrenkisten erfunden hatte. Er wünschte um diese Kisten Bilder in Farbendruck, welche sich auf das Cigarrenrauchen bezögen. Ich ging mit Eifer daran und schickte ihm ein Aquarell, wo ein Raucher im Grase liegt und träumend zu den blauen Rauchwolken aufblickt, welche seine Wünsche, hübsche Mädchen, Tanz, Pferde, Jagd etc., rund um die Dose bildeten. Zu gleicher Zeit bestellte ein großer Luxuswaarenfabrikant ein Placat, mit seinen Fabrikaten geziert. Auch diese mühsame Arbeit lieferte ich bald ab, hörte aber nichts mehr davon, als bis ich beide Bilder gedruckt im Handel erblickte. Nun glaubte ich, es sei Zeit, mein Honorar einzuholen, und ging zu den Leuten. Beide waren ganz außerordentlich erstaunt, daß ich auch noch Geld für meine Entwürfe haben wollte, „da sie dem Lithographen und Drucker schon eine horrende Summe hätten zahlen müssen.“ Ich erhielt nur mit Mühe eine Kleinigkeit und einige Waaren, die ich sogar später bezahlen sollte. Weitere Fälle der Art ließen mich den Schwur thun, jeden Hamburger die Treppe hinunterzuwerfen, der etwas bei mir bestellen wollte.

Aehnlich ging es mir mit einem Fabrikanten in Wien, welcher Entwürfe für Neusilberwaaren haben wollte. Ich machte Zeichnungen zu Punschlöffeln, Fischkellen, Leuchtern, Prachtsalzfässern u. dergl. und legte dieselben vor. Der Fabrikant war damit vollkommen zufrieden und fragte nach dem Honorar, wobei er schon seine Brieftasche herauszog. Ich verlangte für jede Zeichnung zehn Gulden und stellte diesen niedrigen Preis mit der Bedingung, daß ich von jedem Stück ein fertiges Exemplar erhalte. Das Ende der Sache war wie bei allen deutschen Fabrikanten, mit denen ich bisher zu thun hatte. Ein Gebot von drei Gulden für die Zeichnung und keine Idee von einem Exemplar. Einige zwanzig solcher Fälle haben mir alle Lust zu dergleichen Arbeiten geraubt und mich dahin gebracht, einem deutschen Fabrikanten gar keine Antwort mehr auf eine Anfrage wegen neuer Ideen zu geben, denn der Erfolg ist doch immer wieder lächerliches Sparen an der Hauptsache, ohne welche gar nichts hergestellt werden kann.

Diese Knauserei hat aber nicht nur die Verschlechterung der Erzeugnisse, sondern auch die Mißachtung des Eigenthumsrechtes zur Folge gehabt, denn die sparsamen Leute kamen bald dahin, gar kein Honorar mehr zu bezahlen, sondern unsere Nachbarn einfach um ihre Modelle zu bestehlen. Einmal moralisch so weit gesunken, war bald Niemand mehr seines Eigenthums an Mustern sicher. Ich kann Beispiele der schamlosesten Musterdiebstähle anführen, die eben so hart bestraft werden sollten wie jeder andere gemeine Diebstahl und deren Grund nichts anderes ist als die Honorarscheu und der Abgang des Kunstsinnes dieser Sorte von Fabrikanten.

Was für monströse Geburten unsere Handwerker oft ohne Beihülfe von Kunstverständigen zur Welt bringen, davon liefert der scheußliche deutsche Musterhut und der lächerliche Kaisermantel den schönsten Beweis. Wenn die deutschen Moden, welche jetzt Schneider und Putzmacherinnen ausbrüten, ebenso ausfallen, dann werden wir das Bischen Respect, welches wir uns jüngst durch das Gewehr erworben haben, durch unsere Röcke und Hüte bald wieder einbüßen und zur Erheiterung unserer Nachbarn beitragen. – Deshalb, ihr Herren Fabrikanten, keine Honorarscheu und die besten Kunstkräfte zur Sache!

C. Reinhardt.

Der Postillon von Lonjumeau. Volle sechszehn Tage waren wir schon auf der faulen Haut in Longpont gelegen und hatten uns die Zeit mit Dreschen, Knöpfeputzen, Hemdflicken und anderen sehr nützlichen Beschäftigungen vertrieben; da kam eines Tages Befehl, wir sollten nächsten Morgen acht Uhr auf dem großen Plateau vor Lonjumeau zur Parade aufgestellt sein. Lonjumeau, der Geburtsort des berühmtesten und schönsten aller Postillons, der Schauplatz seines Liebes- und Treuebruchs, seines Verraths an der allerliebsten Madeleine, die den allzu Pfiffigen freilich noch pfiffiger wieder in ihre Ketten zu schlagen wußte! Es war begreiflich, daß ich mit Vergnügen die erste beste Gelegenheit ergriff, das berühmte Städtchen kennen zu lernen. Diese Gelegenheit sollte sich mir heute bieten, denn bei der Parade hatte ich nichts zu thun. Eine ziemlich genaue Kenntniß der französischen Sprache nämlich, sowie ein gewisser angeborener Spürsinn, verborgenen Dingen auf die Fährte zu kommen, hatten mir eine ganz eigenthümliche Stellung und mit ihr zugleich bei der Division den Namen „Räuberhauptmann“ eingetragen: ich hatte, um es kurz zu sagen, für alle Bedürfnisse des Magens und der Kehle, für Essen und Trinken, Wohnung und Holz, Heu und Stroh zu sorgen, was meinem Leben im Felde mitunter einen wahrhaft abenteuerlichen Anstrich gab. Heute nun wollte ich als „Räuberhauptmann“ eine größere Entdeckungsreise auf verborgene Weinkeller unternehmen, ließ daher zeitig meinen „Jagdwagen“ einspannen und wollte eben mit meiner „geladenen Deckungsmannschaft“ abfahren, als mich unser Regimentsarzt noch einmal anrief:

„Wohin denn?“

„Auf Requisition, Herr Regimentsarzt.“

„So. Sie, R., Sie könnten mir ’nen kleinen Gefallen thun.“

„Sehr gerne. Womit denn?“

Der „Gefallen“ war wirklich sehr bescheiden – ich sollte auf der Rückfahrt in Lonjumeau mich nach dem Wirthshause erkundigen, in welchem der treulose Chapelou seine niedliche Wirthin geliebt und verlassen haben soll und das noch heute mit dem Schilde „Au Postillon de Lonjumeau“ geschmückt ist, und von dort irgend ein kleines Andenken, sei es in Gestalt einer Speisekarte oder in Form der Etiquette einer zerbrochenen Weinflasche mitnehmen, unter allen Umständen mußte die Firma „Au Postillon de Lonjumeau“ auf dem Gegenstande gedruckt zu lesen sein, um dessen Echtheit vor Jedermann auf das Unzweifelhafteste zu bekunden. Ich versprach mein Möglichstes zu thun, und fort ging’s. Ich aber auf dem Wagen sang lustig vor mich hin:

Fuhr er durch Dörfer oder Städtchen,
Klang seines Posthorns munt’rer Ton,
Dann flog das Herz der schönsten Mädchen
Rasch im Galopp mit ihm davon.
Hohohoho! wie schön war so
Der Postillon von Lonjumeau!

Ich hatte Glück am selben Tage; ein ordentliches, wohlgefülltes Faß mit Wein lag bald hinten auf dem „Jagdwagen“, das Sitzkästchen war auch schon mit Flaschen gefüllt und zum Ueberfluß hatte ich noch einen Sack mit Hafer aufgespürt, der dem Fasse als willkommene Unterlage diente. Langsam und gemüthlich fuhren wir die große Pariser Straße gen Lonjumeau zu und erreichten endlich dieses selbst, das in einer reizenden Thalmulde gelegen einen lieblichen Anblick bot. Forschend suchten meine Augen nach dem Schild des Wirthshauses. Da, richtig, mitten in die Straße hing’s herein, und ganz deutlich war darauf zu lesen: „Au Postillon de Lonjumeau“

Absteigen und an die festverschlossene Thür pochen, war das Werk eines Augenblickes. „Nix, tout fort!“ entgegnete mir ein altes Männlein, das sich herzugedrängt hatte und mit Pantomimen seinem Reichthum an deutschen Worten Nachdruck geben wollte. „Teufel,“ dacht’ ich, „Niemand da, Alles aus dem Hause fort? da wird es mit meinem Versprechen schlecht ausschauen.“ Dabei knarrte das Schild über meinem Kopfe, an seiner Eisenstange vom Winde bewegt, lustig hin und her, als wollt’ es mich noch obendrein auslachen, und der gemalte Postillon schaute ganz vergnügt auf mich herab, als wollte er seiner Schadenfreude darüber, daß ich zu spät gekommen, rückhaltlos [459] Ausdruck geben. „Halt, das soll bestraft werden!“ Die Pferde einem der Begleitungsmannschaften übergebend, befahl ich einem andern Soldaten, mir zu folgen. Das Nachbarhaus stand offen. Ohne eine Silbe zu sprechen, stieg ich die schmalen Treppen hinauf unter’s Dach, von dort durch die Dachlucke hinüber auf das Dach des Wirthshauses, gelangte durch Ausheben mehrerer Ziegel ganz gemüthlich in dessen Dachboden und stieg von diesem wieder auf die einfachste Weise in den ersten Stock herab. Jetzt das Fenster auf und schon saß ich rittlings draußen auf der Eisenstange. Ruhig hakte ich das Blechschild los, denn auf nichts geringeres als dieses hatte ich’s abgesehen: das Schild mit dem darauf gemalten Postillon schien mir der beste Zeuge der Echtheit und zugleich das originellste Andenken, das nur zu denken war. Unten stand schon ein Haufen blauer Blousen, die mit Jammermiene dem Raube ihres Nibelungenschatzes zuschauten. Sie mußten große Stücke auf das Schild halten; denn immer größer und größer wurde der Haufen und die Schwatzhaftigkeit, die ihnen nun einmal angeboren ist, wuchs bereits zu einem ganz ansehnlichen Getöse an. Doch ich gab nicht viel darauf, ich kannte ihre Feigheit zu gut. Endlich hatte ich das Schild losgehakt; ich reichte es dem Soldaten, der mir nachgestiegen war:

Hohohoho! wie schön war so
Der Postillon von Lonjumeau!

sang ich, daß der Componist der reizenden Oper, Adam, gewiß mit mir zufrieden gewesen wäre; dann kletterte ich durch’s Fenster wieder in die Wohnung, schloß dieses und trat auf dem höchst gewöhnlichen Wege durch die Hausthür, die ich nunmehr von innen aufgeschlossen, auf die Straße. Sofort war ich umringt. Alle wollten zugleich Auskunft haben, was ich mit dem Schilde für Absichten habe. Auch der nie fehlende Dorfgeistliche frug mich wiederholt nach dem Zweck meines, wie er meinte, sehr frechen Raubes. Zu anderen Zeiten hätte ich jedenfalls nicht so viele Umstände gemacht, aber heute war ich gerade durch das Gelingen des kleinen Streiches in beste Laune gebracht und so erwiderte ich denn dem Volkstribun in der Geistlichentracht, daß mich Bismarck selbst beauftragt habe, dieses Schild abzunehmen. Er sei ein ungemeiner Verehrer der Oper „Postillon von Lonjumeau“ und wollte um jeden Preis das Schild haben. Da standen sie denn da und rissen die Mäuler auf, ich aber stieg rasch zu Wagen und schon eine halbe Stunde später hatte unser Regimentsarzt das „Andenken“ und ich ein sehr splendides „Extra“ in Form hochwillkommener Cigarren.

Etliche Wochen später war das kleine Schild mit einem Krankentransporte auf dem Wege nach München, gegenwärtig bildet es ein werthvolles Stück in der Requisitenkammer des Münchener Hoftheaters.

Ferdinand Rittinger, Corporal.


Die Wacht am Donaustrand.[1]

Was unsre Brüder tausendfach gesungen
Zu halten treue Wacht am deutschen Rhein,
Ihr schweres Hüteramt, es ist gelungen,
Nur wir, wir durften nicht im Bunde sein!
Doch fest, wie jene Wacht am Rheine stand.
Stehn wir als Wacht am deutschen Donaustrand.

Wir hielten stets getreu zu Oestreichs Fahnen,
Sein Glück und Ruhm erfüllte unsre Brust;
Doch, zwingt man uns mit Macht in andre Bahnen,
Wir sind darob uns keiner Schuld bewußt:
Die Schuld trägt unsrer Gegner Unverstand,
Und nicht die deutsche Wacht am Donaustrand.

Der freie deutsche Geist setzt sie in Schrecken,
Der deutsche Sinn für Freiheit und für Recht,
Drum suchen sie der Völker Haß zu wecken
Und führen gegen uns ihn in’s Gefecht;
Doch deutschem Willen hält ihr Wahn nicht Stand,
Er zittert vor der Wacht am Donaustrand.

Mischt sich in Deutschlands Sieges-Jubeltöne
Ein Klagelaut ob unsrem Mißgeschick,
Wir bleiben dennoch seine treuen Söhne,
Und kehren einst in seinen Schooß zurück
Nur dieser Aufblick zu dem Vaterland
Erhebt das Herz der Wacht am Donaustrand.

Wir schmieden hier des deutschen Geistes Waffen,
Wir warten treulich Wort und Wissenschaft,
Kampffertig gegen Junker, gegen Pfaffen
Und jeden Feind der deutschen Geisteskraft;
Uns sei die Wacht am Rhein ein Unterpfand
Des deutschen Siegs der Wacht am Donaustrand.




Vermißte Soldaten unseres Kriegs.

Wie gering auch die Hoffnung ist, daß über die aus dem letzten so mörderischen Kriege massenhaft Vermißten, nach Auswechselung fast aller Gefangenen, der Aufruf der Gartenlaube noch von Erfolg sein könne, so wollten wir doch unseren in so tiefer Trauer und Sorge lebenden Landsleuten den Wunsch nicht versagen, wenigstens einen Versuch in dieser Hinsicht zu machen. Es war aber des Raumes wegen geboten, uns dabei so kurz als möglich zu fassen, indem wir unsere Mittheilungen auf das Nothwendigste der Angaben beschränkten. Für heute führen wir folgende Namen auf:

1) Ernst Bernhardt Graichen, Sachse, aus Kolkau bei Rochlitz, ansässig in Niederelsdorf bei Lunzenau, beim k. sächs. 8. Inf.-Reg. Nr. 107, 2. Comp.; seit der Erstürmung von St. Privat, am 18. Aug., vermißt und nirgends gefunden.

2) Christian Paul Rottler, Baier, aus Gräfenberg, beim k. bair. 14. Inf.-Reg., 2. Comp.; bei Sedan, am 1. Sept. 1870, verwundet und seitdem verschollen.

3) Ernst Moritz Gentsch, Sachse, aus Sörmitz bei Döbeln, beim k. sächs. 8. Inf.-Reg. Nr. 107, 1. Comp. (2. Division, 24. Brigade); seit dem Ausfall aus Paris am 30. Nov. vermißt und beweint von seiner jungen Gattin, die seitdem Mutter geworden.

4) Gustav Waldenberger, Sachse, aus Leipzig, trat, noch nicht siebenzehn Jahre alt, als Freiwilliger zur Fahne, beim k. sächs. 8. Inf.-Reg. Nr. 107, 12. Comp.; letzter Brief vierzehn Tage vor dem 2. Dec. 1870, seit welchem er vollständig verschollen ist. Die Verlustliste (Nr. 3) führt nur seinen Namen auf, ohne Angabe ob er verwundet oder vermißt sei. Cameraden sagten aus, er sei am 2. Decbr. durch einen Schuß in den Unterleib verwundet worden. Ob er in französische Gefangenschaft gefallen oder in ein deutsches Lazareth gekommen? Um irgend eine Kunde über ihren Sohn bittet die untröstliche Mutter.

5) Robert Schwarzmann, Württemberger, aus Ulm, achtundzwanzig Jahre alt, beim württemberg. Geniecorps vor Belfort, kam schwer krank in’s Feldspital nach Dannemarie, das jedoch zwei Tage danach aufgelöst wurde. S. soll da nach Einigen in’s Preußische, nach Anderen in’s Badische geschafft worden sein. Alle Nachforschung vergebens.

6) Hermann Liebich, Preuße, aus Sprottau, Reg.-Bez. Liegnitz, beim k. preuß. 1. Niederschles. Inf.-Reg. Nr. 46, 5. Comp.; bei Sedan, am 2. Sept., verwundet und seitdem verschollen.

7) Karl Wollmann, Hesse, aus Holzheim, Amt Diez, bei der 4. Vierpfünder-Batterie des hess. Feld-Artillerie-Reg. Nr. 11, stand bei der 2. Munitionscolonne desselben; seit dem 1. Sept. 1870 verschollen.

8) Karl Pfister, Baier, aus Memmingen, beim 2. bair. Inf.-Reg. „Kronprinz“, 6. Comp.; schrieb am 21. Oct. 1870 zum letzten Male aus Orleans. Eine Sendung der Eltern von zwei Napoleonsd’or, am 1. Nov., an ihn, fiel wahrscheinlich in die Hände sog. „Universalerben“. Seitdem verschollen.

9) Heinrich Andreas Eppers, Braunschweiger, aus Gevensleben, Amt Wolfenbüttel, beim braunschw. Husaren-Reg. Nr. 17, 4. Escadron (4. Armeccorps); am 17. Nov. 1870 auf einer Patronille im Wald bei Marchefroy verwundet und seitdem vermißt.

10) Christian Heinrich Müller, Sachse, aus Beyerfeld bei Schwarzenberg, beim 5. k. sächs. Inf.-Reg. Nr. 104 „Prinz Friedrich August“ 12. Comp.; wahrscheinlich kurz vor dem 30. Nov. 1870 noch als Signalist verwendet, bei dem großen Ausfall aus Paris als angeblich leicht verwundet noch von seinen Cameraden auf dem Schlachtfelde gesehen, aber seitdem von seinem siebenzigjährigen Vater, einem armen Löffelarbeiter, und seiner jungen Frau und zwei Kindchen vergeblich in Noth und Kummer gesucht.

11) Wilhelm Klepper, Preuße, aus Alsbach bei Grenzhausen, Reg.-Bez. Wiesbaden, Amt Selters, beim hessischen Inf.-Reg. Nr. 83, 10. Comp.; bei Wörth am 6. August 1870 verwundet und seitdem nirgends aufzufinden.

12) Wilhelm Schulz, Preuße, aus Rohnberg bei Salzwedel in der Altmark, bei dem 2. Garde-Dragoner-Regiment, 5. Escadron; seit der Schlacht bei Mars-la-Tour vermißt.

13) Karl Hafner, Baier, aus Tittling bei Passau, Kanonier im 3. bair. Artillerie-Regiment, Batterie „Neu“, soll am 3. Dec. 1870 vor Orleans verwundet oder gefallen sein; den trauernden Eltern fehlt jede Nachricht über ihn.



Nachfrage nach dem weiland deutschen Bundes-Fürstenthum Liechtenstein. Drei wißbegierige Männer in Fulda erinnern uns an dieses seit dem Jahre 1866 verschollene deutsche Fürstenthum. Unseren eifrigen Nachforschungen ist es gelungen, die Spuren desselben im „Gothaischen Almanach“ wieder zu entdecken. Wir finden daselbst dieses Fürstenthum noch heute unter den souverainen Staaten der Erde, und den Fürsten Johann den Zweiten Maria Franz Placidus, geboren den 5. Oktober 1840, der Zeit seiner Thronbesteigung nach (1858) als den Dreiundzwanzigsten, in der Reihe der dermalen regierenden Häupter aufgezählt. Aus der diplomatisch statistischen Abtheilung dieses Almanachs erfahren wir, daß die seit dem 26. September 1862 constitutionelle Monarchie Liechtenstein noch immer ihren Regierungssitz in Vaduz hat, während die Residenz des Fürsten sich in Wien befindet. Die Zahl der fürstlichen Einwohner betrug nach der Zählung von 1867 beinahe achttausendvierhundert, die Staatseinnahmen sechszigtausend Gulden, die Ausgaben sechsundfünfzigtausend Gulden, Schulden giebt’s nicht. Für seinen Anschluß an den österreichischen Zollverein bekommt es jährlich ungefähr sechszehntausend Gulden heraus. Das ehemalige Bundescontingent, fünfundfünfzig Mann Infanterie, ist seit 1866 verschwunden und der Staat existirt nun ohne jegliches Militärbudget. Paradiesisches Dasein!

Ob der Bestand dreier monarchischer Souverainetäten deutscher Zunge – Deutschland, Oesterreich und Liechtenstein – auf die Dauer gut thun wird? Wir müssen’s eben abwarten. Bereits verräth eine sehr bedenkliche Stelle unseres Almanachs, daß man schon jetzt hinsichtlich der Nationalität die Liechtensteiner zu den Oesterreichern rechne.

[460] Indische Schiffhebung nach der Gartenlaube. Aus Batavia erhalten wir eine Nachricht, die besonders die große Anzahl unserer Leser erfreuen wird, welche s. Z. dem Taucherwerke, der Submarine und der Schiffhebung Wilhelm Bauer’s ihre rege Theilnahme zugewandt. Alle, welche damals zur Hebung des „Ludwig“ aus dem Bodensee beigesteuert, können, nach dem traurigen Schicksal all’ dieser Erfindungen in Deutschland, eine Genugthuung darin erkennen, daß ihre Opfer beigetragen haben, daß bei unseren Gegenfüßlern, in Niederländisch-Indien, unternehmende Männer es wagten, einzig nach den von W. Bauer und Fr. Hofmann in der Gartenlaube gegebenen Belehrungen über die Hebung in größere Wassertiefen versunkener Gegenstände mittelst luftgefüllter wasserdichter Hohlkörper (Fässer, Ballons) eine solche Hebung zu versuchen, und zwar mit Glück, wenn auch nicht mit dem gehofften Erfolg.

Eine belgische Fregatte, „Frederic“, auf der Fahrt von Schanghai nach Callao begriffen, wurde von den mit an Bord befindlichen Coolies bei Batavia in Brand gesteckt, brennend von einem Kriegsdampfer in die hohe See hinausgeschleppt und dort in den Grund gebohrt. Um dieselbe, ihrer werthvollen Ladung wegen, die man nicht völlig vernichtet glaubte, zu heben, wendete ein Herr Ed. Clermont sich an W. Bauer; der Brief ging jedoch verloren und die Unternehmer hielten sich allein auf die Gartenlaube angewiesen. Sie erwarben einen Taucherapparat, möglichst ähnlich dem dort beschriebenen, gebrauchten Malayen als Taucher, die bald sich als ganz vortrefflich erwiesen, und folgten genau der Schilderung der ersten Ludwigshebungen mittelst Fässern, die bekanntlich mit Wasser gefüllt von den Tauchern in die Tiefe geführt, am gesunkenen Schiff befestigt und dann durch Einpumpen von Luft vom Wasser entleert werden. Nachdem siebenundzwanzig Fässer zerplatzt waren, gelang es dennoch, das Schiff zu heben; doch war das Cargo vom Feuer zu stark beschädigt, um Kosten und Arbeit der Hebung zu lohnen.

Der Correspondent weist auf die vielfache, äußerst lohnende Anwendung des Bauer’schen Hebeapparats hin, auf die vielen mit kostbaren Werthen gesunkenen Schiffe und auf die Perlen- und Korallenfischerei, welche geradezu fabelhafte Summen als Gewinn abwerfen würden, – aber wo ist der Unternehmungsgeist, der die Capitale für solche noch außerhalb der Sicherheit der Erfahrung liegende Wagnisse aufwendet? Und böte man auch jetzt Hunderttausende dazu, für den armen Wilhelm Bauer selbst käme das Anerbieten zu spät: noch immer an den Rollstuhl gefesselt, ist er der Sclave seiner Krankheit, die ihm nur noch gestattet, seine geistigen Schätze, die reichen Erinnerungen und Erfahrungen in Wort und Bild seinen Zeitgenossen und der Nachwelt zu überliefern. Möge diesem Unternehmen des seltenen Mannes die Theilnahme des neuen großen Deutschland sich in recht reichem Maße zuwenden!


Gutenberg in Straßburg. Nachdem der Anschluß von Elsaß und Lothringen zur Thatsache geworden, dürfte es eine Aufgabe aller beim deutschen Druckwesen (Schriftsteller, Buchhändler, Buchdrucker etc.) Betheiligten sein, dahin zu wirken, daß an dem bei Gelegenheit des vierhundertjährigen Jubiläums der Buchdruckerkunst im Jahre 1840 dem Deutschen Gutenberg errichtete Standbild die französische Inschrift „Et la lumière fût!“ in das deutsche „Und es ward Licht!“ umgeändert werde. – Der Modelleur des schönen Standbildes, Pierre Jean David (einer der berühmtesten Bildhauer der neuesten Zeit), war zwar Franzose und hat in dem Straßburger Monument ein das Mainzer weit übertreffendes Kunstwerk geschaffen – das aber giebt durchaus keinen Grund, die den deutschen Mann verherrlichende Inschrift in einer deutschen Stadt verwälscht zu lassen. – Der Fall erregte schon 1840 den gerechten Unwillen so mancher Deutschen, welche der von der Stadt Straßburg so glänzend ausgestatteten Gutenbergfeier beiwohnten.
–n–.

Herr Thomas Braun, der vom Passauer Bischof entsetzte Priester, welcher seit unserm letzten kurzen Bericht über die ihm von seinen religiösen Gesinnungsgenossen dargebotenen Liebesgaben seinen Kampf gegen die Hierarchie beharrlich fortgesetzt hat, kann in der werkthätigen Theilnahme, die in recht erhebender Weise für ihn hervortritt, nur neue Ermuthigung für sein Streben finden. Die Gartenlaube ist in den Stand gesetzt worden, ihm abermals eine Summe von 160 Gulden 56 Kreuzern zu übersenden; diese Notiz diene zugleich den freundlichen Gebern als Dank und Quittung für die Einzelgaben, deren besondere Aufzählung sie uns gewiß gern erlassen.


Ein neuer Schwindel. Kaum haben wir dringend darum gebeten, der Sündfluth von „Felicitas“-Zusendungen Einhalt zu thun, so eröffnet sich schon eine neue Schleuße zu einer ähnlichen Ueberfluthung. Indeß – solchen Speculationen auf den Geldbeutel der Leichtgläubigen muß um so mehr mit allen Mitteln entgegengetreten werden, als leider Gottes in der That „die Dummen nie alle werden“. – Dieser jüngste Schlaukopf, welcher gegen Einsendung nur eines lumpigen Thalers die Erwerbung großer Reichthümer ganz unfehlbar zusichert, giebt als seine Firma an: „Buhring u. Sohn in Altona, Wilhelmstr. Nr. 77.“ Zuschriften von in das Geheimniß eingeweihten Einthalerleuten sind uns natürlich abermals willkommen.


Kleiner Briefkasten.

L. in M. Nur in den Hauptposten der Kostenaufstellung der Gartenlaube sind Sie mit einiger Sachkenntniß zu Werke gegangen; eine Menge Nebenkosten dagegen, die weit in die Tausende hineinreichen, sind entweder ganz übersehen, oder doch so niedrig angeschlagen, daß man Ihrer Calculation wohl ansieht, wie wenig vertraut Sie mit dergleichen geschäftlichen Dingen sind. Urkomisch ist Ihre Zusammenstellung des kolossalen Gewinns der Gartenlaube! Erlauben Sie uns, Ihnen einige kleine Irrthümer und Rechenfehler nachzuweisen; vielleicht dürfte dann das Facit Ihres Exempels etwas anders lauten.

Zuvörderst wird der Verlagshandlung, wie Sie auf Befragen von jedem Sortimenter erfahren konnten, das Exemplar der Gartenlaube nicht mit 2 Thalern, sondern nach Abzug des Rabats, Meßspesen und der für Amerika geltenden höheren Rabatte, im Durchschnitte nur mit 1 Thaler 9 Neugroschen pro Jahrgang bezahlt. Das reducirt schon Ihren angeblichen Gewinn bei einem Absatze von nur 300,000 Exemplaren um die Kleinigkeit von circa 210,000 Thalern.

Sie haben weiter ganz und gar vergessen, daß die Verlagshandlung genöthigt ist, den Buchhandlungen und sonstigen Agenten ihres Unternehmens auf 10 abgesetzte ein Freiexemplar zu liefern, was bei einem Absatze von 300,000 wieder 29,000 Freiexemplare im Werthe von 36 bis 38,000 Thaler giebt. Auch diese Kleinigkeit wollen Sie gefälligst von dem „kolossalen Gewinn“ abziehen.

Von weiteren kleinen Posten, die Sie mit oder ohne Absicht übersehen, möchten wir vorläufig nur einen einzigen aufführen, der selbst Sachverständige überraschen dürfte. – Bei der Herstellung auf Schnellpressen werden bekanntlich eine Menge Bogen theils verdruckt, theils beschmutzt, theils zerrissen oder in anderer Weise unbrauchbar gemacht. Um eine bestimmte Auflage complet herzustellen, wird deshalb dem Drucker eine kleine Anzahl Bogen über die Auflage bewilligt, als sogenannter Zuschuß, und zwar ein Buch auf ein Rieß Druck. Bei der Riesenauflage der Gartenlaube beträgt dieser kleine Zuschuß wöchentlich sechs einfache oder drei Doppelballen im Werthe von 195 Thaler, jährlich also für 10,140 Thaler an Maculatur, dessen Wiederverkauf, da diese Bogen selbst als Maculatur schwer zu verwerthen sind, nur circa 1000 Thaler ergiebt. Vielleicht bringen Sie auch diese Bagatelle von 9100 Thaler noch in Abzug.

Im Ganzen dürften eben weder Sie, noch überhaupt das lesende Publicum einen klaren Begriff von den Herstellungskosten eines Unternehmens haben, das – mit Ausnahme der Sonntage – täglich, inclusive Umschlägen und Extrabeilagen, über neunhundert Thaler Papier (jährlich 34 Millionen Bogen), an Druck täglich 190 Thaler und eine Masse Nebenspesen verzehrt, die selbst sonst gut unterrichtete Buchhändler kaum den Namen nach kennen. Wenn freilich die Resultate eines Journalunternehmens ohne Inserate nach den Gewinnabwürfen von billigen Buchspeculationen calculirt werden, dann müssen nothwendig Erträge sich herausstellen, die eine nähere Prüfung als vollständig unrichtig und übertrieben erweist. Wir hoffen übrigens schon nächstens durch eine ausführliche Schilderung unseren Lesern eine klare Vorstellung von der Herstellung und dem Kostenumfang einer Gartenlaubennummer geben zu können.

G. R–m in D–rf. Dergleichen Ansichten existiren allerdings, wie denn z. B. auf Veranlassung eines während des letzten Krieges in Frankreich thätigen Mitgliedes des Johanniterordens sämmtliche Grabstätten der in den Kämpfen vor Paris gefallenen deutschen Krieger auf den Friedhöfen der Orte Vaujour, Souilly, Penchard, Claye, Noisiel, Juilly, Horcy, Meaux und Annet gezeichnet und photographirt worden sind. Namentlich die Hinterbliebenen der vom 12. Armeecorps Gefallenen dürfte diese Nachricht interessiren, um so mehr, als der Preis der Blätter (fünfzehn Neugroschen für Quart-, drei Neugroschen für Visitenkartenformat) ein äußerst geringer ist und der ganze Erlös (nicht der Reingewinn) der Invalidenstiftung zufließt. Erschienen sind die Blätter bei Carl Burow in Glauchau.

S. in Zürich.’ Die Dalp’sche Buchhandlung in Bern hat in dem Prospect der „Illustrirten Schweiz“ einfach aufgeschnitten. Die Gartenlaube erfreut sich in der Schweiz einer großen Verbreitung, aber sie hat niemals mehr als ein Dritttheil der von Dalp angegebenen Anzahl dorthin versandt. Wie wäre auch bei der kleinen Schweiz ein Absatz von zwanzigtausend Exemplaren möglich?

Dem Sohne der treuen deutschen Ostmark. Wir ehren Ihre Bedenken bezüglich der Gefühle, welche den Kronprinzen von Sachsen und den General von Gablenz beim Durchreiten der Königgrätzer Straße beschlichen haben mögen, aber glauben Sie, daß der Berliner Einzug ohne Königgrätz überhaupt möglich geworden wäre?

G. in R–rg. Wenn wir auch recht gerne möchten, können wir Ihre Wünsche so rasch denn doch nicht befriedigen. Die Berliner Einzugsbilder, welche wir unseren Lesern und damit auch Ihnen zugesagt haben, sind zwar in Vorbereitung, doch werden bis zu ihrer Vollendung und Veröffentlichung immer noch einige Wochen vergehen.

M. B. in C. Geben Sie Ihre genaue Adresse an, damit wir Ihnen die „Reise-Erlebnisse“ wieder zur Verfügung stellen können.

D. F…haus zu B. Artikel unbrauchbar.



Zur Beachtung!

Nachdem der fünfte Nachdruck

des Jahrgangs 1870 der „Gartenlaube“
vollendet ist, stehen unsern Lesern, die noch nicht im Besitz dieses Jahrgangs sind, wieder Exemplare davon à 2 Thaler zu Diensten und können durch jede Buchhandlung bezogen werden. Wir brauchen nicht darauf aufmerksam zu machen, daß dieser Band eine Menge der interessantesten Kriegs-Illustrationen und -Schilderungen enthält.
Ernst Keil.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir empfingen obiges Gedicht mit folgender Zuschrift: „Der verehrlichen Redaction der Gartenlaube beehre ich mich, beifolgend ein Gedicht einzusenden, betitelt ‚Die Wacht an der Donau‘, welches von einem unserer Commilitonen gedichtet, bei einem Festcommerse der hiesigen Burschenschaft ‚Germania‘, zu dem sämmtliche deutschgesinnte Couleurs geladen waren, vorgetragen und mit ungeheurem Jubel aufgenommen wurde. – Da es uns von Interesse ist, daß unsere Brüder draußen ‚im Reich‘ wissen, von welchen Gesinnungen die deutsch-österreichische akademische Jugend beseelt ist, so haben wir beschlossen, dieses Gedicht der verehrlichen Redaction der Gartenlaube zur gefälligen Verfügung zu stellen.
         Im Namen der Burschenschaft ‚Germania‘ in Wien
              Hans Dauner, stud. jur.,
                   d. Z. Senior.“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: uuter