Die Gartenlaube (1871)/Heft 28

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[461]

No. 28.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Geheimniß des alten Kärner.
Von Emile Mario Vacano.
(Schluß.)


Marie schaute mit ihren ruhigen traurigen Augen von der Gräfin zu ihrem Vormunde hinüber und dann wieder zurück. „Eine Sünde?“ sagte sie. „Mein armer todter Papa hat mich Alles gelehrt, was er selber wußte: Sprachen, Erdkenntniß, Himmelskunde und die Wissenschaft der Pflanzen. Sonst hat er mich nichts gelehrt. Mit diesem Allen kann ich nicht mit der Welt leben, wohl aber für die Welt. Ich kann lehren – aber ich kann und – mag nicht vegetiren.“

„Vegetiren! Sie nennen es vegetiren, Fräulein, wenn Sie mit Menschen fröhlich sind, jung und liebenswürdig, wie Sie sind?“

„Pardon, Frau Gräfin! Papa hat mich Alles gelehrt, was er selber wußte. Aber er hat mich nicht gelehrt, die Menschen zu – lieben.“ Marie sagte das wieder in ihrer ruhigen Weise. Aber ihr Auge ruhte traurig auf einem unsichtbaren Gegenstande.

Die alte Gräfin hatte ein heftiges Zucken um den Mund. Sie war manchmal nervös. Und wie sie wieder ruhig schauen konnte, war eine wirkliche Thräne in ihrem Auge. Sie hielt Mariens Hand in der ihrigen. „Ihr armer Papa hat die Menschen nicht geliebt …“ sagte sie leise.

„Er hat sie auch nicht gehaßt,“ antwortete Marie ebenso. „Ich habe vorhin unter den Wissenschaften, die ich ihm verdanke, eine vergessen; neben den Sprachen, der Himmelskunde und der Erdkenntniß auch … die Menschenkenntniß.“

„Die Menschenkenntniß!“ eiferte Herr Volkner. „Das ist ja eben das Unverantwortliche bei der Sache! Dieses arme junge Ding da, Frau Gräfin, ist uralt gemacht worden in ihrem Innern! Sprechen Sie ihr von Illusionen! Und ich und meine alte kleine Frau, wir sind im Stande, uns heute noch einzubilden, wir hätten ein Kind, wenn Marie zu uns ziehen wird! Aber fragen Sie nach dergleichen bei diesem Mädchen! Nichts! Da bringt der Frühling die Raupen und der Winter die Fröste!“

Die Gräfin nickte ihm freundlich zu. „Ja!“ sagte sie. „Ja wohl. Fräulein Marie, ich darf Ihnen nicht mehr anbieten, mit mir zu ziehen, denn bei Herrn Volkner werden Sie eine zweite Elternstätte finden. Aber Ihren Plan dürfen Sie nicht ausführen. Ich sage Ihnen jetzt nichts mehr – denn ich sehe, daß Sie entschlossen sind. Und bei einem Entschlossenen verliert man die Stimme. Alles aber, was ich Ihnen jetzt gesagt habe, und meinen plötzlichen Einfall bei Ihnen nehmen Sie freundlichst als einen Beweis meines innigen Gefühls für Sie und meiner treuen Erinnerung an meine eigene Jugend, wo ich oft lachend mit Ihrem seligen Vater geplaudert habe. Sie werden also dieses Landhaus verkaufen? Ich erinnere mich, daß ich zwei Mal in diesem Zimmer hier gewesen war als Mädchen – noch mit meinem seligen Gatten, mit meinem seligen Vater, und …. wir nahmen einmal hier ein Goûter. Und“ – die Gräfin war nicht mehr so wachsbleich wie sonst, als sie dies sagte, sondern sanft geröthet – „und ich wollte Ihnen noch eine Frage stellen, mein liebes, liebes Fräulein. Hat Ihr Papa sich nie an mich erinnert in seinen letzten Tagen? Hat er – hat er nicht einen Brief an mich zurückgelassen? Sterbende … Sterbende haben manchmal solche Erinnerung, und … und er hat mir einst versprochen, nicht … nicht zu vergessen, mir noch einen … einen Gruß zu senden, wenn er … wenn er …“ Die Gräfin athmete schwer, als sie zu Ende sprach, immer schwerer, als sie von Niemandem unterbrochen wurde, und als sie in den Augen ihrer beiden Gesellschafter kein Aufblitzen des Verständnisses fand. Zuletzt verstummte sie mitten im Satze. Ihre Augen waren sehr hell und groß, ihr Profil sehr schlaff, und sie mußte ihre Lippen mit der Zunge befeuchten.

„Nein,“ sagte Marie, „nein, Frau Gräfin.“

„Nein!“ erhärtete Herr Volkner.

Die Gräfin lächelte. „O, man hat den Brief vielleicht nicht gefunden. Natürlich! Die Papiere eines Todten können erst langsam in Ordnung gebracht werden, natürlich! Und …“

„Pardon, Frau Gräfin!“ sagte Herr Volkner eifrig. „Aber die Papiere des Verstorbenen sind bereits alle geordnet und geschichtet. Heute eben habe ich das Geschäft vollendet!“ fuhr er ebenso fort. „Sie sehen hier den Papierhaufen auf dem Fußboden, der ist zum Verbrennen verurtheilt. Da aber sind Acten, Documente –“

Die Gräfin ließ einen raschen, gierigen, durstigen Blick über die Papiere laufen. Sie hatte dabei immer ihr schlaffes Profil, und ihre Zunge berührte ihre Lippen wiederholt. „O, natürlich!“ machte sie zum dritten Male, „wer gedenkt auch an Alles im Alter, in der Krankheit!“ – Sie faßte fest, fest die Hand Mariens, und ihre Lippen waren jetzt dicht aneinandergepreßt, wie vom innerlichen Weinen. Dann lächelte sie wieder ihrem eigenen Blicke nach, der durch das Zimmer flog bis in das Frischgrün der Fensteracazien hinein, wie ein Vogel, der sich verirrt hat. „Und dieses Landhaus wird verkauft – mit allen Möbeln, die es enthält?“

[462] „Ja wohl!“ sagte Herr Volkner. „Die Möbel apart, im Versteigerungswege, in sechs Wochen, denn wer würde die altmodischen Geräthschaften mit diesem schönen Hause vereinigen?“

„Wer?“ rief die alte Gräfin. „Ich! Ich kaufe Alles, aber unter der Bedingung, daß Alles unverrückt bleibe, wie es ist. Ich nehme Alles, um jeden Preis, Herr Bürgermeister, merken Sie sich das. Ich liebe dieses Landhaus, es paßt als Ausruhepunkt für das Schloß, und diese alterthümliche Einrichtung, Schrank für Schrank, Kästchen für Kästchen, muß bleiben, wenn der Eindruck des Ganzen nicht zerstört werden soll! Sie sind kein Maler? Aber Sie, mein liebes Fräulein, Sie verstehen mich, ich nehme Alles, Alles, so wie es ist.“ Sie hatte das hastig, eilig herausgesagt; dann, wie sie innehielt und Herrn Volkner erstaunt fragen hörte, und die Stimme Mariens wieder vernahm, erinnerte sich die alte Gräfin vielleicht daran, daß sie neben ihrer Vorliebe für das Malerische „des Ganzen“ im Gebäude auch noch eine andere Schattirung finden müsse, und sie setzte hinzu: „um alter Zeiten willen!“ –

Die Gräfin, Marie Kärner und Herr Volkner sprachen auf dem Wege bis zum Wagen noch Vieles, was man eben so zu sprechen pflegt. Die Gräfin ließ sich vom Herrn Bürgermeister versichern, daß sie als die alleinige Käuferin „des Ganzen“ anzusehen sei, sie lud Marie wiederholt auf ihr Schloß, und stieg endlich in ihren Wagen. Der blaulivrirte Bediente schloß den Schlag, der Kutscher zog die Zügel an, Marie und Herr Volkner verneigten sich, die Gräfin warf Grüße aus dem Wagen. Aber die Gräfin hatte noch immer nicht ihre gewohnte Wachsblässe erreicht, wie sie den Blicken der Nachschauenden verschwand.

Diese beiden Nachschauenden hielten die Hände über die Augen, denn die untergehende Sonne warf ihren grellsten blutrothen Glanz über sie, über das Haus sammt dessen lebendigen Blättergittern und über den ganzen Himmel, und in dieser blutrothen Abendsonne verschwand der Wagen. Die Beiden traten nun durch den Corridor in das Wohnzimmer zurück, wo sie das Gluthroth auf den Geräthen, im Getäfel, auf den Bildern und den Fensterscheiben wiederfanden. Die zerknitterten Papiere glichen einem Haufen dunkler Rosen. Ueber dem Schreibtische hing ein kleines Miniaturbild ihres verstorbenen Vaters, das jetzt wie ein Blutstropfen an der Wand klebte.

Während Herr Volkner wichtig über den Besuch plauderte, blieb Marie inmitten des Zimmers mit untergeschlagenen Armen stehen, und ihre schattenumdüsterten, sinnenden Augen waren starr auf diesen Blutfleck geheftet, der im Bilde war.

Plötzlich erhob sie ihre Hände zum Gesicht und fing bitterlich zu weinen an.

Herr Volkner hielt erschreckt im Reden inne; er stürzte auf das Mädchen los und stammelte hundert ängstliche, abgebrochene Fragen.

Das Mädchen legte ihr Gesicht an die Brust des alten Mannes und schluchzte fort. „Mir ist nur so schrecklich bang um’s Herz,“ sagte sie dazwischen hinein, halb unverständlich, „daß mein armer, armer Papa mit einem so schweren, belasteten Herzen sterben mußte! Er ist mit einem bösen Geheimniß auf der Seele gestorben! Ich hatte bis jetzt gedacht, das sei nun ewig ein Geheimniß zwischen seiner armen Seele und dem lieben Gott, aber von heute an, Herr Volkner, von heute an bin ich überzeugt, daß die Gräfin die Dritte dabei ist. Und wie ich das erkannte, da hat sich wieder mein ganzes Weh erneut. Papa ist so schwer gestorben.“

Herr Volkner sagte nichts darauf, er blieb still, er streichelte nur das arme blonde zitternde Köpfchen an seiner Brust mit seiner alten rauhen Hand. Er wußte die Gedanken der Waise, wie er dieselben schon am Todtenbette des Greises weinend getheilt hatte; er wußte, daß es ihr das Herz bedrücke, zu denken, ihr angebeteter Vater sei mit dem Gedanken an eine schwere, ungesühnte That friedlos aus dem Leben geschieden.




4. Verblühende Rosen.

Am andern Morgen war der Himmel umzogen, ein prophetischer Regenwind trieb den Staub der Landstraße und die Blätter der Gebüsche in die Höhe, die Blumen duckten sich. Marie Kärner hatte eben den Herrn Volkner bis zu seinem Wägelchen vor das Thor geleitet, und der hatte ihr beim Handreichen, während er den Zügel seines Bräunchens festfaßte, gesagt: „Also schauen Sie zu, liebe Marie, daß die alte Betti bis Nachmittags Ihre beiden Garderobekofferchen in Ordnung hat, dann hole ich Sie ab, Sie können um keinen Tag länger hier allein wohnen; wir sperren das Haus zu, der Gärtner Andres und der alte Diener Peter bleiben hier in der Gärtnerhütte zur Bewachung, die alte Betti bleibt bei ihnen, um ihnen die Kost zu bereiten, und Sie kommen Nachmittags mit mir. Meine Frau hat schon seit gestern an frischem Zuckerwerk gebacken für Sie; lachen Sie sie nicht aus deswegen, und essen Sie, auch ohne Gusto, es liegt nicht schwer im Magen, und es tröstet die alte Frau. Sie weint beim Backen über Ihre Verwaistheit, die sie mit Zucker zu versüßen meint: sie hat schon den dritten Zuckerhut in der Arbeit. Und – Marie, liebe Marie, bleiben Sie recht lange bei uns, bedenken Sie die Sache mit der Lehrerstelle noch. Ich muß Sie noch lächeln sehn!“

Der alte Mann sah Marie noch in demselben Augenblicke lächeln, wie er ihre Hand losließ und das Bräunchen antrieb. Ein anderes Mädchen hätte da geschluchzt vor Rührung, aber Marie lächelte; ihr Lächeln war wie Azur nach Sturmwolken auf ihrem ernsten, jungen, schönen Gesichte, es lag eine heilige, männliche Rührung darin, die wie ein Gebet aussah. Marie hatte einen Halt voller traurigmachender Menschenkenntniß, aber sie hatte jene trübumwölkte Menschenkenntniß von ihrem Vater gelernt, die nichts weiter verlangt, als ihre beiden Hände falten zu dürfen, um eine Menschenwange zu streicheln.

„Wie gut er ist!“ dachte sie mit einem Jubelgefühl in ihrem verwaisten Herzen.

Da der Regenwind sehr heftig war, hatte sie einen schwarzen Spitzenschleier um ihr Haupt gewunden, so schaute sie dem kleinen Gefährte nach. Dieses kleine Gefährt begegnete am Gartengitter einem Reiter. Dieser Reiter hielt sein rasches Fuchsroß an der Treppe still, ehe Marie sich dessen versah. Er sprang ab, band sein Pferd an ein Marillenstaket und verneigte sich vor Marien.

Marie war anfangs einen raschen Schritt zurückgetreten, so stand sie im Flur. Im nächsten Moment aber hatte sie ihren Schleier vom Haupte losgelöst und empfing ihren Gast.

„Sie entschuldigen mich, Herr Graf, für einen Augenblick,“ sagte sie. „Meine Diener sind im Hintertracte beschäftigt, und Ihr Pferd kann nicht draußen bleiben bei dem Regen, der im nächsten Augenblicke schon herabströmen muß.“

Ein Windstoß zerrte in diesem Augenblicke an den Acazienbüschen. Marie Kärner wies den Grafen höflich in das Wohnzimmer und verschwand dann einen Augenblick, um ihren Befehl zu geben. Wie sie wieder erschien, bemerkte der junge Graf, daß ihr blondes Haar gedunkelt war vom Regenschauer, welcher jetzt schwer niederzurauschen anfing, und daß sie rasch ihr schwarzes Tuch abwarf, welches wie welk war von der Nässe.

„Sie haben sich dem Regen ausgesetzt!“ sagte Graf Leon, welcher sie inmitten des Zimmers stehend erwartet hatte.

„O, es ist das so gut wie ein Trunk frischen Wassers!“ sagte sie. „Sie haben hier vor dem Regen Schutz gesucht, Graf?“

„Nein,“ sagte er. „Sie wissen wohl, daß ich jetzt Ihretwegen kommen darf.“ Es lag eine Milde in seiner Stimme und doch dabei eine Mannestiefe, die wie Bienensummen durch Lindenblüthen anmutete.

„Meinetwegen!“ sagte sie, und ihre Augen ruhten klar auf ihm.

Er trat ihr einen Schritt näher. Sie standen Beide inmitten des Zimmers. Sie hatte beim Eintreten eine Bewegung gemacht, wie um ihm das Niedersetzen anzubieten, aber jetzt waren sie Beide dem Ceremoniell entrückt, sie standen beisammen wie Kinder im Walde, welche die Arme feindlich vorgestreckt halten und dabei einander zu Hülfe rufen.

„Ja,“ sagte er. „Ist Herr Volkner, Ihr Vormund, nicht mehr hier, gnädiges Fräulein? Meine Mutter hat mich an ihn abgesendet, um ihn zu erinnern, daß er das Ausbotschreiben dieses Landhauses und die Versteigerung sistiren soll, da sie um jeden Preis Alles erstehen will, wie es da ist, nachdem es Ihr Wille ist, gnädiges Fräulein, sich dessen zu entäußern.“

„Herr Volkner ist nicht mehr hier, Graf, aber ich werde heute Nachmittag zu ihm übersiedeln, und werde ihn herzlich gern daran erinnern. Wie könnte auch darauf vergessen werden?“

„So habe ich hier nichts weiter zu thun, gnädiges Fräulein, als Sie um Verzeihung zu bitten wegen der Störung, die ich [463] Ihnen verursachte, und wegen der Ungelegenheit, an welcher ich unabsichtlich Schuld trug, und – und um Sie um Verzeihung zu bitten wegen des großen Ungeschickes, welches ich mir vor wenigen Monaten Ihnen gegenüber zu Schulden kommen ließ …“

„Sie nennen das ein Ungeschick, mein Herr?“

„Ich weiß nicht, wie es zu nennen ist, gnädiges Fräulein; ich weiß nur, daß es ein Unrecht war, und ich bitte Sie um Verzeihung. Ich habe durch meine Mama gehört, daß Sie diese Gegend zu verlassen gedenken, und ich – ich konnte nicht so von Ihnen scheiden …“

„Sie haben kein Unrecht gegen mich begangen, mein Herr. Ich wenigstens weiß nur von einem Scherze, von einem – Scherze, wie ein Adeliger ihn sich bald erlaubt gegen ein unbedeutendes Bürgermädchen.“

Der junge Graf trat flammenden Auges vor sie hin. „Sie sind kein Bürgermädchen!“ rief er. „Sie hätten sich sonst geberdet wie eine Verletzte; Sie sind von echtem Blute! Und ich, ich bin kein echter Edelmann, ich hätte sonst meiner Passion nicht den Zügel losgelassen bei einer Dame, die ich …“

„Mein Herr Graf …“

„Eh! Sie haben kein Recht, mir Schweigen zu gebieten, gnädiges Fräulein, wo ich mich anklagen will. Sehen Sie, ich bin erzogen in einer seltsam exclusiven Atmosphäre – mein Vater lehrte mich trinken und den Edelmann aus der Börse herauswerfen; meine Mutter wieder lehrte mich die Menschen unter uns achten, aber meiden. Sie pflegte zu sagen: ‚Die Berührung des Bürgers bringt uns Vortheil, aber wir vergelten ihn mit Undank, und das bringt uns Schande, und an dieser Schande wird einst unsere ganze Kaste zu Grunde gehen!‘ Man sagt, Sie hätten Ihre Jugend einsam verlebt, gnädiges Fräulein, ich habe die meinige im Trotz verleben müssen! Ich sah Sie als Knabe oft an Ihrem Gartenzaune sitzen; aber ich durfte ja nicht heran! Dann ging ich ‚studiren‘, wie man Genossen freihält und sich auf ‚Schläger‘ prügelt. Dann kam ich heim, und mein erster Blick galt dem Gartenzaune, wo jenes Kind gesessen hatte, meine Jugendgespielin, mit der ich nie spielen durfte, die aber dennoch meine Gespielin gewesen war, denn wenn ich mich als Kind einen Tag über danach gesehnt hatte, mit ihr zu raufen, dann kam sie im Traume an mein Knabenbett und legte mir Blumen in die Hände und auf den Mund … Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, aber ich habe als Kind oft mit Ihnen gespielt – im Traume.“

Der junge Graf schwieg. Marie schaute ihn an; ihre Augen waren noch rein und klar, aber der ernste Schatten des einsam gebliebenen Kindes lag über ihrem Gesichte wie ein Wolkenschatten.

„Dann sah ich Sie wieder; ich war ein langer Mensch geworden, und Sie waren ein liebliches Mädchen. Ich sprach einmal mit Ihnen dort am Anfange Ihres Gartens. Ein zweites Mal wurden Sie von Zigeunern verfolgt; ich jagte die Leute zurück. Wir waren bald los von ihnen. Sie standen neben mir und dankten mir und lachten über die überstandene Angst. Und ich –“ Graf Leon schwieg.

„Und Sie legten Ihren Arm um mich und küßten mich,“ sagte Marie mit brennenden Augen und zitternden Lippen. „Was lag auch daran?“

„Es lag daran!“ rief der junge Mensch heftig, fast zornig, „denn ich – Fräulein Marie, seien Sie mir nicht böse, aber ich liebe Sie, ich – ich dachte immer nur an Sie seit meiner Kinderzeit, und ich konnte nicht anders, als Sie lieb haben. Aber ich durfte Sie nicht küssen, denn meine Mutter ist unversöhnlich und stolz selbst gegen unsere Gleichgeborenen und um wie viel mehr erst gegen Alles, was bürgerlich ist. Und meine Mutter ist eine Frau, die beim Leben meines seligen Vaters wie eine Nonne vegetirte und die seitdem in immer tieferem Gram dahinsiechte; sie hat das Lächeln, die heiteren Reden Ihrer Hausfrauenstellung – aber sie hat einen unheilbaren Schmerz in sich. Ich fühle das, und deshalb habe ich mir geschworen, meine stolze arme Mutter nie zu kränken bis in’s Herz, und deshalb war es ein Unrecht und eine Beleidigung, gnädiges Fräulein, daß ich es wagte, Sie zu küssen; denn der Kuß ehrt nur die Braut, und ich – ich darf Sie ja nicht so lieben, wie – wie ich Sie lieben muß –!“

Graf Leon schwieg. Er hatte sehr rothe Wangen und seine Stimme zitterte. Er neigte sich über die Hand des Fräuleins, und diese legte ihre andere Hand leise, fast unfühlbar, auf sein Haupt. Ihre Lippen bewegten sich dabei, wie sie sich bewegen, wenn man Jemanden segnet oder wenn das Herz in Thränen überströmt.

Graf Leon war aus dem Zimmer schon lange verschwunden. Marie Kärner hatte ihm sagen wollen, er solle warten, der Regen rausche so heftig auf die unbeschützte Straße nieder; aber sie hatte es nicht gethan, sie hatte es nicht vermocht.

Graf Leon war auf seinem Rosse schon längst hinter dem Gitterzaune im Regennebel verschwunden, und Marie stand noch immer auf derselben Stelle des Zimmers, die Augen auf das kleine Bild ihres todten Vaters gerichtet, das jetzt im Regendämmern wie ein Schmutzfleck an der Wand dunkelte.

Nachmittags kam der gute Herr Volkner in einem lederüberzogenen Wagen, um seine Mündel abzuholen. Er selber hatte einen studentenhaften grauen Radmantel um. Sein Bräunchen wieherte den ganzen Rückweg über vor Ungeduld über das Nebelwetter und über die zwei Garderobekoffer hinter ihm, die sich ihm auf die Nerven legten.

Marie Kärner. hatte ein Handtäschchen im Schooße und in ihr Sacktuch eingewickelt das altmodische kleine finstere Bildniß ihres Vaters, auf welchem sein letzter Blick geruht hatte. Herr Volkner redete davon, daß seine alte Frau schon dreimal die Kaffeetücher gewechselt habe zum Empfange ihres lieben Gastes. Der Kutscher sang dem Bräunchen ein heiseres Hohnlied über die empört wackelnden Ohren hinüber, und der Regen plätscherte eintönig über dem Lederdache des Wagens, in welchem das unbeschützte Haupt der Waise einer fremden Zukunft entgegengerüttelt wurde.




5. Testamentsvollstrecker.

Schloß Lobenstein war ein altes Gebäude, aber im modernsten Stile renovirt. Es war ganz im Florenzer Geschmack der Medici gebaut. Galerien liefen rings um den Hof. An den unteren Simsen waren die Wappen der verschiedenen angeheiratheten Stämme angebracht, an den oberen Simsen Ritterbüsten und Ritterfrauenbüsten. Die Zimmer selber hatten noch den altflorentinischen Stil, aber sie waren von Mr. Jasmin möblirt.

Das intime Empfangszimmer der alten Gräfin war ein wahres Bijou in seiner Art, ein graues Tapetennest, mit hellgelben Seidenflaumen ausstaffirt. Die Gräfin in einem rosenfarbenen Mousselin-Deshabillé lag wie ein verwehtes Rosenblatt auf ihrem Sopha. Die alte Dame hatte soeben den Besuch ihres Sohnes gehabt. Der junge Graf hatte ihr le bon jour gegeben, und sie hatte ihm gesagt: „Und wenn Du in die Stadt hinüberkommst, Leon, erkundige Dich nach dem Befinden des Fräuleins.“

„Ah!“ rief Graf Leon, „Mama, ist das unbedingt nothwendig?“

„Mein lieber Sohn,“ sagte die Gräfin in ihrem südländisch sanften Französisch, „wir werden übermorgen Besitzer ihres Landhauses, und man muß ein Geschäft mit Artigkeiten maskiren.“

In demselben Augenblicke hatte ein Bedienter die Ankunft eines „Gespannes“ gemeldet und in zweiter Reihe die Ankunft eines Fräuleins, welches aus dem Gespann gestiegen war. Und er nannte den Namen des Fräuleins aus hochadeliger Dienerverachtung mit falschem Accente.

„Sie kommt, um mir die Condolenzvisite zu erwidern!“ sagte die alte Gräfin fast athemlos. „Sie kennt die Convenienzen, die Du ignoriren willst, Leon!“ Dabei war die alte Gräfin sehr blaß; sie war in eine sehr luftige Mousselin-Sommerwolke gekleidet und sah sehr bekümmert und ängstlich aus. Wie der Besuch eintrat, lag sie wirklich einem verwehten Rosenblatte gleich auf dem Sopha. Graf Leon hatte sich erhoben.

Marie Kärner, in einfache Cachemir-Trauerkleider gehüllt, das von der Hitze zerrüttete Haar aus ihrer Stirn streichend, trat ein. Man sagte ihr freundlichen Empfang, Marie erklärte, sie komme, um dafür zu danken, daß die Frau Gräfin so freundlich gewesen sei, und Graf Leon sprach etwas dazwischen hinein, endlich trat die Pause des Geplauders ein. Und während sowohl die Gräfin als Leon den Mund öffneten, um diese Pause zu brechen, begann Marie Kärner zu sprechen:

„Und nebenbei, Frau Gräfin, hat mich noch eine Pflicht hierhergerufen. Ein Vermächtniß, einen letzten Befehl meines Vaters möchte ich es nennen –“

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Die Kaiserstadt aus der Vogelschau. Nach der Natur aufgenommen von Adolf Eltzner.
1 Bahnhof der Ostbahn. – 2 Frankfurter Bahnhof. – 3 Andreaskirche. – 4 Schillingsbrücke. – 5 Thomaskirche. – 6 Görlitzer Bahnhof. – 7 Bethanien. 8 Michaeliskirche. – 9 Jannowitzbrücke. – 10 Waisenkirche. – 11 Parochialkirche. – 12 Klosterkirche. – 13 Rathhaus. – 14 Nicolaikirche. – 15 Waisenbrücke. – 16 Stadtvoigtei, Molkenmarkt. – 17. Königl. Mühlen. 18 Petrikirche. – 19 Louisenkirche. – 20 Spittelkirche. – 21 Spittelmarkt. – 22 Bankgebäude – 23 Werdersche Kirche. – 24 Werdersche Markt. – 25 Haupttelegraphenamt. – 26 Bauakademie. – 27 Das rothe Schloß. – 28 Werdersche Mühlen. – 29 Das alte Residenzschloß. – 30 Lustgarten. – 31 Dom. – 32 Museum. – 33 Packhof. – 34 Eiserne Brücke. – 35 Schloßbrücke. – 36 Zeughaus. – 37 Finanzministerium. – 38 Singakademie. – 39 Kastanienwald. – 40 Hauptwache. – 41 Universität. – 42 Platz am Zeughaus. – 43 Palais des Kronprinzen. – 44 Königl. Opernhaus. – 45 Hedwigskirche. – 46 Opernplatz. – 47 Königl. Bibliothek. – 48 Kaiserliches Palais. – 49 Standbild Friedrich II. – 50 Unter den Linden. – 51 Kunstakademie. – 52 Cavalleriecaserne. – 53 Dorotheenstraße.

[465] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [466] „Aber, Fräulein! Sie haben mir ja nichts gesagt von einem letzten Befehle Ihres Vaters … für mich …“

„Ich habe ihn auch erst erfahren vor drei Tagen. In dem alten Bibelbuche, in welchem er zu lesen pflegte und welches ich als ein heiliges Vermächtniß aus dem Landhause mit mir nahm, befand sich zwischen dem ledernen Einbande und dem angeklebten Titelblatte ein ein Brief, ein Brief an die Adresse meines Vaters.“ Marie Kärner schwieg. Sie hatte rasch, höflich, sehr erhitzt gesprochen.

Die Gräfin streckte ihre Hand aus und hielt das dargereichte Papier gefaßt. Sie hatte dabei sehr große Augen und wieder trockene Lippen. Aber sie zog den alten Brief nicht an sich, sondern sie mußte noch fragen: „Und in welchem Zusammenhange steht dieser Brief mit mir?“

„Das, Frau Gräfin, wird Ihnen vielleicht der Inhalt sagen.“

„Sie haben ihn also gelesen?“

„Ich mußte wohl.“

Mit diesen Worten neigte sich Marie Kärner zu der Hand der Gräfin nieder – rasch, wie unwillkürlich, und drückte einen Kuß auf dieselbe. Es glich dies seltsamer Weise keinem Acte der Demuth, sondern einer plötzlichen Regung des Edelmuthes von Seiten des jungen Mädchens; denn die Gräfin erröthete unter der Berührung bis in ihre hohe stolze Stirn hinauf.

Man sprach nur wenig mehr. Marie Kärner entfernte sich zur passenden Zeit. Die alte Gräfin und Graf Leon blickten aus dem Fenster ihrem einfachen Gefährte nach, bis es unter den wilden Kastanienbäumen der Allee verschwand. Es war ein drückend heißer Sommertag. Und doch athmete die alte Gräfin leicht und frisch. Ihre Hand lag auf ihrem Busenstreifen, welcher den alten Brief barg.

„Leon!“ rief sie. Graf Leon wandte sich bald um. Er erwachte gleichsam aus einem Traume. „Leon, willst du heute nach Tische deine Cigarre bei mir rauchen? Ich rauche mit Dir, denn sonst würdest Du nicht dazu zu bringen sein, Deine Siesta nach Gewohnheit zu halten. Du hast mich ja doch um etwas zu fragen, Leon.“

„Ich, meine liebe Mama? Ich wüßte nicht!“

Die alte Gräfin machte ein trauriges sinnendes Gesicht und sagte: „Nun, dann habe ich Dir etwas zu erzählen und Dich um etwas zu bitten.“ Sie stand dabei vor ihm in ihrer rosenrothen Mousselinwolke, mit den koketten dunklen Wellen um ihr freundliches altes Gesicht, und ihre Hand lag auf der seinigen.

Graf Leon küßte diese Hand und erwiderte einige kindlich bescheidene Worte.

Bienen und Fliegen summten um das offene Fenster. In der Küche prasselte das Feuer zum Diner unter Hackebegleitung. Der Kammerdiener Loj meldete mit einer Verbeugung, die Kammerjungfer Gusta wünsche sehnlich eine hochgnädige Aufklärung über das Zickzack einer neuen Kleiderfalbel für den Nachmittagsausfahranzug. Ein weißer Schmetterling verirrte sich für einige Secunden in das Zimmer. Das stille Schloß war so alltäglich und gewöhnlich wie immer.




7. Das Samenkorn des Geheimnisses.

Als Leon Stasingen Nachmittags in das Zimmer seiner Mutter trat, fand er dieselbe seiner wartend. Sie hielt ein Buch in der Hand. Vor ihr auf dem Tische lag neben einem Vasenhalse, in welchem eine schlanke sanftfarbige Irisblume welkte, der alte Brief, den an diesem Tage die verwaiste Tochter des alten Nachbars gebracht hatte.

Die geflochtenen Stroh-Jalousien des Zimmers waren halb herabgelassen und warfen flimmernde Lichtnetze auf den mit Bastmatten belegten Boden. Das Sonnenlicht ward dadurch gedämpft und die Temperatur im Zimmer behaglich. Keine Vögel sangen draußen, die Nachmittagsruhe hielt alle umfangen. Graf Leon küßte seiner Mutter die Hand und sprach von ihrem Befehle – lächelnd. Aber der Blick der Gräfin war sinnend und ernst und ein Schatten lag über ihrer Stirn wie der Widerschein eines Schmerzes oder einer Angst.

Und als dann ihr Sohn an ihrer Seite saß, legte sie für einen Augenblick ihr feines Taschentuch an den Mund und Graf Leon merkte, daß es stark nach Wohlgeruch duftete.

„Leon,“ sagte die Gräfin, „ich habe ernst mit Dir zu reden. Lange habe ich mich danach gesehnt, und habe ich mich davor gefürchtet. Es lag wie das Bewußtsein einer alten Schuld auf mir. Die eine Hälfte dieser Schuld will ich jetzt abtragen; die andere Hälfte …“ Die Gräfin schwieg einen Augenblick.

Graf Leon, verwirrt auf den Brief sehend, den seine Mutter jetzt zur Hand nahm, sagte: „Sie sind traurig, Mama!“

Die Gräfin fuhr fort: „Dieser Brief, Leon, ist ein Brief von meiner Hand, den ich vor vielen, vielen Jahren an Daniel Kärner geschrieben habe.“ Das Spitzentüchlein näherte sich wieder dem verstummenden schönen Munde, und in den Augen der alten Dame flimmerte es wie eine unterdrückte Thräne.

Leon Stasingen hatte seine Mutter nie weinen sehen. Er starrte auf. „Mama, mein Gott! Ein Brief von Ihnen an diesen Mann! Haben wir denn jemals mit diesem Hause in Verkehr gestanden? Haben unsere Familien einander jemals gekannt, oder – anerkannt?“ Die Aufregung in dem Wesen des jungen Grafen rührte vielleicht von seiner Bestürzung über den Ernst und die Traurigkeit seiner Mutter her, vielleicht auch bewegte ein anderes Erschrecken, eine andere jähe Hoffnung sein Herz.

Die Gräfin legte mit einer raschen Bewegung den Brief auf den Tisch, daß die Irisblume in dem Vasenhalse leicht erzitterte, und sagte mit gepreßter Stimme, hastig aufathmend, wie um eine Last von sich abzuwälzen:

„Höre mich an, mein Sohn. Jetzt, da das Geheimniß mit dem verstummten Munde des alten Mannes begraben ist, jetzt, da kein Hauch davon die Wände dieses alten Hauses mehr beflecken und den Lazur seines Wappens trüben kann, da das Geheimniß todt ist wie der verwehte Windhauch der Mitternacht, jetzt, wo ich froher und ruhiger sein sollte, jetzt drängt es sich gewaltsam empor aus meinem eigenen Herzen; ich muß es Dir vertrauen, wenn es mich nicht erdrücken soll. Denn ein Geheimniß ist wie ein begrabener Zauber. Erst wenn er tief genug verborgen und verscharrt ist, blüht er mächtig an’s Licht in einer geheimnißvoll nächtlichen Flamme.

Höre mich an. Unterbrich mich nicht. Als Mädchen schon liebte ich Deinen Vater – heiß, trotzig. Ich war ein verzogenes Kind, stolz und eigenwillig wie mein stolzer und eigenwilliger Vater. Wir waren herabgekommen. Mein Cousin, Graf Stasingen, war ein verschuldeter, bildschöner Officier. Er mußte die Armee quittiren wegen tausend kleinlicher Verbindlichkeiten. Das, was ich Dir jetzt erzählen will, wollte Dein Vater im Sterben beichten. Die Angst und das Gewissen hoben ihm die Brust wie ein Krampf und ließen ihn nicht sterben. Als er aber dem Priester seine Lippen öffnen wollte, schloß ich ihm dieselben mit einem Kuß der Angst und der Drohung. Ein Priester ist doch nur ein Mensch – es giebt Stunden, wo er trinkt. Dein Vater durfte das nicht beichten. Um ihm die Angst zu verscheuchen, gelobte ich ihm in’s Ohr, für ihn zu beichten – Dir zu beichten. Dein Vater starb da mit freierem Athem. Ich vollbringe jetzt diese Pflicht.

Ich liebte also deinen Vater, meinen Cousin, diesen quittirten verschuldeten Officier, bis – bis zum Heirathen. Aber wie heirathen? Er hatte Gläubiger, die ihm Straßenkoth nachwarfen, und ich und Papa waren im steigenden Sinken. – das war ein Sinken ohne Ende, – Das ‚Verlorensein‘ in Geldsachen giebt einen merkwürdigen Leichtsinn. Eines Tages sagte mir mein Cousin: ‚Adalie, der junge reiche Nachbar hier, der Daniel Kärn, oder wie er heißt, der heute bei uns seine Visite gemacht hat, ist ein kleiner Crösus; er hat einen Stall voll der schönsten Reitpferde, er führt Grooms und Jockeys. Wir können da ersparen, wenn wir manchmal seine Wagen zu Schanden fahren und seine Pferde reiten. Die unsrigen werden ja bald der … Restaurirung bedürftig sein. Mache, daß er sich in uns vernarrt.‘ Ich lachte über die Rede – sie kam mir echt französisch-bohèmenmäßig vor, und das hatte seinen Reiz. – Ich – machte, daß der junge Kaufmannsnabob sich in uns … in mich vernarrte. Die Söhne ehemaliger reicher Wirthsleute, Kaufleute und Fleischhacker glauben ja, uns gleich zu werden durch Goldsachen, Pferde und neue Stiefelchen. Sie nehmen unsere ironische Unterthänigkeit für Anbetung und Verblüfftsein. Sie erkennen nicht, daß ihre Goldketten wie plumpes Silber anmuthen, und ihre Brillantringe wie bleierne Jahrmarktsringelchen durch die Bewunderung, die sie selber diesen Dingen zollen. Daniel Kärner, ein ehrlicher, hübscher, goldkettenbehängter, diamantberingter, nach Gold unausstehlich riechender, braver junger Mann verliebte sich in mich. Und [467] Cousin Stasingen wurde sein lachender Camerad im Reiten und Fahren. Und eines Abends erbrach mein Cousin Stasingen die Casse des Kaufmannshauses Joh. Jakob Kärner.“

Graf Leon machte eine jähe Bewegung. Die Gräfin, ruhig wie eine Statue, erhob ihre Hand.

„Der Geist meines armen Gatten, Deines Vaters, hat jetzt Ruhe,“ sagte sie. „Ich habe die Beichte abgelegt – für ihn. Ein Sohn kann nichts thun, als seinen Vater lieben. Ein Fremder könnte ihn beschimpfen. Und das Geheimniß mußte emporblühen aus seiner Samengruft. Der Adel des Fehltritts ist der Muth des Geständnisses. Gott segne meinen armen Mann!“

Die Gräfin faltete die Hände über ihrem Sohne, der in seinem Fauteuil in sich selber zusammenfiel.

„Er war schön, jung, von überreichen Cameraden umschwirrt. Er verlor den Halt in sich. Es ist ein Fluch unseres Standes, daß wir die Armuth für eine Ungerechtigkeit halten. Wir glauben, Gott sei uns den Reichthum schuldig, wie der Bucklige grollend glaubt, er habe ein Anrecht auf die Schönheit gehabt.

Mein Cousin wurde bei seinem Fehltritte ertappt. Zuerst von dem alten Cassendiener, welcher die That sah und von dem Thäter verwundet wurde. Dann kam der Sohn des Hauses, der im Geschäftsgebäude schlief, dazu. Der ließ seinen ‚Freund‘ entkommen, mit den Worten: ‚Fliehen Sie vor der Strafe, da Sie der Schande nicht mehr entfliehen können.‘ Ich wußte Alles noch in derselben Nacht. Das Entsetzen über die That, aber noch mehr die Verzweiflung um den Geliebten[WS 1] meines Herzens, raubten mir fast den Verstand. Im Morgengrauen eilte ich an eine Stelle, wohin ich den Kaufmannssohn bescheiden ließ. Ich wußte, daß er mich liebe, und ich wußte, daß sein einfaches bürgerliches Herz treuer und echter und länger an mir hängen werde, als andere Herzen.

Ich beschwor ihn, meinen Cousin, meinen Namen, meine Familie vor der Schande zu retten. Ich faltete meine Hände, ich fiel auf die Kniee, und küßte seine Hand! Ich gestand ihm in meiner Verwirrung, daß ich ihn nie geliebt habe, sondern nur in meinem Vetter lebe mit Herz und Seele, und das, was jeder für eine Ungeschicklichkeit halten würde, wurde uns zur Rettung. Daniel Kärner weinte bitterlich. Ich sehe noch heute, wie der Diamantring an seinem Finger und die Goldkette an seiner Brust dabei vibrirten, diese beiden Dinge, um derenthalben ich ihn so verachtete! Er weinte bitterlich, und die Verzweiflung über sein verlorenes, zertretenes Herzensleben machte ihn toll. Was lag ihm über dem Grabe seiner Liebe an der Ehre, an seiner Zukunft, an seinem Leben! Es hat junge Männer gegeben, die sich tödteten aus Schmerzen über das Zerfließen einer ersten Illusion. Daniel Kärner that mehr. Die Sache war von seinem Vater bereits den Gerichten angezeigt. Daniel Kärner, den man allein neben dem bewußtlosen Diener gefunden hatte, gestand ein, die That verübt zu haben.

Die Sache wurde nun vertuscht mit vielen Kosten; aber der Makel blieb auf dem jungen Kaufmann. Man wies mit Fingern auf ihn. Er verließ die Stadt, das Land. Vor seiner Abreise schrieb ich ihm einen Brief. Mein vor Scham brennendes Herz dictirte ihn mir in die Feder. In diesem Briefe gestand ich der ganzen Welt die Verirrung meines Verwandten und den Edelmuth und die Unschuld des jungen Menschen. Daniel Kärner ging in ein fremdes Land, ohne von dem Briefe Gebrauch zu machen. Aber er sandte ihn mir auch nicht zurück. Er schrieb mir: ‚Ich behalte den Brief, denn ich werde ihn vielleicht einst für meine Kinder brauchen, oder für ein Ereigniß, welches ich voraussehe‘. Ich wußte, was er damit meinte; ich heirathete meinen Cousin, der Tod eines reichen geizigen Onkels machte uns reich, aber nicht glücklich; die Jugendsünde lastete auf dem Gemüthe Deines Vaters, er suchte sich zu betäuben. Nach dem Tode des alten Kärner, viele, viele Jahre später, kehrte Daniel in seine Heimath zurück, er brachte eine Frau und ein Kind mit, er verkaufte das Geschäft, denn der Makel war auf seinem Leben geblieben, und er zog in das Landhaus, wo er ein einsames Leben führte. Nur zweimal noch hat er das Schloß betreten, mit dem Briefe in der Hand; es war, als Dein Vater sich so stark betäubte, daß Daniel Kärner mich unglücklich wähnte. Kannst Du Dir ein edleres Herz denken, Leon? O Gott! ich habe ihn geliebt, geliebt, seit er fortgegangen war, es war eine Liebe, unerträglich in ihrer Reue, aber selig süß in ihrem stillen Cultus. Nun ist er todt, der Tod hatte ihn zu schnell überrascht, als daß er selber mir den Brief hätte zurückstellen können, heute hat ihn sein verwaistes Kind gebracht, sie kennt dessen Inhalt. Leon, du weißt, man hat deinen todten Vater für hochmüthig gehalten, aber sein Hochmuth war sein Gewissen. Du weißt, ich werde für hochmüthig gehalten, aber mein Hochmuth ist die Erinnerung. Und Du bist einsam erzogen worden – für denselben Hochmuth, Leon, für den Hochmuth der Demuth, die Du üben sollst. Leon! Marie Kärner, das Mädchen, dessen Kindheit durch unsere Schuld verdüstert und freudenleer geworden ist, ich möchte es glücklich sehen, ich möchte für sie sorgen dürfen Tag für Tag. Sie ist wohlhabend, aber freundlos; blühend, aber traurig. Ich möchte sie zu mir nehmen; ich werde mir schon ein Recht erdenken dafür, ihr selber gegenüber, daß sie kommen muß! Leon, willst du mir darin helfen. Willst du mich unterstützen in meiner Pflicht, in meiner Sühne, indem du Mariens Bruder wirst?“

Leon war schon längst vor seiner Mutter auf den Knieen gelegen, und hatte ihre Hände an seine Lippen gepreßt. Jetzt, wie ihre Hand halb bittend und halb segnend über sein Haar fuhr, schaute er zum ersten Male auf, thränenüberströmt, und durch diese Thränen lächelnd: „Aber, Mama, ich liebe sie ja – ich liebe sie unaussprechlich! Und ich glaube, sie – sie liebt mich wieder.“




Aus der Geschichte eines alten Pfarrhauses.
Vom Pfarrer Ferdinand Lucius.
(Fortsetzung.)


Ueber den „Landpriester von Wakesfield“, „welches Werk einen großen Eindruck bei ihm zurückgelassen, von dem er sich selbst nicht Rechenschaft geben konnte“, unterhielt Goethe sich eines Tages denn auch mit seinem Tischgenossen Weyland, „der sein stilles fleißiges Leben dadurch erheiterte, daß er, aus dem Elsaß gebürtig (er war aus Buchsweiler), bei Freunden und Verwandten in der Gegend von Zeit zu Zeit einsprach“, und erfuhr von demselben, daß „nahe bei Drusenheim, sechs Stunden von Straßburg“, eine Pfarrfamilie lebe, welche mit der von Goldsmith geschilderten in vielfacher Hinsicht die größte Aehnlichkeit habe. „So viel bedurfte es kaum, um einen jungen Ritter anzureizen, der sich schon angewöhnt hatte, alle abzumüßigenden Tage und Stunden zu Pferde und in freier Luft zuzubringen.“

Weyland mußte versprechen, ihn in dieser Familie einzuführen, und es wurde alsobald beschlossen, den Ausflug nach Sessenheim ohne alles Zögern zu unternehmen. Aber auch diesmal konnte Goethe seiner „von Jugend an, selbst durch den ernsten Vater in ihm erregten Kunst sich zu verkleiden“ nicht widerstehen; mittelst eigener älterer und einiger erborgter Kleidungsstücke, sowie durch die wunderliche Weise sein Haar zu kämmen, wußte er sich das Aussehen eines ärmlichen Studenten der Theologie zu geben. An einem der ersten Octobertage, bei herrlichstem Wetter und in der heitersten Laune ritten beide Freunde auf der Landstraße dahin, und Weyland konnte sich oft des Lachens nicht erwehren, wenn Goethe, der gewandte Reitersmann, „solche Figuren, die man lateinische Reiter nennt, nachzuahmen wußte“. Wohlgemuth kamen sie in Sessenheim an, „ließen ihre Pferde im Wirthshaus stehen und gingen gelassen nach dem Pfarrhofe“. „Laß Dich,“ sagte Weyland zu Goethe, indem er ihn das Haus von Weitem zeigte, „laß dich nicht irren, daß es einem alten und schlechten Bauernhause ähnlich sieht, inwendig ist es desto jünger.“

Pfarrer Brion war allein zu Hause, bald aber erschien die Mutter und kurz nachher die älteste Tochter, Beide auf ihre Weise und in ihrer Art angelegentlich, ja ängstlich sogar, nach Friederike sich erkundigend. Goethe’s Neugierde wurde im höchsten Grade gespannte; endlich kam auch sie, die Heißersehnte, und – „da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern [468] auf“. Die Schilderung des achtzehnjährigen Mädchens, die Goethe nach einem Zwischenraum von vierzig Jahren so meisterhaft entworfen, darf hier doch wohl nicht fehlen; um so weniger, da wir außer derselben kein anderes authentisches, aus jener Zeit stammendes Portrait von Friederike besitzen.

„Ein kurzes, weißes, rundes Röckchen mit einer Falbel, nicht länger, als daß die nettsten Füßchen bis an die Knöchel sichtbar blieben; ein knappes weißes Mieder, und eine schwarze Taffetschürze – so stand sie auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin. Schlank und leicht, als ob sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben könnte. Der Strohhut hing ihr am Arme, und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmuth und Lieblichkeit zu sehen und zu erkennen.“

Es war – berichtet Albert Grün im Vorwort zu seiner „Friederike“ – es war ein Stern aufgegangen! Zwar wollte es mit dem Spielen und Singen am Clavier, wozu der Vater sie nöthigte, nicht recht flecken; beim Abendessen aber ward man vertraulich, und als es nachher zu einem Spaziergang im Mondenscheine kam, bei dem Goethe trotz seines komischen Candidaten-Habits Friederike führen durfte, da öffneten sich zwei Seelen: die eine zum erstenmal, die andere jedenfalls tiefer, als je.

„Sie wurde,“ erzählt Goethe, „zuletzt immer redseliger und ich immer stiller. Es hörte sich ihr gar so gut zu; und da ich nur ihre Stimme vernahm, ihre Gesichtsbildung aber, sowie die übrige Welt, in Dämmerung schwebte, so war es mir, als wenn ich in ihr Herz sähe, das ich höchst rein finden mußte, da es sich in so unbefangener Geschwätzigkeit vor mir eröffnete.“

Die Nacht wurde halb mit Weyland verschwatzt, halb selig verträumt. Am Morgen aber brachte ihn die verwünschte Garderobe, in der er sich unsäglich abgeschmackt vorkam, schier zur Verzweiflung. Er hatte einen unschuldigen Scherz treiben wollen; über Nacht war der Ernst gekommen: er schämte sich vor Friederike! Als Weyland ihn gar auslachte, lief er in leidenschaftlichem Unmuth davon, ließ in der Herberge sein Pferd satteln und eilte im Galopp gen Straßburg. Bis zur Manzenau kam er; da fuhr ihm ein toller Plan durch den Kopf.

George, der Wirthssohn von Drusenheim, hatte ja ungefähr seine Gestalt. Rasch lenkte er um, lieh sich die Sonntagskleider des Burschen, wofür er sein Pferd zurückließ, schwärzte sich die Augenbrauen mit einem angebrannten Korkstöpsel und übernahm die Ablieferung des Kindtaufkuchens, den George gerade in den Pfarrhof von Sessenheim zu bringen hatte. So nahm er zu Fuß den Wiesenpfad am Bache hin; Weyland und die Mädchen, die jenseits des Wassers an ihm vorüber spazierten, täuschte er wirklich, auch den Pfarrer und das Gesinde in Sessenheim. Frau Brion erkannte ihn zuerst, ging auf den Scherz ein und schickte ihn bis zum Essen in die Wiese, um dann Alle zu überraschen. Da fand er denn jenes herrliche Lieblingsplätzchen des Mädchens, einen von Bäumen und Gesträuch überschatteten Hügel, auf dessen Höhe über einem köstlichen Sitze die Inschrift stand „Friederikens Ruhe“. Dort saß er schwelgend in den vier himmelhellen Ausblicken und seinen holden Phantasien; dort fand und erkannte ihn zuerst die liebe Eignerin, dann die Schwester und Weyland, im Triumph wurde er in den Pfarrhof zurückgeführt und – war fortan darin zu Hause. Nach Tische wurde in der Laube „die neue Melusine“ improvisirt, die jetzt in „Wilhelm Meister’s Wanderjahren“ steht, und dann „mit dem Widerhaken im Herzen“ für diesmal Abschied genommen.

Der eben erwähnte, „Friederikens Ruhe“ genannte Hügel, niedrig, ganz unbedeutend, nur wenige Minuten von Sessenheim entfernt, von unseren Dorfbewohnern öwersch Berri (oberste Berg) genannt, ist wahrscheinlich ein celtischer oder römischer Grabeshügel – jedenfalls ist derselbe von Menschenhand aufgeworfen worden und viel flacher heute, als er vordem gewesen sein mag, da er schon längst als Feldstück bebaut und angepflanzt wird; darum kann man auch von demselben das Straßburger Münster nicht mehr sehen, wie in früherer Zeit. Alte Personen erinnern sich noch, daß auf demselben einige Bäume gestanden, von einem Wäldchen aber, das ihn umgeben, haben sie nie etwas gehört. Ob die Tafel mit der Inschrift „Friederikens Ruhe“ wirklich bereits existirte, als Goethe bei seinem ersten Besuche in Sessenheim dahin gekommen, habe ich alle Ursache zu bezweifeln, ja ich wage es beinahe mit Bestimmtheit zu verneinen. Friederike mag hie und da, allein oder in Gesellschaft, dieses freundliche Schattenplätzchen besucht und gerne manche Stunde dort zubracht haben – dies bin ich weit entfernt in Abrede stellen zu wollen; daß sie aber den Hügel nach ihrem Namen genannt oder gar noch die Inschrift „Friederikens Ruhe“ daselbst angebracht, gehört gewiß eher in das Reich der Dichtung, als der Wahrheit. Viel wahrscheinlicher scheint mir die Annahme, Goethe habe bei seinem Besuche gerne an dieser Stelle sich aufgehalten und, seiner Geliebten zu Ehren, ihr den in Rede stehenden Namen beigelegt, eine Annahme, die durch die Aussage von Sophie Brion so ziemlich auch bestätigt wird. Der Name Friederikens Ruhe war ihr unbekannt, aber sie erinnerte sich, daß eines Tages eine vom Dorfschreiner verfertigte Tafel daselbst angebracht wurde, auf welcher die Namen vieler Freunde verzeichnet standen; zu unterst soll Goethe selbst seinen Namen unter folgende Verse geschrieben haben:

„Dem Himmel wachs’ entgegen
Der Baum, der Erde Stolz.
Ihr Wetter, Stürm’ und Regen,
Verschont das heil’ge Holz!
Und soll ein Name verderben,
So nehmt die obern in Acht:
Es mag der Dichter sterben,
Der diesen Reim gemacht.“

Vor zwölf Jahren hatte Albert Grün den Ertrag einiger Leseabende in Straßburg, in welchen er sein Schauspiel „Friederike“ auszugsweise vortrug, uneigennützig dazu bestimmt, diesen Hügel anzukaufen und so wieder herrichten zu lassen, wie er vor hundert Jahren war. Allein der jetzige Besitzer mochte denselben nicht gerne abtreten, und überdies standen damals dem Vorhaben noch andere Schwierigkeiten im Wege. Wie ich höre, wird aber Grün jetzt einen neuen Versuch machen, den Hügel käuflich an sich zu bringen, und sein längst gehegter Wunsch dürfte wohl schon in kurzer Frist erfüllt und verwirklicht sein.

Goethe ging, aber er kam bald, er kam oftmals wieder. Denn ob er gleich durch eifriges Studiren seinen Gedanken eine andere Richtung zu geben und „die angehende Leidenschaft“ niederzuschlagen sich bemühte, „Straßburg kam ihm leer,“ der Aufenthalt in der Stadt unerträglich vor. Schon im November „putzte er sich also sauber heraus,“ und ritt dem Ziele seiner Sehnsucht zu. Es war schon spät, an einem Samstag Abend, als er ankam. Unangemeldet wohl trat er in den Pfarrhof ein, aber darum doch nicht unerwartet; denn zu seiner großen Verwunderung hörte er Friederiken der Schwester in’s Ohr sagen: „Hab’ ich’s nicht gesagt – da ist er.“ Wie ein alter Bekannter wurde er begrüßt und aufgenommen. Bei einem Spaziergang, den er am folgenden Morgen mit der Geliebten machte, wurde gemeinsam der Plan entworfen, wie die zu erwartenden Gäste, vor und nach Tische, unterhalten werden sollten; und Goethe hatte Gelegenheit die Vorzüge kennen zu lernen, „welche sie auf’s Freiste vor ihm entwickelte: besonnene Heiterkeit, Naivetät mit Bewußtsein, Frohsinn mit Voraussehen; Eigenschaften, die unverträglich scheinen, die sich aber bei ihr zusammenfanden und ihr Aeußeres gar hold bezeichneten. Die Anmuth ihres Betragens schien mit der beblümten Erde, und die unverwüstliche Heiterkeit ihres Antlitzes mit dem blauen Himmel zu wetteifern.“ Nachher ging’s in die Kirche, wo er „an ihrer Seite eine etwas trockene Predigt des Vaters nicht zu lang fand.“[1] Indem er schied, „nährte er die Hoffnung, sie bald auf längere Zeit wiederzusehen.“

Die Erfüllung seines Wunsches ließ nicht lange auf sich warten. Kurz nachher lud ihn Friederike „zu einem Feste ein, wozu auch überrheinische Freunde kommen würden; er sollte sich auf längere Zeit einrichten.“ Unverweilt „packte er einen tüchtigen Mantelsack auf die Diligence und in wenig Stunden befand er sich in ihrer Nähe.“ Er traf große und lustige Gesellschaft und war grenzenlos glücklich an Friederikens Seite. Sie erschien ihm lieblicher als je. Was Wunder daher, wenn er „allen [469] hypochondrischen, abergläubischen Grillen“ den Abschied gab[2] und bei Lösung der Pfänder die Gelegenheit benutzte, die „so zärtlich Geliebte recht zärtlich zu küssen“, wenn an jenem stillen Plätzchen das überglückliche Paar „durch die herzlichste Umarmung“ sich gegenseitig „die treulichste Versicherung gab, daß sie sich von Grund aus liebten.“ – Einer förmlichen Verlobung erwähnt Goethe in seinen Aufzeichnungen mit keinem Worte (was übrigens durchaus nicht beweist, daß eine solche nicht stattgefunden); jedenfalls schied er diesmal als erklärter Liebhaber aus der Familie, und er selber sagt: „des lieben Mädchens immer mehr annäherndes, zutrauliches Betragen machte mich durch und durch froh, und ich fand mich recht glücklich, daß sie mir diesmal beim Abschied öffentlich, wie andern Freunden und Bekannten, einen Kuß gab.“

Jetzt wurde ein regelmäßiger Briefwechsel mit der Geliebten eingeleitet. „Auch in Briefen blieb sie immer dieselbe, sie mochte etwas Neues erzählen, oder auf bekannte Begebenheiten anspielen, leicht schildern, vorübergehend reflectiren, immer war es, als wenn sie auch mit der Feder gehend, kommend, laufend, springend, so leicht aufträte als sicher. Inhalt und Styl war natürlich, gut, liebevoll, von innen heraus, ihre Hand leicht, hübsch, herzlich.“ Auch Goethe „schrieb sehr gerne an sie,“ schickte ihr Gedichte, welche sie ihm eingegeben, Bänder, die er für sie gemalt, Bücher, die er zu ihrer weitern Ausbildung sowohl als auch zur Unterhaltung für sie ausgewählt, „denn sie las sehr gerne Romane; man findet darin, sagte sie, so hübsche Leute, denen man wohl ähnlich sehen möchte.“

Goethe’s „Leidenschaft wuchs, je mehr er den Werth des trefflichen Mädchens kennen lernte“; das Verhältniß wurde immer inniger, und immer von Neuem wurden die ihm zum unabweislichen Bedürfnisse gewordenen Besuche wiederholt … und auch ausgedehnt. Sagt er doch selber: „Wir hatten eine Zeit lang zusammen still und anmuthig fortgelebt, als Freund Weyland die Schalkheit beging, ‚den Landpriester von Wakefield‘ nach Sessenheim mitzubringen und mir ihn, da vom Vorlesen die Rede war, unvermuthet zu überreichen, als hätte es weiter gar nichts zu sagen. Die Gewohnheit zusammen zu sein befestigte sich immer mehr und mehr; man wußte nicht weiter, als daß ich diesem Kreise angehöre. Man ließ es geschehen und gehen, ohne gerade zu fragen, was daraus werden sollte.“

„Unbeachtet, wie es überhaupt dort und damals Sitte war,“ weil man sowohl auf Friederikens Gesinnungen, als auch auf Goethe’s Rechtlichkeit glaubte völlig vertrauen zu können, machte das liebende Paar Spaziergänge in der nächsten Umgebung, sowie auch größere Ausflüge (diese wohl ganz besonders während des sechswöchentlichen Aufenthaltes, den Goethe von Mitte April bis Ende Mai 1771 in Sessenheim machte). „Die Rheininseln waren denn auch öfters ein Ziel unserer Wasserfahrten. Dort brachten wir ohne Barmherzigkeit die kühlen Bewohner des klaren Rheins in den Kessel, auf den Rost, in das siedende Fett, und hätten uns hier in den traulichen Fischerhütten[3] vielleicht mehr als billig angesiedelt, hätten uns nicht die entsetzlichen Rheinschnaken nach einigen Stunden wieder weggetrieben. Diesseits und jenseits des Rheins, in Hagenau, Fort Louis, Philippsburg, der Ortenau, wurden die Freunde und Verwandten besucht“ und nur „seiner wunderlichen Studien und übrigen Verhältnisse wegen“ kehrte Goethe öfters in die Stadt zurück. Ja, so weit war es gekommen, daß, „weil es ihm unmöglich war, innerhalb vierzehn Tagen auf das Land zu kommen,“ die Mutter Brion sich entschloß, mit ihren Töchtern zu den Verwandten nach Straßburg zu reisen, „da man sich denn lieber in der Stadt, und mit einigem Zwange, als gar nicht sehen wollte.“

Das Band der herzinnigsten Liebe schien unauflöslich fest, für das ganze Leben um die zwei gleichgestimmten Seelen geschlungen zu sein. Und doch, gerade jetzt nahte rasch und unaufhaltsam die Stunde, wo es gewaltsam gelöst und auf immer zerrissen werden sollte. Wie aber und warum ist es so gekommen? Durch wen oder durch was wurde diese so unerwartete Wendung der Dinge herbeigeführt? – In seiner Lebensbeschreibung giebt uns Goethe keine Antwort auf diese Frage; mit keiner Sylbe spricht er sich darüber aus, wie es kam, daß sein Verhältniß mit Friederike so plötzlich abgebrochen wurde. Denn wenn er sagt: „nun sollte aber unsere Liebe noch eine sonderbare Prüfung ausstehen,“ so giebt uns dieses Wort keine Andeutung, geschweige denn eine Erklärung. Man hat darum die Vermuthung aufgestellt, daß der Besuch der Frau Brion mit ihren beiden Töchtern in Straßburg Veranlassung dazu gegeben habe, daß die Mädchen sich ungeschickt und täppisch in den ungewohnten Verhältnissen benommen, daß sich Goethe seiner Geliebten habe schämen müssen; ein Schriftsteller geht sogar so weit, daß er sagt: „In den Gehölzen von Sessenheim war Friederike eine Nymphe des Waldes, im Straßburger Salon wurde die Nymphe zur Bäuerin.“ In dem Benehmen der älteren Tochter, nun ja, da mögen allerlei kleinliche Verstöße gegen die Schicklichkeit und den feinen Ton des Stadtlebens vorgekommen sein; „sie bewies sich ungeduldig und wie ein Fisch auf dem Strande;“ aber „das anständige, ruhig edle Betragen der Mutter paßte vollkommen in diesen Kreis, sie unterschied sich nicht von den übrigen Frauen.“ Und Friederike? – „Sie war in dieser Lage höchst merkwürdig. Eigentlich genommen, paßte sie auch nicht hinein; aber dies zeugte für ihren Charakter, daß sie, anstatt sich in diesen Zustand zu finden, unbewußt den Zustand nach sich modelte. Wie sie auf dem Lande mit der Gesellschaft gebarte, so that sie es auch hier. Jeden Augenblick wußte sie zu beleben. Ohne zu beunruhigen, setzte sie Alles in Bewegung, und beruhigte dadurch gerade die Gesellschaft, die eigentlich nur von der Langenweile beunruhigt wird … Ich sagte ihr, wie sehr ich mich freue, sie unverändert, und auch in dieser Umgebung so frei wie den Vogel auf dem Zweig zu finden.“

Dieser Besuch, oder vielmehr das Benehmen der Sessenheimer Pfarrerstochter bei demselben war es also auf keinen Fall, was die Veranlassung zu dem vorerst gelockerten und bald nachher gelösten Verhältniß wurde. Die Ursache liegt anderswo, und es dürfte wohl nicht so gar schwer sein, dieselbe aufzufinden, wenn man nur ernstlich suchen und wirklich finden will. Goethe hatte sich in diesen Liebeshandel eingelassen und von Tag zu Tag wohler und glücklicher in demselben gefühlt, ohne auch nur einen Augenblick zu bedenken, was aus demselben schließlich noch werden könnte. Jetzt aber rückte raschen Schrittes die Zeit heran, wo er an sein Examen, an seine Disputation … und auch an seine Heimkehr denken mußte. Und auch Friederike – das hatte er erst wieder bei ihrem Straßburger Besuch auf mannigfache Weise wahrgenommen – hing immer inniger und fester an ihm und „schien nicht zu denken, noch denken zu wollen, daß dies Verhältniß sobald endigen könne.“ Nun konnte er die Fragen nicht mehr abweisen, die immer und immer wieder in ihrem ganzen hohen Ernste an ihn herantreten mochten: Kannst und darfst du dem Vater offenbaren, wie du zu der elsässischen Pfarrerstochter stehst? – Wie wird er deine Handlungsweise beurtheilen? – Darfst du hoffen, daß er sie billigen und seine Einwilligung zum früher oder später zu schließenden Ehebündniß geben werde? – Und er kannte seinen Vater, den vornehmen Patrizier, „den kalten, etwas pedantischen, in mancher Hinsicht launigen Mann, dessen Wort im häuslichen Kreise Gesetz war,“ viel zu gut, als daß er hätte erwarten dürfen eine zusagende Antwort erhalten oder gar erzwingen zu können. – Da stand er denn zwischen Thür und Angel, in der peinlichsten Verlegenheit („denn,“ sagt er selbst, „die Ursachen eines Mädchens, das sich zurückzieht, scheinen immer gültig, die des Mannes niemals“), und wir begreifen leicht, „daß es wie ein Stein von seinem Herzen fiel, als er sie endlich abfahren,“ Straßburg verlassen sah.

(Schluß folgt.).

[470]

Bei den tanzenden und heulenden Derwischen.
Von Franz Wallner.


Keine Stadt des Orientes, Damascus, das ich noch nicht kenne, vielleicht ausgenommen, hat trotz aller Civilisation noch so ganz den farbenreichen wunderbare Charakter des Orients beibehalten, als das ewig heitere schöne Kairo. Wie sehr hat man dem genialen Hildebrandt Unrecht gethan, wenn man behauptete, solch glühendes Colorit, wie er in seine Bilder gezaubert, existire in der Natur nicht. Wer hier den Sonnenuntergang erlebt, wer gesehen, wie der ganze Horizont von dem scheidenden Feuerball mit dem glühendsten Roth beleuchtet wird, während sich die schlanken Palmen und die zierlichen Minarets in scharfen Contouren dunkel abzeichnen am brennenden Abendhimmel, der ist gewiß mit mir der Ansicht, daß sich dies Schauspiel in Farben gar nicht wiedergeben lasse. Und dieses Treiben in den Straßen, auf dem Lande, wie unglaublich, wie contrastirend! Man denke sich die oft wie eine Mauer dicht gestaute Menschenmenge, in allen möglichen und unmöglichen Costümen, zum Theil auch ganz ohne Costüme, alle Farbenschattirungen, mit welchen die Sonne Menschenhäute zeichnet, bleicht, färbt und gerbt, Alles sich drängend, lärmend und doch voll Gutmüthigkeit, zwischendurch diese Massen eleganter Equipagen, deren jede mit ihrem Vorläufer sich Bahn bricht, Reiter auf dem zierlichen und edlen Stammvater des europäischen entarteten Geschlechts der Esel, auf edlen arabischen Vollblutpferden, auf höckrigen, über die Menge wegsehenden Kameelen, zahllose Gestalten, die noch genau so aussehen, wie sie aussahen, als der keusche Joseph seinen historischen Mantel bei Madame Potiphar zurückließ, breite mit Prachtbauten prangende Straßen, und ineinandergebaute arabische Gassen, finster, unheimlich und so enge, daß ein Ausweichen zwischen zwei Personen nur durch das Eintreten in ein Haus möglich ist, in Misthaufen hineingewühlte Menschenwohnungen, wo der Fellah haust mit Weib und Vieh und Kindersegen, alles Lebende übersäet mit Lebendem, gleich neben diesen Menschenställen Paläste, wie sie nur die reichste Phantasie eines Nabob erfinden und ausführen kann, darüber ein ewig wolkenloser Himmel, ein Klima, welches Frost und Regen zur Unmöglichkeit stempelt, ein Reichthum an Blumen jeder Art, an nie gesehenen Pflanzen, an riesigen Bäumen, der abenteuerlich aussehenden Sycomore, der berauschenden Duftspenderin, der prächtigen Nilacazie, unzählige Kuppeln und nadelspitze zierliche Minarets, und am Rande des wunderbaren Bildes über Alles hinwegragend die Riesenbauten der Pyramiden, als Trotz der Zeit, als Bollwerk gegen die Zerstörerin alles Seins; dies Alles giebt ein schwaches und verblaßtes Bild von Kairo.

Von diesem buntbewegten, farbenreichen Bilde will ich den freundlichen Leser heute zu zwei ganz eigenthümlichen Einzelerscheinungen im orientalischen Leben führen, und zwar zunächst zu den „tanzenden Derwischen“, mit dem Wunsche, daß es mir gelingen möge, mit Hülfe des talentvollen mich begleitenden Zeichners diese sonderbarste aller Religionsübungen deutlich zu schildern, obgleich es mir bis jetzt, trotz den unzähligen Beschreibungen, die ich darüber gelesen, aus denselben nie geglückt war, mir eine klare Vorstellung von diesen Productionen, anders kann ich es nicht nennen, zu machen.

Wir nehmen uns also einen tüchtigen Esel und reiten die endlose Hauptverkehrsader von Kairo, die Muskieh entlang, welche zum Schutz vor der brennenden Sonne, von einem Dache zum andern, mit Brettern bedeckt ist, was ihr ein sonderbares Aussehen giebt. Den langen Weg kürzen uns tausend neue und fremdartige Straßenbilder. Vorüber an eleganten und ordinären Kaufläden, an deutschen Bierhäusern und arabischen Kaffeespelunken drängen wir uns an schreienden Menschen – ohne Geschrei geschieht hier nichts – in allen Hautfarben, an gelben, braunen, schwarzen und weißen vorbei, jeder hastet mit einer Eile, als ob sein Geschick vom Wettlauf abhinge, und doch hat eigentlich Niemand etwas zu versäumen, denn der Werth der Zeit ist dem Orientalen ein fremdes Ding.

Obstverkäufer haben ihre Granatäpfel, Bananen, Mandarinen und andere Früchte in lockendster Form ausgestellt; in ungeheuren Krügen, in Hammelfellen, welchen der Inhalt genau die Gestalt des Thieres giebt, wird Nilwasser für die Durstigen herumgetragen; Araberweiber schleppen ihre Kinder rittlings auf der Schulter; ein Scheikh reitet auf reich geschirrtem Roß, welches den Neid des Kenners erregt, an uns vorbei; zahllose Rufe um „Bakschisch“ umschwirren uns; eine junge Armenierin trägt ein ganzes Magazin von Goldmünzen, ihren künftigen Brautstaat, um den Hals, während das arme Fellahkind nur ein zerfetztes Baumwollenhemd mit tausend Lücken am braunen Leibe trägt; tief verhüllte syrische Weiber, deren schwarze Schleier zwischen den Augen eine Metallspange zusammenhält, Arnauten, tätowirte Neger in weißen Kleidern, gemalte Weiber, an Frechheit nicht ihresgleichen findend, Krüppel, langhaarige Derwische, Levantinerinnen in schwarzen langen, seidenen Schleiern und grellfarbigen Unterkleidern, Schlangenbändiger, Blumenverkäufer, Engländer in wunderlichster Ausstattung zur Indiafahrt ausgerüstet, Hochzeits- und Leichenzüge mit dem ganzen lärmend bunten Apparat des Orients, das Gebrüll der Büffel, der langgedehnte Ruf der Kameele, und das grelle Geschrei der Esel, dazwischen die Warnungsrufe der vor jedem Wagen herlaufenden Sais; es ist eine Staffage, an der man sich nie satt sieht, die uns immer Neues bietet.

Endlich kommen wir an unser Ziel, durch den Hof eines äußerlich unscheinbaren Gebäudes gelangen wir in eine runde Kuppelhalle, mit Koransprüchen verziert, in der Höhe ein vergitterter Raum, wie in den Theatern für die Haremsbewohnerinnen. Rechts eine Galerie, in welcher sich die Sänger und Musiker postirt haben, links ein Raum für Zuseher. Um den eigentlichen Platz des mit einer Balustrade abgegrenzten Rondos fassen wir Posto. Die Kuppel ziert ein Kronleuchter. Auf einer mit persischen Teppichen belegten Erhöhung sitzt das Haupt der Derwische, ein schöner Mann mit lang wallendem Barte. Die Derwische selbst tragen verschiedene farbige Mäntel, unter diesen Jacken und kurze Röcke, nicht unähnlich unseren europäischen Damencrinolinen, auf dem Haupte Filzmützen in Form abgestumpfter Kegel. Die Derwische kauern sich um ihren Vorstand rings auf dem Boden, während ein Sänger oben unter Begleitung eines oboeartigen Instrumentes, zu welchem eine dumpfe Trommel geschlagen wird, einen endlosen monotonen Gesang anstimmt. Aehnlich wie bei der Liturgie in unseren katholischen Kirchen, fällt von Zeit zu Zeit der Chor ein. Zwischen den Gesang tönt es dann und wann durch, wie ferne Klänge einer Harmonika. Die Derwische liegen alle, das Gesicht zur Erde gekehrt, dem Häuptling zugewendet, nur bisweilen erhebt sich einer, um sich laut und geräuschvoll die Nase zu schnäuzen und sich sogleich wieder der Andacht hinzugeben. Ländlich, wenn gleich nicht ganz sittlich, nach europäischen Begriffen.

Nach Beendigung des Gesanges beginnt ein sechsmaliger Rundgang um die thronartige Erhöhung, welche der Oberste der Derwische einnimmt, vor dem sich alle jedes Mal, voll gegen ihn gewendet, ehrfurchtsvoll und tief verneigen. Eine ernste, von gedämpften Trommeln begleitete, melodielose Musik ertönt während dieses Rundganges, den ein Schlag auf dem Tamtam schließt, worauf Alles, den Kopf auf den Boden schlagend, zur Erde stürzt.

Nun werfen die Derwische die Mäntel ab und beginnen eine kreiselförmige Bewegung, indem sie sich in doppelter Wendung um sich selbst und um den Circus drehen. Der Gesang oben wird zum Geheul, bald in lang gehaltenen Tönen anschwellend, bald winselnd verhallend. Jetzt tritt aneifernd die Flöte ein, oder es kreischt der Sänger im höchsten Discant dazwischen. Mit geschlossenen Augen und verzückten Mienen haben die Dreher – Tänzer kann man sie nicht nennen – einen Arm lang vor sich ausgestreckt, den Kopf an die Schulter gelehnt, den anderen Arm in halber Beugung – genau so wie die beifolgende Zeichnung die ganze Scene vortrefflich wiedergiebt – ihre Uebungen fortgesetzt, die nackten Füße wenden sich Schritt für Schritt in unbegreiflicher Ausdauer rund herum, rascher und rascher, die vierzehn Musiker wetteifern mit der gleichen Anzahl der Derwische, immer lebhafter quitschen die Instrumente, heulen die Sänger, drehen sich mit dem Ausdruck der Ekstase die menschgewordenen Kreisel. Siebenundfünfzig Minuten währte, bei sechsundzwanzig Grad Hitze, dies Schauspiel, welches ich mit der Uhr in der [471] Hand controlirte. Am Schlusse schienen die einfallenden Trommeln und Becken die frommen Brüder zu noch größerer Ausdauer anzuspornen, obgleich an keinem auch nur die geringste Spur von Anstrengung und Erschöpfung bemerkbar wurde. Ein Knabe von ungefähr zwölf Jahren entwickelte eine Muskelkraft, welche uns in Erstaunen setzte; nicht um einen Zoll schien während der fast einstündigen Dauer der Ceremonie einer der ausgestreckten Arme zu sinken, nicht eine Muskel seines Antlitzes, welches pures Entzücken ausdrückte, änderte sich während der ganzen Zeit. Vom medicinischen Standpunkte aus erklärte ein uns begleitender Arzt die ganze Production als unbegreiflich. Da kein Eintrittsgeld dafür genommen wird, sondern die ganze Ceremonie rein kirchlich ist, so muß jeder Verdacht von Betrug und Eigennutz ausgeschlossen bleiben.

Mit den leiser werdenden, wie hinsterbenden Tönen des begleitenden Gesanges hört der Tanz auf, noch ein mit tiefen Ehrfurchtsbezeigungen gegen ihr Oberhaupt begleiteter Rundgang, dann nimmt jeder Derwisch ruhig und, wie es scheint, nicht mehr erhitzt, als andere Menschenkinder, seinen Mantel und entfernt sich mit den Zusehern, die aus Türken, Europäern, Negern und Arabern bestehen.

Nach dem, was wir hier gesehen hatten, mußte unser Wunsch, auch die Secte der „heulenden Derwische“ zu Gesicht zu bekommen, nur noch reger werden. Man hatte uns gesagt, daß die Leistungen dieser letzteren noch staunenerregender, daß sie aber zugleich auch grauenvoll seien. Aber wo sie finden?

„Jeden Freitag,“ heißt es in einem bekannten Reisehandbuch über Aegypten, „produciren sich die heulenden Derwische, und jeder Eseljunge in Kairo kennt den Weg in ihr Kloster.“ Diese Behauptung erinnert mich stark an die alte Anekdote, wie ein Dienstmann in Wien in die Sperlgasse Nr. 11, dritten Stock, rechts, gesandt wird, um einen Uhrmacher Jonas aufzusuchen. Nach mehreren Stunden kommt er zurück und versichert seine Auftraggeber, welch ungeheure Mühe es ihm gemacht habe, die richtige Adresse zu finden. Erstens wohne der Mann nicht in der Sperlgasse, sondern in Lerchenfeld, nicht in Nr. 11, sondern 318, nicht im dritten Stock, sondern ebener Erde, nicht rechts, sondern links, auch heiße er nicht Jonas, sondern Schmidt, und sei kein Uhrmacher, sondern eine Hebamme. Auch die heulenden Derwische produciren sich nicht jeden Freitag, sondern nur manchmal an Donnerstagen, während des ganzen Ramadans zum Beispiel gar nicht; sie haben kein Kloster, sondern einen durch ein hölzernes Gitter abgesteckten Gebetraum in einem alten Gartenhofe, und diesen kennt nicht jeder, sondern gar kein Eseljunge in ganz Kairo. Das erwähnte Reisehandbuch verwechselt ganz einfach den Uhrmacher Jonas mit der Hebamme Schmidt, die heulenden Derwische mit den tanzenden, und dies ist einer von den zahllosen Irrthümern und Unrichtigkeiten, von welchen dies für die Gegenwart offenbar veraltete Buch wimmelt.

Wochenlang ritten wir unter Anführung sonst tüchtiger Dragomans kreuz und quer durch Kairo, ohne daß uns irgend Jemand, selbst von den Bewohnern der nächsten Umgegend, sagen konnte, wo eigentlich die „Heuler“ ihren Sitz hatten. Die tanzenden Derwische weiß jeder Führer zu finden, die Collegen derselben blieben für uns trotz aller Mühe versteckt, bis uns ein Zufall auf die rechte Spur leitete.

Wir betraten einen mit Palmen und Platanen bepflanzten gartenähnlichen Hofraum, der von alten römischen Säulen umschlossen war.

Den Hintergrund nahm eine mit weißen und rothen breiten Streifen bemalte Wand ein, deren Mitte in Nischenform vertieft und durch ein Holzgitter von den wenigen europäischen Zuschauern abgeschlossen war. Der Fußboden ist von feinen Matten bedeckt, eine einfache Ampel hängt in der Mitte. Die Wand ist theilweise beschrieben mit Koransprüchen in arabischen Lettern.

Eine Art Vorstand kniete in der Gebetsnische, umgeben von einer Anzahl – ungefähr einem Dutzend – auf den Fersen hockender Gläubiger, die in kurzem monotonen Rhythmus einförmige Gebete herabsangen.

Mit der Artigkeit, welche den Orientalen so sehr zu seinem Vortheil auszeichnet, brachte man uns Kaffee und Stühle, und ein stattlicher Mann mit langem Haar und Bart und charakteristischen klugen Gesichtszügen kam zu uns heran. Es war der Scheikh der heulenden Derwische, und wir hatten keine Ahnung, welche Hauptrolle derselbe bald in dem unheimlichen Drama spielen werde, das sich in Kurzem vor unseren Augen abspielen sollte. Er zeigte uns sein und seines Sohnes, eines kräftigen, etwa zehnjährigen Knaben, photographische Portraits, von dem genialen „Schöfft“ vortrefflich aufgenommen. Während wir durch unsern Begleiter, den gelehrten und liebenswürdigen Dr. v. Lorent aus Mannheim, einen berühmten und der arabischen Sprache vollkommen mächtigen Orientreisenden, eine leichte Unterhaltung mit dem Oberhaupt der Derwische angeknüpft hatten, war der Gesang der ersten Abtheilung zu Ende, und eine neue Serie von Darstellern betrat die Scene. Es waren besser gekleidete Männer, unter diesen auch vier Knaben im Alter zwischen zehn bis zwölf Jahren. Im langsamen Tone begann der Scheikh, der in die Gebetnische trat, nachdem sich Alle tief und ehrfurchtsvoll vor ihm verneigt hatten, die Worte: „lá iláha illa ’llah“ (es giebt keinen Gott, außer Gott). Dieser Satz wird von Allen hundert- und hundertmal wiederholt in immer schnellerem Tempo, ähnlich den jüdischen Religionsübungen. Der Druck des Tones liegt gleichmäßig und scharf ausgestoßen auf der Silbe, welche den Buchstaben á enthält, die folgende wird lang gedehnt gezogen. Ich habe vergessen, zu erwähnen, daß die Derwische nicht wie die früheren Sänger sitzen, sondern fortwährend stehen. Immer rascher wird das Tempo, immer kreischender, höher, vibrirender tönt ein Sologesang dazwischen, einzelne wilde Ausrufe, wie „Huhu“, „Ah“ tönen dazwischen, so daß zuletzt der ganze Gesang der Menge einem gellenden Schmerzensschrei gleicht, inmitten desselben stürzen plötzlich Alle und zu gleicher Zeit auf den Boden, küssen denselben, und der zweite Theil der Ceremonie ist zu Ende.

Während wir noch unsere Verwunderung über die unglaubliche Ausdauer der Leute aussprachen, dachten wir Alle nicht, daß alles dieses nur ein kurzes harmloses Vorspiel zur letzten Abtheilung bilden würde. Es ist mir nicht möglich gewesen, über den Grund und das Motiv dieser freiwilligen Marter richtige Auskunft zu erhalten, da der Orientale bekanntlich in Religionssachen sehr zurückhaltend ist; da aber die Leute diese wöchentliche unaussprechliche Tortur freiwillig auf sich nehmen und keinerlei Bezahlung für diese Production verlangen, noch erhalten, so gehört ein unglaublicher Grad von religiösem Fanatismus dazu, um diese Qual auf sich zu nehmen.[4]

Die Sänger, denen man trotz der eben gehabten gewaltigen Anstrengung weder Müdigkeit, noch Erschöpfung ansieht, entledigen sich der Kopfbedeckungen und Ueberkleider, erstere theils in einer Art gestickter Mützen, wie sie einst die venetianischen Dogen trugen, theils in Turbans bestehend, und eine lange Mähne fliegender Haare wallt über die Achsel herab. Eine Flöte tönt in hohen winselnden Weisen zu den wilden Schlägen tellerartiger runder Handtrommeln und großer Tamburins. Eine Melodie, einförmig, aber wie durch einschneidende Jammertöne hervorgerufen, schrillt durch den Saal. Der Sänger verzieht dabei das Gesicht, so tief schmerzlich, so qualvoll, als ob alle Leiden der gesammten Menschheit über sein Haupt ausgeschüttet wären. Die Menge stößt ein Geheul aus, so unnatürlich, so über alle Beschreibung grauenhaft, so ganz außer allem Bereiche menschlicher Töne liegend, daß ich sie nur mit dem Gebrüll wilder Thiere, mit dem athemlosen Schnaufen der Locomotive vergleichen kann. Wie ich mein Gedächtniß auch anstrenge, ich finde keinen passenderen Vergleich. „Hih – hih – hih! huh – huh – huh!“ tönt es zwischen den unarticulirten Lauten gereizter wilder Bestien, das nerventödtende Gekreisch einer großen Sägemühle, das Todesröcheln gepeinigter Menschenkinder in wahnsinnigem Gewirr durcheinander. Dabei fliegen die Körper, wie von unsichtbarer Macht geschleudert, außer alle Grenzen möglich scheinender Bewegung heraus, die wilden Mähnen fliegen wie nasse Schlangen, die verzerrten Fratzen berühren den Boden, der Oberkörper scheint, wie eine willenlose Maschine auf- und abgeschleudert, sich von den übrigen Gliedern trennen zu wollen; immer rasender, toller wird das Geheul, das Schleudern der Glieder, das Tönen der Trommeln, das schmerzliche Quiken der Flöte; mit schäumendem Munde, Wütenden gleich, taumeln die tollen Fanatiker einher wie sinnlos Betrunkene.

[472]

Ibrahim Effendi Kavusi, Scheikh der heulenden Derwische.
Nach einer im Besitz von Franz Wallner befindlichen Originalphotographie.

Ich denke mir so eine Rotte Vergifteter, hoffnungsloser Menschenkinder im letzten Stadium der Verzweiflung. Nie im Leben habe ich Grauenvolleres gesehen als diesen Act der Gottesanbetung. Ein Neger mit verdrehtem glasigem Auge, weißem Schaume vor dem schwarzen halb geöffneten Munde schien in der Mitte entzweibrechen zu wollen. Solche Töne, wie er ausstieß, hoffe ich nie mehr zu hören.

Weit über eine Stunde hatte der tolle Hexensabbath gedauert, unter den Tollen der Tollste, den Wahnsinnigen der Wahnsinnigste, den Rasenden der Rasendste war unser Freund, der Scheikh. Seine Bewegungen hatten alles Menschenähnliche verloren, der Schweiß floß ihm stromweise über das entstellte Antlitz, durch die eisengrauen Stränge der langen fliegenden Mähnen. Die Augen schienen fest geschlossen, und doch lieferte er einige Male in dramatischer Wirksamkeit den Beweis, daß seine Sinne der Außenwelt nicht abgeschlossen seien. Wenn nämlich einer der Selbstpeiniger zusammenzubrechen drohte, unter den Martern, die er sich auferlegt, so schob sich der Scheikh – ich finde keine andere Bezeichnung – wie magnetisch vorwärts getrieben, zu dem Leidenden hin, legte ihm sanft die Hand auf, öffnete die Augenlider und blickte ihn mit unendlicher Wehmuth an. Dieser zuckte zusammen, und plötzlich von unsichtbarer Gewalt und Heilkraft überströmt, raffte er sich empor, um seine unheimliche Beschäftigung fortzusetzen. Unheimlich, in jeder Bezeichnung des Wortes, denn noch schneller, noch zuckender wanden sich die Gestalten auf und nieder, noch schriller ermunterte die Flöte zu den ununterbrochenen Schlägen der Handpauke, des Tamburins, noch wilder, unbegreiflicher wurden die bestialischen Stimmen, wie das Heulen der Windsbraut, wie das Brüllen ergrimmter Löwen, das ferne Rollen eines Gewitters. Schmerzverzerrten Antlitzes, aber in unglaublicher Anstrengung arbeiteten die Musiker mit Leib und Seele mit. Die Kleiderreste zerrten sich die Heuler vom Leibe, das hörbare Pfeifen der gemarterten Lungen, die krampfhaften taumelnden Bewegungen, die aus unbegreiflichen Stimmregistern hervorgeholten Töne, dies Alles gab ein grauenvolles Ensemble, das wie mit einem schrillen Schrei in Dissonanzen endete.

Wie im Conversationston sprach der Meister, plötzlich ruhig, zu den Jüngern einige Worte, worauf sie ihm ehrfurchtsvoll die Hände küßten. Ehe wir noch den Garten verließen, saß die Gesellschaft

[473]

Tanzende Derwische in Kairo.
Nach der Natur aufgenommen von Theodor Meyer.

[474] in bescheidener demüthiger Unterhaltung, und lauschte auf die Lehren des Kaffee schlürfenden Scheikhs. Ich aber eilte auf’s Tiefste erschüttert nach Hause, und konnte das Grauen, das mich gepackt, nicht früher los werden, bis ich, im innern Drange, diese Schilderung auf’s Papier geworfen. Zwei Stunden darauf saß ich, inmitten der elegantesten europäischen Gesellschaft, im strahlenden Opernhaus, und bewunderte im Ballet „Brahma“ die Kunstfertigkeit der Chuchi, in der Oper „Rigoletto“ die Genialität Naudin’s. Kaum einer von den Anwesenden hatte eine Ahnung von den Mysterien der heulenden Derwische. Als ich durch die stille Straße der am Tage so belebten Muskieh lange nach Mitternacht heimkehrte, lagen rechts und links arme halbnackte Menschen im tiefen Schlafe, die schmutzig-staubige Erde als Ruhestätte, einen Stein als Pfühl für ihr müdes Haupt benützend. Es sind dies die alltäglichen grellen Contraste in der afrikanischen Khalifenstadt.




Ein Held der Feder.
Von E. Werner.
(Schluß.)


Jane achtete wenig auf diese Ausbrüche der üblen Laune ihres Begleiters, und was sie davon vernahm, wurde mit ungewöhnlicher Nachsicht aufgenommen, sie wußte sehr gut, daß der alleinige Grund in dem dumpf herübertönenden Geschützdonner lag, der drüben in B. die heimkehrenden Sieger grüßte, aber als Atkins von Neuem über den beschwerlichen Weg und die entsetzliche Hitze zu stöhnen begann, sagte sie mit einem Anfluge von Ungeduld:

„Sie hätten in der Stadt bleiben sollen! Mich schließt meine Trauer von der Theilnahme an den Festlichkeiten aus, und ich mochte dem Oheim und der Tante nicht den Zwang auferlegen, meinetwegen zu Hause zu bleiben, deshalb unternahm ich den Spaziergang. Sie bindet keine solche Rücksicht, und ich bedurfte auch heute keiner Begleitung.“

Atkins verzog das Gesicht. „Ich fühle mich durchaus nicht so unwiderstehlich zu der Stadt hingezogen, wo mir heute jeder kleine Straßenbube die ‚neue Weltmacht‘ zu kosten giebt und jeder Student verlangt, daß ich dem ‚germanischen Geiste‘ meine unterthänigste Verbeugung mache. Sie mögen sich allein bewundern! sie haben es ja nun wirklich durchgesetzt, ihren geliebten Rhein als Strom Deutschlands zu sehen, und die Grenzen ein gutes Theil weiter hinausgeschoben. Der germanische Idealismus fängt wirklich an praktisch zu werden, ich aber habe das neue deutsche Reich während der letzten Wochen bereits in allen Clubs und Gesellschaften so gründlich genossen, daß es mich dringend verlangt, endlich einmal etwas anderes zu hören. Ich wollte,“ er erinnerte sich noch zum Glück der in S. erhaltenen scharfen Zurechtweisung und wandelte rechtzeitig seinen frommen Wunsch in einen Seufzer um, „ich wollte, ich wäre erst wieder in Amerika, obgleich das möglicherweise vom Regen in die Traufe geht, denn mit den dortigen Deutschen wird nun vollends kein Auskommen mehr sein!“

Es lag ein halbes Lächeln auf Jane’s Lippen bei diesem Ausbruch von Bitterkeit, als sie ruhig entgegnete:

„Sie werden sich wohl endlich daran gewöhnen müssen, die ‚neue Weltmacht‘ anzuerkennen, Mr. Atkins, so herzlich schwer es Ihnen auch wird. Es läßt sich nun einmal nicht ändern, und Sie werden sich schließlich auch bequemen, unserem germanischen Geiste in Ihrem eigenen Lande die Honneurs zu machen.“

Unserem? Ihr Land?“ wiederholte Atkins gedehnt. „Ja so! Ich vergesse immer, daß Sie jetzt ganz und gar unter die Deutschen gegangen sind und für Ihre Landsleute schwärmen. – Nun, da wären wir ja endlich oben! Ich begreife nicht, Miß Jane, wie Sie hier Aussicht genießen wollen, die Sonne blendet ja so entsetzlich, daß man nichts sieht als Strahlen, der Fluß blitzt, daß man Augenschmerzen davon bekommt, und dies alte Gemäuer sieht mir ganz so aus, als werde es sich das besondere Vergnügen machen, einzustürzen, um uns Beide zu erschlagen. Sehen Sie sich vor!“

Jane gab keine Antwort, sie setzte sich nieder und überließ es ihrem Begleiter, mit der Sonne, dem Fluß und der Ruine nach Gefallen zu hadern; als Mr. Atkins in seiner Umgebung nichts mehr fand, worüber er sich ärgern konnte, kam er an ihre Seite.

„Ich bedauere nur,“ sagte er, und der Ausdruck seines Gesichtes verrieth, wie boshaft er sich darüber freute, „ich bedauere unendlich, daß B. heute seinen Haupthelden entbehren muß. Mr. Fernow ist wirklich nicht beim Regimente; die Kränze, mit denen sich Mr. und Mrs. Stephan so unendliche Mühe gegeben haben, müssen verwelken, der großartige Empfang, den die Herren Studirenden geplant, wird sammt ihrem Enthusiasmus zu Wasser, und die gelehrten Begrüßungsreden der Herren Collegen werden etwas antiquarisch werden. Ich bin überzeugt, der Professor kommt eines Abends ganz heimlich zur Hinterthür herein, und sitzt eines Morgens ganz ruhig wieder an seinem Schreibtisch, mit der Feder in der Hand, als wäre gar nichts geschehen. Das sieht ihm ganz ähnlich, ich glaube, er ist der einzige Deutsche, mit dem jetzt noch auszukommen ist!“

Atkins mißbrauchte die ungewöhnliche Sanftmuth Jane’s in der ausgedehntesten Weise, er wagte es sogar, einen Namen auszusprechen, der während des ganzen Winters nicht zwischen ihnen genannt worden war, und er hatte seine Gründe dazu. Man fing jetzt an, ihn wie Mr. Stephan zu behandeln, ihm den ganzen Verlauf dieser Familienangelegenheit zu entziehen, und ihm erst von der vollendeten Thatsache Kenntniß zu geben. Das ärgerte ihn unendlich, er wollte wissen, was zwischen Henry und Jane vorgefallen war, wollte wissen, wie die Sache überhaupt stand, und da er keine directe Frage thun mochte, so versuchte er dies Manoeuvre.

Es schlug indessen fehl. Jane erröthete zwar, als Fernow erwähnt ward, aber sie blieb ruhig und ihre Lippen öffneten sich nicht. Es gehörte denn doch mehr als eine bloße Namensnennung dazu, sie aus ihrer Selbstbeherrschung zu treiben. Atkins sah, daß er klarer auf sein Ziel losgehen müsse.

„Unsere Reisedispositionen werden wohl einige Aenderung erfahren!“ begann er wieder in seinem scharfen forschenden Tone. „Henry’s plötzliche Abreise hat den ganzen Plan gekreuzt. Ich bin zwar,“ hier brach seine ganze Empfindlichkeit durch, „ich bin allerdings nicht davon unterrichtet worden, weshalb er gestern Abend so stürmisch in meine Wohnung stürzte, seine Reiseeffecten forderte und sofort nach dem Bahnhofe abfuhr, – in einer Stimmung, daß ich es für besser hielt, ihm so wenig als möglich nahe zu kommen, aber im Interesse meiner eigenen Rückkehr möchte ich Sie jetzt doch fragen, Jane, was Sie darüber beschlossen haben.“

Jane’s Blick sank zu Boden. „Ich erfuhr erst durch Sie Henry’s Abreise. Hat er keine Zeile für mich zurückgelassen?“

„Nein! Auch keinen Gruß, er äußerte nur, daß er mit dem ersten Schiff, das er in Hamburg bereit fände, nach Amerika zurückkehren werde.“

Jane gab keine Antwort, ein schwerer Athemzug entrang sich ihrer Brust, er hatte mehr vom Schmerz an sich als von Erleichterung.

„Was haben Sie mit Henry angefangen, Jane?“ fragte Atkins leise zu ihr niedergebeugt. „Er sah furchtbar aus, als er von Ihnen kam!“

Sie blickte leise auf, aber ihre Stimme klang gepreßt und unsicher. „Sie behaupteten stets, er hege eine Leidenschaft für mich! Ich hatte es nie geglaubt, ich hielt den Dollar für die einzige Macht, der er sich beugte.“

„Sie wird es wohl auch in Zukunft sein!“ sagte Atkins trocken. „Ein Mann wie Henry unterliegt nur einmal solcher Schwäche. Er hätte bei den Amerikanerinnen bleiben sollen, da hätte der Erbe und dereinstige Chef des Hauses Alison und Compagnie sicher keinen Korb erhalten. Es thut nicht gut, dies Vermischen mit deutschem Blut, das sehen Sie wohl jetzt [475] selbst ein, Miß Jane, und Henry hat wahrscheinlich für sein ganzes Leben genug davon. Uebrigens ist er keine Natur danach, eine unglückliche Liebe lange mit sich herumzutragen, ich zweifle nicht, daß wir schon binnen Jahresfrist von seiner Verbindung mit einer unserer Erbinnen hören.“

„Wollte Gott, es wäre so!“ klang es aus Jane’s tiefstem Herzensgrunde, indem sie sich erhob und den Arm auf die Mauer stützte.

Atkins stand eine Weile schweigend neben ihr. „Wollen wir unsern Spaziergang nicht fortsetzen?“ mahnte er endlich. „Die alte Burg ist ohne Zweifel äußerst interessant, aber – es zieht etwas hier in dieser mittelalterlichen Romantik. Ich dächte, wir suchten das geschützte Thal wieder auf.“

„Ich bleibe noch!“ erklärte Jane mit ihrer früheren Entschiedenheit. „Indessen will ich Sie nicht veranlassen, sich noch länger dem ‚romantischen Zugwinde‘ auszusetzen. Sie wollten ja wohl den Spaziergang nach M. richten, wir treffen auf dem Rückwege wieder zusammen.“

Der Wink war deutlich genug, und Atkins verstand ihn sehr bereitwillig, er fand es äußerst langweilig hier oben, und ergriff mit Vergnügen die Gelegenheit, sich zu verabschieden.

„Mir scheint, ich werde die Rückreise allein antreten müssen,“ spottete er, während er einen Seitenpfad einschlug, der gleichfalls in’s Thal hinabführte. „Und nebenbei werde ich noch das außerordentliche Vergnügen haben, das ganze Vermögen des Mr. Forest über den Ocean zu senden, dies Vermögen, an das Henry all seine Energie und Berechnung setzte, und das nun diesem Deutschen in den Schooß fällt, der albern genug war, sich gar nicht darum zu kümmern, und nöthigenfalls auf seinen Professorengehalt hin geheirathet hätte! Ich zweifle übrigens gar nicht mehr daran, daß er Carrière machen wird! Man feiert ihn ja setzt schon überall als künftigen Dichtergenius, irgend etwas muß doch an dem Lärm sein, den seine Gedichte machen, und wenn nun noch eine Million hinter und eine Frau wie Jane neben ihm steht – sie wird ihn schon vorwärts treiben! Unsere selige Missis würde triumphiren, aber ich möchte doch wissen, was Mr. Forest sagen würde, sähe er, daß sein Reichthum schließlich in deutsche Hände fiele und deutschen Interessen diente. Ich glaube, er hätte“ – hier blieb Mr. Atkins plötzlich stehen, besann sich und schloß dann mit einem Stoßseufzer: „Er hätte Amen dazu gesagt!“

Jane war allein zurückgeblieben. Sie athmete auf, wie einem lästigen Zwange enthoben, und nahm ihren Sitz wieder ein. Auch die altersgrauen Trümmer der Burgruine umfloß der helle Frühlingsschein, und auf und zwischen ihnen blühte, duftete und lebte es tausendfach. Der Epheu umspann wieder mit seinen grünen Netzen das dunkle Gestein und ließ die wehenden Ranken weit hinaus über den Abgrund flattern, ringsum lag die Landschaft im reichsten Sonnengold zu ihren Füßen, dort unten blitzte und schimmerte der Strom herauf, als seien nur Stunden vergangen seit jenem Tage, wo sie hier oben saß, als seien Herbst und Winter, mit all ihren Thränen und Kämpfen, mit ihrem düsteren Trauerflor nur ein schwerer böser Traum gewesen.

Und wie damals knirschte auch jetzt der Kies des Bodens unter einem nahenden Tritte. Sollte Atkins zurückkehren? Unmöglich! Das war nicht der bedächtige, ruhige Schritt des Amerikaners, es kam näher, ein Schatten fiel auf den sonnigen Raum vor ihr – Jane sprang auf, von einer Purpurgluth übergossen, zitternd, unfähig selbst zu dem Schrei der Ueberraschung – Walther Fernow stand vor ihr.

Er hatte in stürmischer Eile den Berg erstiegen, aber er kam diesmal nicht so athemlos und erschöpft an, wie einst bei dem ruhigen Spaziergange, dergleichen Anstrengungen waren ihm jetzt ein Spiel, und es war wohl etwas Anderes, was ihm in diesem Augenblicke den Athem versagte und die helle Röthe in’s Gesicht trieb; er wollte auf sie zueilen, blieb aber plötzlich stehen und sah stumm zu Boden, es schien, als sei mit der alten Kleidung, die er heute zum ersten Male wieder trug, auch die alte Zaghaftigkeit zurückgekehrt.

„Mr. Fernow – Sie hier?“

Ein Ausdruck schmerzlicher Enttäuschung ging über Walther’s Züge, vielleicht hatte er eine andere Anrede erwartet, die helle Röthe verschwand und der frühere schwermüthige Ausdruck umschattete wieder sein Antlitz. Jane hatte sich inzwischen einigermaßen gefaßt, obgleich sie noch immer nicht vermochte, das Zittern zu beherrschen, das ihren ganzen Körper durchbebte und verrätherisch aus ihrer Stimme klang.

„Ich – wir hörten, Sie seien nicht bei Ihrem Regimente, mein Oheim und Doctor Behrend versicherten es wenigstens.“

„Ich kam auch nicht mit meinen Cameraden, ich traf erst vor einer Stunde ein. Doctor Stephan und seine Frau waren nicht im Hause und meine Stimmung nicht danach, sogleich in den Festesjubel einzutreten. Ich unternahm diesen – Spaziergang, ich gerieth zufällig hierher –“

Sein Gesicht verrieth die Lüge! Er hatte jedenfalls im Hause gehört, daß Jane nicht beim Feste sei, und nicht ohne Grund diesen stundenlangen „Spaziergang“ so unmittelbar nach der Ankunft unternommen, es war wohl mehr Ahnung als Zufall, was ihn hergeführt. Jane mochte das fühlen, die Gluth in ihrem Antlitz wurde noch tiefer und die dunklen Wimpern senkten sich langsam, während ihre bebende Hand einen Stützpunkt an der Mauer suchte. Walther trat zögernd näher.

„Ich habe Sie erschreckt!“ sagte er gepreßt. „Es war nicht meine Absicht, so plötzlich zurückzukehren, ich wollte für jetzt überhaupt nicht wieder nach B. kommen, aber eine Begegnung, die ich mit Mr. Alison hatte –“

„Mit Henry!“ fuhr Jane angstvoll auf. „Sie haben ihn gesprochen?“

„Nein, nur gesehen! Er langte gestern Abend in dem Hôtel an, wo ich in K. Wohnung genommen hatte, wir begegneten einander auf der Treppe, aber er ging finster und stumm ohne Gruß an mir vorüber, als kenne er mich nicht. Heut Morgen brachte man mir ein Billet mit der Nachricht, daß der Herr, der es für mich zurückgelassen, bereits abgereist sei; es veranlaßte meine sofortige Herkunft.“

Er reichte ihr das Blatt, es enthielt nur wenige Zeilen:

„Ich entlasse Sie Ihres Versprechens, sich mir nach beendigtem Kriege zu stellen, es bedarf dessen nicht mehr. Künftig wird der Ocean zwischen uns liegen, das sichert Ihnen die Früchte Ihres Sieges. Ich hindere Sie nicht, nach B. zurückzukehren; fordern Sie dort die Erklärung dessen, was geschehen. Ich verlasse in den nächsten Tagen Europa für immer. Henry Alison.“

Jane hielt das Blatt schweigend in der Hand, ihr Auge verschleierte sich wie von einer aufsteigenden Thräne; es ist einer Frau nie gleichgültig, wenn sie ihretwegen ein Herz bluten sieht, am wenigsten, wenn sie die Erste und Einzige war, die dies kalte stolze Herz empfinden lehrte.

Walther’s Blick haftete forschend auf ihrem Antlitz, er war düster, schmerzlich gespannt, wie in einer qualvollen Unruhe.

„Ich soll hier die Erklärung fordern und weiß doch nicht, ob Miß Forest geneigt sein wird, sie mir zu geben. Als wir uns das letzte Mal sahen, an dem Tage, als ich von L. zurückkehrte, an der Leiche Friedrich’s, da stand Mr. Alison zwischen uns und hielt Ihre Hand so fest in der seinigen, als wolle er damit sein Recht behaupten vor aller Welt. Er hätte es nicht nöthig gehabt, uns so entschieden jedes Alleinsein zu rauben, der Moment verbot jedes andere Wort als das der Trauer um den Todten, wir verloren Beide gleich viel in ihm.“

Jane schüttelte leise und heftig das Haupt. „Sie verloren nur einen Diener, Mr. Fernow. Das Loos meines Bruders war ja harte Dienstbarkeit von frühester Jugend an, und es wäre ihm noch härter geworden, hätte er in Ihnen nicht einen gütigen Herrn gefunden. Ich – habe es ihm nicht erleichtert, so lange es in meiner Macht stand, dafür habe ich ihm auch später nichts geben dürfen, nichts als den kalten Marmor über seinem Grabe!“

Walther stand jetzt dicht neben ihr, er legte sanft seine Hand auf ihre bebende Rechte. „Und die letzte Umarmung der Schwester!“ sagte er leise.

Eine tiefe Bitterkeit lag um Jane’s Lippen. „Er hat sie theuer genug bezahlt, mit seinem Blute mußte er sie sich erkaufen! Wäre ich ihm nicht genaht in jener Stunde, er kehrte gesund und froh zurück mit den Anderen, meine Rettung ward sein Verberben. Ich bringe nur Weh und Schmerz Allem, was mich liebt, dem Bruder mußte ich den Tod geben, Henry mußte ich elend machen – bleiben Sie mir fern, Mr. Fernow, ich vermag kein Glück zu geben!“

Sie trat mit einer stürmischen Bewegung an den Rand der Brüstung und blickte abgewendet hinaus; Friedrich’s Tod warf [476] noch immer seinen Schatten, die Schwester konnte ihn nicht überwinden; es lag wieder etwas von der alten Härte und Bitterkeit in ihren Zügen, und der mühsam gebändigte Schmerz, der darin zuckte, verrieth nur zu sehr, wie ernst es ihr war mit diesen düsteren Worten, vor denen in diesem Augenblick alle Hoffnungen und alle Zukunftsträume machtlos zusammensanken.

„Johanna!“

Das war wieder jener Ton, der einst in S. so mächtig zu ihrem Herzen drang und es losriß von allen Schmerzen und Kämpfen; er zwang sie auch jetzt, sich umzuwenden, ihn anzublicken, und als sie erst seinen Augen begegnete, da hielten auch Härte und Bitterkeit nicht länger Stand vor diesen blauen Tiefen, die wieder zu ihr redeten in jener Sprache träumerischer Zärtlichkeit, die sie wie einst gebannt hielt.

„Du hast mir auch einst wehe gethan, Johanna, furchtbar wehe; es war in jener Herbstnacht, als ich Dich anflehte, Dich frei zu machen, und bereit war, das Aeußerste für Deinen Besitz zu wagen. Damals schleudertest Du mir dies harte ‚Niemals!‘ entgegen. ‚Und gäbe Alison mich frei und fiele jede andere Schranke, nie, Walther!‘ Das Wort steht noch immer drohend zwischen uns Beiden, es hat mich zurückgescheucht bis zu diesem Augenblick. Wirst Du mir nun endlich das Räthsel lösen?“

Jane senkte das Haupt, sie schwieg einige Secunden lang, dann sagte sie tonlos: „Ich hatte die Spur meines Bruders gefunden, ich wußte, daß er beim Pfarrer Hartwig erzogen war, und ich hörte den Namen von Deinen Lippen, als den Deines Pflegevaters.“

„Um Gotteswillen, Du glaubtest doch nicht –?“

„Ja! Schilt mich nicht, Walther, daß ich es für möglich hielt; ich habe furchtbar gelitten unter dieser Möglichkeit, ich bin fast zu Grunde gegangen an dem unseligen Irrthum!“

Jane Forest’s stolze Lippen ließen sich endlich herab zu dem Geständniß und in ihren Augen schimmerte es feucht und tief, der „Nordlichtschein“ darin war geschwunden und das Eis mit ihm, es brach jetzt daraus hervor wie lichtes Frühlingsleben. Was Henry gestern nur einen Augenblick gesehen, als sie bittend vor ihm niedersank, wovon allein er sich die Entsagung abzwingen ließ, die sie ohne jenen Blick nie erreicht hätte, das strömte jetzt in reichster Fülle dem entgegen, der verstanden hatte, es zu wecken; er fühlte den ganzen Zauber dieses Wesens, das so glühend zu fesseln, so unwiderstehlich festzuhalten und so unendlich zu beglücken verstand, das sich zum ersten Male voll und ganz gab.

Es war keine Bewerbung, kein Antrag, nicht einmal eine Erklärung, was zwischen den Beiden jetzt folgte; aber das Eine war da, was jener ersten Verlobung, die das Alles so formell enthielt, gefehlt hatte: das glühende Erröthen, die weiche Hingebung, die Thräne des Glücks in dem Auge der Braut, und die Leidenschaft des Mannes ward nicht mit kalter Berechnung zurückgehalten wie dort, hier flammte sie auf in ihrer ganzen Gluth und Begeisterung. Jane fühlte es in seinen Armen, daß der „Träumer“ so voll und heiß zu lieben verstand, wie er es verstanden hatte, statt der Feder daheim am friedlichen Schreibtisch draußen im Felde das Schwert zu führen.

Die Gebüsche am Fuße der Ruine rauschten, und Mr. Atkins, der dort abermals den Spion gespielt, kam zum Vorschein; aber diesmal störte er das Paar nicht und brachte auch keine Gratulationen; sein Gesicht sah nach Allem eher aus als nach einem Glückwunsch, während er eiligst und unbemerkt den Rückzug antrat.

„Merkwürdig! Sogar die Liebe ist in diesem Deutschland anders als bei uns! Jane ging uns verloren, als sie den Fuß auf diesen Boden setzte, es ist schändlich! Und an der ganzen Geschichte ist nur der verwünschte Rhein mit seiner Romantik schuld!“

Er warf einen Blick des tiefsten Ingrimms auf den gehaßten Strom und kehrte ihm dann grollend den Rücken; der Rhein aber schien sich diese Ungnade des Amerikaners nicht sehr zu Herzen zu nehmen. In seinen Wellen funkelte und glänzte es, als sei der alte Nibelungenhort heraufgestiegen aus der Tiefe und rolle jetzt in flüssigem Golde dem Ufer zu, und der Strom rauschte weiter, mächtig und triumphirend, als trage er auf seinen grünen Wogen den Frühling und den Frieden hinein in die Lande.




Im Schwanen-Hotel.


An Frankfurt knüpften sich seit der Metternich’schen Schöpfung, die ein halbes Jahrhundert lang den Aufschwung alles nationalen deutschen Lebens verhinderte, seit dem deutschen Bunde, die fatalsten Erinnerungen. Bis auf die schöne Episode des Völkerfrühlings, bis auf das eine Jahr des deutschen Parlaments war die heitere Mainstadt, wo die Natur so reichlich Sonnenschein bietet, politisch der Sammelplatz aller Gewitter für’s ganze Vaterland. Hier ballten sich die finstern Wolken zusammen, deren rollender Donner den treugehorsamen Unterthanen der deutschen Duodez- oder Folio-Souveraine in heilsamen Schrecken zu setzen berufen war; von hier aus entluden sich die Blitze auf die Häupter der deutschen Jugend, welche ihrem Ideale, der Freiheit und Einheit, das Wort zu reden sich erkühnten. In der Eschenheimergasse zu Frankfurt hatte Jupiter tonans, genannt Clemens Lothar Fürst Metternich, sein Hauptquartier aufgeschlagen und lenkte des deutschen Volkes Geschicke mit seinem Generalstab von Bundestags-Gesandten, nach dem System der heiligen Allianz der Fürsten gegen den Freiheitsdrang der Völker. Der Artikel „Frankfurt“ in den deutschen Zeitungen war für viele Leser, besonders für die Eltern der studirenden Jugend, unheilvoll oder doch wenigstens beängstigend und es fiel ihnen ein Stein vom Herzen, wenn Gott sei Dank zu lesen stand, daß der Bundestag Ferien habe.

Das ging so ganze zweiunddreißig Jahre lang, ein ganzes Menschenalter hindurch, von 1816 bis 1848, bis der große Sturm aus Westen die ganze Gesellschaft wegfegte, die mit Noten und Decreten alle Stürme zu beschwören sich unterfangen hatte. Da verwandelte die Ironie des Schicksals den Schauplatz total; der Boden, der die große Kettenschmiede getragen, wurde über Nacht umgewühlt, um darauf künftig den Tempel der Freiheit zu bauen. Frankfurt, von wo aus seit drei Decennien jede Regung des Volkswillens niedergehalten worden, ward nun plötzlich ausersehen, den Willen des Volkes für’s ganze große Vaterland zur Geltung zu bringen. Man schloß die Thore des Palastes, in dessen zopfzeitalterigen, dämmerigen Salons die leisetretenden Diplomaten heimliche Cabinets-Politik getrieben, und öffnete dafür die hohe helle Halle der Paulskirche, wo laut vor allem Volke das freie Wort erklang für des Vaterlands Größe, des Vaterlands Glück.

Jetzt knüpfte sich an Frankfurt in viel reicherem Maße die Hoffnung, als früher die Furcht – daß sie überschwenglich wurde, diese Hoffnung, war eine natürliche Folge des jähen Wechsels und führte bald genug wiederum einen jähen Wechsel herbei. Als der bittere Bodensatz im Kelche der schäumenden Freude allein zurückblieb, verwünschten die Zecher den ganzen Rausch und sprachen vom tollen Jahre 1848, wie von einem Genusse, dessen sie sich zu schämen hätten. Wird aber heute nicht Jeder anerkennen, daß 1870 und 71 nicht möglich gewesen ohne 1848 und 1849?

Wiederum liegen zwei Drittel eines Menschenalters zwischen damals und jetzt; die letzte Hälfte des letzten Jahrzehnts hat mit gewaltigen Erschütterungen den Schwerpunkt weit ab verlegt von der Stelle, wo er ein halbes Jahrhundert lang gelegen – da, im letzten Augenblick, am Schlusse einer ganzen Epoche, läuft die Kugel, die im ernsten Spiele des Lebens durch das Rad der Zeit rollt, plötzlich noch einmal an die alte Stelle – gagne! verkündet der Croupier, und Aller Augen belächeln strahlend den glücklichen Zufall.

Frankfurt brachte der politischen Welt ein langes Unheil, dann ein kurzes Glück, und jetzt den langersehnten Frieden!

Aber die launige Glücksgöttin ließ es nicht dabei bewenden. Nicht der Schauplatz allein sollte vom Zufall begünstigt werden, auch dem Künstler gewährte sie den seltenen Triumph, auf der nämlichen Bühne, darauf er als Anfänger debutirt, den größten Beifall zu ernten.

Der Legationsrath von Bismarck hatte 1851 in denselben Mauern ein Werk begonnen, in welchen 1871 der Fürst Bismarck dasselbe zum Abschluß brachte. An demselben Tage im Mai, an welchem vor zwanzig Jahren Bismarck in Frankfurt ankam, hatte

[477] er 1871 die entscheidende Conferenz mit den französischen Ministern. Am Nachmittage ging er, umgeben von einer Menge, die ihm laute Ovationen darbrachte, durch die Gallusgasse und verweilte einen Moment vor seiner alten Wohnung, im Seufferheld’schen Hause, angesichts des prächtigen Triumphbogens im Taunusthor. Er warf erst einen langen Blick auf das Fenster der Stube, darin er vielleicht so manche Mitternacht an seinem Pult herangewacht, um seine politischen Pläne auszubrüten, dann durchschritt er den Triumphbogen und sah die Siegesgöttin mit beiden Händen Kränze von Eichen und Lorbeer darbieten. –

Im Schwanen-Hotel am 10. Mai 1871.
Originalzeichnung von A. Neumann.


Nicht mehr blos ein Zufall, ein seltenes Glück muß es benannt werden, daß er und wie er vor runden zwanzig Jahren hier einzog. Seine Beförderung vom ultrabescheidenen Amte eines Pommerschen Deichhauptmanns zum wichtigsten diplomatischen Posten war ein unerhörter Sprung in der Staatscarrière, nur erklärlich durch die Gunst des Königs, den er 1848 in kritischen Lagen privatim berieth. Und wie die Erfolge der Regierung von 1870–71 undenkbar sind ohne die Kämpfe des Volkes 1848–49, so ist der Begründer der deutschen Einheit undenkbar ohne den Bundestagsgesandten. Aber zwischen diese beiden Zeitpunkte fällt die große innere Wandelung, die an Bismarck glänzend das Wort des Dichters in der Erfüllung zeigen sollte: „Es wächst der Mensch mit seinen Zwecken.“ Aus dem märkischen Junker mit dem oft so tiefverletzenden Uebermuth jedem ihm nicht genehmen Wunsch und Willen der Volksvertretung gegenüber mußte das Riesenwagstück des Kampfes von 1866 erst den ernsten Mann herausbilden, den die großartige Opferfähigkeit des Volks zur Achtung vor diesem Volke und zu einem fortan dieser Achtung [478] berücksichtigenden Auftreten vor demselben bestimmte. Wir würden es für ein Unrecht halten, diese große Wandelung Bismarck’s zu verschweigen, denn sie gereicht ihm nur zur Ehre.

Bismarck lernte die Künste der Diplomatie an der Stelle, wo sie ihre schönsten Kunststücke machte, und er studirte sie, um sie nicht nachzumachen. Die in Frankfurt bestehende Diplomatenzunft hatte es niemals unterlassen, einen großmächtigen Nimbus um sich zu verbreiten; was dem Bundestag an Gewicht abging, wußte er durch Wichtigthun zu ersetzen, und Jeder von der Zunft hütete sich, den Nimbus zu zerstören. Da kam plötzlich ein Nichtzünftiger, ein kühner Fremdling in Sarastro’s Heiligthum. Wie zerfloß der Nebel im Nu vor dem Blicke des Mannes, der von jeher seine Pappenheimer gekannt hat; wie wenig konnten ihm die Herren imponiren, die, im Grunde nur Handlanger ihrer Minister, sich geberdeten, als trügen sie, jeder ein anderer Atlas, eine Welt auf ihren Schultern!

Und aus der tragikomischen Misère, die er hier kennen und seines Gesammtvaterlandes so wenig würdig finden lernte, entstand der Plan zu der Umgestaltung. Am russischen und französischen Hofe feilte er dann blos noch sein Concept. Die stille Allianz des Czaren war ein eben so wichtiger Factor in seiner Rechnung, als die Rheingelüste des Cäsars an der Seine. Wir haben erlebt, wie er Beide sich dienstbar zu machen verstand.

Und mit derselben gründlichen Menschenkenntniß, die ihn der Diplomaten wie der Fürsten Herz durchschauen ließ, berechnete der Staatsmann die Wirkung seiner Erfolge auf die Massen, und immer wieder von dem Gesichtspunkt aus, den er in Frankfurt gewonnen, als er des deutschen Volkes politische Ohnmacht an der Quelle studirte, in der Diplomatengesellschaft des deutschen Bundes, der, vom Volke verlacht, von den fremden Fürsten verachtet, nichts weiter leistete als – Polizeiaufsicht! Er sah voraus, daß das Volk, dessen lange verhaltenen Stolz er weckte, vom erbitterten Gegner zum bewundernden Freunde umschlagen müsse, wenn er die schmerzlich vermißte Einheit schaffen würde, die dem germanischen Stamme das seit Jahrhunderten entbehrte Selbstgefühl wiedergab.

Der Triumph seines Werkes war der Frankfurter Friede. Welch ein Abstand zwischen diesem Diplomaten-Congreß und allen, die Deutschland seit Friedrich dem Großen erlebt hatte! Zu Wien wie in Aachen, zu Verona wie in Paris war speciell Preußen stets die Rolle der demüthigen Nachgiebigkeit zugefallen, Oesterreich, Rußland und Frankreich führten das große Wort, Neid und Mißgunst spannen ihre Ränke – jetzt war der stets hintangesetzte deutsche Staat vollständig tonangebend und zwar gerade gegenüber seinem ältesten und gefährlichsten Gegner.

Und welch ein Abstand zwischen den handelnden Personen! Nicht ein einziger Diplomat der alten Schule nahm am Frankfurter Frieden Theil, lauter Leute der neuen Zeit und Träger der neuen Idee, die Majorität sogar, Zöglinge des Liberalismus. Das Haupt dieser Partei in Frankreich, Jules Favre, hatte vier republikanische Diplomaten im Gefolge, Pouyer-Quertier, Le Clerq, de Goulard und de Fénélon, und auf der Seite des deutschen Reichskanzlers gesellten sich diesen fünf Liberalen noch zwei aus der Schule des Liberalismus Hervorgegangene hinzu, Graf Hatzfeld, dessen Lehrer ein angesehenes Mitglied der Fortschrittspartei ist, und Lothar Bucher, der mit seiner im Dienste des Liberalismus virtuos gewordenen Feder das ganze Friedensinstrument redigirt hat.

Zu diesen inneren Curiositäten kamen noch allerlei äußere Zufälligkeiten ebenso ungewöhnlicher Art. Der „Russische Hof“, das althergebrachte berühmte Absteigequartier der Großen dieser Erde, war anfangs zum Rendez-vous dieser Conferenz bestimmt. Das Hôtel hatte unter Anderm beim Fürstencongreß von 1863 eine große Rolle gespielt, und Alles, was von jener glänzenden Zusammenkunft der deutschen Herrscher übrig blieb, ist in seinen Mauern aufbewahrt, nämlich – das Original-Tableau des Festmahls auf dem Römer. Im „Russischen Hofe“ nahm auch der jetzige Kaiser, als Prinz von Preußen, stets sein Quartier und hatte dann regelmäßig Conferenzen mit dem Bundestagsgesandten von Bismarck. Als der Fürst Bismarck sich diesmal hier anmelden ließ, fand sich ein Hinderniß in der zufällig eben stattfindenden Reparatur des Hausflurs; man glaubte dadurch Störungen ausgesetzt zu sein, und nachdem auch der „Englische Hof“ nicht Räume genug disponibel hatte – man bedurfte deren vierzehn – wurde der eben neueröffnete, durch dreijährigen Vergrößerungsbau zum Palast umgeschaffene „Gasthof zum Schwan“ ausersehen. Im „Russischen Hofe“ blieben nur die französischen Geschäftsträger, und jedesmal, wenn ihre Equipagen auf der schönen Zeil vorfuhren, gruppirte sich eine Menschenmenge und reckte die Köpfe, um den Mann zu sehen, der trotz seines diplomatischen Unglücks den Ruhm höchster Ehrenhaftigkeit genießt, Jules Favre. Neben seiner durch den greisen Löwenkopf außerordentlich imposanten ernsten Erscheinung machte Pouyer-Quertier den Eindruck eines jovialen bon-homme. Stets lächelnd mit großer Zuversicht aus der Brille so heiter blickend, als sollte er die fünf Milliarden empfangen, statt sie zu zahlen, war er eine lebendige Illustration der bekannten Phrase: „Frankreich ist reich genug, um seinen Ruhm“ – eventuell auch das Gegentheil – „zu bezahlen“. Mancher europäische Finanzminister der alten Schule mag diesen diplomatischen Neuling um seine Zuversicht und deren jetzt mit dem brillantesten Erfolge gekrönte Berechtigung beneiden!

Monsieur Le Clerq konnte wenig repräsentiren – er hat das Unglück, stark zu schielen, und Monsieur de Fénélon war eine Pygmäengestalt. Dagegen sah Herr de Goulard wie ein echter Diplomat aus, erschien stets im Fracke mit weißer Binde und schwebte mit leisestem Schritte einher, als anerkenne er, daß festes Auftreten hier nicht angebracht sei. Wunderlich genug war nun noch der äußere Contrast der Repräsentanten beider Nationen; den meist kleinen Figuren der Franzosen standen auf deutscher Seite fast lauter Riesen gegenüber. Fürst Bismarck’s hervorragende Gestalt wurde vom Grafen Henckel von Donnersmark noch übertroffen; Graf Hatzfeld und Graf Wartensleben sind auch Beide über Mittelgröße, und nur Graf Harry von Arnim ist keine Garde-Figur.

Im scharfen Gegensatze zu allen früheren großen Staatsactionen wurde der Frankfurter Friede ohne alles Gepränge und ohne materielle Genüsse, in harter anstrengender Arbeit rasch und energisch betrieben und zum Abschluß gebracht. Wenn des Tages Arbeit unter Beseitigung aller Störungen (der „Schwan“ hielt aller anderen Gäste Lärm aus seinen Räumen fern) beendet war, dinirten die deutschen Diplomaten im abgeschlossenen Kreise und hatten nur ein paar Mal gesellige Zusammenkünfte mit anderen Personen, so beim Oberbürgermeister Mumm und beim General von Loen. Es war pikant, daß Fürst Bismarck auf dem Festmahl beim Vertreter der Stadt Frankfurt in seiner bekannten epigrammatischen Kürze die Parole der Versöhnung ausgab: „Ich hoffe, daß der Friede in Frankfurt auch der Friede mit Frankfurt sein wird!“ Es lag darin ein Zugeständniß, daß die Frankfurter Episode von 1866 noch eines besondern Friedensabschlusses von seiner Seite bedürfe. Und aus der Ruhe des Mahles, die der burschikose Humor des Reichskanzlers bei seinem Lieblingspokal, dem Seidel, weidlich würzte, rissen sich die gewissenhaften Theilnehmer allabendlich wieder heraus, um bis Mitternacht nochmals an’s Werk zu gehen. „Sie stritten vom Morgen bis in die Nacht,“ und wohl am längsten über die Grenzregulirung: denn wir sahen eine kleine Landkarte, in welcher eine eingezeichnete blaue Linie erst Metz von Deutschland trennt und hernach die wichtige Moselfestung als besondere Enclave wiederum Deutschland zuertheilt.

Das mußte nun „schätzbares Material“ bleiben und Fürst Bismarck nahm nicht eher die Feder zur Unterschrift, als bis die Franzosen von jenem Plane abstanden. Diese Feder war nicht die bekannte Pforzheimer (die in Versailles gedient hatte), sondern eine aus den Bestecken, welche die Diplomaten mit sich führten und nachher wieder einpackten. Aber ein historisches Tintenfaß blieb als Reliquie. Der Oberkellner im „Schwan“ hatte auf seine Rechnung einen eleganten Tintenbehälter gekauft, der dann hinterher in seinem Besitze blieb. Für dieses zierliche bronzene Tintenfaß, einen Eichenstamm darstellend, der Deckel einen Helm, das Ganze mit kriegerischen Emblemen verziert, sind dem Inhaber schon namhafte Summen von Curiositätensammlern geboten worden.

Der Frankfurter Friede ist für Deutschland der bedeutsamste diplomatische Act, der seit Jahrhunderten vollzogen wurde. Er gab dem germanischen Volke die schöne Landschaft zurück, die der stolzeste aller Despoten des gallischen Stammes ihm entrissen, er machte das Vaterland wieder complet „so weit die deutsche Zunge klingt“, und fügte das Stück wieder zum Ganzen, das einst „der Fürsten Trug zerklaubt, vom Kaiser und vom Reich geraubt“. [479] Der Frankfurter Friede ist Deutschlands Wiedergeburt aus langer politischer Schwäche. Möge der große Act in unserem Nachbarlande als das, was er in der That ist, als eine politische Nothwendigkeit, richtig gewürdigt werden, und mögen unsere Nachbarn nicht mehr von einem „Triumphe“ sprechen, der Revanche erheische. Wir wollen ihnen Revanche geben, aber auf dem Felde des Friedens, und hier blüht wahrlich den Franzosen, den Meistern der freien Gewerbe und gewerblichen Künste, noch mancher glänzende Triumph. Begnügen sie sich mit diesem, so hat es nie einen Frieden gegeben, der so segensreich war als der Frankfurter.




Blätter und Blüthen.


Winke für Reisende, die das Passionsspiel in Oberammergau besuchen wollen. Am 24. Juni begann die Wiederaufnahme der durch den Krieg unterbrochenen Passions-Vorstellungen in Oberammergau. Da wohl mit Recht vorausgesetzt werden darf, daß besonders die aus entlegneren Gegenden nach dem Schauplatz dieses merkwürdigen Kunstphänomens Reisenden sich auch ein wenig in der Umgegend werden umsehen wollen, die diese Mühe übrigens auf das Reichlichste lohnt, so glaubt die Gartenlaube eine angenehme Pflicht zu erfüllen, wenn sie ihren Lesern einige durch reichhaltige Erfahrung erprobte Rathschläge mit auf den Weg giebt, mit denen wir sogleich beginnen wollen. Zuerst versehe sich jeder Reisende mit einem guten Plaid oder einer wollenen Decke; denn die Betten in den bairischen Gebirgswirths- und Privathäusern pflegen, was Wärme und Bequemlichkeit betrifft, auch hinter den bescheidensten Anforderungen zurückzubleiben, die man an dieses für Reisende wichtigste Hausgeräth zu stellen berechtigt ist. Was die Weiterbeförderung überall dort, wo die Eisenbahnen aufhören, anbetrifft, so empfehlen sich ganz besonders zwei Arten derselben: entweder in einer guten Lohnkutsche, die man zu zehn bis zwölf Gulden auf den Tag miethen kann, oder – und das ist das eigentlich Wahre – zu Fuß. Wer aber irgend kann, vermeide es, einen königlich bairischen Postomnibus zu besteigen, der in der That nur alle jene Bedingungen der Reise erfüllt, wie ein Fuhrwerk zur Beförderung von Passagieren nicht beschaffen sein darf.

Den von Norden her Zureisenden werden folgende Touren empfohlen. Erstens: München – Starnberg – Weilheim per Eisenbahn; von Weilheim aus zu Wagen über Murnau und Oberau nach Oberammergau. Dies ist der nächste Weg. Zweitens: von München nach Starnberg auf der Eisenbahn, von da vermittelst Dampfers nach Seeshaupt auf dem herrlichen Starnberger See, von Seeshaupt zu Wagen über Murnau nach dem Ort der Bestimmung. Die Fahrt über den See macht diese Tour zu einer sehr lohnenden. Von hoher Schönheit ist drittens: die Tour München – Starnberg – Weilheim – Penzberg auf der Bahn; von Penzberg über den lieblichen Kochel- nach dem wunderbar wildschönen Walchensee, weiter über Walgau, Krün, Partenkirchen nach Oberau und Oberammergau. Dieser Weg bietet eine fortgesetzte Abwechselung der anmuthigsten, schönsten und erhabensten Hochgebirgslandschaften. Das Essen im Gasthause zu Walchensee ist sehr gut und sehr billig, während die Betten ohne Anwendung der oben angerathenen Vorsichtsmaßregeln absolut unbewohnbar sind.

Für die Reisenden, die aus Oesterreich südlich der Donau kommen, ist der nächste Weg über Salzburg nach München und von dort weiter die erste der von uns angerathenen Touren. Zwischen Salzburg und München ist ein Ausflug nach dem Chiemsee, besonders nach der in ihm gelegenen Fraueninsel dringend zu empfehlen, einem so lieblichen, malerisch schönen Fleckchen der Erde, daß es gegenwärtig keine Kunstausstellung giebt, ohne daß in ihr dort gewonnene Motive ihren künstlerischen Ausdruck fanden. Zu warnen ist auf dieser Route nur vor den gaunerischen Kellnerinnen auf dem Bahnhof zu Rosenheim, die von österreichischem Papiergeld in der Regel zwanzig Procent abziehen, beim Herausgeben auf Thaler und Gulden aber österreichische Scheidemünze mit einem Verlust von oft vierzig Procent für den Empfänger einzuschmuggeln pflegen. Auch rechnen sie mit Vorliebe dem Gaste, welcher daselbst zu Mittag ißt, den Preis für ein Glas Bier noch dann an, wenn derselbe auch gar keins getrunken hat.

Der schönste Weg aber zu Wagen oder zu Fuß in dieser Richtung ist von Salzburg über Schellenberg nach Berchtesgaden mit dem an großartiger Schönheit alle anderen deutschen Seen übertreffenden Königssee, von dort durch die Ramsau mit Abstechern nach der Wimbachklamm und dem Hintersee weiter nach Reichenhall, und von hier aus entweder durch das Inzeller Thal mit dem Mauthhäusel nach der Bahnstation Traunstein, oder von Reichenhall direct mit der Eisenbahn nach München. – Wer über Innsbruck reist, schlägt, wenn er nicht die Eisenbahn benutzen will, am besten den Weg über Zirl unter der Martinswand, Seefeld, Mittenwald unter dem Karwendel und Partenkirchen ein, eine Straße, reich an Wechsel großartiger Gebirgsschönheit. Die Wirthshäuser auf dieser Tour sind meistens gut, besonders aber zeichnet sich die Post in Mittenwald durch die Behandlung der dort einkehrenden Reisenden aus.

Zu längerem Aufenthalte im bairischen Hochgebirge, von dem Gesichtspunkte aus angesehen, daß die Schönheit der Gegend mit der Verpflegung und dem nöthigen Comfort in richtigem Verhältniß stehe, sind in vorderster Linie Garmisch und Partenkirchen zu nennen, in ersterem Ort ganz besonders das Gasthaus „Zum Husaren“ mit einer so vorzüglichen Küche, daß z. B. der Einsender dieses Artikels sich nicht scheute, täglich von seinem Wohnort Partenkirchen nach Garmisch – einen Weg von einer kleinen halben Stunde bei mäßiger Gangart – hinüber zu gehen, um dort zu Mittag zu essen. Vortreffliche Betten, durchweg mit Sprungfedermatratzen ausgerüstet, sichern dem Fremden das Haupterforderniß zu einem fröhlichen Aufenthalt auf der Reise, eine gedeihliche Nachtruhe, zu. Auch recht gute Privatquartiere sind in beiden der genannten Ortschaften zu beziehen. Wer auf seine Casse zu schauen hat, beziehe überhaupt womöglich gleich am Tage seiner Ankunft eine Privatwohnung. – Ein weltverlorenes Plätzchen in entzückend großartiger Alpenwildniß ist das Försterhaus in Vordergrasegg, von beiden oben genannten Ortschaften in fünf Viertel Stunden zu erreichen. Man wähle den Weg durch die kühle wildschöne Partnachklamm, und zwar bezüglich der Zeit so, daß man zum Mittag- oder Nachtessen hinaufkommt, denn eine bessere Küche, verbunden mit einem kühlen vortrefflichen Biere bei geradezu überraschend billigen Preisen, wird der Reisende im ganzen Umkreis des bairischen Gebirges nicht finden, als bei der freundlichen Frau Försterin auf Vordergrasegg. – Auch Mittenwald ist zu einem längeren Sommeraufenthalt durchaus geeignet. Die „Post“ leistet in Bezug auf Comfort Alles, was man unter den gegebenen Verhältnissen nur beanspruchen kann. Sehr beachtenswerth ist die dortige Geigen- und Cithernindustrie, sehenswerth die Instrumentenniederlage von Gebrüder Neuner. Im östlichen Theile des bairischen Hochgebirges sind es vor Allem Berchtesgaden, Ramsau und Frauenchiemsee, die für einen längeren Aufenthalt sich am besten eignen dürften, die Ortschaften um den Tegern- und Schliersee sind nur Vorstädte von München.

Wer in Oberammergau selbst ein für die dortigen Verhältnisse erträgliches Unterkommen finden will, melde sich bei dem Gemeindevorstande bei Zeiten an und vermeide jeden Unterhändler; dieser Anmeldung füge er gleich die Bestellung der Plätze und lege womöglich gleich das Geld – drei Gulden für einen Logenplatz – bei. Zu den anderen Plätzen ist nicht zu rathen, sie bringen zu viele Unbequemlichkeiten mit sich. Auch für leibliche Nahrung, besonders Essen, sorge der Fremdling. Bier ist immer zu haben, und zwar vortreffliches, mit einem Kreuzer Aufschlag auf die Maß. Es kommt aus Ettal, einer ehemaligen großartigen Benedictinerabtei, die kein Fremder zu besuchen verabsäumen möge, denn die dortige Kirche zeigt wundervolle Wandgemälde von Knöller, und das Braustübchen daselbst sorgt für ein Labsal, wie es der Wanderer nur noch selten im Gebirge finden wird.A. M.     


Zum Artikel „Wirthschaftliches Freimaurerthum“. Aus den Wirkungen der „wirthschaftlichen Freimaurerei“ in Nr. 16 der Gartenlaube hat sich in überraschendem Umfange ergeben, daß die Wohnungsnoth in allen großen Städten drückend gefühlt wird und andererseits der alte echte deutsche Sinn für eigenen Herd auf eigenem Grund und Boden nie erstorben war und sich lebhaft wieder geltend macht. Bis zum 26. Juni waren zweihundertundneun Briefe an die Redaction der Gartenlaube, theils an den Verfasser des Artikels, meist aber an den Central-Bauverein in Charlottenburg (H. Quistorp und Dr. E. Wiß, Letzterer ist technischer Director) voller Sehnsucht nach eigenem Haus und Herd, aber auch sehr oft voll von falschen Vorstellungen über die genossenschaftliche Erwerbung desselben eingegangen. Hunderte aus Berlin kamen und kommen persönlich. Deshalb werden hier folgende bestimmtere Rathschläge und Aufklärungen willkommen sein.

Der Central-Bauverein in Charlottenburg ist der Mittelpunkt des Baugenossenschaftswesens und kann nur mit genossenschaftlich zusammenfließenden Geldern wirken, also keinem Einzelnen irgendwo in Böhmen oder Posemuckel ein Haus bauen. Wer sich genossenschaftlich eine schuldenfreie Heimath erwerben will, mag sich zunächst nach Genossen umsehen. Es wird ihm nicht schwer werden, ein paar eben so Strebende zu finden Diese sollten sich dann ebenfalls um weitere Mitglieder bemühen. So finden sich wohl auch in einem kleinen Orte bald zehn Männer zusammen, welche natürlich Frauen mit demselben Sinne nicht ausschließen werden.

Nehmen wir nun an, daß zehn Genossen ein solches Eintausendthalerhaus, wie es in der Gartenlaube abgebildet und geschildert war, Jeder für sich haben möchte. (Es wird, beiläufig gesagt, in wohlfeileren Gegenden mit billigem Baugrunde weniger und in oder an theuren Großstädten etwas mehr kosten, namentlich in Folge des Krieges.) Die zehn Genossen zahlen nun jeder wöchentlich einen Thaler in eine gemeinschaftliche Casse bei einem zuverlässigen Mitbürger oder einem Banquier. In England wird solches Geld einstweilen gegen höheren Zins an Mitglieder oder sonst gegen gute Sicherheit wieder verborgt.

Die von dem einzelnen Genossen während der zehn Jahre eingezahlten fünfhundert Thaler sind während der Zeit mindestens zu sechshundert geworden. Also selbst in dem schlimmsten Falle, daß ihm kein Haus gebaut werden konnte, hat er für sich und seine Erben nicht blos fünfhundert Thaler gespart, sondern auch hundert Thaler erworben. Dieser schlimmste Fall wird aber bei dem Zudrange und dem steigenden Bedürfnisse für eine eigene, billige, schuldenfreie Heimath nie eintreten. Wenn sich daher in einem kleinen Orte auch nur wenige Genossen finden, so können sie leicht durch Bewohner von benachbarten Gegenden zu einer ordentlichen Genossenschaft von dreißig Mitgliedern vereinigt werden. Dreißig kleine zusammenfließende Geldbäche werden nun bald zu einem kräftigen, befruchtenden Strome, auf welchem man viel schneller zum Ziele gerudert werden kann. Die Gelder für einige Häuser sind bald beisammen; dann kommt der eigene Credit zu Hülfe, so daß auf einmal zehn bis fünfzehn Häuser und dann schneller hintereinander die übrigen gebaut werden können. Deshalb braucht kein Mitglied wirklich zehn Jahre zu warten. Das Loos kann ihn ja auch gleich zuerst treffen. Uebrigens findet er, je länger er einzahlen und warten muß, dann sein neues Haus desto abgezahlter, schuldenfreier, heimathlicher. Wer es nicht erlebt, hinterläßt es oder das dafür eingezahlte um Zins und Zinszins vermehrte Geld seinen Erben. Die eingezahlten Gelder liegen also, Zinsen bringend unter jeder Bedingung, in einer guten Sparcasse. Wo nur wenige Genossen zu finden sind, mögen dieselben ihre Einzahlungen zunächst auf hundert Thaler vermehren und diese in guten Werthpapieren anlegen oder gegen gute Zinsen an einen sicheren Genossen oder Mitbürger verborgen. Mit den nächsten hundert Thalern macht man es dann wieder so. Die Zinsen werden immer wieder zum Capital geschlagen und kommen zuletzt, selbst wenn keine gehörige Baugenossenschaft zu Stande [480] käme, allen Einzahlern zu Gute. Es ist dann eben nur eine kleine Genossenschaftsbank. Für Einrichtung einer selbstständigen Baugenossenschaft läßt sich wohl ein sachverständiger, ehrlicher Mann gewinnen, der genaue Statuten entwerfen mag. Nöthigenfalls kann man sich an den Central-Bauverein (Dr. E. Wiß) in Charlottenburg wenden, der mit Statuten, Rath und That aushelfen wird. Kurz, es gilt zunächst wirklich und praktisch, wenn auch noch so klein, anzufangen und für den schönen praktisch und sittlich edlen Zweck Jahr aus, Jahr ein zu sparen.

Das Bau-Genossenschaftswesen, in England und Amerika in Tausenden verschiedener Gesellschaften bewährt und erprobt, zieht die gebotenen Vortheile aus der Kraft der Vereinigung, wie ja auch die kleinsten, schwächlichsten Rinnsale und Bäche, die sich von Thautropfen hoher Gebirge nähren, durch Zusammenfluß zu den mächtigsten, wohlthätig befruchtendsten Strömen werden. Man merke sich deshalb zuletzt, daß der Einzelne sich auch unter den günstigsten Verhältnissen nie so billig und unmerklich ein Ein- bis Zehntausendthalerhaus, wie sie der Central-Bauverein in zehn Abstufungen bietet und baut, herstellen lassen kann, wie andererseits es keiner Baugesellschaft möglich ist, dem Einzelnen, der nicht genossenschaftlich einzahlt, die Vortheile, welche nur aus fortwährend zusammenwirkender Vereinigung fließen, zu gewähren.

Schließlich noch einen Wink. Frauen oder Männer, Jünglinge oder Jungfrauen, welche sich etwa zur Bildung einer künftigen Genossenschaft zusammenfinden mögen, werden gut thun, auch gleich im Anfange unvermerkt an den Erwerb eines wohlfeilen Baugrundes zu denken; dieser kann an verschiedenen Stellen stückweise inner- oder außerhalb der Stadt liegen. Unter Umständen kann die trockenste Sandwüste dazu geeignet sein. Die Westend-Gesellschaft hinter Charlottenburg hat binnen wenig Jahren die trost- und werthloseste Sandanhöhe bereits in ein Paradies von Villas, Gärten, Baumalleen, kleinen Parks, immergrünen Rasenflächen und lachenden Blumenbeeten verwandelt. Mit Dampf- und Pferdekräften, mit Gartenerde und Gärtnerkunst, Wasserleitung oder wenigstens abessinischen Brunnen läßt sich jede Wüste und Oede für die schönste Cultur gewinnen und namentlich besonders billig mit baugenossenschaftlichen Mitteln für baugenossenschaftliche Zwecke.

Möge nun die durch den Gartenlauben-Artikel weit und breit angeregte Bewegung für die Erwerbung schuldenfreien Grund- und Hausbesitzes mit ihren wirthschaftlich und sittlich segensreichen Folgen erstarken und mit richtigem Verständniß zum Heile für uns, für Kinder und Kindeskinder möglichst vielfach in Angriff genommen werden. Dann finden sich auch bald Asyle aus dem Drange und Zwange der Theurung und Noth unserer Großstädte, und das deutsche Reich wird wieder wie einst vor Barbarossa’s Zeiten zahlreiche Blüthentrauben eigener Herde und Häuser umfassen und seine beste Kraft aus diesem Grund und Boden aller wahren Cultur, alles Patriotismus, alles Selbst- und Freiheitsgefühls schöpfen können.
H. B.

Das Grab von Meulan. Der zu Meulan begrabene August von Crayen, dessen die „Gartenlaube“ in Nr. 25 erwähnte, kann Niemand anders sein als der Sohn jener schönen und witzigen Frau von Crayen, welche eine Freundin des Herzogs Karl August von Weimar, des Fürsten von Ligne und des Grafen von Tilly war und die oft in Varnhagen’s Schriften und Rahel’s Briefen erwähnt wurde.

Varnhagen von Ense schreibt in hinterlassenen Aufzeichnungen wie folgt über sie:

„Frau von Crayen, geb. Levaux, war geboren zu Berlin im November 1755, lebte längere Zeit in Leipzig, kehrte aber dann wieder nach Berlin zurück, wo sie 1832 starb. Der Prinz von Preußen, nachheriger König Friedrich Wilhelm der Zweite, war heftig in Fräulein Levaux verliebt, und als diese den Kammerrath Crayen aus Leipzig heirathen sollte, konnte er sich gar nicht zufrieden geben. Die Hochzeit wurde in dem Hause am Lustgarten, welches früher Corsica’s Kaffeehaus, dann Parlament d’Angleterre hieß, sehr glänzend gefeiert; der Prinz aber hatte sich vorher ein Nebenzimmer gemiethet, und bei dem Gastmahle erschien er verkleidet als Aufwärter und wechselte der Neuvermählten ein paarmal die Teller, ohne daß sie es merkte. Bald aber wurde er von dem Bruder, dem Banquier Levaux erkannt, worauf er sich zurückzog. Levaux sagte spöttisch zu Crayen: ‚Mon cher beau-frère, vous jouez lá un beau rôle, vous avez un diable de laquai auprès de votre femme.‘ (Mein lieber Schwager, Sie spielen da eine schöne Rolle, Sie haben einen verteufelten Lakaien bei Ihrer Frau.) Man zog die Sache nun in’s Zufällige und suchte Alles mit Höflichkeiten zu bedecken. Crayen lud den Prinzen ein, einige Erfrischungen zu nehmen, und als das Strumpfband vertheilt wurde, bot man auch ihm ein Stück desselben. Die wirkliche Geliebte des Prinzen, Mademoiselle Encke, spätere Gräfin von Lichtenau, nahm die Verehrung für ihre Nebenbuhlerin so übel, daß sie dieser, als sie mit ihrem Gatten unter den Fenstern des Englischen Hauses – in der Mohrenstraße, wo Mademoiselle Encke damals wohnte – vorüberging, eine schwere Brieftasche nachwarf, in der Absicht, sie zu treffen. – Dies Alles war im Jahre 1777.“

Der Sohn der Frau von Crayen, August, fiel im Felde; ihre Tochter, Victoire, die auch ihrerseits einen originellen Witz besaß, starb erst vor wenigen Jahren in hohem Alter in Berlin.

Auch die folgenden beiden Züge hat Varnhagen über Frau von Crayen aufgeschrieben:

„Der Capellmeister Reichardt führte einst in Leipzig die schöne Frau von Crayen aus einer Gesellschaft nach Hause, und sie sprach mit dem alten Bekannten sehr vertraulich. Sie stellte ihm vor, was ihr in der Jugend für glänzende Aussichten eröffnet waren, welche vornehme Heirathen, und schloß dann: ‚Was ist aus allen meinen Schwärmereien geworden, lieber Reichardt, aus so glänzenden Hoffnungen? Nichts – als Crayen und Compagnie!‘ So hieß die Handelsfirma ihres Mannes.“

„Frau von Crayen fuhr im Jahre 1820 mit einem Thorwagen nach Charlottenburg. ‚Hör’ Er mal,‘ redete sie den Kutscher an – dieser dreht sich rasch um, sieht sie eine lange Weile starr an, so daß sie verwundert schweigt, und dann sagt er frisch: ‚Er ist lange todt, Sie lebt noch!‘“
Ludmilla Assing.

Berliner Einzugsfeierlichkeiten. Wir eröffnen die Reihe unserer Darstellungen aus den Berliner Einzugsfeierlichkeiten heute billigerweise mit einer Abbildung der stolzen, schönen Kaiserstadt selbst, durch deren kranz- und fahnengeschmückte Siegesbogen das deutsche Heer seinen triumphirenden Einzug gehalten hat. Das Bild erklärt sich durch die unten beigesetzten, detaillirten Angaben von selbst und es wird bei der Sorgfältigkeit der Zeichnung jedem unserer Leser leicht fallen, sich in diesem scheinbaren Labyrinth von Straßen und Häusern, welches die so staunenswerth rasch zu ihrem gegenwärtigen Riesenumfang entwickelte Residenz des deutschen Kaisers bietet, zurecht zu finden. Was unserem Bilde einen besonderen Werth verleihen dürfte, ist der Umstand, daß es die ganze zweite Hälfte der via triumphalis darstellt, von dem Ausgange der Linden an dem kaiserlichen Palais vorbei bis zu dem Platze, auf welchem das neuerrichtete Denkmal Friedrich Wilhelm’s des Dritten steht.

Von den übrigen Illustrationen, deren erste wir bereits in nächster Nummer folgen lassen, machen wir unsere Leser heute schon auf eine in großem Maßstab gehaltene Composition des Professor Camphausen aufmerksam; dieselbe wird die Hauptgruppen des Festzuges darstellen und zwar in jener meisterhaften Weise, welche der berühmte Name des Malers verbürgt und welche unsern Lesern selbst schon auf den mit so großem Beifall aufgenommenen Skizzen „Der Sieger von Rezonville“ und „Erste Begegnung Bismarck’s mit Kaiser Napoleon“ hinlänglich bekannt ist. Daß wir in unserm Texte keine Wiederholung der schon tausendmal aufgetischten Festlichkeitsbeschreibungen geben, versteht sich von selbst. Wir werden uns auf die Wiedergabe persönlicher Erinnerungen beschränken, die auch heute noch allgemein das Interesse anregen dürften.



Kleiner Briefkasten.

F. B. Daß Werner’s „Ein Held der Feder“ bereits in’s Holländische übersetzt ist, haben wir aus der buchhändlerischen Anzeige erfahren. Aber auch eine italienische Uebertragung ist schon in Vorbereitung und zwar durch Antonietta Sacchi-Parravicini, die geistvolle Verfasserin von „La Macchiavelliana“. Jedenfalls dürfen wir darin einen Beweis sehen, daß „Ein Held der Feder“ auch über die Grenzen Deutschlands hinaus die Aufmerksamkeit erregt und Beifall gefunden hat.

R. in Mgdbg. Wie bereits in Nr. 26 mitgetheilt wurde, kann die Marlitt’sche Erzählung, „Das Haideprinzeßchen“ erst mit Anfang August beginnen – bis dahin also Geduld!


An das deutsche Volk!

Einem Künstler gerecht zu werden, der wie Wenige in dieser Zeit zur geistigen Einigung der deutschen Nation beigetragen hat, ist sicherlich eine der neuen, an die deutsche Nation herantretenden Ehrenpflichten.

Lorenz Clasen

war es, der in seiner „Germania auf der Wacht am Rhein“ und in seiner „Germania auf dem Meere“ schon vor Jahren Deutschland den Weg zu Ruhm und Sieg vorzeichnete. In diesen Kunstwerken, welche sowohl die Wände des deutschen Fürstenpalastes, als die der Farmerhütte im fernen Westen schmücken, hat Clasen prophetisch unserem Volke sein Vaterland verkörpert in vereinter Kraft und Herrlichkeit vor Augen geführt.

Diesem leuchtenden Vorbilde ist unser Deutschland aber nicht nur ähnlich, sondern gleich geworden. So wie Clasen’s Germania steht jetzt unser Volk auf der Wacht am Rhein, nicht nach Eroberungen lüstern, nein, nur zum Schutze des heimischen Herdes.

Und da nun Deutschland den Werth seiner Macht und Größe fühlen gelernt hat, möge es auch den alten Erbfehler, seine Geisteshelden erst nach dem Tode zu ehren, auf immer verbannen. In vollem, frischem Leben sollen sie den Dank ihres Vaterlandes genießen, und auch unser Clasen soll nicht sagen können: „Das deutsche Volk hat meiner vergessen!“ Nicht um eine Unterstützung handelt es sich hier, sondern um einen Ehrensold, den wir dem Künstler schon allzulange schulden.

Um diesen Ehrensold aber zu einem des deutschen Volkes würdigen zu machen, haben sich die Unterzeichneten zur Sammlung von Beiträgen vereinigt und bitten, durch allseitige Betheiligung zu beweisen, daß die Liebe für des Vaterlandes beste Söhne nicht erkaltete.

Beiträge nehmen entgegen: Die Redaction der Gartenlaube zu Leipzig, das Bankhaus Hammer u. Schmidt zu Leipzig. Für Amerika: Das Handelshaus Richard Ranft, Washington Place 7 zu New-York.

Das Comité zur Beschaffung einer National-Belohnung für den Maler der „Germania auf der Wacht am Rhein“. Hofrath Dr. Rudolf Gottschall in Leipzig. – Julius Häckel (Firma Häckel u. Comp.) in Leipzig. – Franz v. Holstein in Leipzig. – Professor Karl Hübner in Düsseldorf. – Ernst Jerusalem in Leipzig. – Ernst Keil (Gartenlaube) in Leipzig. – Paul Lindau in Berlin. – C. Lipsius (Architekt) in Leipzig. – Professor F. Martersteig in Weimar. – Gust. Müller (Architekt) in Leipzig. – Richard Ranft in New-York. – Professor Fr. Preller in Weimar. – Emil Rittershaus in Barmen. – Alex. Herm. Schmidt (Firma Hammer u. Schmidt) in Leipzig. – Professor P. Thumann in Weimar. – J. J. Weber (Illustr. Zeitung) in Leipzig.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Der Kirchenstuhl für die Sessenheimer Pfarrfamilie enthält vier Plätze und ist, auf etwa Meterhöhe, durch einen Verschlag in zwei Hälften getheilt. Goethe saß also wirklich, während des Gottesdienstes, an seines Mädchens Seite.
  2. Eine Anspielung auf das Abenteuer mit Lucinde, der Tochter des Tanzmeisters in Straßburg, welche seine Lippen verwünscht hatte mit den Worten: „Unglück über Unglück auf immer über Diejenige, die zum ersten Mal nach mir diese Lippen küßt.“
  3. Hier ist das zur Pfarrei Sessenheim gehörige Filialdorf Dalhunden gemeint, das zu Goethe’s Zeit nur zu Schiff erreicht werden konnte. Noch am Anfang dieses Jahrhunderts hatten die Rheingüterschiffe ihre Haltestelle da, wo gegenwärtig und erst seit Kurzem sich eine Feldziegelei befindet. – Diese Nebenarme des Rheins sind aber seitdem abgedämmt und der Strom selber weiter gegen Osten getrieben worden. Die vor hundert Jahren noch blos hie und da mit spärlichem Gesträuch bewachsenen, sehr oft unter Wasser stehenden Kiesbänke sind längst mit Kiefern angepflanzt worden, und bilden ein hübsches Wäldchen, durch welches eine gute Fahrstraße, von der Rheinstraße aus, über die Moderbrücke nach Dalhunden führt.
  4. Eben theilt mir Arakel-Bey, der geistreiche Neffe Nubar Pascha’s, einer der gründlichsten Kenner der Volkssitten in Aegypten, mit, daß die heulenden Derwische einer fanatischen, aber unter den Muslims keineswegs geachteten Religionssecte angehören.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Gelieben